Litauen legalisiert Pushbacks, UNHCR lässt Protestcamp räumen, Waadt schafft nach Kroatien aus

Menschen aus Subsahara-Afrika im Zentrum von Tunis am 24. März 2023.
Menschen aus Subsahara-Afrika im Zentrum von Tunis am 24. März 2023.

Was ist neu?

Europäische Grenzgewalt der letzten Woche

Gewalt, Elend und Tod sind an den europäischen Aussengrenzen zum Alltag geworden. Ein Überblick der letzten Woche aus Polen, Nordmazedonien und von der türkisch-griechischen Grenze.

  • In Białystok (Polen) liegt Mohammad seit mehreren Tagen im Koma. Am 7. April wurde er schwerverletzt ins Krankenhaus eingeliefert, nachdem er von der fünf Meter hohen und 186 km langen Grenzmauer gestürzt war.

  • In Nordmazedonien ist eine Frau im Krankenhaus gestorben, nachdem sie von der Polizei angeschossen wurde. Bei einem gemeinsamen Einsatz der EU-Grenzagentur Frontex und den lokalen Grenzbehörden an der nordmazedonisch-griechischen Grenze, bei welchem die Beamten einen sogenannten Schmuggler festnehmen wollten, sei die Frau «versehentlich» angeschossen worden.

  • Nahe der türkisch-griechischen Grenze wurden am Samstag bei einem Autounfall sechs Personen getötet. Die People on the Move waren von der griechischen Grenze zur Türkei in Richtung Westen unterwegs, als sie beim Versuch eine Polizeikontrolle zu umgehen mit einem anderen Fahrzeug zusammenstiessen.

  • Und zuletzt ist und bleibt das Mittelmeer eine der tödlichsten Grenzen der Welt. Jedes Jahr werden mehr als 1000 Menschen, welche versuchen über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen, als vermisst oder verstorben gemeldet. Im Jahr 2022 waren es offiziell sogar 1940 Personen, wobei die tatsächliche Zahl der Todesopfer sehr wahrscheinlich höher ist. Mehr Infos zu aktuellen Ereignissen auf dem Mittelmeer gibt es hier: https://twitter.com/alarm_phone

https://www.infomigrants.net/en/post/48348/migrant-accidentally-shot-dead-by-north-macedonian-police
https://www.aljazeera.com/news/2023/4/17/in-poland-a-syrian-fights-for-life-after-falling-off-border-wall
https://www.infomigrants.net/en/post/48244/six-killed-in-migrant-car-crash-in-greece

Noch ein Sonderflug nach Kroatien: Die Grausamkeit der Waadtländer Behörden kennt keine Grenzen!

Im Morgengrauen des 19. April wurde F. im EVAM-Heim in Yverdon verhaftet, direkt zum Flughafen gebracht und an Bord eines Sonderflugs nach Kroatien gesetzt. Ein eigens gechartertes Flugzeug, körperliche Strapazen und eine grosse Polizeipräsenz für einen Mann mit sehr hohem Suizidrisiko: Wir verurteilen vehement diese weitgehend unverhältnismässige Gewalt, diese unmenschlichen, unwürdigen und unmoralischen Massnahmen, ganz zu schweigen von den finanziellen und ökologischen Kosten der Operation.

Den ausführlichen Bericht auf Französisch findet ihr hier:
https://renverse.co/infos-locales/article/encore-un-vol-special-vers-la-croatie-la-cruaute-des-autorites-vaudoise-n-a-pas-3987

Was ist aufgefallen?

