Protectas verurteilt, Containerdörfer abgelehnt, Tunesien protegiert

Kundgebung vor dem Bundeshaus in Bern. Am 14. Juni ertranken über 600 geflüchtete Menschen vor der griechischen Küste.
Wut und Trauer: Am 14. Juni ertranken über 600 geflüchtete Menschen vor der griechischen Küste. Auch vor dem Bundeshaus in Bern gab es eine Protestkundgebung.

Was ist neu?

Bundesasylcamps: Protectas erstmals wegen Gewalt gegen Geflüchtete verurteilt

Am 13. Februar 2021 musste ein Bewohner des Bundesasylcamps Boudry unterkühlt hospitalisiert werden. Vier Protectas-Angestellte hatten den Mann mit nacktem Oberkörper bei minus 4 Grad und eisiger Bise in einen Container gesperrt. Die Videokamera filmte, wie die Person im Container auf dem eisigen Boden zittert, krampft und schliesslich zusammenbricht. Die Protectas-Angestellten unternahmen nichts, um dem Mann zu helfen. Nun wurden sie verurteilt. Ihre Vorgesetzten und die Verantwortlichen vom Staatssekretariat für Migration (SEM) wurden freigesprochen.

In Boudry wurde dieser Container als Zelle genutzt. Es handelt sich hier um eine andere Situation als jene dieses Artikels.
In Boudry wurde dieser Container als Zelle genutzt. (Bei der Aufnahme handelt es sich nicht um den im Artikel beschriebenen Vorgang.)

Es ist das erste Mal, dass ein Gericht Angestellte von privaten Sicherheitsfirmen in Bundesasylcamps verurteilt. Sie machten sich schuldig wegen „einfacher Körperverletzung und der Gefährdung des Lebens und der Gesundheit anderer” und in einem Fall wegen Amtsmissbrauchs. Die geschädigte Person wurde bewusstlos liegen gelassen, wurde nicht ins Warme gebracht. Die Protectas-Angestellten warteten über 10 Minuten, bis sie die Person mit einer Daunendecke zudeckten. Noch länger dauerte es, bis sie eine Ambulanz riefen. Bei ihren Vernehmungen sagten die Angestellten, sie hätten sich an die Vorschriften gehalten. Diese würden es ihnen nicht erlauben, selbst einen Krankenwagen zu rufen. Irgendwann kamen die vier auf die Idee, die interne medizinische Hotline anzurufen. Diese schaltete erst nach einem langen Gespräch den Notruf 144 ein. Vor Ort angekommen, zeigten sich die Notärzt*innen schockiert über das Abwarten. Die Person befand sich nach wie vor auf dem eisigen Boden des Containers.

All diese Informationen wurden nicht proaktiv von jenen Stellen kommuniziert, die die Verantwortung hätten, das Recht auf Leben in den freiheitsbeschränkenden Asylcamps zu schützen. Es brauchte intensive Hartnäckigkeit eines RTS-Recherche-Teams. Diesem wollte die Protectas bis zum Schluss keine Fragen beantworten. Das SEM seinerseits entschuldigte sich bisher in keiner Weise für die Vorfälle, sondern gab sich wie gewohnt glatt und kalt: “Wir sind dabei, Sicherheitsbeauftragte einzustellen, die Mitarbeiter des SEM sind. Sie werden damit beauftragt, die Ausbildung der Sicherheitsbeamten vor Ort zu betreuen”, beschwichtigt die SEM-Sprecherin Anne Césard. Für den Anwalt der betroffenen Person hätte auch das SEM verurteilt werden sollen: „Wir bedauern, dass es keine Verurteilungen der hierarchischen Verantwortlichen gab, die die Starrheit der Protectas-Agenten organisiert haben und sie daran gehindert haben, das zu tun, was sie angesichts einer drohenden Gefahr hätten tun müssen.”

