Medienspiegel 18. Juni 2023

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+++SCHWEIZ
Sonntagszeitung 18.06.2023

Dringend gesucht: Asylunterkünfte – Kantone wollen Flüchtlinge in Turnhallen unterbringen

Der Bund gerät immer stärker unter Druck, weil Tausende Plätze für Asylsuchende fehlen. Ein Plan B ist nicht in Sicht, nachdem der Ständerat den Bau von Containersiedlungen verhindert hat.

Adrian Schmid, Mischa Aebi

Was nun? Das ist die grosse Frage in der gegenwärtigen Asylkrise. Bund, Kantone und Gemeinden müssen jetzt unter Hochdruck Alternativen suchen, weil der Ständerat diese Woche den Kredit zum Bau von Containersiedlungen auf Armee-Arealen definitiv abgelehnt hat. Am naheliegendsten ist, dass Flüchtlinge künftig vermehrt in Zivilschutzanlagen einquartiert werden. Jetzt kommt aber noch eine weitere Variante ins Spiel: Turnhallen.

Der Bündner SP-Regierungsrat Peter Peyer erachtet Zivilschutzanlagen als ungeeignet. Wenn der Bund keine eigenen Lösungen habe und bis im September die prognostizierten 27’000 Flüchtlinge kämen, werde die Unterbringung «ein grosses Problem», sagt er. «Wir müssten dann öffentliche Infrastrukturen wie Turnhallen als Schlafplätze für Asylsuchende nutzen, wenn unsere Reserven alle besetzt sind.»

Mario Fehr nimmt den Bund in die Pflicht

In Turnhallen Betten für Asylsuchende aufzustellen, ist auch in anderen Kantonen wie Bern eine Option. Da und dort kamen Turnhallen bereits zum Einsatz. Allerdings dürfte diese Variante genau so umstritten sein wie die unterirdische Einquartierung – vor allem dann, wenn Schulkindern der Turnunterricht gestrichen werden müsste.

Der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr pocht darauf, dass es erst gar nicht so weit kommt. «Letztes Jahr hat der Bundesrat die Regeln des Asylgesetzes missachtet und Asylsuchende vorzeitig in die Kantone geschickt», sagt er. «Der Kanton Zürich wird ein solches Vorgehen nicht noch einmal zulassen, auch der Bund muss jetzt seine Hausaufgaben in der Asylpolitik erledigen.»

In vielen Kantonen ist man jedoch skeptisch, ob eine vorzeitige Zuweisung von Asylsuchenden an die Kantone aufgrund der fehlenden Containerdörfer überhaupt noch verhindert werden kann. Auch das Staatssekretariat für Migration (SEM) kann dies nicht ausschliessen. Auf Anfrage teilt es mit, dass vorzeitige Zuweisungen «wenn immer möglich verhindert werden sollen».

Noch hat der Bund über 4000 freie Plätze

Momentan verfügt der Bund über rund 10’000 Plätze für Asylsuchende, wovon rund 4600 noch frei sind. Gemäss Prognosen werden diese nicht ausreichen, um den Ansturm bis im Herbst zu bewältigen. In den Containersiedlungen hätten 3000 neue Betten geschaffen werden sollen.

Obwohl sich das Nein aus dem Parlament seit drei Wochen abgezeichnet hat, fehlt nach wie vor ein Plan B. «Neben dem Truppenlager Eigenthal sind derzeit keine weiteren, zusätzlichen Unterkünfte in Planung, die vom SEM demnächst genutzt werden könnten», teilt das Staatssekretariat mit. Im luzernischen Eigenthal werden ab Mitte Juli 200 zusätzliche Plätze zur Verfügung stehen.

Der Plan B muss also erst noch gefunden werden. Das SEM schreibt dazu: Der Sonderstab Asyl werde «sehr rasch mit Vertreterinnen und Vertretern der Kantone und der Armee prüfen, wo es allenfalls noch zusätzliche Unterkünfte gibt, die vom SEM genutzt werden könnten».

SVP-Regierungsrat fordert strengere Asylpraxis

Somit ist die Schweiz wieder in einer ähnlichen Situation wie in der letzten grossen Flüchtlingskrise 2015. Das sorgt für Kritik. «Wir hatten schon damals zu wenig Unterkünfte und jetzt wieder», sagt der Tessiner Mitte-Nationalrat Marco Romano. «Die Zeit dazwischen wurde nicht genutzt, um sich besser vorzubereiten. Das ist ein Problem.»