Litauen: Parlament legalisiert Pushbacks

Ein Beschluss des Parlaments in Litauen legalisiert Push-Backs in der fünfhundert km langen Grenzzone zwischen Litauen und Belarus. Pushbacks verstossen gegen internationale Menschenrechte, weil Menschen auf der Flucht dabei ohne Zugang zu einem fairen (Asyl-)Verfahren und ohne Rekursrechte abgeschoben werden. In Belarus drohen zudem weitere Menschenrechtsverletzungen. Schon zahlreiche flüchtende Personen sind während den Pushbacks gestorben. Doch selbst Todesfälle und die zahlreichen Apelle von NGOs im In- und Ausland hinderte das Parlament nicht an ihrer menschenfeindlichen Entscheidung.

Laut der Organisation Ärzte ohne Grenzen fanden 2022 über 8000 Pushbacks durch litauische Grenzpolizist*innen statt. Die Pushbacks machen die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen unmöglich. Amnesty International kritisiert: „Legalisierung von Pushbacks leistet Folter Vorschub.“ Der Ausschuss des Europarats zur Verhütung von Folter positioniert sich glasklar und sagt in einem neuen Bericht, dass Länder wie Litauen durch die Pushbacks den Tatbestand der Folter erfüllen. Der Slogan „Legal, illegal, scheissegal“ vermag diese Situation passend zu erfassen. Menschenrechte sind für die Festung Europa ein Schönwetterprogramm. Besonders wenn die menschenrechtswidrige Gewalt sich gegen rassismusbetroffene Personen richtet.

https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/litauen/dok/2023/legalisierung-von-pushbacks-leistet-folter-vorschub
https://www.coe.int/es/web/cpt/-/the-council-of-europe-anti-torture-committee-cpt-calls-for-an-end-to-illegal-pushback-practices-and-for-increased-safeguards-against-ill-treatment

Was nun?

«Fehlt wegen Ramadan die Kraft?» – Wie der Journalismus mit fastenden Sportler*innen umgeht

Am 21. April endete der Ramadan. Für fastende Profisportler*innen kann dieser eine zusätzliche Herausforderung für die Trainings- und Wettkampfplanung darstellen. Auch Sportredakteure bauen den Einfluss des Fastens in ihre Leistungsbewertungen ein. Einige Überlegungen zum Verhältnis von Sport, Medien und religiösem Fasten.

Fussballprofi Sofyan Chader wechselte auf diese Saison hin neu zum FC Luzern.
Fussballprofi Sofyan Chader wechselte auf diese Saison hin neu zum FC Luzern

Die Neue Luzerner Zeitung verteilte nach einem überzeugenden 4:1 Sieges des FC Luzern gegen den FC Zürich vorletztes Wochenende dem Heimteam «kollektiv gute Noten.» Nur Sofyan Chader zeigte laut NLZ-Sportredakteur Turi Bucher eine ungenügende Leistung. Wofür dieser aber auch eine mögliche Erklärung hatte: Vielleicht fehlte dem Spieler ja die Kraft wegen Ramadan? Nun, der einzige Mensch der diese Frage beantworten kann, ist der Spieler selber. Was wir uns hingegen fragen: In welchen Fällen und warum, wird das Fasten von Sportler*innen während des Ramadan von Sportjournalisten erwähnt – und wann nicht?

Die Partie gegen den FC Zürich lief in der ersten Halbzeit in der Tat komplett am jungen französischen Stürmer vorbei, was die schlechte Benotung durchaus rechtfertigt. (Ja, ihr staunt, auch die antira-Wochenschau hat eine Sportredaktion und sich das Spiel angesehen.) Was für Chader umso ärgerlicher war, hatte er doch eine Woche zuvor beim Auswärtsspiel in Winterthur eine grandiose Leistung abgeliefert. Welche übrigens auch Turi Bucher wahrnahm und mit der Note 5.5 von 6 bewertete. Allerdings ohne auf den Ramadan einzugehen. Welcher dieses Jahr am 22. März begann und am 21. April endete. Hat Chader in dieser Logik also trotz des Ramadans gegen Winti ein wunderschönes Tor per Weitschuss erzielt? Oder ging es ihm schlicht wie vielen Spielern des FC Luzerns in dieser Saison: Dass oft die Konstanz fehlte und selten zwei gute Spiele hintereinander folgten? Vielleicht ist dem Journalisten der Fakt, dass Chader fastet, aber auch erst vor dem Spiel gegen Zürich bekannt geworden. Oder war es eine lokalpatriotisch gefärbte Hypothese zum Schutz des Spielers?

