Medienspiegel 17. Juni 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
Gemeindeversammlung Magden sagt Nein zu Asylunterkunft
In Magden gibt es keine neue Asylunterkunft im Modulbau am Rand des Dorfes. Die Gemeindeversammlung hat das Projekt abgelehnt, mit 314:83 Stimmen. Kritisiert wurde vor allem, dass es eine zentrale Unterkunft geben soll. Nun will der Gemeinderat der Versammlung verschiedene Varianten präsentieren.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/gemeindeversammlung-magden-sagt-nein-zu-asylunterkunft?id=12406408
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/fricktal/magden-zentrale-asyl-und-fluechtlingsunterkunft-krachend-versenkt-314-sagten-nein-zum-vorhaben-nur-83-ja-ld.2472775



aargauerzeitung.ch 17.06.2023

Neue Gruppierung fordert Zaun um Asylunterkunft – Gemeindeammann kontert: «Ist kein Gefängnis»

Ab Juli werden im Gebenstorfer Ortsteil Vogelsang bis zu 50 minderjährige Flüchtlinge in das Hauptgebäude des BAG-Areals ziehen. Eine im Quartier wohnhafte Gruppe, die sich IG Vogelsang nennt, fühlt sich vom Gemeinderat übergangen und wendet sich mit einer ungewöhnlichen Forderung an die Öffentlichkeit.

Claudia Laube

Ab Anfang Juli wird das Hauptgebäude auf dem BAG-Areal in Gebenstorf als Flüchtlingsunterkunft für bis zu 50 minderjährige Asylbewerber dienen. Den Auftrag zur Betreuung erhielt der Verein Lernwerk, der dort bisher Menschen bei der Arbeitsintegration unterstützt hat, inzwischen aber weggezogen ist.

Der Standort auf dem BAG-Areal sei dafür sehr gut geeignet, erklärte Gemeindeammann Fabian Keller (Mitte) im März gegenüber der AZ, als die Pläne öffentlich wurden. Die Unterkunft befindet sich an der Gebenstorfer Dorfgrenze in einem Gewerbegebiet.

Kurz vor dem Einzug der Flüchtlinge regt sich nun jedoch Widerstand: Mit grossem Unbehagen hätten sie aus der Zeitung erfahren, «dass im Vogelsang gegen 50 junge Asylmigranten einziehen werden», heisst es in einem Brief, der am Freitag an die Medien verschickt wurde. Unterschrieben ist er von einer IG Vogelsang, die laut eigenen Angaben aus zirka 15 im Quartier wohnhaften Personen besteht. Sie wollen anonym bleiben, weil sie fürchten, «abgestempelt» zu werden.

Die IG sei sehr erstaunt darüber, dass die Vogelsang-Bewohner die «gravierende Tatsache» einer solchen Asylunterkunft aus der Zeitung erfahren mussten. Die Aussage des Ammanns im Artikel, es handle sich um einen sehr guten Standort, lasse sie betroffen zurück.

Es stelle sich die Frage nach einer Zweiklassen-Gesellschaft: «Sind Steuerzahlende, die am Dorfrand leben, aus Sicht des Gemeinderates nicht schützenswert?» heisst es im Brief weiter. Es sei zu erwarten, dass die Bevölkerung über solch einschneidende Ereignisse «persönlich informiert und Sicherheitsmassnahmen vorgestellt würden».

Ideen dazu hat die IG bereits: Sie fordert eine 24-Stunden-Betreuung der jungen Männer, also «keine Ausflüge ohne Betreuungspersonal» sowie eine Einzäunung des Hauptgebäudes und dass das Tor zur Schachenstrasse fix geschlossen bleibe.

Gemeindeammann ist überrascht

Tatsache sei, schreibt die IG weiter, dass mit der neuen Asylunterkunft «noch mehr unbetreute, sich im Ausgang befindende junge Männer im Limmatspitz, im Aarebädli und im Dorfteil Vogelsang herumstreifen werden». Bereits heute werde der Limmatspitz «durch Asylmigranten aus dem Kasernenareal Brugg belagert».

Gemeindeammann Fabian Keller (Mitte) zeigt sich überrascht über den an die Medien verschickten Brief: «Seit der Ankündigung im März, die auch im offiziellen Amtsblatt publiziert wurde, haben wir weder einen Anruf noch einen Brief erhalten, in dem etwaige Bedenken geäussert worden sind.» Auf das Baugesuch seien ebenfalls keine Einsprachen eingegangen und auch an der Gmeind vom Donnerstag sei das Thema nicht angesprochen worden.

Er habe damals zwar gesagt, dass er den dortigen Standort für geeignet halte, deshalb aber keineswegs Vogelsang schlechtreden wollen. Auch werde die Unterkunft nicht von der Gemeinde betrieben, sondern vom Kanton. Es würden strenge Regeln gelten, die Unterkunft «soll aber auch kein Gefängnis sein», erklärt er.

Die IG hat angekündigt, nächste Woche mit dem Gemeinderat Kontakt aufzunehmen und auch den Tag der offenen Tür am Samstag, 24. Juni, zu besuchen. Dieser wird von Kanton und Lernwerk organisiert, um Interessierten die Möglichkeit zu geben, die Unterkunft kurz vor Inbetriebnahme zu besichtigen und sich mit den Verantwortlichen auszutauschen. Auch Regierungsrat Jean-Pierre Gallati (SVP) wird anwesend sein.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/baden/gebenstorf-widerstand-formiert-sich-unterkunft-fuer-junge-asylsuchende-soll-eingezaeunt-werden-ld.2474731)


+++SCHWYZ
nlz.ch 16.06.2023

Regierungsrätin Steimen: «Ich kann gut verstehen, dass neue Unterkünfte Verunsicherung auslösen»

Der Kanton will im Hotel Sonne junge Asylsuchende unterbringen. Im Bezirk Einsiedeln regt sich Widerstand. Regierungsrätin Petra Steimen-Rickenbacher nimmt Stellung.

Flurina Valsecchi

Die Wogen gehen hoch: Gegen die Pläne des Kantons, im leer stehenden Hotel Sonne in Einsiedeln ab Anfang Juli 30 bis 35 unbegleitete minderjährige Asylsuchende, sogenannte UMA, einzuquartieren, formiert sich heftiger Widerstand. Jetzt kontert die zuständige Regierungsrätin Petra Steimen-Rickenbacher die Kritik des Einsiedler Bezirksrats.

Dieser hatte moniert, dass er vom Kanton erst kurzfristig über diese Pläne informiert worden sei. Petra Steimen-Rickenbacher sieht es anders: «Wir können diese Aussagen nicht nachvollziehen, war es doch der Bezirk, der uns auf die Liegenschaft hingewiesen hat.» Vor Vertragsunterzeichnung im Mai habe ausserdem eine Sitzung mit Vertretern des Bezirksrats stattgefunden. «Aufgrund des Vorgesprächs durften wir davon ausgehen, dass der Bezirk das Vorhaben mitträgt.» Steimen-Rickenbacher will nun mit dem Bezirksrat das Gespräch suchen. Doch der Einzug per 1. Juli «ist wahrscheinlich nicht mehr realistisch».

Weiter gibt sich die FDP-Regierungsrätin selbstkritisch. Sie könne gut verstehen, dass neue Unterkünfte bei der Bevölkerung Verunsicherung auslösen würden. Sie sagt: «Hier müssen wir zukünftig besser informieren, Verständnis schaffen und auf unsere langjährige Erfahrung in der Unterbringung junger Menschen hinweisen.»

Lesen Sie hier das ausführliche Interview mit der Regierungsrätin:

Der Kanton plant, im leer stehenden Hotel Sonne in Einsiedeln unbegleitete minderjährige Asylsuchende, sogenannte UMA, unterzubringen. Ab Juli 2023 sollen dort 30 bis 35 Jugendliche wohnen. Was spricht für dieses Gebäude?

Das ehemalige Hotel verfügt über 37 einfache Zimmer, eine grosse Küche und zwei Aufenthaltsräume. Die Raumstruktur ist geeignet für eine engmaschige Betreuung und Beaufsichtigung der Jugendlichen. Die Liegenschaft kann für zwei Jahre genutzt werden, womit der hoffentlich vorübergehende Anstieg an Minderjährigen aufgefangen werden kann.

Hat der Kanton das Hotel Sonne selber als geeignete Liegenschaft gefunden, oder woher kam das Angebot?

Der Bezirk Einsiedeln hat uns im April schriftlich auf dieses Objekt hingewiesen, nachdem er dafür keine Verwendung gefunden hatte. Der Bezirk hat ebenfalls die Eigentümer darauf aufmerksam gemacht, dass der Kanton Bedarf für eine Zwischennutzung haben könnte und hat den Kontakt zwischen der Eigentümerschaft und dem Amt für Migration hergestellt.

Der Einsiedler Bezirksrat kritisierte jedoch, er sei erst kurzfristig über die Pläne des Kantons informiert worden. Was sagen Sie dazu?

Wir können diese Aussagen nicht nachvollziehen, war es doch der Bezirk, der uns auf die Liegenschaft hingewiesen hat. Vor Vertragsunterzeichnung im Mai fand ausserdem eine Sitzung mit Vertretern des Bezirksrats statt. Aufgrund des Vorgesprächs durften wir davon ausgehen, dass der Bezirk das Vorhaben mitträgt.

Der Bezirksrat fordert den Kanton auf, alternative Standorte zu suchen. Hat der Kanton dies getan?

Das Amt für Migration ist stets auf der Suche nach zusätzlichen Standorten. Jeden Hinweis nehmen wir dankend entgegen und prüfen ihn.

Was sagen Sie zum Argument des Bezirkrats, für die Umnutzung sei eine Bewilligung nötig?

Gemäss unserem Kenntnisstand wohnten bereits früher Dauermieter in diesem Gebäude. Gestützt auf ähnlich gelagerte, rechtskräftig entschiedene Fälle teilen wir diese Auffassung nicht und suchen das Gespräch mit dem Bezirksrat

Das Verhältnis zwischen Kanton und Bezirk scheint angespannt. Was tun Sie konkret, um den Bezirk doch noch für Ihr Projekt zu gewinnen?