Die Suche nach geeigneten Unterkünften ist jedoch «sehr schwierig», wie der Berner SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg sagt. «Wir finden kaum noch passende Objekte.» Falls es zum befürchteten Ansturm kommt, will er die Asylsuchenden «wahrscheinlich» vorerst in Zivilschutzanlagen unterbringen.

Schnegg ist jedoch der Meinung, dass der Bund nicht nur bei der Unterbringung ansetzen muss, sondern auch die Asylpraxis verschärfen sollte. «Wir fordern nachdrücklich, dass der Bund unverzüglich die notwendigen Massnahmen ergreift, um die Attraktivität unseres Asylsystems zu verringern, um die Zahl der Ankünfte zu senken, und dass er die Rückführung von Personen, die kein Bleiberecht erhalten, durchsetzt.»
(https://www.derbund.ch/kantone-wollen-fluechtlinge-in-turnhallen-unterbringen-925480862374)


+++ÄRMELKANAL
Mehr als 10’000 Bootsmigranten überqueren Ärmelkanal in diesem Jahr
Über 10’000 Menschen haben die gefährliche Reise über den Ärmelkanal in diesem Jahr bereits auf sich genommen. Seit einigen Tagen steigen die Zahlen zudem an.
https://www.nau.ch/news/europa/mehr-als-10000-bootsmigranten-uberqueren-armelkanal-in-diesem-jahr-66522716
-> https://www.blick.ch/news/zahlen-nehmen-zu-mehr-als-10000-migranten-ueberquerten-aermelkanal-dieses-jahr-id18677609.html
-> https://www.spiegel.de/ausland/ziel-grossbritannien-mehr-als-10-000-migranten-ueberquerten-aermelkanal-a-632bb123-35f7-4496-9f86-0f71486135c8


+++MITTELMEER
Vier Tage nach Untergang – Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer: Die Suche wird fortgesetzt
Trotz fieberhafter Suche fehlt von weiteren Überlebenden oder Todesopfern nach wie vor jede Spur.
https://www.srf.ch/news/international/vier-tage-nach-untergang-fluechtlingskatastrophe-im-mittelmeer-die-suche-wird-fortgesetzt
-> https://www.watson.ch/international/griechenland/145952873-mitschuld-an-700-toten-griechischer-kapitaen-wehrt-sich-gegen-vorwuerfe


»Unsere Abwesenheit macht die Flucht gefährlicher«
Carlotta Ekrod von der Hilfsorganisation Sea-Eye über die immer schwerer werdende Seenotrettung im Mittelmeer
Die Lage für die zivile Seenotrettung wird nach einer Gesetzesverschärfung in Italien immer schwieriger. Auch für die Besatzung der »Sea-Eye 4«. Ihr Schiff wurde nach einer Rettungsaktion in Ortona festgesetzt.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174075.seenotrettung-unsere-abwesenheit-macht-die-flucht-gefaehrlicher.html


+++EUROPA
Migrationsabkommen mit Tunesien: Deutsch-französische Offensive
Nach von der Leyen kommen Innenministerin Faeser und ihr französischer Kollege nach Tunesien. Es soll um legale Migrationswege und schnellere Rückführungen gehen.
https://taz.de/Migrationsabkommen-mit-Tunesien/!5941370/


Noch mehr EU-Geld an Tunesien
Brüssel will weitere 150 Millionen zur Migrationsabwehr an die autokratische Regierung in Tunis bezahlen
Bei der Abwehr von Migranten zeigt sich die Europäische Union großzügig. Nach Informationen, die »nd« vorliegen, darf sich die tunesische Regierung auf insgesamt 255 Millionen Euro freuen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174082.festung-europa-noch-mehr-eu-geld-an-tunesien.html


