Blockadepolitik im Mittelmeer,
Faschismus in Brasilien, Proteste im Iran

#MullahsCiao: Die Proteste reissen nicht ab.

Was ist neu?

Mittelmeer Update: Bootsunglück vor Syrien, Politik der zivilen Seenotrettung in Italien

Bei einem Seenotfall vor der syrischen Küste starben mindestens 94 Menschen. Es ist das tödlichste Unglück auf dem Mittelmeer seit Jahren. In Italien wurde unterdessen das zivile Seenotrettungsschiff Sea-Watch 3 festgesetzt. Die gleichnamige Betreiberorganisation plant jedoch mit einem neuen Schiff, der Sea-Watch 5, eine ‚Kampfansage‘ an den Rechtsruck in Italien.

Bildunterschrift: Krankenwagen überqueren den Grenzübergang Arida nach Libyen, um die Leichen Verstorbener zurückzuführen.

1. Bootsunglück vor Syrien:
Am Donnerstag, den 22.09.22, sank vor der syrischen Küste nahe Tartus ein Boot mit 150 Menschen an Bord. Am Dienstag, den 20.09., hatte das Boot von der Region Minyeh im Norden Libanons Richtung Italien abgelegt. Nun hat das syrische Staatsfernsehen verkündet, dass die Zahl der Todesopfer auf 94 gestiegen sei, weitere 17 Leichen seien von syrischen Rettungskräften geborgen worden. Unter den Toten befinden sich auch zehn Kinder. Immernoch werden Menschen vermisst. Insgesamt 20 Überlebende befanden sich zur Behandlung im Krankenhaus, zwei von ihnen werden nach wie vor auf der Intensivstation behandelt, sechs konnten bereits entlassen werden.

Am letzten Samstag wurden im Libanon Beerdigungen für einige der Todesopfer abgehalten, nachdem diese Freitagnacht aus Syrien zu ihren Verwandten transportiert worden waren. Andere Familien warten noch immer auf die Überführung der Leichen ihrer Angehörigen.
Hunderte Menschen versammelten sich bei der Beerdigung eines der Opfer im Nahr al-Bared-Camp für palästinensische Geflüchtete, nördlich von Tripoli. Sie bildeten eine Prozession und streckten ihre Fäuste in die Luft.

Vor allem syrische und palästinensische Geflüchtete erhalten in der seit drei Jahren andauernden, gravierenden Wirtschaftskrise im Libanon kaum noch Arbeit, auch Libanes*innen leiden unter der starken Inflation. Grundversorgung wie Nahrung, Wasser, Strom und Medizin ist kaum bezahlbar.
Seit 2020 riskieren deshalb immer mehr Menschen die Überfahrt vom nördlichen Tripoli über das Mittelmeer. Die meisten versuchen das 175 km entfernte Zypern zu erreichen, doch da die zypriotischen Behörden zumeist das Einfahren der Boote in die Häfen blockieren, wählen Menschen vermehrt die Seeroute bis nach Italien.

2. Politik der zivilen Seenotrettung in Italien:
Petra Krischok, die Pressesprecherin von SOS Humanity, kommentierte die Situation im Mittelmeer wie folgt: „Unsere Erfahrung ist, dass überhaupt nur noch Italien einen Hafen zuweist, nach oft langer Wartezeit. Italien wird von der EU weitgehend alleine gelassen mit den Geflüchteten.“ Ihr Schiff, die Humanity 1, hatte innerhalb von zwei Wochen 18 Anfragen an die italienischen Behörden auf Zuweisung eines Hafens gestellt. Nachdem die Besatzung insgesamt 414 Menschen von vier Booten gerettet hatte – darunter eines mit 207 Menschen, das aus dem Libanon kam und in Seenot geriet – konnten sie vorletzten Donnerstag im Hafen von Tarent, Apulien, endlich von Bord gehen.