Übrigens kam es zur Verurteilung nur, weil eine Fachperson auf der Notaufnahme des Neuenburger Spitals Strafanzeige eingereicht hatet. Tun wir es ihr nach, wenn Delikte des Personals in den Camps beobacht werden oder Informationen dazu vorliegen und es Betroffene wünschen.

https://www.rts.ch/info/regions/neuchatel/14106063-des-agents-de-securite-condamnes-pour-avoir-mis-en-danger-la-vie-dun-requerant-dasile.html
https://www.rts.ch/play/tv/19h30/video/quatre-agents-de-securite-reconnus-coupables-de-mise-en-danger-dun-requerant-dasile-au-centre-federal-de-boudry?urn=urn:rts:video:14106210
https://www.rts.ch/play/tv/19h30/video/condamnation-de-quatre-agents-de-securite-pour-la-mise-en-danger-dun-demandeur-dasile-leclairage-de-ludovic-rocchi?urn=urn:rts:video:14106212

Was geht ab beim Staat?

Unterbringung von Asylsuchenden in Containerdörfern vom Tisch

Der Ständerat lehnt einen Kredit für die Unterbringung geflüchteter Menschen in temporären Containersiedlungen ab. Und spielt damit vor allem der SVP in die Hände, welche im Wahlherbst mit dem Thema Migration auf Stimmenfang gehen dürfte.

Neue Containersiedlungen, wie sie beispielsweise bereits in Basel existieren, wird es nach dem Nein des Ständerates vorerst nicht geben.
Neue Containersiedlungen, wie sie beispielsweise bereits in Basel existieren, wird es nach dem Nein des Ständerates vorerst nicht geben.

Für 66 Millionen Franken – ursprünglich waren 130 Millionen Franken geplant gewesen – sollten auf Armeegelände Containersiedlungen zur Unterbringung von 3000 geflüchteter Menschen gebaut werden. Diese Plätze sollten die Bundesasylzentren entlasten, wenn im Herbst wie erwartet mehrere tausend Menschen auf der Suche nach Schutz in der Schweiz ankommen könnten. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) geht davon aus, dass bis Ende Jahr 27 000 Asylgesuche gestellt werden. Der Ständerat hat nun in einer knappen Abstimmung die Container-Lösung abgelehnt. Dabei wurde argumentiert, dass zuerst die bereits vorhanden Zivilschutzanlagen genutzt werden sollen. Das Problem: Diese Plätze brauchen die Kantone bereits selber für die Kontingente jener Asylsuchender, welche nach der Erstunterbringung vom Bund an die Kantone überwiesen werden. Zivilschutzanlagen befinden sich üblicherweise unter der Erde und es fällt nie Tageslicht in die Räume. Besonders für Kinder und Jugendliche sind sie darum nicht für einen längeren Aufenthalt geeignet. Und da Asylsuchende kaum finanzielle Mittel erhalten und im öffentlichen Leben in der Schweiz oft unerwünscht sind, verbringen die meisten notgedrungen viel Zeit in ihrer Unterkunft.

Ein Argument gegen die Containerlösung sind die Kosten von 66 Millionen Franken. So sagte beispielsweise der St. Galler Mitte-Ständerat Benedikt Würth: «Unsere Aufgabe ist es, mit Steuergeldern verantwortungsvoll umzugehen.» Für die ehemals «christliche» Partei scheint eine würdige oder zumindest zumutbare Unterbringung geflüchteter Menschen somit ausserhalb ihres Verantwortungsbereiches zu liegen. Angesichts des Volumens an Geldes, welches in diesem Land vorhanden ist und gerade erst wieder zur Rettung einer Grossbank verwendet wurde, wirkt das Argument der Kosten bei einem mittleren zweistelligen Millionenbetrag geradezu absurd. Auch wenn Containersiedlungen noch keine optimale Lösung sind, so wären sie zumindest ein Anfang gewesen. Denn die kantonalen Unterkünfte sind bereits jetzt an vielen Orten überbelegt. Sechs Schlafplätze in einem Raum der für vier Menschen ausgelegt ist, stellt keine Seltenheit dar. Ein Zustand, der bisweilen zu fragwürdigen Formulierungen führt: «Wir versuchen intern zu verdichten», nannte Jürg Eberle, Leiter Migrationsamt St. Gallen, beispielsweise seine Strategie. Und klingt dabei wie ein Logistiker in einer Lagerhalle mit gestapelten Europaletten.