In vielen Bereichen arbeiten der Kanton und der Bezirk Einsiedeln gut zusammen. Darauf gilt es aufzubauen.

Sind Sie zuversichtlich, dass der Bezug per Anfang Juli realistisch ist?

Wir streben Lösungen an und keine Auseinandersetzungen. Nur so können wir unseren Unterbringungs- und Betreuungsauftrag erfüllen. In diesem Sinne suchen wir weiterhin das Gespräch mit dem Bezirksrat. Wir möchten möglichst zeitnah einziehen, wobei der 1. Juli wahrscheinlich nicht mehr realistisch ist.

Moniert wird von Ihrer Partei, der lokalen FDP, dass sich bereits das Asylzentrum Biberhof in Biberbrugg im Bezirk Einsiedeln befinde und deshalb die Asylsuchenden besser auch auf andere Bezirke oder Gemeinden verteilt werden müssten. Welche anderen Standorte sind derzeit konkret in Abklärung?

Der Kanton Schwyz verfügt über Durchgangszentren in Morschach, Biberbrugg, Brunnen, Ibach, Seewen, Goldau und Altendorf. Derzeit befinden sich keine zusätzlichen Standorte in Abklärung. Bei Einsiedeln ist wichtig zu wissen, dass es sich um eine auf zwei Jahre befristete Lösung handelt, um die Spitze bei der Unterbringung von UMA abdecken zu können. Überdies wird Einsiedeln ab Inbetriebnahme der Liegenschaft bei den «normalen» Asylzuweisungen zusätzlich entlastet.

In Biberbrugg stösst der Kanton an die Kapazitätsgrenze. Warum nimmt die Zahl der UMA zu?

Seit rund zwei Jahren verzeichnet die Schweiz einen hohen Zustrom von UMA. Der Kanton ist bestrebt, diese Personen bis zur Volljährigkeit in der kantonalen Obhut zu behalten, zu betreuen und zu beschulen. Damit werden die Gemeinden entlastet.

Wie viele Plätze für UMA hat der Kanton Schwyz heute, wie viele benötigt der Kanton derzeit und in den nächsten Monaten, eventuell gar Jahren?

Derzeit benötigt der Kanton rund 100 Plätze für UMA. Aus diesem Grund suchen wir derzeit rund 30 zusätzliche Plätze. Jedes Jahr wird ein Teil der Jugendlichen volljährig, gleichzeitig kommen neue UMA hinzu. Wie viele es sein werden, ist schwer abzuschätzen.

Können Sie uns ein bisschen mehr über diese Jugendlichen, die zwischen 14- bis 17-jährig sind, erzählen? Woher kommen Sie? Welche Erlebnisse und Schicksale tragen sie mit sich?

Die meisten Jugendlichen stammen aus Afghanistan. Die Fluchtgeschichten sind teilweise dramatisch. Die jungen Leute sind interessiert daran, die Sprache zu lernen, eine Ausbildung zu machen und wirtschaftlich unabhängig zu werden. Darin müssen wir sie unterstützen. Die Chancen für eine erfolgreiche Integration sind bei jungen Menschen am Grössten, und dies ist auch für die Wirtschaft die sinnvollste Lösung.

Stimmt es, dass manche Personen beim Alter tricksen und tatsächlich älter sind?

Solche Fälle gibt es. Im Zweifelsfall führt der Bund in den Bundesasylzentren vorgängig eine medizinische Altersanalyse durch, bevor er die Personen den Kantonen zuweist. Somit können wir davon ausgehen, dass die uns zugewiesenen Minderjährigen tatsächlich minderjährig sind.

Welche Massnahmen treffen Sie für die Betreuung dieser Jugendlichen, um auch allfälligen Ängsten in der Bevölkerung entgegenzuwirken?

Die Jugendlichen werden von der Caritas Schweiz eng und rund um die Uhr betreut. Die UMA-Zentren verfügen über eine strikte Hausordnung mit klar festgelegten Ruhezeiten. Das Einhalten solcher Regeln gehört zu einer erfolgreichen Integration. Tagsüber besuchen die Jugendlichen Integrationsklassen oder Brückenangebote in Goldau respektive Pfäffikon oder werden in Intensivdeutschkursen unterrichtet, mit dem Ziel, anschliessend eine Lehre oder Anlehre absolvieren zu können. Ich kann gut verstehen, dass neue Unterkünfte bei der Bevölkerung Verunsicherung auslösen. Hier müssen wir zukünftig besser informieren, Verständnis schaffen und auf unsere langjährige Erfahrung in der Unterbringung junger Menschen hinweisen.

Vor wenigen Wochen ist ein Anlauf gescheitert, in Unteriberg eine Integrationsklasse für unbegleitete minderjährige Asylbewerber zu eröffnen. Der Widerstand war zu gross. Wie gehen Sie im Thema der UMA weiter vor?

Das Amt für Migration sucht unablässig nach Lösungen für diese Menschen – und wird dies auch in Zukunft tun müssen.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/schwyz/asylsuchende-in-einsiedeln-regierungsraetin-steimen-ich-kann-gut-verstehen-dass-neue-unterkuenfte-verunsicherung-ausloesen-ld.2474623)


+++MITTELMEER
Möglicherweise waren Push-Backs der Küstenwache Schuld am Bootsunglück in Griechenland
Es gibt Vorwürfe, dass das Boot mit Geflüchteten vor Griechenland wegen Push-Backs der griechischen Küstenwache gesunken ist. WDR-Journalist Bamdad Esmaili berichtet im Interview, was Überlebende des Unglücks erzählen.
https://www1.wdr.de/nachrichten/bootsunglueck-mittelmeer-interview-bamdad-esmaili-100.html
-> https://www.spiegel.de/ausland/griechenland-kyriakos-mitsotakis-weist-kritik-an-rettungsaktion-nach-schiffsunglueck-zurueck-a-26833392-f8ba-4a2c-b43f-bcbbe85acbff?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter#ref=rss


Flucht übers Mittelmeer: „Babies werden durch die Luft geworfen, Menschen auf Rettungsinseln ausgesetzt“
Nach dem Schiffsunglück auf dem Mittelmeer mit über 500 Toten hofft Julian Pahlke (Grüne) auf eine Korrektur der EU-Asylreform. Seine Partei werde sich dazu verständigen. Was sich im Mittelmeer ereigne, sei für die EU beschämend und dystopisch.
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingskatastrophe-vor-griechenland-interview-mit-julian-pahlke-gruene-dlf-4fd5a791-100.html


Bootsunglück in Griechenland: Europol soll bei Aufklärung des Bootsunglücks helfen
Unter den Überlebenden des Unglücks mit vermutlich mehreren Hundert Toten sind auch Verdächtige eines Schleuserrings. Europol soll nun dessen Drahtzieher finden.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/bootsunglueck-griechenland-europol-aufklaerung?wt_zmc=sm.int.zonaudev.twitter.ref.zeitde.redpost.link.x&utm_medium=sm&utm_source=twitter_zonaudev_int&utm_campaign=ref&utm_content=zeitde_redpost_link_x&utm_referrer=https%3A%2F%2Ft.co%2F


+++EUROPA
Kommentar zur EU-Asylpolitik: Abschottung um jeden Preis
Asylverfahren an den EU-Außengrenzen verlagert Probleme nur, meint Franka Welz. Gelöst sind sie dadurch noch lange nicht. Diese unangenehme Wahrheit sollten Politiker aussprechen, statt sie zu verstecken.
https://www.deutschlandfunk.de/eu-migrationsabkommen-kommentar-100.html



nzz.ch 17.06.2023

Über die iberische Route gelangen weniger Migranten nach Europa – woran liegt das?

Tunesien soll zum Grenzpolizisten der EU werden, Marokko ist das schon länger. Seit Jahren spielt das Regime von König Mohammed VI. eine entscheidende Rolle dafür, dass weniger Migranten nach Spanien und Portugal gelangen. Doch das hat seinen Preis.

Julia Monn

Wenn der marokkanische König Mohammed VI. verstimmt ist, dann sorgt das in den Regierungssitzen in Madrid und Lissabon regelmässig für Anspannung. Das autokratisch regierte Marokko unterhält komplizierte Beziehungen zu seinen europäischen Nachbarn.

Bei Unstimmigkeiten kam es deshalb in der Vergangenheit mehrmals vor, dass der Herrscher in Rabat Migranten als Druckmittel einsetzte, um seinen politischen Forderungen gegenüber Europa Nachdruck zu verleihen.

Unvergessen ist beispielsweise der Massenansturm auf die spanische Enklave Ceuta im Mai 2021, als an einem einzigen Tag fast 12 000 Jugendliche spanisches Festland erreichten und die marokkanischen Grenzbeamten tatenlos zusahen.

Die Regierung in Rabat war verstimmt darüber, dass Spanien den kranken Brahim Ghali aus dem algerischen Exil in ein spanisches Spital transportiert hatte. Ghali ist Chef der westsaharischen Unabhängigkeitsbewegung und Präsident der Exilregierung. Er gilt in Marokko als Terrorist.

Über die westliche und östliche Route kommen immer weniger

Spanien – und damit Europa – ist an der engsten Stelle nur rund 20 Kilometer von Marokko entfernt. Zusätzlich hat das Land mit Ceuta und Melilla zwei Enklaven auf marokkanischem Territorium. Diese wenigen Quadratkilometer Europa in Afrika sind Anziehungspunkte für viele, die über die sogenannte westliche Migrationsroute auf europäisches Gebiet gelangen wollen.

Waren es noch vor zehn Jahren hauptsächlich Migranten aus Subsahara-Staaten wie Mauretanien, Senegal oder Guinea, sind es nun vornehmlich Marokkaner, Algerier oder Syrer, die über diese Route nach Europa streben. Doch seit über einem Jahr nimmt die Zahl derer, die es tatsächlich schaffen, ab.