Gleichzeitig wurde die Sea-Watch 3 der gleichnamigen Organisation im Hafen der süditalienischen Stadt Reggio Calabria festgesetzt. Voriges Wochenende waren dort 427 Menschen an Land gegangen. Der Berliner Verein befürchtet eine wochen- oder gar monatelange Blockade im Hafen. Ihnen werde vorgeworfen, zu viele Menschen an Bord genommen zu haben.
Sea-Watch äusserte sich in einer Medienmitteilung: „Aus der absurden Argumentation, zu viele Menschen gerettet zu haben, folgt, man solle Menschen lieber dem Ertrinken überlassen.“
Regelmässig blockieren die Behörden in Rom aus fadenscheinigen Gründen zivile Seenotrettungsschiffe, obwohl der Europäische Gerichtshof im August ein Urteil gegen diese Praxis gefällt hatte. Gerade kurz vor der Wahl von Giorgia Meloni, der Parteivorsitzenden der post-faschistischen Fratelli d’Italia, zur Premierministerin Italiens wertet der Verein diese Blockade als politisches Zeichen.

Doch auch Sea-Watch setzt ein politisches Zeichen. Mit der Erweiterung ihrer Flotte mit dem Schiff Sea-Watch 5 wollen sie dem Rechtsruck in Italien eine ‚Kampfansage‘ machen. »Statt ‚Mutter, Italienerin, Christin‘ sagen wir ‚Seenotrettung, Menschenrechte, Sea-Watch 5’«, erklärte Sea-Watch-Vorstand Johannes Bayer. Das Schiff soll laut der Organisation ‚schneller, grösser, effizienter‘ sein.
Seit 2014 gibt es keine staatliche Seenotrettung auf dem Mittelmeer mehr. Seenotfälle werden fast nur noch von der zivilen Notrufhotline Alarm Phone, von zivilen Aufklärungsflugzeugen oder zivilen Rettungsschiffen entdeckt und betreut. So werden ehemalige staatliche Aufgaben an zumeist ehrenamtlich arbeitende Zivilist*innen ausgelagert, während gleichzeitig das Budget der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) aufgestockt wird. Für 2022 lag es bei 754 Millionen Euro, welche hauptsächlich für Überwachung und Abschottung eingesetzt werden.

https://www.theguardian.com/world/2022/sep/24/lebanon-migrant-boat-sinking-syria-death-toll
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-09/mittelmeer-fluechtlinge-syrien-libanon-boot-gesunken

https://taz.de/Nach-Bootsunfall-vor-syrischer-Kueste/!5883543/

https://www.dw.com/de/beh%C3%B6rden-setzen-sea-watch-3-in-s%C3%BCditalien-fest/a-63222688

https://www.spiegel.de/ausland/sea-watch-deutsche-hilfsorganisation-will-neues-rettungsschiff-ins-mittelmeer-entsenden-a-b4c56ecc-4f2e-4192-9b46-c7f5536d883d

Junge Tat in Neuhausen und Winterthur

In Neuhausen neben Schaffhausen unterrichtet seit kurzem ein Imam an einer Schule. Die Idee der Schulbehörden ist es, Räume für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem islamischen Glauben zu öffnen. Nebst dem Pilotprojekt in Neuhausen gibt es schweizweit nur in Kreuzlingen einen islamischen Religionsunterricht. Das passt der faschistischen Jungen Tat nicht.

Am Sonntag versammelte sich eine Gruppe von Faschos vor dem Schulhaus in Neuhausen. Auf ihrem Transpi stand „Remigration statt Indoktrination“. „Remigration“ ist ein rassistischer Begriff und steht für die Forderung, dass alle Nicht-Europäer*innen Europa verlassen sollen – „freiwillig“ oder unter Zwang. „Indoktrination“ werfen sie dem Imam vor: „Die Schweiz braucht eine Stärkung der eigenen kulturellen Identität statt Import fremder Ideologien“. Darin drückt sich die rassistische Annahme von ungleichen kulturellen Räumen aus, die räumlich klar voneinander getrennt werden sollen, weil sie ungleichartig seien, weshalb eine Durchmischung zu bekämpfen sei.

Nach ihrer Präsenz vor dem Schulhaus in Neuhausen demonstrierte dieselbe Junge Tat in Winterthur an einer Demo von Corona-Schwurblis. Organisiert wurde die Demo von Public Eye on Science. Diese „fordern Aufarbeitung und Konsequenzen“ für die Coronapolitik des Staats und freuen sich über die Unterstützung der Jungen Tat.