Mit dem Entscheid schieben die politischen Institutionen wieder einmal die Verantwortung hin und her. Und am Ende dürfte im Wahlherbst leider wieder einmal die SVP profitieren, sollte in den nächsten Monaten nicht noch eine neue Lösung gefunden werden. Spätestens bei Engpässen bei der Unterbringung wird die rechtspopulistische Partei wieder mit ihrem «Seht ihr, wir haben doch gar keinen Platz, wir können gar keine neuen Menschen mehr aufnehmen»-Geseier bereit stehen. Die würdige Unterbringung geflüchteter Menschen darf nicht zum Spielball der Parteien im Wahlkampf werden. Alternativen zu Containern und Zivilschutzanlagen gibt es genügend. Zum Beispiel leerstehende Häuser, welche nur als Spekulationsobjekte dienen. Oder Ferienvillen von Milliardär*innen, welche den grössten Teil des Jahres unbwohnt bleiben. Denn Rassismus und Kapitalismus gehen gerne Hand in Hand.

https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/statt-containerdoerfer-sollen-zivilschutzanlagen-genutzt-werden?urn=urn:srf:video:e7bc5b7d-610a-40ba-81e6-fe50cf689405
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2023/20230615093215713194158159038_bsd039.aspx
https://www.srf.ch/news/schweiz/container-loesung-versenkt-steigende-asylzahlen-und-keine-loesung-in-sicht
https://www.srf.ch/news/schweiz/unterkuenfte-fuer-asylsuchende-asylcontainer-der-staenderat-spielt-auf-zeit

Was ist aufgefallen?

Die EU wirbt um Tunesien als Torwächter Europas

Wenige Tage nach der Verschärfung des Asylrechts sind EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die italienische Premierministerin Giorgia Meloni und der niederländische Premierminister Mark Rutte nach Tunis gereist. In Form eines «Partnerschaftspakets» bot von der Leyen dem Präsidenten Tunesiens, Kais Saied, zukünftig eine engere Kooperation bei Migration und Wirtschaft an: Sie schlug ein Wirtschaftshilfepaket in Höhe von 900 Millionen Euro für Tunesien sowie weitere 150 Millionen Euro als unmittelbare Haushaltshilfe vor.

Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni biedert sich bei Tunesiens Präsident Kais Saied an.
Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni biedert sich bei Tunesiens Präsident Kais Saied an.

Dabei hatte das EU-Parlament erst vor kurzem Kais Saied wegen seines autokratischen Regierungsstils kritisiert. Im Februar war Saied mit einer hetzerischen Rede gegen Migrant*innen  negativ aufgefallen. In Tunesien müssen die Migrant*innen mangels Asylgesetz ohne klaren Aufenthaltsstatus arbeiten. In seiner Rede argumentierte er gegen die vornehmlich aus der Subsahara stammenden Migrant*innen im Stile der extremen Rechten: Sie seien Teil einer Verschwörung gegen die arabische und islamische Kultur Nordafrikas. Seither kommt es zu rassistischen Übergriffen auf Migrant*innen, weshalb nun viele Subsahara-Afrikaner*innen an der Küste auf eine Überfahrt nach Europa warten. Wenn es um die Um- und Durchsetzung des verschärften EU-Asylsystems geht, umwirbt die EU solche Autokraten aber gerne mit grosszügigen finanziellen Angeboten.  Neben dem angebotenen Wirtschaftshilfepaket sollen weitere 105 Millionen Euro für Grenzschutz und Schmuggelbekämpfung fliessen. 