Im Vergleich zu den ersten fünf Monaten des Jahres 2022 sind bis Ende Mai 2023 rund 30 Prozent weniger Neuankömmlinge über die westliche Route nach Europa gelangt. Rund 10 000 Migranten registrierten das UNHCR und die International Organization for Migration (IOM) in diesem Jahr. Mit bisher 50 Toten nahm auch die Zahl jener rapide ab, die auf diesem Weg nach Europa starben.

Bis Anfang Juni erfassten die internationalen Organisationen auch für die sogenannte östliche Route, die aus Syrien, Afghanistan, Palästina und Nigeria in die Türkei, nach Griechenland, Bulgarien oder Zypern führt, eine ähnlich hohe Anzahl an Migranten. Damit konnte die Zuwanderung seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise 2015, als rund 900 000 Flüchtlinge allein über diese Route nach Europa gelangten, massiv reduziert werden.

Daran dürfte das umstrittene Abkommen, das die EU im März 2016 mit der Türkei geschlossen hatte, erheblichen Anteil haben. Für bisher 9 Milliarden Euro verhindert der türkische Präsident Erdogan, dass Millionen Vertriebene aus Afghanistan, Syrien und anderen Ländern Richtung Europa weiterziehen.

Rund 1 Milliarde lässt sich Europa Marokkos Hilfe kosten

Während manche Menschenrechtsorganisationen diesen «Deal» mit einem zunehmend diktatorisch agierenden Präsidenten vehement kritisieren, bleibt oft unbeachtet, dass Europa sich auch an seiner westlichen Aussengrenze den Schutz von einem Autokraten erkauft.

Zwar gibt es kein offizielles Flüchtlingsabkommen zwischen der EU oder den iberischen Ländern und Marokko, aber die Union hat zwischen 2014 und 2020 rund 345 Millionen Euro dafür bezahlt, dass Rabat Migranten auf ihrem Weg nach Europa schon auf dem eigenen Territorium aufhält.

Im EU-Budget von 2021 bis 2027 sind weitere 500 Millionen dafür veranschlagt. Hinzu kommen mindestens 125 Millionen Euro, die Spanien laut seinem Innenministerium seit 2019 für die Unterstützung bei der Kontrolle seiner Aussengrenze mit Marokko an das Nachbarland überwiesen hat.

Für die Dienste als Grenzpolizist Europas erhält König Mohammed VI. also bis 2027 mindestens eine Milliarde Euro. Dabei war es ausgerechnet das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei, welches ein Handeln an der Westgrenze Europas dringlich gemacht hatte.

Angesichts der zunehmenden Schwierigkeiten nach 2016, über die östliche Route nach Europa zu gelangen, verschoben sich die Migrationsbewegungen zunächst auf die viel gefährlichere zentrale Route. Diese führte vornehmlich aus Libyen zur italienischen Küste.

Doch als zahlreiche Unglücke, bei denen Migranten ertranken, weltweit Schlagzeilen machten, schloss Italien zeitweise seine Häfen für Rettungsboote und kooperierte mit Milizen, die in Libyen gegen Schlepper vorgingen. Damit wurde die westliche Route attraktiver.

2018 erreichte die Migration aus Marokko nach Iberien mit über 65 000 Migranten ihren Höchststand. Damit verzeichnete diese Passage das erste und bisher einzige Mal grössere Zahlen als die zentrale oder die östliche Route.

In der Pandemie werden die Kanarischen Inseln zur Todesfalle

Gleichzeitig war das Hauptzielland Spanien mit den Ankommenden überfordert. 2018 überwies das Land nur rund 3 Millionen Euro an Marokko für den Grenzdienst. 2019 steigerte Madrid diese Ausgaben bereits um 1000 Prozent auf 33 Millionen, seither folgen weitere Millionen.

Die Grenzzäune entlang der spanischen Enklaven wurden ausgebaut und das Grenzpersonal aufgestockt. Auch in Überwachungstechnologie wurde investiert.

Vor allem aber verstärkten Marokko und Spanien ihre Präsenz in den Gewässern entlang der westlichen Route. So patrouillieren neben der spanischen Seenotrettung und Polizei auch die Küstenwache und die marokkanische Marine im Atlantik und im Mittelmeer. Zudem erhalten die Küstenwachen Mauretaniens und Senegals Gelder für das Aufspüren von Flüchtlingsbooten.

Besonders in den Corona-Pandemie-Jahren 2020 und 2021 setzten viele dieser Boote aus Nordwestafrika kommend zur Flucht auf die Kanarischen Inseln an. Der Archipel im Atlantischen Ozean gehört zu Spanien und wurde wegen der Lockdowns in Marokko und der zunehmenden Schwierigkeiten, über Land nach Iberien zu gelangen, zum Migrations-Hotspot.

Die Überfahrt im Atlantik ist jedoch hochgefährlich, in den Pandemiejahren kamen laut der IOM über 2000 Menschen bei der Überfahrt ums Leben. Auch, weil Marokko und Spanien ihre Seepatrouillen reduzierten. Die Dunkelziffer dürfte angesichts vieler «stiller» Havarien, bei denen der Ozean die kleinen Fischer- und Schlauchboote schluckt, ungleich höher sein.

Jeweils rund 23 000 Migranten erreichten 2020 und 2021 die Inseln und wurden dort in Dutzende Auffanglager gebracht, wo sie Monate ausharrten, bevor Kinder und jene, die über einen Pass verfügten, auf spanisches Festland gebracht wurden.

Auch politisch bezahlt Spanien einen Preis

Ausgelöst durch die diplomatische Krise zwischen Spanien und Marokko 2021, spitzte sich die Situation auf den Inseln weiter zu. Dies, bis Madrid Anfang des letzten Jahres im europäischen Alleingang eine Kehrtwende in seiner Marokko-Politik vollzog: Es begrüsste Rabats Plan, die 1976 annektierte Westsahara zu einer autonomen Region des Landes zu machen. König Mohammed VI. befahl daraufhin seine Grenzbeamten wieder auf ihre Posten zurück.

Doch der autokratische Herrscher will mehr. Und auch die EU will ihre Beziehungen zu dem «Schlüsselpartner» vertiefen. Marokko und Spanien verhandeln zurzeit zudem über ein Zollabkommen, das die Einfuhren von Waren nach Europa erleichtern soll.

Auch die Neuregelung von Fischereizonen soll angegangen werden. Die Gespräche gestalten sich aktuell laut spanischen Medienberichten aber schwierig. Das dürfte auch daran liegen, dass in Spanien im Juli Wahlen sind.

Mohammed VI. wird genau verfolgen, ob es in Madrid zu einem konservativen Machtwechsel kommt. Denn noch ist unklar, wie eine Marokko-Politik der Konservativen in Spanien aussähe.

Der sozialdemokratische Regierungschef Pedro Sánchez dagegen lobte das Regime in Rabat erst kürzlich als «essenziellen Partner» bei der Bekämpfung der illegalen Migration. Er warnte vor einem Kurswechsel. Man habe in der Vergangenheit gesehen, was passiere, wenn Marokko dieser Aufgabe nicht mehr nachkomme.
(https://www.nzz.ch/international/weniger-migration-spanien-lebt-den-eu-asylkompromiss-mit-marokko-ld.1742388)


+++FREIRÄUME
Nach der aufwändigen Sanierung des Berner Monbijouparks bestimmt das Quartier, wie stark der beliebte Ort belebt werden soll. (ab 02:13)
(https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/die-walliser-bob-legende-jean-wicki-ist-tot?id=12406381)


Hausbesetzungen: Warum stehen Gebäude trotz Wohnungsnot leer?
Fälle von Hausbesetzungen werfen die Frage auf, warum Gebäude in Zeiten der Wohnungsnot überhaupt leer stehen. Im Interesse der Vermieter ist dies oft nicht.
https://www.nau.ch/news/schweiz/hausbesetzungen-warum-stehen-gebaude-trotz-wohnungsnot-leer-66511305


+++GASSE
nzz.ch 17.06.2023

«Kokain ist auf dem Weg, zur Volksdroge zu werden», sagt ein Zürcher Drogenexperte

Die Droge ist mittlerweile nahezu überall verfügbar und zudem erschwinglich. Suchtexperten halten eine kontrollierte Abgabe aus medizinischen wie auch rein praktischen Gründen für problematisch.

Stephanie Lahrtz

Kürzlich hat das Berner Stadtparlament eine Vorlage angenommen, gemäss der die kontrollierte Abgabe von Kokain in einem Pilotprojekt getestet werden soll. Ähnliches wollte vor zwei Jahren auch die Stadtzürcher FDP, konnte sich damals aber nicht durchsetzen. Die repressive Drogenpolitik sei gescheitert, so hiess es, man müsse auch bei Kokain neue Wege gehen. Doch wie gross ist das Kokainproblem in der Schweiz tatsächlich? Und könnten Kokainkonsumenten wirklich mit Abgabeprogrammen erreicht werden?

Landesweit habe der Kokainkonsum in den letzten Jahren zugenommen, vermuten Experten. «Beim Drug-Checking in Zürich wird jede dritte Probe als Kokain abgegeben», sagt Dominique Schori vom Drogeninformationszentrum in Zürich (DIZ). «Und wir bekommen wegen Fragen und Schwierigkeiten mit diesem Stoff die meisten Beratungsanfragen.»

Aber: «Den typischen Kokainkonsumenten gibt es heutzutage nicht mehr», erklärt der Leiter des DIZ weiter. Kokain werde von Menschen jeden Alters und aus nahezu allen gesellschaftlichen Schichten konsumiert.

Natürlich sei Kokain nach wie vor eine Partydroge der jungen Erwachsenen. Weit verbreitet sei auch der Konsum während der Arbeit, insbesondere von Berufsgruppen mit langen Arbeitszeiten, wechselnden Tag-Nacht-Schichten oder körperlichen Anstrengungen.

Weniger als 20 Franken für eine Konsumeinheit

Kokain ist also längst keine Schickeriadroge mehr und auch nicht nur das Aufputschmittel der Wohlhabenden. Derzeit kostet in der Schweiz eine Konsumeinheit – das sind 0,1 bis 0,2 Gramm – zwischen 5 und 20 Franken. «Kokain ist auf dem Weg, zur Volksdroge zu werden», sagt Boris Quednow von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.