Griechenland/EU: Wie gut ist der neue Asylkompromiss?
Endlich hat man sich auf EU-Ebene auf einen Asylkompromiss geeinigt – schon hagelt es Kritik. Hilfsorganisationen sprechen von einer menschenfeindlichen Reform, während Polen und Ungarn die geplante verpflichtende Aufnahme von Migrant:innen ablehnen. Hinzu kommt das womöglich schwerste Flüchtlingsbootsunglück vor Griechenland.
https://www.ardmediathek.de/video/europamagazin/griechenland-eu-wie-gut-ist-der-neue-asylkompromiss/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2V1cm9wYW1hZ2F6aW4vOTRmOWJlNDUtMzdiOC00MTk3LWJiMjUtYjVkZDllZjk3YjUw



NZZ am Sonntag 18.06.2023

Europas Idee vom grossen Pushback

Nach dem schwersten Bootsunglück seit Jahren im Mittelmeer steht die Asylpolitik der EU auf dem Prüfstand. Europa will Tunesien bezahlen, um Migranten fernzuhalten.

Beat Stauffer, Ute Müller, Markus Bernath und Victor Merten

Drei Tage Staatstrauer, angeordnet vom geschäftsführenden griechischen Regierungschef – einem Richter, keinem Politiker –, sind vorbei, die Leichen am Meeresgrund, unauffindbar tief und eingeschlossen im Wrack eines Fischkutters.

Man wird vielleicht nie erfahren, wie viele es waren, die in der Nacht zu Mittwoch weit vor der Westküste Griechenlands ertrunken sind. 500, 600 Menschen könnten es gewesen sein, viele Frauen und Kinder. Die meisten ihrer Namen werden unbekannt bleiben wie bei anderen grossen Bootsunglücken im Mittelmeer, 2014 vor Malta (mehr als 500 Menschen vermisst) oder 2015 vor der libyschen Küste (mehr als 800 vermisst). Migranten stehen ganz am Ende der menschlichen Hierarchie, so scheint es in diesen Tagen wieder.

Hätte die griechische Küstenwache mehr tun können? Schliesslich hatte sie das Unglücksschiff den ganzen Tag über observiert. Hätte die EU mehr tun können, um diese Katastrophe zu verhindern? Schliesslich finanziert sie die libysche Küstenwache, die Migranten auf See festnimmt und in Sammellager an Land wirft.

Selbst der Rebellen-General Khalifa Haftar, aus dessen Herrschaftsbereich im Ostteil Libyens das Migrantenschiff gestartet war, ist ein gefragter Verhandlungspartner geworden. Anfang Mai war er zu Besuch in Rom, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hatte ihn eingeladen.

Denn Pushbacks sind mittlerweile die grosse Idee der Europäer, auch wenn sie so nicht benannt werden darf und der rechtliche Begriff eine bestimmte Situation meint – die gewaltsame Zurückweisung von Flüchtenden, die bereits das Territorium eines anderen Landes erreicht haben. Doch Migranten sollen von den Aussengrenzen der EU zurückgestossen werden: gar nicht erst an Bord eines Schlepperboots gehen, keine Fahrt übers Mittelmeer antreten, und gelingt sie ihnen doch, dann sollen Asylsuchende rasch wieder zurückgeschafft werden zu ihrem Startpunkt – nach Libyen, in die Türkei, nach Marokko, Algerien, Tunesien. Der Untergang des völlig überfüllten Fischkutters vor Pylos war so gesehen ein Fehler im System.

700 Millionen Euro hat die EU seit 2015 in die Kassen des Bürgerkriegslands Libyen geleitet, um Flüchtlinge an der Überfahrt vor allem nach Italien zu hindern. Seit Ende 2022 ist Tunesien im Blick der Europäer. Das kleine nordafrikanische Land hat seinen Nachbarn Libyen als Hauptstartpunkt illegal eingereister Migranten abgelöst. Im laufenden Jahr sind bereits mehr als 54 000 Migranten in Italien angekommen, eine Zunahme von 150 Prozent im Vergleich zu 2022. Die Hälfte dieser Migranten – gegen 27 000 – kam aus Tunesien.

Meloni und die EU-Kommission haben dieselbe Furcht: dass Tunesien wirtschaftlich zusammenbricht und 900 000 Bürger – junge Männer zumal – nach Europa übersetzen, zusätzlich zu den Migranten aus Schwarzafrika und Südasien. Die Brüsseler Kommission hat schon gerechnet. Über eine Milliarde Euro will sie Tunesiens Autokraten Kais Saied zahlen, damit er das Migrantenproblem für die Europäer löst.