Die Rolle der rechtsradikalen Premierministerin Giorgia Meloni

Vor allem die rechtsradikale Premierministerin Italiens braucht eine enge Kooperation mit Tunesien, um ihren als Erfolg gefeierten «neuen Umgang» mit den Migrant*innen umsetzen zu können. Meloni will die Zahl der ankommenden Migrant*innen drastisch reduzieren. Sie sicherte daher Saied weitere finanzielle Unterstützung zu, damit Tunesien den 2022 vom Internationalen Währungsfonds zugesagten Kredit über 1,9 Milliarden US-Dollar erhält. Denn für die Auszahlung fehlt aktuell noch die Freigabe des IWF-Vorstands. Italien hat sich wiederholt für die Freigabe ausgesprochen. Für den Fall eines Abkommens zwischen Tunesien und dem IWF will Italien noch einmal 700 Millionen Euro dazulegen.

Meloni hat vergangene Woche auch Libyens Premier Abdul Hamid Dabaiba besucht. Sie plant eine Allianz gegen Menschenhändler und Migrant*innen und hat als Partner Tunesien und Libyen auserkoren. Bei ihrem Besuch beschlossen die drei eine Konferenz mit Staaten, die an der Migrationsroute nach Europa liegen, einzuberufen.

Tunesiens Rolle als Torwächter und Grenzpolizei Europas

Die EU hofft auf Tunesien als Partner für ihre verschärfte Asylpolitik. Ihr Angebot zeigt die erwünschte Rolle Tunesiens als Torwächter der Migration von Nordafrika nach Europa auf. Für Geflüchtete bedeutet der vorgeschlagene Deal eine massive Verschlechterung. Mit dem Deal versucht die EU die «irreguläre» Ausreise aus Tunesien einzudämmen und somit das Recht, jedes Land auf eigenen Wunsch verlassen zu können. Ausserdem wird damit das Recht auf Asyl faktisch ausgehebelt.

Die EU unterstützt bereits seit Jahren mit Millionen von Euro das Migrationsmanagement – im Klartext bedeutet dies Migrationskontrolle und Grenzkontrolle – in Tunesien. Mit den Geldern werden tunesische Sicherheitskräfte, die Polizei und die Nationalgarde auf See verstärkt, welche schwere Übergriffe gegen Migrant*innen und Asylsuchende begangen haben.

Tunesien könnte die Rolle als Grenzpolizei Europas auch ablehnen

Die Zukunft der europäisch-tunesischen Beziehungen wird sich wahrscheinlich innerhalb der nächsten zwei Wochen entscheiden. In dieser Zeit – vor dem Gipfel der Europäischen Union (EU) Ende Juni – wird der tunesische Präsident Kais Saied entscheiden müssen, ob er das von der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen vorgeschlagene «Partnerschaftsprogramm» annehmen will. Saied steht aufgrund der wirtschaftlichen Situation Tunesiens unter Druck. Doch kurz vor dem Besuch der drei EU-Vertreter*innen lehnte er einen möglichen Deal noch ab. Saied meinte, die Migrant*innen seien «Opfer eines weltweiten Systems», welches sie nicht als Menschen sondern als Zahlen behandle. Sein Land könne nicht, wie einige Länder es gerne hätten, «der Wächter ihrer Staaten» sein.

https://www.infomigrants.net/en/post/49652/eutunisia-migration-proposal-ignores-human-rights-concerns
https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/tunesien-eu-migration-102.html

https://de.qantara.de/inhalt/tunesien-als-partner-fuer-die-eu-asylpolitik-werben-um-den-autokraten

In Deutschland nehmen Angriffe auf Asylsuchende und Asylunterkünfte weiter zu

45 Angriffe auf Asylunterkünfte gab es in Deutschland allein im ersten Quartal 2023. Dabei kamen mindestens zwei Personen ums Leben. Die zunehmend migrationsfeindliche Rhetorik schafft dabei eine Grundlage für gewalttätige Handlungen.

Beim Brand von 10 Containern in Hamburg stirbt im Februar ein Mann aus dem Irak.
Beim Brand von 10 Containern in Hamburg stirbt im Februar ein Mann aus dem Irak.