Doch da es in der Schweiz kein Suchtmonitoring gibt, weiss niemand so genau, wie viele Personen denn nun tatsächlich Kokain konsumieren. Experten schätzen, dass im Durchschnitt zwischen fünf und zehn Prozent der Bevölkerung dies zumindest gelegentlich tun, bei den jungen Erwachsenen sogar mehr.

In ganz Europa gibt es eine regelrechte Kokainschwemme. Die Menge an beschlagnahmtem Kokain steigt seit Jahren. 2022 wurden allein in Antwerpen und Rotterdam, wo der Stoff aus den südamerikanischen Herkunftsländern ankommt, mehr als 160 Tonnen Kokain konfisziert – ein Rekord. Rund das Dreifache gelangt unentdeckt nach Europa. Ein weiteres Indiz ist die Tatsache, dass weitherum der Preis gesunken und die Reinheit des verkauften Stoffes gestiegen ist. In der Schweiz sind die verkauften Substanzen mittlerweile zu 70 bis 80 Prozent reines Kokain.

Zürich und Genf sind gemäss Abwasseranalysen in Europa Hochburgen des Kokainkonsums. Nur Antwerpen und Rotterdam haben einen noch höheren Konsum.

In Genf hat sich das Kokainproblem in letzter Zeit massiv verschärft. Die Stadt leidet seit gut einem Jahr an einer Crack-Epidemie. Crack ist eine rauchbare Kokainvariante, die durch Aufkochen von Kokainpulver mit einem basischen Stoff wie Backpulver entsteht. Es wirkt intensiver, aber kürzer. Seit letztem Jahr werden in Genf fixfertige Crack-Päckchen im Strassenhandel angeboten. Durch die einfache Verfügbarkeit hat sich der Konsum innert weniger Monate schätzungsweise verdoppelt.

Gemäss Medienberichten gibt es zunehmend Probleme mit Drogendeals auf offener Strasse und vor Schulen sowie mit verwahrlosten, teilweise auch aggressiven Süchtigen in Wohnquartieren. Für Drogenexperten ist es nur eine Frage der Zeit, bis solche Crack-Angebote auch auf andere Städte überschwappen.

Mehrheit der Konsumenten nimmt Kokain unregelmässig

«Die Vorschläge, Kokain kontrolliert an Konsumenten abzugeben, sind vor allem Hilferufe der Städte, um auf die Situation mit Kokain aufmerksam zu machen und eine gesellschaftliche Diskussion darüber zu starten», meint Frank Zobel von Sucht Schweiz. Aber alle befragten Experten halten die Vorstösse, Kokain kontrolliert abzugeben, für noch nicht ausgereift. Denn es existieren mehrere Probleme bei der Ausgestaltung einer kontrollierten Kokainabgabe.

Die Gruppe der Kokainkonsumenten ist sehr heterogen, nicht nur bezüglich ihrer sozialen Herkunft. Auch die Intensität des Konsums ist sehr unterschiedlich. Die Bandbreite reicht vom Schwerabhängigen bis hin zum Gelegenheitskokser.

«Untersuchungen im Kanton Waadt haben ergeben, dass rund 80 Prozent der Kokainkonsumenten die Droge unregelmässig konsumieren», berichtet Zobel. «Diese Personen nehmen die Substanz auf Partys, mit Freunden nach dem Abendessen oder am Wochenende. Es ist ein Teil ihres Lebens, aber es bestimmt nicht ihren Alltag.» Diese Gruppe schnupfe meist das Kokain, sie ziehe die berühmt-berüchtigte Linie, auf der Klubtoilette oder vor dem Couchtisch.

Diese Personen werde man mit einer streng kontrollierten Kokainabgabe kaum erreichen, meint der Suchtforscher. Schwierig wäre es auch mit jenen, die den Stoff regelmässig zur Bewältigung ihres Arbeitsalltags nähmen.

Schwerabhängige nehmen oft mehrere Drogen

Anders könnte es bei schwer abhängigen, randständigen Personen aussehen. Sie nehmen bereits Heroin oder das Ersatzprodukt Methadon und oft zusätzlich das auf der Gasse erworbene Kokain. Sie ziehen meist keine Linie, sondern injizieren sich Kokain intravenös oder rauchen Crack.

Man sollte zuerst überlegen, wie die Schwerabhängigen mit regelmässigem Kokainkonsum den Stoff kontrolliert erhalten könnten, meint Zobel. Das würde nicht nur die Situation für diese Menschen verbessern. Es könnte vielleicht sogar Einfluss auf den illegalen Kokainmarkt haben. Denn die Schwerabhängigen «verbrauchten» schätzungsweise gut ein Drittel des in der Schweiz konsumierten Kokains.

«Bei Kokain gibt es kein Sättigungsgefühl»

Doch Quednow sieht auch aus gesundheitlichen Gründen eine kontrollierte Kokainabgabe skeptisch. Er untersucht seit Jahren die Wirkungen von Drogen auf das Gehirn. «Bei Kokain gibt es, anders als bei Opiaten wie Heroin, kein Sättigungsgefühl.» Vielmehr gebe es den Drang, immer weiter zu konsumieren, bis Stoff oder Geld aufgebraucht seien. Zudem liessen der Kick und die Rauschwirkung bereits nach 20 bis 45 Minuten wieder nach. Bei Alkohol oder auch Opiaten halte hingegen der Rausch viel länger an.

«Wenn wir nun Abhängigen Kokain kontrolliert abgeben, dann werden sie zusätzlich auch illegal erworbenen Stoff konsumieren», befürchtet er.

Zudem ist die Substanz toxisch. Kokain verursacht laut Quednow mit die grössten gesundheitlichen Probleme aller Drogen – auch wenn sie bei einer Überdosierung nicht so lebensgefährlich ist wie das synthetische Opioid Fentanyl, das in den USA für Zehntausende Drogentote pro Jahr verantwortlich ist.

Kokain schädigt Herz und Gehirn gleichermassen. In der ersten Stunde nach der Kokaineinnahme steigt das Infarktrisiko um das Zwanzigfache. Wenn junge Männer einen Schlaganfall erleiden, dann ist das in den meisten Fällen auf Kokainkonsum zurückzuführen. Zobel vermutet, dass viele Kokaintote nicht als solche identifiziert werden, sondern «nur» ein Herz-Kreislauf-Versagen erkannt wird. Kokain beeinträchtigt zudem das Gedächtnis und verursacht schon bei einem Wochenendkonsum kognitive Einbussen. Zudem macht Kokain aggressiv, gerade auch wenn es zusammen mit Alkohol konsumiert wird.

Bei einer kontrollierten Kokainabgabe könnte nur das «echte» Gift mit all seinen gesundheitlichen Problemen angeboten werden. Denn einen Ersatzstoff wie das Methadon für Opiatsüchtige gibt es für Kokainkonsumenten nicht.
(https://www.nzz.ch/wissenschaft/kokain-suchtexperten-halten-kontrollierte-abgabe-fuer-problematisch-ld.1742579)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Umstrittenes Konzert in Bern: Demonstration gegen Rammstein
Rund 100 Personen von der Juso und anderen Gruppen protestieren vor dem Wankdorfstadion gegen das Rammstein-Konzert. Hintergrund sind Vorwürfe gegen Sänger Till Lindemann.
https://www.derbund.ch/protestaktion-gegen-rammstein-vor-dem-stadion-470957571508
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/so-ist-die-stimmung-vor-dem-umstrittenen-rammstein-konzert-151883967
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/protestaktion-gegen-leadsaenger-till-lindemann-vor-dem-stadion-152082409
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/210989/
-> https://www.watson.ch/schweiz/leben/204212237-rund-100-personen-demonstrieren-gegen-rammstein-konzert-in-bern
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/rund-100-personen-demonstrieren-gegen-rammstein-konzert-in-bern-66522233
-> https://www.blick.ch/people-tv/international/gibts-jetzt-puff-mit-fans-juso-demo-an-rammstein-konzert-in-bern-bewilligt-id18673234.html
-> https://www.20min.ch/story/ich-komme-fuer-die-musik-und-die-show-das-sagen-rammstein-fans-342416166755
-> https://www.watson.ch/international/interview/395889387-wie-eine-expertin-fuer-sexuelle-gewalt-den-fall-till-lindemann-einschaetzt
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nach-missbrauchsvorwuerfen-dutzende-demonstrieren-in-bern-vor-rammstein-konzert
-> https://www.watson.ch/videos/schweiz/500560770-rammstein-spielen-dieses-wochenende-in-bern-wir-waren-da
-> https://twitter.com/realaydemir
-> https://twitter.com/i/status/1670088148146110467
-> https://twitter.com/bwg_bern/status/1670090889413230593
-> https://twitter.com/Katharina_161/status/1670076758672941056
-> https://twitter.com/i/status/1670106795929378817



300 Personen prangern Polizeigewalt in Basel an – es soll aber auch ein nationales «Problem» sein
Der Demonstrationszug unterstellte allen Polizistinnen und Polizisten Rassismus und Gewalt. In Reden berichteten Sprecher von verschiedenen Fällen.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/demonstration-300-personen-prangern-polizeigewalt-in-basel-an-es-soll-aber-auch-ein-nationales-problem-sein-ld.2475119
-> https://www.baseljetzt.ch/demo-gegen-polizeigewalt-an-sans-papiers/74826
-> https://telebasel.ch/sendungen/punkt6
-> https://twitter.com/3rosen
-> https://twitter.com/Kapo_BS/status/1670058545377574912
-> https://www.bazonline.ch/schwere-vorwuerfe-gegen-basler-polizist-976719612223


Feministischer Streik: Impressionen Teil 2
Bunt, laut und magisch – diese drei Worte sagen schon sehr viel aber sie schaffen es dennoch kaum die Energie zu beschreiben, welche die Bundesstadt am 14. Juni erfüllte. Nach Angaben der Organisator*innen färbten insgesamt 60’000 Streikenden die Bundeshauptstadt violett. Eindrücke von Rebekka Gammenthaler.
https://journal-b.ch/artikel/feministischer-streik-impressionen-teil-2/
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/210936/