Der Tunesien-Deal

Die Verhandlungen laufen nun auf Ebene der Technokraten, bis zum EU-Gipfel in zwei Wochen hat sich die Kommission Zeit gegeben, um mit Saied handelseinig zu werden. Ein «umfassendes Partnerschaftsabkommen» soll es werden, der Kampf gegen die illegale Migration ist im Entwurf als kleines Kapitel verpackt, aber doch der einzige Grund für den Tunesien-Deal.

900 Millionen Euro Finanzhilfe in Form eines Kredits will die EU Tunesien leisten, 150 Millionen Euro als Zuschuss zum Staatshaushalt soll es gleich geben. Ein Open-Sky-Vertrag zur Liberalisierung des Luftverkehrs werde Tausende von Jobs in Tunesien schaffen, verspricht die EU-Kommission. Bei der Produktion erneuerbarer Energie werde sie helfen, digital ausgerüstete Schulen eröffnen, die Fortbildung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zahlen. Alles, damit die Tunesier in Tunesien bleiben.

    Successful visit of @vonderleyen, @GiorgiaMeloni and @MinPres!

    I am staying on to work with our Tunisian friends to start implementing the agreement ahead of the meetings w/@OliverVarhelyi, who was nominated as the 🇪🇺EU lead to take the comprehensive partnership package forward. pic.twitter.com/xkOnGc4CiS
    — Gert Jan Koopman (@GertJanEU) June 11, 2023

Und viel zu wenig, wie der Migrationsexperte Gerald Knaus erklärt. Für ihn fehlt ein entscheidender Punkt bei den Verhandlungen mit Tunesien: «Sinnvoll wäre es, Möglichkeiten zur legalen Arbeitsmigration anzubieten. Je mehr Einfluss wir haben wollen, desto mehr müssen wir anbieten. Giorgia Meloni wird das nicht vorschlagen, aber Deutschland und eine Reihe anderer Länder in der EU würden es tun. Arbeitskräfte braucht man ja.»

Die Rating-Agentur Fitch hat indes Tunesien auf CCC- herabgestuft, das Kreditrisiko ist substanziell, der Zahlungsausfall eine reale Möglichkeit. Der Internationale Währungsfonds (IMF) steht mit einem Milliardenkredit bereit, doch Staatschef Saied lehnt die damit verbundenen Auflagen ab. Der IMF möge ein neues Angebot machen, erklärte der 65-Jährige. Saied fürchtet einen Aufstand, sollte er Subventionen streichen und andere Wirtschaftsreformen umsetzen müssen, wie sie der Währungsfonds verlangt. Ein grosser Teil seiner Unterstützer, darunter sehr viele Männer mit geringer Bildung, würde sich von ihm abwenden – und sein Glück in Europa suchen.

Giorgia Meloni ist nach eigener Aussage nun ständig im Gespräch mit dem IMF in Washington, um günstigere Bedingungen für Tunesien zu erreichen. Ihre 900 Millionen Euro hat die EU zudem an den Kredit des Währungsfonds gebunden. Kommt dieser nicht zustande, hängt die Finanzhilfe der EU in der Luft. Doch was Italien und die EU wollen, ist, Tunesien zu stabilisieren und der Migration einen Riegel vorzuschieben.

Einerseits soll die tunesische Küstenwache den Schleppern das Handwerk legen, andererseits soll der tunesische Staat die Migranten zurücknehmen, die dennoch die Überfahrt nach Lampedusa oder anderswo in Süditalien geschafft haben. 105 Millionen Euro hat Brüssel dieses Jahr bereits für Tunesiens Dienste bei der Zurückweisung von Migranten budgetiert.

Um eine echte politische und wirtschaftliche Partnerschaft gehe es gar nicht, kritisieren zivilgesellschaftliche Akteure in Tunesien wie Romdhane Ben Amor, Sprecher des Forum Tunisien pour les Droits Economiques et Sociaux, einer Nichtregierungsorganisation.