Insgesamt wurden in den ersten drei Monaten des Jahres 2023 in Deutschland 45 Angriffe auf Asylunterkünfte registriert. Im Vorjahreszeitraum waren es 19 gewesen. Bei einigen der Angriffe handelte es sich um Sachbeschädigung oder migrationsfeindliche Propaganda. In anderen Fällen ging es um das Legen von Bränden oder um schwere Körperverletzungen. Einige Beispiele:

  • Am 9. Januar versammelt sich eine Gruppe vermummter Männer vor dem Eingangstor einer Asylunterkunft in Bonn. Sie stellten zwei Bauzaunelemente auf und befestigten daran ein Banner mit der Aufschrift «Zäune hoch / Anträge runter».
  • Am 25. Januar wird in Berlin ein Brandanschlag auf ein Haus verübt, in dem geflüchtete Personen leben. Von zwei schwer verletzten Bewohner*innen stirbt Yazi Almiah am 10. Februar. Die Polizei meldet dies erst zehn Tage später und sieht «keine Anhaltspunkte für eine politische Tatmotivation».
  • Am 1. Februar legen Unbekannte mithilfe eines Brandbeschleunigers ein Feuer in einem für Geflüchtete vorgesehenen Zelt bei Marklkofen (Bayern). Obwohl daraufhin ein Sicherheitsdienst eingesetzt wird, wiederholt sich die Tat am darauffolgenden Tag.
  • Am 9. Februar versammeln sich sechs zum Teil vermummte Personen auf der Straße vor einer Asylunterkunft in Peutenhausen und zünden Begalos. Dazu entrollen sie ein circa zehn bis 15 Meter großes Transparent und blockieren den Verkehr.
  • Am 13. Februar stirbt ein 29-jähriger Mann aus dem Irak beim Brand eines Containerdorfs für Geflüchtete und Wohnungslose.

Rassistische Angriffe richteten sich nicht nur gegen Asylunterkünfte, sondern auch gegen Migrant*innen direkt. Im ersten Quartal 2023 gab es nach offiziellen Angaben 408 Angriffe. Im Vorjahreszeitraum waren es noch 243 gewesen.

Die migrationsfeindliche Rhetorik in Politik und Medien dürfte die rassistische Mobilisierung auf den Strassen bestärken. Rechtsradikale Positionen beispielsweise der AfD finden breites Gehör. So verbreiten sich rassistische, antisemitische oder nationalistische Narrative in der Gesellschaft und bestärken Menschen, aktiv zu werden: Gegen Geflüchtete, gegen Frauen, gegen Wohnungslose. Viele Fälle werden nicht bekannt. Noch mehr Fälle werden gar nicht erst gemeldet, da sich Betroffene keine Hilfe von den Behörden erwarten. Wie gross das Ausmass an Gewalt gegen migrantisierte Personen ist, wird also auch in Deutschland weiterhin unsichtbar bleiben. 

https://www.infomigrants.net/en/post/49693/germany-rise-in-crimes-against-asylum-seekers

Zum Weiterlesen: Chronik flüchtlingsfeindlicher Vorfälle
Die gemeinsame Chronik der Amadeu Antonio Stiftung und von PRO ASYL dokumentiert Übergriffe auf und Demonstrationen gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte. Die Datengrundlage der Chronik sind öffentlich zugängliche Berichte in Zeitungsartikeln, Pressemitteilungen der Polizei sowie Meldungen lokaler und regionaler Register- und Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. 
https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/chronik-vorfaelle

Was nun?

Passbeschaffungspflicht für Eritreer*innen in der Schweiz abschaffen

Die Petition fordert, dass Eritreer*innen in der Schweiz von der Passbeschaffungspflicht befreit werden. Der Grund: Um Pässe auszustellen, stellt die eritreische Botschaft in Genf drei unzulässige und unzumutbare Bedingungen:
1. Selbstbeschuldigende „Reue-Erklärung“: Eritreer*innen müssen unterzeichnen, den sogenannt “nationalen Pflichten” nicht nachgekommen zu sein und die dafür verhängten Strafen zu akzeptieren.
2. Unzulässige “Diaspora-Steuer”: Eritreer*innen müssen 2% auf ihr bereits in der Schweiz versteuertes Einkommen bezahlen. Diese Steuer unterstützt die Macht der eritreischen Diktatur.
3. Sensible Informationen: Eritreer*innen müssen Informationen über Angehörige, Freund*innen und Bekannte im Ausland und in Eritrea preisgeben, welche diese gefährden.