PRIDE ZH:
Zurich Pride 2023: Tausende ziehen in Partylaune durch die Stadt
Sie sind laut, friedlich und bunt und Discjockeys sorgen für eine Stimmung wie an der Street Parade.
https://www.tagesanzeiger.ch/tausende-menschen-feiern-an-der-pride-2023-911311392458
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/tausende-nehmen-an-der-pride-in-der-zuercher-innenstadt-teil?id=12406441
-> https://www.watson.ch/schweiz/leben/456536438-warum-es-pride-festivals-braucht-und-was-sie-fuer-dich-veraendern-koennten?utm_source=twitter&utm_medium=social-auto&utm_campaign=auto-share
-> https://www.baerntoday.ch/schweiz/die-ersten-demonstrierenden-treffen-im-kasernenareal-ein-der-event-im-ticker-152026884
-> https://www.telem1.ch/aktuell/premiere-wir-begleiten-einen-19-jaehrigen-aargauer-an-seine-erste-pride-152082049
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/regenbogenfahnen-in-zuerich-tausende-menschen-an-der-pride-in-feierlaune
-> https://www.nau.ch/ort/zurich/zurich-pride-verwandelt-stadt-in-farbenmeer-66521274
-> https://www.blick.ch/people-tv/schweiz/schweizer-lgbtq-stars-zur-pride-wir-muessen-ueber-pronomen-reden-id18672638.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/mit-fast-70-zum-ersten-mal-an-der-pride-786843341024
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/kunterbunt-und-heiss-die-impressionen-der-zurich-pride-2023-152058914
.> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/laut-und-bunt-das-war-der-pride-umzug-durch-zuerich-152081245?autoplay=true&mainAssetId=Asset:152081242
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/besuchendenrekord-und-bunte-party-das-war-die-zurich-pride-2023-152026884?autoplay=true&mainAssetId=Asset:152081242
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/pride-zuerich-laut-und-bunt-das-war-der-pride-umzug-durch-zuerich-ld.2475158


Frauenstreik: Linke geben sich auf Twitter als Zürcher Polizei aus
Auf Twitter hat sich eine Person als Stadtpolizei Zürich ausgegeben. Daraufhin meldete sich der verifizierte Account der Stapo und drohte mit einer Anzeige.
https://www.nau.ch/news/schweiz/frauenstreik-linke-geben-sich-auf-twitter-als-zurcher-polizei-aus-66521824


+++BIG BROTHER
Staatstrojaner: Blankoscheck für Geheimdienst-Überwachung der Presse
Ein geplantes Medienfreiheitsgesetz der EU sollte Journalist:innen vor Überwachung schützen. Doch Europas Regierungen planen eine Blankoausnahme für „nationale Sicherheit“, die den Vorschlag praktisch aushöhlen würde.
https://netzpolitik.org/2023/staatstrojaner-blankoscheck-fuer-geheimdienst-ueberwachung-der-presse/


+++FRAUEN/QUEER
Bundesgericht lehnt drittes Geschlecht ab – Meinungen gehen auseinander
Ausgerechnet im Juni – dem Pride-Monat – fällt das Bundesgericht einen wegweisenden Entscheid und lehnt ein drittes Geschlecht ab. Dies weil die gesetzliche Grundlage fehle. Mit dem Entscheid ist die Debatte aber noch nicht vom Tisch.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/bundesgericht-lehnt-drittes-geschlecht-ab-meinungen-gehen-auseinander-152082210



nzz.ch 17.06.2023

«Für das Wort ‹schwul› kämpften wir enorm», sagt der schwule Mann. «Ich muss mich nicht in eine Kategorie eingrenzen», entgegnet die nonbinäre Person

Michael Bermann und Lily Watanabe trennen 55 Jahre. Er kämpfte in den 1970er Jahren für die «Schwulenbefreiung», sie heute gegen «intersektionale Diskriminierung». Ein kontroverses Generationentreffen vor dem Zürcher Pride-Wochenende.

Yuki Schmid Hossli (Text), Karin Hofer (Bilder)

Sie wollten beide die Kontrolle behalten. Michael Bermann und Lily Watanabe wollten selbst über ihr Comingout entscheiden – wer davon erfahren würde und wer nicht.

Bermann, heute 75 Jahre und Mitgründer der Homosexuellen Arbeitsgruppe Zürich (HAZ), gelang das nicht. Eine Zeitung veröffentlichte im Rahmen einer Aktion für die Sache der «Homophilen» seinen Namen – ohne ihn zu fragen.

Watanabe – 20, nonbinär (she/they Pronomen) und aktivistisch engagiert – hatte mehr Kontrolle. Sie outete sich ab 14 etappenweise im Freundes- und Familienkreis, bis es alle wussten.

Dass Watanabes Comingout einfacher verlief, ist auch Vorkämpfern wie Bermann zu verdanken. Denn er engagiert sich seit Jahren für jene Rechte, die Watanabe heute geniesst. Bermann setzte sich schon als ETH-Student für die Schwulenbefreiung ein. Damals, in den 1970er Jahren, als «schwul» noch als Schimpfwort galt.

Auch Watanabe führt einen Kampf. Sie engagiert sich in einer Reihe queerer Gruppierungen, gründete etwa an der Kantonsschule Hohe Promenade die «Gender Sexuality Alliance». Deren Ziel: «die Schule LGBTQIA+ freundlicher zu gestalten». Ein solcher Treffpunkt wäre zu Bermanns Zeiten undenkbar gewesen, sagt er.

Die zwei treffen sich in der Woche der Pride-Parade, des grössten queeren Anlasses der Schweiz. Letztes Jahr nahmen rund 40 000 Personen daran teil. Sie stehen für zwei Generationen von Aktivismus und diskutieren über das, was sie verbindet – und was sie trennt.

Schon im Sprachgebrauch wird der Generationenunterschied deutlich. Watanabe benutzt englische Wörter und Abkürzungen wie «POC», «queer» oder «Finta» ganz selbstverständlich. Viele davon sind Bermann unbekannt.

Am Samstag, 17. Juni, dem Tag der Pride, feiern sein Partner und er ihr Jubiläum; seit fünfzig Jahren sind sie zusammen. Letztes Jahr heirateten sie «ganz bürgerlich» – und legal. «Mit dem Alter bin ich vermutlich konservativer geworden», sagt er. Unterdessen sei er sogar NZZ-Abonnent.

Watanabe gibt sich progressiv. Es brauche einen grundlegenden Wandel der Gesellschaft, findet sie. Mehr Freiraum, um sich zu definieren.

Ein grosser Redebedarf

Es sind solche Meinungsverschiedenheiten, die dieses Wochenende im Rahmen der Pride angegangen werden. «Lass uns darüber reden», ist das Motto der diesjährigen Veranstaltung.

Nun sprechen sie darüber.

Angefangen beim Wort «queer», das heute zum Übergriff für alle geworden ist, die nicht heterosexuell sind oder deren Geschlecht nicht jenem bei ihrer Geburt entspricht. Für Bermann ist dieses Wort ein «Versteckspiel». Es klinge schöner als «schwul» und sei nicht so negativ konnotiert. Dabei habe er in den 1970ern genau dafür gekämpft, dass dieses Wort verwendet werde. «Schwul war ein Schimpfwort, ein Totschläger, mit dem man jemand mundtot machen konnte.»

Mit dem englischen Wort versuche man heute, Grenzen zwischen Sexualitäten und Geschlechtern aufzubrechen. Ganz anders als in der Pionierzeit der Schwulenbewegung, sagt Bermann: «Damals war die Ab- oder sogar Ausgrenzung innerhalb der Community enorm wichtig – auch begrifflich.»

Einen Artikel des von der HAZ herausgegebenen Magazins betitelte Bermann einst mit «Lila ist die Farbe des Regenbogens, Schwestern. Die Farbe der Befreiung ist Rot». Am kommunistischen «Rot» störte sich niemand. Dafür umso mehr am Ausdruck «Lila». Die Mitglieder der HAZ wollten nicht als Schwestern, als stereotype schwule Männer mit lackierten Fingernägeln, gesehen werden. Doch für Bermann war und ist die Rücksicht auf sämtliche Befindlichkeiten weniger entscheidend.

Anders sieht es Watanabe. Queere Menschen seien oft auch intersektional von Diskriminierung betroffen. Sie würden nicht nur wegen ihrer sexueller Orientierung ausgegrenzt, sondern auch, weil sie schwarz oder behindert seien. «Man bekommt manchmal auch in der Community keinen Platz, um sich selbst zu sein», so Watanabe.

Wichtig seien deshalb sogenannte «Safe Spaces». Orte, die beispielsweise nur für «queere People of Color» reserviert seien. Nur wenn auf diese Bedürfnisse geachtet werde, sei der Zusammenhalt der Bewegung gegeben. «Sonst haben wir nicht die gleiche Stärke der Öffentlichkeit gegenüber.»

Bei Geschlechterfragen spalten sich die Meinungen

Diese Einigkeit wird jedoch öfter auf die Probe gestellt. Die Öffentlichkeit diskutiert zurzeit emotional über das Thema Gender – etwa über den abgesagten Gender-Tag von Stäfa oder den neu eingeführten Wechsel des Geschlechtereintrags. Auch in der Community beziehen viele deutlich Position dazu.

Diese Emotionalität hält Watanabe für gerechtfertigt, «wenn infrage gestellt wird, ob man als nonbinäre Person existieren darf oder nicht». Hier öffnet sich ein Graben zu Bermann. Der ältere schwule Mann bekundet Mühe mit der Nonbinarität – dem Entscheid, sich weder als Frau noch als Mann einordnen zu wollen.

«Ich verstehe dieses Weder-noch nicht», sagt Bermann. 1971 veranstalteten Kreise rund um die HAZ in schäbigen Kellern der Universität erste Partys. Sie warben dafür nur versteckt mit A4-Flugblättern. Trotzdem hätten erstaunlich viele teilgenommen. Unter ihnen auch Männer, die dachten, dass sie «vielleicht etwas bisexuell sein» könnten. «Drei Monate später waren sie alle schwul.»