Tunesiens Präsident pokert

Wird der Tunesien-Deal nun aber gelingen? Saied zeigte sich verschlossen nach dem Besuch von Meloni, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte in Tunis am vergangenen Wochenende. Möglicherweise will er den Preis für eine Einigung hochtreiben. Vielleicht aber ist ihm auch das politische Risiko zu gross. Unmenschlich und unzulässig nannte er das Ansinnen der EU, dass Tunesien afrikanische Migranten zurücknehmen solle. «Wir können keine Rolle erfüllen, in der wir ihre Länder bewachen», sagte Saied dieser Tage über die Europäer bei einem Besuch in der tunesischen Hafenstadt Sfax. Von dort legen Migrantenboote nach Italien ab.

Rücknahmeabkommen mit Rom gibt es ja bereits. Ein halbes Dutzend haben die beiden Staaten seit 1998 geschlossen. Sie funktionieren nur leidlich. Fest steht, dass Tunesien die Rücknahme von Landsleuten, die straffällig geworden sind oder deren Asylgesuch abgelehnt worden ist, akzeptiert hat. Die Ausschaffung erfolgt zweimal wöchentlich via den im Nordwesten des Landes gelegenen Flughafen von Tabarka. 2308 Tunesier sind nach offiziellen Angaben auf diese Weise im vergangenen Jahr zurückgebracht worden.

Funktioniert die Eindämmung der illegalen Migration anderswo besser für die EU? Der Vergleich mit Marokko drängt sich auf. Das nordafrikanische Königreich ist wie Tunesien ein Sprungbrett für Migranten. Spanien ist ihr erstes Ziel in Europa. Entsprechend gross war der Druck für die Regierung in Madrid, einen Handel mit Marokko abzuschliessen.

Zwei Jahre ist es her, als etwa 12 000 Marokkaner die Grenzanlage der spanischen Exklave Ceuta in Nordafrika an nur einem einzigen Tag stürmten. Die marokkanische Polizei schaute weg, Marokko zeigte seine Macht, indem es Migranten für seine politischen Ziele einsetzte. Auslöser war ein Streit über die rohstoffreiche Westsahara, die Marokko für sich beansprucht. Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez konnte die Krise nur beheben, indem er die Neutralität seines Landes in der Westsahara-Frage aufgab und Marokko folgte.

Nun besteht ein mehr oder weniger offizielles Abkommen zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung zwischen Spanien und Marokko. Seither sind die Flüchtlingsströme in Richtung Iberische Halbinsel und Kanarische Inseln rückläufig. Im laufenden Jahr waren es laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk mit 10 361 Menschen 23 Prozent weniger als im Vorjahreszeitraum. Die EU wiederum bezahlt Marokko: Für die Kooperation bei der Grenzsicherung und das Abfangen von Schlepperbooten erhält das Königreich 100 Millionen Euro pro Jahr aus Brüssel.

Für Spanien bleibt es allerdings sehr schwierig, abgewiesene Asylbewerber und Migranten nach Marokko auszuschaffen. Das Innenministerium nennt keine offiziellen Zahlen, aber laut dem spanischen Ombudsmann wurden zwischen Dezember 2019 und April 2023 nur 70 Jugendliche nach Marokko zurückgebracht. Madrid setzt deshalb auf Rückkehrprämien, die es Migranten zahlt.

30 000 Plätze für schnelle Asylverfahren will die EU gemäss der jüngsten Reform ihrer Asylpolitik an den Aussengrenzen ständig zur Verfügung halten. So sollen Migranten rasch abgeschoben werden. Der Migrationsexperte Knaus zweifelt daran. «Für schnelle Verfahren braucht man Ressourcen», sagt er. «Ressourcen sind nur sinnvoll, wenn man auch Rückführungen machen kann. Und Rückführungen funktionieren nur, wenn ein Land Interesse hat, Migranten zurückzunehmen.» Was es in aller Regel nicht gibt. Migranten und Asylsuchende abschrecken und zurückstossen scheint für Europa die einfachere Lösung.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/europas-idee-vom-grossen-pushback-ld.1742941)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION

Occupation de la cathédrale de Lausanne
On a occupé la cathédrale pour dénoncer les renvois et demander un moratoire urgent !
Journée des réfugié.e.s : il est temps de défendre leurs droits et d’arrêter de les expulser !
https://renverse.co/infos-locales/article/occupation-de-la-cathedrale-de-lausanne-4074