Eritreer*innen ohne Flüchtlingsstatus, die beispielsweise heiraten oder eine vorläufige Aufnahmebewilligung F in eine Aufenthaltsbewilligung B umzuwandeln wollen, müssen den Schweizer Behörden einen Pass vorlegen. Dafür müssen sie Kontakt mit dem diktatorischen Regime ihres Herkunftslandes aufnehmen. Dies ist eine unzumutbare Anforderung. In Deutschland entschied das höchste Verwaltungsgericht, dass die sogenannte „Reue-Erklärung“ unzumutbar sei. Seither verzichten die deutschen Behörden bei Eritreer*innen auf die Passbeschaffungspflicht (vgl. https://www.bverwg.de/pm/2022/62). Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu beschuldigen.

https://act.campax.org/petitions/unzumutbare-passbeschaffungspflicht-fur-eritreer-innen-in-der-schweiz-abschaffen

Wo gabs Widerstand?

Proteste in Bern und Luzern: Europa lässt sterben und die Schweiz tötet mit

Während in der Schweiz am 14. Juni hunderttausende für Freiheit und Selbstbestimmung auf die Strasse gingen, sind vor der griechischen Küste über 600 Personen ums Leben gekommen. Obwohl die griechische Küstenwache sowie Italien und Malta über die Menschen in Seenot informiert waren, haben sie keine Rettungsaktion eingeleitet. In Bern und Luzern fanden in den darauffolgenden Tagen Proteste statt.

Bereits am Tag zuvor, dem 13. Juni 2023, sind die griechische Küstenwache sowie Italien und Malta über die Menschen in Seenot alarmiert worden. Eine Rettungsaktion wurde nicht eingeleitet. Ihre unterlassene Hilfeleistung rechtfertigt die griechische Küstenwache damit, dass die in Seenot geratenen Menschen von ihnen nicht gerettet werden wollten. 

Wir fragen: Warum haben die Menschen auf See solche Angst, griechischen Behörden zu begegnen? 

Pushbacks. Inhaftiertung. Von der griechischen Küstenwache ins Meer geworfen. Von der griechischen Küstenwache auf einer wackligen Rettungsinsel im Meer ausgesetzt. Gewalt. Schläge. Flüchtende Menschen wissen, dass die Begegnung mit griechischen Behörden oft Gewalt und Leid bedeutet. Die Boote versuchen deshalb, Griechenland zu umgehen, indem sie viel längere Routen fahren und ihr Leben auf See riskieren. Flüchtende Menschen anschliessend selbst für ihren Tod verantwortlich zu machen, ist absolut zynisch.

Stop blaming people on the move for trying to escape your violence!
Stop blaming people on the move for their own death!
Stop pushbacks, end death at sea, tear down Europe’s borders!​​​​​​​

Was die Überlebenden des Schiffbruchs berichten

Am Donnerstag wurde ein Interview mit dem ehemaligen Europaabgeordenten Kriton Arsenis veröffentlicht. Er hat am Hafen von Kalamata mit Überlebenden des Schiffbruchs gesprochen. Er enthüllte, dass die griechische Küstenwache das überfüllte Boot abgeschleppt haben könnte, bevor es kenterte.

Denn die Überlebenden berichteten, dass sie von der griechischen Küstenwache gezogen wurden, als das Schiff sank. Das Boot wurde schnell von der Küstenwache gezogen, um es von griechischen Gewässern fernzuhalten. Nach etwa 15 Minuten kenterte das Boot dadurch. Es sank mitten auf dem Meer. 