Um zu sich selbst stehen zu können, was ein grosser Kampf gewesen sei, müsse man sich auf irgendeine Art und Weise definieren, glaubt Bermann. Watanabe dagegen möchte sich nicht festlegen. «Genau das gibt mir Freiheit: dass ich mich nicht in eine Kategorie eingrenzen muss, in die ich nicht passe.»

Auch sie weiss nicht bei allen unterdessen verwendeten Geschlechtsidentitäten, was sie genau bedeuten. Je nach Zählweise sind es über 60. Viel wichtiger sei jedoch die Auseinandersetzung damit: «Es lässt Menschen, auch wenn sie nicht nonbinär sind, über sich selbst, über das Ausdrücken des eigenen Geschlechts und das Erleben von Geschlechterrollen reflektieren.»

Für viele Aktivisten der alten Schule sind die verschiedenen Geschlechtsidentitäten überfordernd – vor allem wenn es die Sprache betrifft. Bermann sagt, er könne «die ganzen Buchstaben» schon gar nicht mehr aufzählen. Er spricht von einer «Buchstabenseuche». Den Genderstern benutzt er selten. «Sprache verändert sich, aber zu kompliziert darf es nicht werden», findet er.

Watanabe versucht, immer gendergerecht zu schreiben – entweder mit dem Doppelpunkt oder dem Genderstern. «Die Verwendung des Gendersterns hat keinerlei negative Auswirkungen. Aber den Angesprochenen bedeutet er viel.»

Gar nicht im Zentrum der Debatte

Auch wenn Watanabe und Bermann beim Genderstern und bei der Nonbinarität Differenzen haben, eint sie vor der diesjährigen Pride etwas Wesentliches: die Sorge um den Verlust der erkämpften Rechte. Wichtige Meilensteine wie die Ehe für alle müssten erhalten bleiben, homophobe Attacken verhindert werden, finden beide.

Der Dachverband Pink Cross verzeichnete jüngst mit 134 protokollierten Angriffen einen neuen Höchststand. Am letztjährigen Pride-Gottesdienst stürmten mutmassliche Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung Junge Tat den Anlass, und im Frühjahr wurden an der Zürcher Europaallee auf offener Strasse drei Dragqueens verprügelt. Auch Watanabe und Bermann haben ihr Auftreten schon hinterfragt, aus Angst, diskriminiert zu werden.

«Genau wegen solcher Ereignisse unterstütze ich die Pride wieder», sagt Bermann. Zwischendurch hatte er das Gefühl, das schon alles erreicht sei. Er würde an der diesjährigen Pride zwar gerne mitlaufen, doch ihm ist ein Kochkurs dazwischengekommen – ein Hochzeitsgeschenk für zwei Freunde. Das sei terminlich «etwas blöd gelaufen, doch wir werden dort eine Art Mini-Pride machen», sagt er.

Watanabe wird an der Pride teilnehmen und beim Aufbau des Wagens von «du bist du» mithelfen. Die Beratungsplattform für junge queere Menschen erhält für den Umzug einen kleinen Wagen.

Sponsoren wie ZKB, UBS und Swisscom hingegen sind mit weitaus grösseren Gefährten unterwegs. Dass die Konzerne mehr Sichtbarkeit als die kleineren Organisationen haben, stört Watanabe. «Wie viel ihrer Unterstützung dient der Imageverbesserung?», fragt sie sich.

Aus Bermanns Sicht ist dieser Argwohn unberechtigt. Ihn freut und beeindruckt es, grosse Konzerne an der Pride zu sehen. «Es zeigt mindestens eine Offenheit und ein Minimum an Geisteshaltung», so Bermann. Er würde sie auch ohne Sponsoring mitlaufen lassen.

Pride bedeutet übersetzt stolz. Und stolz, in diesem Punkt sind die beiden sich einig, sind sie «immer oder nie». «Immer», weil das Stolz-Sein eine Form von Widerstand ist. «Nie», weil man auf etwas Natürliches nicht stolz sein muss.



Pride-Parade am 17. Juni

yuk. Die 29. Zürcher Pride findet dieses Jahr am Samstag, 17. Juni, statt. Ab 13 Uhr gibt es auf dem Helvetiaplatz Reden, um 14 Uhr startet der Demonstrationsumzug in Richtung Sihlbrücke. Auf dem Kasernenareal sind am Freitag und Samstag zudem verschiedene Konzerte und Reden eingeplant. Weitere Informationen: www.zurichpridefestival.ch.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zurich-pride-ein-schwuler-und-eine-non-binaere-gespraech-zu-diskriminierung-ld.1742556)


+++RECHTSPOPULISMUS
SVP-Nationalrat Glarner hatte den Massnahmenkritiker eingeladen: Parlament geht nach Rimoldi-Vorfall über die Bücher
Für Journalistinnen und Besucher war die Wandelhalle im Bundeshaus während des Auftritts Selenskis Sperrzone. Doch Mass-Voll-Präsident Rimoldi konnte sich dort unbehelligt bewegen. Nicht nur die Parlamentsdienste stehen deswegen in der Verantwortung.
https://www.blick.ch/politik/svp-nationalrat-glarner-hatte-den-massnahmenkritiker-eingeladen-parlament-geht-nach-rimoldi-vorfall-ueber-die-buecher-id18673228.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
tagblatt.ch 17.06.2023

«Wollt ihr eigentlich Krieg?»: Wie die Ostschweiz zur Hochburg für Staatsverweigerer wurde und weshalb sie gefährlich sind

Sie wehren sich gegen Steuern, bombardieren Behörden mit verworrenen Schreiben und gründen eigene Königreiche. Die Schweizer Staatsverweigerer-Bewegung entstand im Thurgau, die Ostschweiz gilt inzwischen als wichtiges Zentrum der potenziell gewaltbereiten Szene.

Enrico Kampmann

«Ich kenne viele Menschen in der Schweiz, die besser bewaffnet sind und besser schiessen können als ihr alle zusammen», sagt der Mittvierziger rabiat in seine Handykamera. Die Augen in tiefen Höhlen unter einer Schiebermütze, adressiert er dabei die Polizei: «Das soll keine Drohung sein. Aber ich habe es gesehen. Wollt ihr eigentlich irgendwann Krieg?»

Das Video stammt von Matti Gerber* (Name der Redaktion bekannt). Er ist einer von vielen Ostschweizer Vertretern einer wachsenden Szene sogenannter Staatsverweigerer, in Deutschland als Reichsbürger bekannt. Das Narrativ eines drohenden Bürgerkriegs mit der Staatsgewalt ist unter ihnen weit verbreitet.

Die Szene ist lose organisiert und ideologisch heterogen. Gemeinsamer Nenner ist die Ablehnung der Legitimität des demokratischen Rechtsstaats und seiner Institutionen. Die zugrunde liegende Weltanschauung ist oft mit rechtsradikalem Gedankengut sowie dem Glauben an Pseudomedizin und einer Palette an Verschwörungstheorien verflochten. Wie etwa, dass es sich bei Staaten in Wirklichkeit um Firmen handelt. Und so weigern sie sich, Steuern zu zahlen, bombardieren Behörden mit verworrenen Schreiben oder gründen gleich eigene Gerichtshöfe oder gar Königreiche.

Seit der Pandemie hat die aus Deutschland und Österreich in die Schweiz übergeschwappte Staatsverweigerer-Bewegung beträchtlichen Aufschwung gewonnen. Wie viele Anhänger die Bewegung hierzulande hat, weiss man nicht. Schätzungen gehen von mehreren tausend Personen aus. Klar ist jedoch: Die Ostschweiz gilt als Hochburg der Szene. Und hier schlug sie auch ihre ersten Wurzeln. Im Thurgau, um genau zu sein.

Zwei neue Gerichtshöfe im Thurgau

2016 verlegte der International Common Law Court of Justice Vienna (ICCJV) sein Hauptquartier auf den Modelhof in Müllheim, das Anwesen des libertären Unternehmers Daniel Model. Der ICCJV, 2014 in Wien gegründet, war ein Pseudogerichtshof. Er beanspruchte, über internationalem Recht zu stehen, erfand Fantasiedokumente, hatte einen eigenen «Geheimdienst» und erkor «Sheriffs», die vom ICCJV verurteilte Personen verhaften sollten. Model, der bereits 2006 seinen eigenen Staat namens «Avalon» ausgerufen hatte, stellte seinen Hof zwischen 2015 und 2017 dem ICCJV für dessen Machenschaften zur Verfügung.

Im Oktober 2018 wurden die Führungspersonen bei einer gross angelegten Razzia verhaftet und später wegen Beteiligung an einer staatsfeindlichen Verbindung in Österreich verurteilt. Darunter auch Model. Der ICCJV gilt heute als zerschlagen. In das im Thurgau hinterlassene Vakuum rutschte gemäss Kennern der Szene der ebenfalls in Österreich entstandene «Global Court of the Common Law» (GCCL). Die Führungsriege war eine andere, das Konzept sehr ähnlich. Der GCCL ist auch eine Art Pseudogerichtshof und sektenartige Gruppierung, die weder den Staat noch die Justiz anerkennt. Die Anhänger orientieren sich an einer Art Naturgesetz und berufen sich dabei auf Bibelverse.

Der GCCL, wie auch der ICCJV, bestand anfangs nur aus einer kleinen Gruppe radikalisierter Staatsverweigerer. Doch dann kam Corona. Innert eines Jahres wuchs die Nutzerzahl in der geschlossenen GCCL-Gruppe auf der Chat-Plattform Telegram um das Zehnfache. Im April 2022 zählte die Gruppe für die ganze Schweiz 1500 Nutzer. In der Gruppe des Kantons Thurgau waren 300 Mitglieder, was der wohl grössten Ballung in der Schweiz entspricht. Zum Vergleich: In Zürich waren es 80.