Actions directes et traces ADN : comment faire bon ménage
Actions, manif, manif, procès, nettoyage, profilage, etc. 3 brochures pour s’informer et y voir un peu plus clair au sujet de l’ADN (+ un guide pratique pour bien nettoyer son matos).
 C’est quoi l’ADN ? Comment ça marche ? J’en ai laissé sur le spray à la manif la semaine passée ? Si je mets des gants ça passera mieux la prochaine fois ? Si on avance une preuve ADN contre moi pendant mon procès est-ce que je suis foutu.ex ? 3 brochures pour s’informer sur l’ADN, et un guide pratique pour nettoyer correctement son matos pour la prochaine manif/action !
https://renverse.co/analyses/article/actions-directes-et-traces-adn-comment-faire-bon-menage-4073


Bisher keine Demo bei zweitem Rammstein-Konzert
Der zweite Rammstein-Konzert-Tag ist deutlich unaufgeregter gestartet.
https://www.derbund.ch/news-ticker-bern-region-kanton-polizei-verkehr-politik-kultur-109-290281918894


«Wollte Orgie organisieren» – weibliche Fans vor Hotel Schweizerhof: Rekrutierte Alena M. auch in Bern Frauen für Lindemann?
Gegen Till Lindemann und seine Casting-Direktorin Alena M. stehen schwere Vorwürfe im Raum. Jetzt gibt es jedoch neue Vorwürfe, nach denen M. auch beim Konzert in Bern nach Frauen gesucht habe, die sich mit Lindemann treffen.
https://www.blick.ch/people-tv/international/wollte-orgie-organisieren-weibliche-fans-vor-hotel-schweizerhof-rekrutierte-alena-m-auch-in-bern-frauen-fuer-lindemann-id18677028.html
-> https://www.nau.ch/people/welt/rammstein-sollte-casterin-orgie-in-bern-organisieren-66522600
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/war-alena-m-auch-in-bern-fuer-lindemann-auf-frauen-suche-152094663


«Fans mit Demonstranten konfrontiert»: Berner Rammstein-Konzert macht Schlagzeilen bis Indien
Rammstein tritt am Samstag und Sonntag in Bern auf. Das erste Konzert sorgte weltweit für Schlagzeilen.
https://www.blick.ch/people-tv/international/fans-mit-demonstranten-konfrontiert-berner-rammstein-konzert-macht-schlagzeilen-bis-indien-id18676400.html


Rammstein: Sollte «Casterin» Orgie in Bern organisieren?
Rammstein trat gestern in Bern auf. Das mutmassliche Lindemann-Opfer Shelby Lynn teilt auf Instagram die Erfahrung eines jungen Fans.
https://www.nau.ch/people/welt/rammstein-sollte-casterin-orgie-in-bern-organisieren-66522600


++++POLIZEI BS
„Ausschnitte aus dem Interview mit Aymen Amin zu den Erfahrungen der Polizeigewalt in Basel #NoMorePoliceControls
Den gesamten Erfahrungsbericht ist drüben bei insta: https://instagram.com/p/Ctg818GKlia/
https://twitter.com/3rosen/status/1670422055295102978


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Massnahmengegner nach Abstimmung: «Die Schweiz ist auf dem Weg in die Hölle!» – «Wollen Sie noch Salat?»
Nach dem dritten verlorenen Referendums¬kampf herrscht bei den Gegnern des Covid-Gesetzes Ernüchterung. Aber aufgeben wollen sie nicht. Eindrücke von einem Grillstand im Berner Oberland.
https://www.derbund.ch/die-schweiz-ist-auf-dem-weg-in-die-hoelle-wollen-sie-noch-salat-679942387097


Statthalteramt legt Berufung gegen Freispruch von Daniel Stricker ein
Corona-Skeptiker Daniel Stricker wurde im Mai vom Zürcher Bezirksgericht freigesprochen. Das Statthalteramt hat nun Berufung gegen den Freispruch eingelegt.
https://www.20min.ch/story/statthalteramt-legt-berufung-gegen-freispruch-von-daniel-stricker-ein-221361722243


+++HISTORY
«Pipilotti Rist allein kann das nicht kompensieren»
Seit 2019 wirbelt Hulda Zwingli mit Aktionen im öffentlichen Raum und auf Social Media die Kunstwelt auf. Ein Gespräch mit dem Kollektiv über Geschlechtergleichheit, Quoten und das Kunsthaus Zürich.
https://www.zsonline.ch/2023/06/17/pipilotti-rist-allein-kann-das-nicht-kompensieren