Die griechische Küstenwache hat mehrere Berichte über den Vorfall veröffentlicht. In keinem wird erwähnt, dass das Boot abgeschleppt wurde. Möglicherweise fehlt diese Information in den Berichten der Küstenwache, weil sie eben NICHT versucht haben, das Boot zu retten. Stattdessen versuchten sie wohl, das Boot in italienische Gewässer zu schleppen oder es zurückzudrängen. Wer in Europa Schutz suchte, hat ihn einmal mehr nicht gefunden. 

Nach der Flucht im Gefängnis

Was ebenfalls geschah: Neun Überlebende wurden von den griechischen Behörden festgenommen. Sie werden des Schmuggels angeklagt werden, so wie es immer passiert, wenn ein Boot in Griechenland ankommt. Statt nach den traumatischen Ereignissen medizinische und psychologische Unterstützung zu erhalten, wurden sie inhaftiert und voraussichtlich mindestens ein Jahr auf ihr Verfahren warten. Nicht die griechischen Behörden werden die Verantwortung für über 600 Tote tragen müssen. Auf diese Überlebenden wird die Schuld abgewälzt werden. 

Proteste in Bern und Luzern

Als Antwort auf die tödliche europäische Migrationspolitik wurde am Donnerstagabend in Bern sowie am Freitagabend in Luzern zur spontanen Wut- und Trauerdemo bzw. Kundgebung aufgerufen. Und in Zürich wird am Dienstag eine Kundgebung stattfinden (siehe “Was steht an?”). Denn auch die Schweiz trägt Verantwortung. Jahr um Jahr investieren die europäischen Staaten mehr Geld in die Abschottung bestimmter Grenzen, schicken weitere Beamt*innen an gewisse Aussengrenzen und erweitern die jeweiligen Grenzzäune. Sichere Fluchtrouten gibt es für rassifizierte Personen schon lange nicht mehr, was flüchtende Menschen von bestimmten Herkunftsländern auf immer tödlichere Routen zwingt. Der Tod von den über 600 Personen ist das Resultat einer tödlichen Abschottungspolitik, die auch die Schweiz mitträgt.

Es braucht auch hier unseren Widerstand – organisiert euch!

https://alarmphone.org/en/2023/06/14/europes-shield/?post_type_release_type=post

Was steht an?

Kundgebung: Europa lässt sterben
20.06.23 I 19:00 I Zürich, Gemüsebrücke
Vergangenen Mittwoch sind vor der griechischen Küste mindestens 641 Menschen auf der Flucht ertrunken. Obwohl die sogenannte griechische Küstenwache sowie Italien und Malta über die Menschen in Seenot informiert waren, haben sie nicht reagiert. Während zivile Seenotrettungsschiffe an der Ausfahrt gehindert und solidarische Menschen kriminalisiert werden, verlieren Menschen an Europas und Europas erweiterten Aussengrenzen ihr Leben. Die Kriminalisierung von Flucht hat System – das Problem heisst Rassismus. Diese Ereignisse  sind kein Unglück, sondern von den Frontex-Staaten, von welchen die Schweiz teil ist, und ihren Funktionär:innen politisch gewollter Mord! Das sterben machen+lassen muss ein Ende haben. Grenzenlose Solidarität statt Abschottung, Aufrüstung und Mord. Get angry, get organized! (Bewilligung ist angefragt.)

Fler zur Demo "Europa lässt sterben".

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Geflüchtete im Niger: Wo Europas südlichste Grenze beginnt
Innert weniger Jahre hat sich der Sahelstaat Niger zum zentralen Partner der EU-Abschottungspolitik gemausert. Seither sind die Reiserouten wesentlich gefährlicher geworden. Eine Recherche in der Wüstenstadt Agadez.
https://www.woz.ch/2324/gefluechtete-im-niger/wo-europas-suedlichste-grenze-beginnt/!A9MT737END8K

Polizeigewalt in Basel: Tatort Tesla
Es sind Schilderungen brachialer Gewalt: In Basel berichten mehrere migrantische Menschen, wie sie jüngst von Polizisten malträtiert worden sind. Die Übergriffe sind Teil eines grösseren Problems.
https://www.woz.ch/2324/polizeigewalt-in-basel/tatort-tesla/!N1BPHSP4VG0G