Das oben genannte Beispiel ist zugegeben banal und wir wollen Turi Bucher in keine Richtung eine Absicht bei der Wahl seiner Formulierung unterstellen. Doch aus medientheoretischer Sicht wäre es spannend zu untersuchen, wie religiöse und kulturelle Gebräuche wie der Raman Einfluss in die Leistungsbewertung im Sport finden. Und ob es Fälle von stereotypischen oder sogar rassistischen Verwendungen gibt. Die Frage «Fehlt wegen Ramadan die Kraft?» ist ja inhaltlich erstmal neutral zu bewerten. Doch springt sie einem trotzdem gleich ins Auge, was sicherlich auch mit den aktuellen Diskussionen über strukturellen oder systemischen Rassismus im Sportjournalismus zu tun hat. Und wie sie wegen der Xhaka-Ruefer-Geschichte gerade im Schweizer Sport zur Zeit sehr präsent sind.

Das freiwillige Fasten im Ramadan ist natürlich zu unterscheiden von Eigenschaften, welche Menschen alleine aufgrund ihrer Herkunft, Religion oder Hautfarbe zugeschrieben werden. Die Kombination Profisport und Fasten während des Ramadans kann für Leistungssportler*innen eine durchaus schwierige Angelegenheit sein. Zu diesem Thema gibt es auch bereits einige Reportagen, zum Beispiel diese der BBC. Spannend ist, dass es auch beim Thema Ramadan diesen Reflex zu geben scheint, der besonders im Sportjournalismus regelmässig passiert: Dass eine (überraschend) gute oder schlechte Leistung mit Faktoren wie Herkunft, Religion oder Migrationsgeschichte analysiert oder begründet wird. Dies geschieht teilweise mit Kalkül, oft aber auch unbewusst und teilweise sogar in der Absicht, eine*n Sportler*in zu schützen. Was dann wiederum in eine Art positiven Rassismus abgleiten kann. Die «Trotz oder gerade wegen Ramadan»-Story gab es dieses Jahr zum Beispiel nach einem starken Spiel von Basketball-Spieler Kyrie Irving von den Brooklyn Nets und auf dem offiziellen NBA-Twitter-Account: «Ramadan Kyrie is a different level».

Was nun? Die zwei erwähnten Beispiele, Fussballer Chader und Basketballer Irving, zeigen, wie unterschiedlich das Storytelling bei diesem Thema sein kann. Kritisch wird es dann, wenn eine stigmatisierende und alleine auf die Auswirkungen des Ramadan-Fastens reduzierende Leistungsbewertung vorgenommen wird. Spannend ist jedenfalls zu beobachten, wie verschiedene Medien das Thema zukünftig behandeln werden und ob politische Kalküle dahinter erkennbar sind.

https://12ft.io/proxy?q=https%3A%2F%2Fwww.luzernerzeitung.ch%2Fsport%2Ffcluzern%2Feinzelkritik-hervorragender-pius-dorn-mit-bestnote-die-fcl-noten-gegen-den-fc-zuerich-ld.2442506
https://mediendienst-integration.de/artikel/was-ist-struktureller-rassismus.html
https://www.woz.ch/2315/medien-und-rassismus/ein-satz-als-chiffre/!DH22E8FKBEF4
https://12ft.io/proxy?q=https%3A%2F%2Fwww.luzernerzeitung.ch%2Fsport%2Ffcluzern%2Feinzelkritik-sofyan-chader-schwingt-obenaus-schuerpf-abubakar-und-diambou-fallen-ab-ld.2440818
https://www.bbc.com/sport/rowing/34125890
https://www.cbssports.com/nba/news/kyrie-irving-explains-how-he-is-able-to-play-for-nets-while-fasting-during-ramadan/

Wo gabs Widerstand?