Die Popularität des GCCL im Thurgau zeigte sich unter anderem bei einem Gerichtsprozess im Januar 2022 in Münchwilen. Ein GCCL-Mitglied hatte gegen die Maskentragepflicht verstossen und zog den Fall vor Gericht. Am Verhandlungstag mussten Dutzende Polizisten das Gerichtsgebäude sichern, weil sich rund 100 Menschen vor dem Gebäude versammelt hatten und Radau machten.

Staatsbekämpfung statt Schminktipps

Mittlerweile hat der GCCL, anfangs das Zentrum der Szene in der Schweiz, an Bedeutung verloren. Doch seine Ideologie sowie einige seiner Fantasiedokumente sind bis heute unter Staatsverweigerern weit verbreitet. War die Staatsleugnerbewegung bis vor etwa drei Jahren noch auf die Ostschweiz begrenzt, ist sie heute ein landesweites Phänomen. Die Mitglieder sind untereinander vernetzt, einen eindeutigen Schwerpunkt gibt es jedoch nicht mehr.

Während der Pandemie hat die Szene metastasiert. Heute besteht sie laut Kennern aus Dutzenden «Influencern», zu Deutsch Einflusspersonen, die Gemeinschaften um sich scharen. Diese Influencer betreiben Kanäle in den sozialen Medien, geben Kurse und Vorträge. Darin dokumentieren sie ihren Umgang mit den Behörden, teilen ihre Erfahrungen und geben Ratschläge. So wie andere Influencerinnen Schminktipps geben, erklären die Influencer der Staatsverweigerer das «korrekte» Verhalten gegenüber der Polizei, wie man vermeintlich seine Steuern nicht zahlt oder wie ein völlig wirkungsloses Fantasiedokument angeblich Immunität gegenüber der Strafverfolgung garantiert.

Einer der reichweitenstärksten Influencer der Schweiz ist der Hinterthurgauer Peter Fischer* (Name der Redaktion bekannt). Er betreibt einen Telegramkanal mit über 3000 Nutzern und reist durch die ganze Deutschschweiz, um Vorträge zu halten. Anfang Februar war er am «Stadtrundgang für Insider» in St.Gallen anwesend, bei dem der Gruppenführer Mario* über eine weltumspannende Verschwörung von Echsenmenschen sowie die Existenz von Riesen und Einhörnern «aufklärte».

Kurse für juristische und finanzielle Freiheit

Fischer hat schon mehrere Vorträge gemeinsam mit Mario zum Thema «Person wird :mensch» gehalten – Fischers Lieblingsthema. Gemäss seiner Theorie, die schon vom GCCL verbreitet wurde, kann man sich jeder juristischen und finanziellen Verantwortung entledigen, wenn man sich selbst als «Mensch» definiert und somit vom behördlich verwendeten Wort «Person» abgrenzt. In seinem Telegramkanal teilt Fischer massenhaft Fotos von Rechnungen und Bussen, die er retourniert, weil sie fälschlicherweise an seine «Person» gerichtet seien und somit ungültig.

«Irgendwann trifft es die Leute immer»

Was ulkig klingt, hat reale Auswirkungen. Roger Wiesendanger, Amtsleiter der Betreibungs-, Konkurs- und Friedensrichterämter des Kantons Thurgau, sagt, der ständige Papierkrieg mit der wachsenden Anzahl an Staatsverweigerern erzeuge einen erheblichen Mehraufwand. Die Betreibungsämter würden buchstäblich eingedeckt mit wirren Schreiben, zurückgesendeten amtlichen Korrespondenzen und retournierten Rechnungen. Gab es vor der Pandemie noch zwei solcher Fälle im Jahr, seien es heute je nach Standort zwei pro Woche.

Und manche gehen noch weiter. In Wittenbach warf eine anonyme Gruppe den Behörden organisierte Kriminalität vor und schaltete eine Website auf, in der sie Angestellte der Gemeinde namentlich erwähnte und ihnen Amtsmissbrauch und Urkundenfälschung unterstellte. Für Herisau existiert eine ähnliche Website.

In Fischers Kanal findet sich ein schwülstig geschriebener Brief an seine Bank, in dem er beanstandet, dass diese dem Betreibungsamt 7000 Franken von seinem Konto übertragen habe. Er schickte auch vermeintliche Belege dafür mit, dass es sich beim zuständigen Betreibungsamt «lediglich um ein Inkasso-Unternehmen» handle, sowie einen Hinweis, dass dessen Leiterin «in Strasbourg zur Anzeige gebracht wurde». Gemeint ist wohl der sich dort befindende Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.

Fischers Vorträge bestehen im Wesentlichen aus Anekdoten darüber, wie er seine Fantasiedokumente und haltlosen Behauptungen gegenüber den Behörden angewendet und stets über sie triumphiert habe, weil er dieser oder jener finanziellen Forderung am Ende nicht habe nachkommen müssen. Aber funktioniert das wirklich?

«Nein», sagt Roger Wiesendanger, ohne sich auf einen konkreten Fall zu beziehen. Die Mühlen der Demokratie würden langsam mahlen. Bis ein solches Verfahren alle Beschwerdeinstanzen durchlaufen habe, könne es bis zu zwei Jahre dauern, bevor eine Pfändung vollzogen werde. «Aber irgendwann trifft es die Leute immer. Und mit jedem Prozessschritt wird es teurer.» Denn die Verfahrenskosten trügen am Ende die Schuldner.

Zum Vorwurf, Leute dazu zu ermutigen, Rechnungen nicht zu bezahlen und sie dadurch womöglich in finanzielle Schwierigkeiten zu bringen, schreibt Fischer per E-Mail: «Jeder muss eigenverantwortlich handeln, weshalb die Vorträge nie für Geld angeboten wurden, da keine Garantien geleistet werden können.» Ob er die 7000 Franken je vom Betreibungsamt zurückbekommen habe? «Die Beilagen in der Bekanntmachung an die UBS sind allesamt überprüfbar und konnten deshalb nicht widerlegt werden.» Also wohl eher nicht.

Ein Flair für Waffen

Der Verschleiss von Steuergeldern durch das Zumüllen der Betreibungsämter ist ärgerlich. Doch das von Staatsverweigerern vertretene Gedankengut hat noch eine weitaus dunklere Seite. Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass die Szene erhebliches Gewaltpotenzial birgt.

2016 hat ein Anhänger der Reichsbürgerbewegung in Bayern einen Polizisten erschossen und drei weitere verletzt, weil man ihm seine 31 Waffen wegnehmen wollte. Im Februar 2022 wurde ein Polizist angefahren und schwer verletzt, im darauffolgenden April schoss ein Reichsbürger auf seinem Bauernhof erneut auf zwei Polizisten. Im Dezember 2022 kam es zu einer bundesweiten Razzia mit 25 Festnahmen gegen eine Gruppe von Reichsbürgern, die einen bewaffneten Staatsstreich geplant haben soll.

Im März kam es im Zuge der Ermittlungen zum selben Fall zu fünf weiteren Verhaftungen, wobei in Baden-Württemberg wieder ein Polizist angeschossen wurde. Unter den Verhafteten befanden sich auch zwei Schweizer aus dem Kanton St.Gallen. Die Bundesanwaltschaft hat ein Verfahren wegen des Verdachts auf Unterstützung oder Beteiligung an einer kriminellen oder terroristischen Organisation gegen sie eröffnet.

Hierzulande gab es bislang noch keine Gewaltakte durch Mitglieder der Szene. «Aber der Blick nach Deutschland zeigt uns, was möglich ist», sagt der Kriminologe und Extremismus-Experte Dirk Baier. Denn die Szene, so heterogen sie sei, vertrete in der Schweiz grundsätzlich das gleiche Gedankengut wie in Deutschland. «Das Potenzial, zu versuchen, ihre Ziele mithilfe von Gewalt umzusetzen, ist hier auch vorhanden.»

Gewalt als legitimes Mittel

Baier, der das Institut Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) leitet, hat kürzlich die erste Studie über Staatsverweigerer in der Schweiz verfasst. Daraus geht hervor, dass über ein Drittel der «staatsverweigernd eingestellten» Befragten Gewalt als Mittel zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele als gerechtfertigt ansehen, inklusive Terrorismus.

Bei demokratisch eingestellten Personen beläuft sich der Anteil auf nur drei Prozent und ist damit zehn Mal tiefer. «Das heisst nicht, dass alle Staatsverweigerer gewaltbereit sind», sagt Baier, «aber es zeigt, dass man von einer gewissen Gefahr ausgehen muss. Es braut sich etwas zusammen».

Wie ernst muss man es also nehmen, wenn jemand wie Matti Gerber, der eingangs Artikel zitiert wurde, auf seinem Telegramkanal mit knapp 2500 Nutzern von einem drohenden Bürgerkrieg zwischen Staatsverweigerern und Polizei spricht? Wenn er dem gesamten Justizapparat organisierte Pädophilie unterstellt und dazu aufruft, Transsexuelle zu «jagen und zu penetrieren»?

Am Telefon gibt sich Gerber, der lange in Frauenfeld gewohnt hat, überraschend versöhnlich. Er habe nichts gegen Homosexuelle und verabscheue Krieg. Aber der drohende Bürgerkrieg zwischen Staat und Staatsverweigerern sei nun einmal Realität. Während der Pandemie seien die Waffenverkäufe im Land hochgegangen und in seinem Dorf habe es Schiessübungen gegeben. Seinen Telegramkanal bezeichnet er als seine «letzte Option, um an die Menschen heranzukommen».

Kriminologe Dirk Baier glaubt nicht, dass Gerber selbst gefährlich ist. Doch würde dieser mit dem Schaffen von Feindbildern und seiner aggressiven und martialischen Rhetorik andere aktiv aufwiegeln. «Solche Leute stacheln andere mit ihren Aussagen bewusst an. Sie können sozial abgehängte, instabile Menschen, bei denen diese Form von Hass auf fruchtbaren Boden fällt, dazu bringen, zur Tat zu schreiten und gewalttätig zu werden.»