Schweizer Kolonialgeschichte – Selbst ein Henri Dunant war kein Saubermann
Die Schweiz hatte keine Kolonien. Vom Kolonialismus profitiert hat sie trotzdem. Ein neuer Blick auf ein altes Thema, das lange tabu war.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/schweizer-kolonialgeschichte-selbst-ein-henri-dunant-war-kein-saubermann



NZZ am Sonntag 18.06.2023

Schweizer Sklavinnen

Historiker und Journalist Yves Demuth recherchierte zu hiesigen Zwangsarbeiterinnen. Dabei gelang ihm ein bedeutender Archiv-Fund.

Linus Schöpfer

Der Staat, die Industrie, die Kirche: Sie alle profitierten.

Sie profitierten von den jungen Frauen, die in Heimen untergebracht waren und in den Fabriken von früh bis spät arbeiten mussten. Der Staat profitierte, weil er Sozialfälle loswurde. Die Industrie, weil sie billig zu Arbeitskräften kam. Die Kirche, weil sie als Aufseherin in den Heimen wirken und sich in einer bereits weitgehend säkularisierten Schweiz nochmals wichtig machen konnte. Auch durchtriebene Privatpersonen profitierten, indem sie Heime aufbauten und von den Löhnen der Arbeiterinnen überrissene Summen abzogen.

Der Historiker und «Beobachter»-Journalist Yves Demuth recherchierte zu den Zwangsarbeiterinnen – und machte dabei einen der bedeutendsten Schweizer Archiv-Funde der letzten Jahre. Demuth zeigt, wie in der Nachkriegszeit Hunderte weibliche hiesige Teenager in Fabriken arbeiten mussten. Prominentester Nutzniesser war Emil Bührle. Der Zürcher Waffenhändler und Kunstkenner besass in Dietfurt (SG) eine Textilfabrik, die von Zwangsarbeiterinnen am Laufen gehalten wurde. Aber auch das Uhrenunternehmen Asuag oder die Glarner Spinnerei-Dynastie Schuler beschäftigten Zwangsarbeiterinnen. Diese jungen Frauen stammten oft aus verarmten Familien oder unehelichen Verhältnissen. Ihre Tage in der Fabrik waren lang, Geld verdienten sie dennoch nur wenig oder gar nicht.
«Maul halten!»: Aufnahme in der Werkstatt des Lärchenheims.
«Maul halten!»: Aufnahme in der Werkstatt des Lärchenheims.
Staatsarchiv Aargau, Ringier-Bildarchiv

Demuth kann anhand des Archivs der AHV nachweisen, wie die Löhne direkt an die Heimleiter weitergegeben wurden. Das war bereits damals ein Verstoss gegen das Gesetz.

Lehrreich sind auch jene Passagen, in denen der Autor die Heuchelei der offiziellen Schweiz blosslegt. Während das Land sich international als Kämpferin gegen die Zwangsarbeit aufspielte, erlaubte sie ebendiese Zwangsarbeit auf heimischem Boden bis in die siebziger Jahre hinein. Erschwert wurde die Aufklärung auch deshalb, weil beim Begriff «Zwangsarbeit» in erster Linie an die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gedacht wurde. Erst mit Yves Demuths Recherche dürfte sich dies nun ändern. Denn auch wenn die jungen Frauen in den Heimen genügend zu essen hatten und sie an Sonntagnachmittagen etwas spazieren gehen durften, Zwangsarbeiterinnen waren sie trotzdem.

Kompositorisch ist das Buch nicht ganz geglückt. Demuth unterbricht seine chronologische Erzählung mit längeren Porträts von ehemaligen Zwangsarbeiterinnen. Diese Einschübe machen den historischen Skandal zwar nahbarer, zugleich stoppen sie jedoch den Lesefluss aufs Neue abrupt. Die Lektüre wird so zu einem disparaten Erlebnis. Im Vergleich zum historischen Verdienst des Autors ist das allerdings ein sehr vernachlässigbarer Einwand.

Yves Demuth: Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit. Beobachter-Edition 2023. 200 S., Fr. 35.–
(https://magazin.nzz.ch/besser-leben/schweizer-sklavinnen-ld.1743037)