Tunesien: Polizei räumt Protest-Camp vor dem UNHCR

Rund 200 geflüchtete Personen protestierten seit Wochen vor einem UNHCR-Gebäude in Tunis. Was als Sit-Inn begann entwickelte sich zu einem Protest-Camp. Als die Demonstrierenden versuchten, sich Zugang zum UNHCR-Gebäude zu verschaffen, lies dass UNHCR das Gelände räumen.

Mit Tränengas wurden die Personen, die mehrheitlich aus Subsahara-Staaten stammen, vertrieben. Etliche wurden verhaftet. Die Protestierenden hatten das Warten satt. Ein Teil von ihnen wartet seit mehr als zwei Jahren auf ein Ressentiment. Obwohl sie als Flüchtlinge anerkannt wurden, gelingt es dem UNHCR nicht, ihnen ein Land für einen Neustart in Sicherheit zu finden. Ein anderer Teil der Protestierenden wollte sich neu beim UNHCR registrieren. Doch seit Wochen funktioniert beim UN-Hochkommisariat für Flüchtlinge die Informatik scheinbar nicht. Um die Polizei kommen zu lassen „um sich vor Flüchtlingen zu schützen“, hat die Technik allerdings gereicht.

Die brutale Räumung ist das jüngste Ereignis gegen geflüchtete Personen in Tunesien. Seit einigen Wochen häufen sich in Tunesien rassistisch-repressive Vorfälle. Losgetreten wurde die Gewaltwelle von einer hetzerischen Rede des tunesischen Präsidenten Kais Saied.

https://www.infomigrants.net/fr/post/48143/a-tunis-violent-demantelement-dun-camp-de-migrants-devant-le-hcr
https://www.africanews.com/2023/04/13/tunisia-authorities-in-tunis-disperse-asylum-seekers-in-limbo/
https://www.facebook.com/photo?fbid=558580876391159&set=pcb.558581309724449

Was steht an?

Aufstände im Iran – Rolle der Jugend, Bedeutung der Strasse (berichtet von einem iranischen Genossen)

Donnerstag 27. April um 20:00 Uhr, Saal EinViertel, Emil-Krebs-Gasse 10 (Lokstadt), Winterthur
Freitag 28. April um 19:30 Uhr im Volkshaus, Stauffacherstrasse 60, Zürich

Auch wenn – oder gerade weil – die mediale Aufmerksamkeit merklich nachgelassen hat, ist es unsere Aufgabe den Blick weiterhin auf die Bewegung im Iran zu richten – eine militante proletarische Massenbewegung, wo insbesondere die Jugend, Frauen und ethnische Minderheiten eine zentrale Rolle spielen und die trotz massiver Repression stattgefunden hat und auch weiter stattfindet. Diese Erfahrungen gilt es zu kollektivieren und als Revolutionär_innen wollen wir davon lernen. Ein Genosse aus Berlin, der die Geschichte und aktuellen Ereignisse im Iran genau verfolgt hat, wird berichten: Über die Bedeutung der Strasse, die Kämpfe im Quartier, über Versuche der Organisierung, über Rolle der Jugend und über den heutigen Stand der Bewegung.

https://www.aufbau.org/event/zh-politwochenende/

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Podcast zum Fall Kowsika: «Sie hätte längst frei sein müssen»
Eine junge Tamilin flieht in die Schweiz. Sie erhält nicht Schutz, sondern kommt ins Gefängnis. Dort erstickt sie vor den Augen mehrerer Aufseher. Die Autorinnen erzählen im Podcast von ihrer Recherche.
https://www.republik.ch/2023/04/13/podcast-zum-fall-kowsika