Baier stellt klar, dass es hier nicht um Bürgerkriege oder Staatsstreiche geht. Die Institutionen in der Schweiz seien gefestigt und die Staatsverweigerer bei weitem nicht zahlreich oder organisiert genug. Doch es sei «nicht übertrieben, zu erwarten, dass einzelne Personen angegriffen werden könnten», wie beispielsweise Betreibungsbeamte oder Polizisten. Man dürfe daher nicht zulassen, dass die Bewegung weiter wachse. «Das ist eine extremistische und demokratiezersetzende Bewegung, die wir nicht unterschätzen dürfen.»

*Namen der Redaktion bekannt
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/reichsbuerger-wollt-ihr-eigentlich-krieg-wie-die-ostschweiz-zur-hochburg-fuer-staatsverweigerer-wurde-und-weshalb-sie-gefaehrlich-sind-ld.2472139)


+++HISTORY
ajour.ch 17.06.2023

Das Bührer-Areal ist Zeuge eines dunklen Kapitels in der Geschichte von Biel

Auf dem seit Kurzem besetzten Bührer-Areal am Unteren Quai waren im letzten Jahrhundert Saisonniers untergebracht. Die Männer lebten in den Baracken unter prekären Bedingungen.

Carmen Stalder

Ein Kollektiv hat vor eineinhalb Wochen ein Haus am Unteren Quai 30 sowie das zugehörige Areal zwischen Schüss und Wydenauweg in Biel besetzt. Es gehört dem Kanton – und wenn es nach dessen Willen ginge, wären die Gebäude längst wieder leer. Doch die Besetzerinnen und Besetzer sind immer noch da, sie wollen an diesem Ort einen Treffpunkt für alternative Kultur schaffen. Ob es zwischen den Parteien zu einer Einigung kommt oder das Areal wie angedroht polizeilich geräumt wird, wird sich zeigen.

So oder so: Plötzlich ist die Aufmerksamkeit auf das Areal gelenkt worden – und es stellt sich die Frage, was hier früher war. Bereits 1994 hat das Tiefbauamt des Kantons Bern die Parzelle mit Blick auf die geplante Autobahnumfahrung gekauft. Eigentlich hätte das Gelände zwischen Geleisen und See dem Westast weichen müssen. Ein Projekt, das bekanntlich bachab ging.

Davor gehörte es der 1937 gegründeten Bieler Baufirma Bührer & Co. Diese liess das stattliche Landhaus im Jahr 1953 erbauen. In der 7‑Zimmer-Wohnung im Obergeschoss wohnte die Familie des Patrons, im Untergeschoss waren die Büros untergebracht. Ebenjener Patron ist mittlerweile 78-jährig und führt sein Geschäft an anderer Adresse noch heute weiter.

Über 100 Männer lebten hier

Interessant ist aber vor allem, was sich bis in die 1990er-Jahre nur wenige Meter neben der Direktorenvilla abgespielt hat. Dort befinden sich bis heute mehrere Holzbaracken, die von aussen an Materialschuppen erinnern. Diese dienten während Jahrzehnten als Unterkunft für Saisonniers aus Italien, Spanien, Jugoslawien, Griechenland und der Türkei. Von den Stadtbewohnerinnen und -bewohnern wusste kaum jemand davon. Und auch heute schien diese Begebenheit fast vollständig in Vergessenheit geraten zu sein.

Jedenfalls bis der Historiker Florian Eitel die Ausstellung «Wir, die Saisonniers… 1931–2022» für das Neue Museum Biel zusammenzustellen begann. Dabei schaute er sich den Dokumentarfilm des Bieler Filmemachers Alvaro Bizzarri, «Il rovescio della medaglia» («Die Kehrseite der Medaille») von 1974 an, nahm Kontakt mit dem mittlerweile wieder in Italien lebenden Regisseur auf – und fand heraus, dass die Szenen im Film in den Baracken am Unteren Quai gedreht worden waren.

Im Film wird erzählt, dass in den Baracken zeitweise über 100 Männer wohnten, die für die Baufirma Bührer arbeiteten. Sie lebten unter prekären und hygienisch sehr schwierigen Bedingungen. So waren die Baracken nicht isoliert, im Sommer war es darin brennend heiss, im Herbst und Winter eisig kalt. Es gab nur einen Holzofen und nur eine Wasserstelle. Direkt daneben befanden sich zwei Plumpsklos. Die Saisonniers waren auf drei oder vier Massenschläge verteilt. Einer davon befand sich im fensterlosen Dachstock.

«Die Baracken stehen symbolisch für die Rolle der Saisonniers», sagt Eitel. «Sie lebten im Verborgenen und getrennt von ihren Familien, waren marginalisiert und isoliert.» Alvaro Bizzarri drehte seinen Dokumentarfilm ohne Bewilligung. Es war nicht einfach, überhaupt Arbeiter zu finden, die sich vor der Kamera zeigen wollten. Die Saisonniers wagten es kaum, sich gegen die prekären Lebensbedingungen zu wehren – zu gross war ihre Abhängigkeit von den Arbeitgebern. Ob sie im nächsten Jahr wieder in die Schweiz arbeiten kommen durften, hing nämlich von der Gutwilligkeit des Patrons ab, der die Verträge jedes Jahr neu ausstellte.

Es herrschten strenge Vorschriften

«Nie hat sich jemand um die Zustände in dieser Baracke gekümmert, weder die Behörden noch die Gewerkschaften. Einzig die Mäuse könnten von den unmenschlichen Zuständen zeugen», heisst es im Film.

Die Hausordnung besagte, dass in der Baracke und in den Schlafsälen stets Ruhe und Ordnung herrschen mussten. Sollte das Bettzeug aussergewöhnlich verschmutzt sein, wurde die verantwortliche Person mit einem Lohnabzug gebüsst. Besuche von externen Personen waren strengstens untersagt. Wer diese Vorschriften missachtete, dem wurde eine Busse von 20 bis 50 Franken vom Lohn abgezogen. Trotz ihres ohnehin kleinen Einkommens mussten die Männer für das Wohnen in der Baracke eine Miete bezahlen.

Erst Anfang der 1990er-Jahre wurden die Missstände einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Mehrere Zeitungen berichteten über die «miserablen Wohnverhältnisse». Mariano Franzin von der Bieler Sektion der Gewerkschaft Bau und Holz hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon seit Jahren dafür eingesetzt, dass die Saisonniers menschenwürdige Unterkünfte erhalten. Meist vergeblich.

Schliesslich richteten auch mehrere Stadträte diese Forderung an den Bieler Gemeinderat. Als die Baupolizei und das Lebensmittelinspektorat die Baracken in Augenschein nahmen, konnten sie jedoch keine Mängel feststellen. «Ein Hühnerstall als Unterkunft – die Stadt Biel zeigt die kalte Schulter», schrieb daraufhin die Wochenzeitung «Biel Bienne». Immerhin wurden nun Duschen mit Warmwasser eingebaut. Bis die letzten Saisonniers aus den Baracken auszogen, sollten allerdings noch einmal einige Jahre vergehen.

Die Geschichte aufarbeiten

Für Kurator Florian Eitel ist die historische Bedeutung des Areals unbezahlbar. Es handle sich um ein schweizweit einzigartiges Zeugnis für die Geschichte der Saisonniers. Andernorts seien solche Unterkünfte längst abgerissen worden. «Es gibt nirgends ein Denkmal oder eine Erinnerungsstätte für die Saisonniers, obwohl deren Beitrag an die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung der Schweiz des 20. Jahrhunderts enorm ist», so Eitel. In Schulbüchern fehle diese Episode komplett. Deshalb sei es an der Zeit, dieses Kapitel der Schweizer Geschichte aufzuarbeiten und zu vermitteln – ähnlich, wie es zuletzt bei den Verdingkindern geschehen ist.

Er sei nicht naiv und wisse, dass die zentral gelegene Parzelle wohl irgendeinmal überbaut werde. Doch bis es so weit sei, müsse dieser Ort unbedingt noch dokumentiert und für die Vermittlung der Geschichte der Saisonniers genutzt werden. «Wieso nicht eine kleine Ausstellung in der Baracke selbst machen und dabei auch den Dokumentarfilm zeigen?», fragt er. Geht es nach Eitel, würde die Baracke ins Freilichtmuseum Ballenberg versetzt, «als typische Schweizer Bauweise für Ausländer im 20. Jahrhundert», wie er leicht zynisch anfügt.

Doch vorerst ist der Historiker zufrieden, dass die Geschichte des Areals überhaupt wieder Beachtung findet. Die Hausbesetzer hätten ihn kontaktiert, weil sie mehr über die früheren Bewohner wissen wollten. Die Zeichnerin Cecilia Bozzoli und der Autor Pierdomenico Bortune arbeiten an einem Comic, der teilweise auf dem Bührer-Areal spielt. Und dann plane der Schweizer Regisseur Samir auch noch einen Film über die Migrationsgeschichte im Land, in dem der frühere Gewerkschafter Mariano Franzin interviewt werden solle. «Vielleicht schafft es die Baracke aus Biel sogar ins Kino», sagt Florian Eitel.

Info: Einige Dokumente zur Baracke sind in der laufenden Ausstellung «Wir, die Saisonniers… 1931-2022» im Neuen Museum Biel zu sehen. Die Ausstellung läuft noch bis 25. Juni.
(https://ajour.ch/de/story/101565/das-b%C3%BChrerareal-ist-zeuge-eines-dunklen-kapitels-in-der-geschichte-von-biel)



Gedenken an Nazi-Opfer – Judenmord von Payerne: Stolperstein erinnert an Nazi-Verbrechen
Eine Schweizer Nazi-Gruppe ermordete 1942 in Payerne einen Berner Juden. Nun erinnert ein Stolperstein an die Tat – der erste in Bern.
https://www.srf.ch/news/schweiz/gedenken-an-nazi-opfer-judenmord-von-payerne-stolperstein-erinnert-an-nazi-verbrechen


Über 600 ehemalige Verding- und Heimkinder vernetzen sich
Am Samstagmorgen haben sich über 600 ehemalige Verdingkinder und andere Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zur Vernetzung getroffen.
https://www.nau.ch/news/schweiz/uber-600-ehemalige-verding-und-heimkinder-vernetzen-sich-66522109