Was geht ab beim Staat?

Was entschied das Parlament in der Herbstsession?

Vom 12. bis 30. September 2022 findet in Bern die Herbstsession statt. National- und Ständerät*innen zementieren dort rassistische Gesetzte oder versuchen ebendiese abzuwenden, äussern einen rassistischen Gedanken nach dem andern oder kritisieren diese. Alles in allem ändert sich wenig. Ein Überblick:

Bild: Linke und Rechte akzeptieren parlamentarische Entscheide gleichermassen.

Schutzstatus S bleibt unverändert

Die SVP will nicht mehr allen flüchtenden Menschen aus der Ukraine den Schutzstatus S gewähren: Nur den Menschen aus dem Osten und dem Süden der Ukraine soll der Ausweis S ausgestellt werden. So spricht unter anderem Andreas Glarner von der Gefahr eines «erneuten Missbrauchs unserer Gutmütigkeit». Was die SVP vergisst oder bewusst ignoriert: Es gibt keine Unterscheidung zwischen unsicheren und sicheren Gebieten in der Ukraine: Es ist Krieg! Das Parlament lehnte die entsprechenden Motionen dann auch mit deutlichen Mehrheiten ab.

Nationalrat für Beitrag an sog. Ausreisezentren in Grenzkantonen

Hintergrund der Diskussion ist die Situation im Tessin in den Jahren 2016 und 2017: Damals reisten viele Menschen von Italien in die Schweiz ein, wurden aber grösstenteils gleich wieder nach Italien ausgeschafft. Der Kanton Tessin errichtete dafür ein sog. Rückführzentrum in Rancate: Eine graue Halle, Militärdecken als Zimmerwände, Container mit Duschen und Toiletten im Aussenbereich. Der Bund beteiligte sich damals an den Kosten für das Zentrum. Und das soll auch in Zukunft möglich sein: Der Bund soll Grenzkantone beim Betrieb sog. Ausreisezentren finanziell unterstützen können. Der Nationalrat hat einer entsprechenden Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes zugestimmt.

Nationalrat will weiterhin Zwangs-Covid-Tests bei Ausschaffungen

Mit Fesselungen zu Boden gedrückt werden – so beschreibt und rügt die Kommission zur Verhütung von Folter mehrere Corona-Zwangstests bei Ausschaffungen. Der Nationalrat fand es dann aber eine gute Idee, der Verlängerung der entsprechenden Bestimmung im Ausländer- und Integrationsgesetz zuzustimmen: Corona-Zwangstests bei Ausschaffungen sind nach wie vor möglich.

Auch Karin Keller-Sutter äusserte sich dazu: Da viele Länder nach wie vor einen negativen Corona-Test verlangen bei der Einreise, sei dessen Durchführung für den «Vollzug der Rückführungen» notwendig.

https://www.parlament.ch/de/services/news/Seite/2022/20220922110926099194158159038_bsd098.aspx
https://www.tagblatt.ch/schweiz/ein-bett-fuer-maximal-24-stunden-ld.707088
https://www.srf.ch/news/schweiz/debatte-im-parlament-svp-scheitert-mit-vorstoessen-schutzstatus-s-bleibt-unveraendert
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seite/2022/20220921171444266194158159038_bsd129.aspx
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seite/2022/20220922114551538194158159038_bsd106.aspx

Schweiz und Österreich einigen sich auf Aktionsplan gegen Migration

An einem Arbeitstreffen am vergangenen Mittwoch haben sich der österreichische Bundesinnenminister Gerhard Karner und die schweizer Bundesrätin Karin Keller-Sutter auf einen Aktionsplan über „Massnahmen zur Verhinderung der irregulären Migration in bzw. nach Europa» geeinigt. Er beinhaltet „gemeinsame migrationspolitische Initiativen auf europäischer Ebene sowie eine engere bilaterale Zusammenarbeit».

Abschottung geht nur gemeinsam, das haben die europäischen Staaten schon gelernt. Da können Macht und Ressourcen gebündelt und eigene Interessen als gemeinsame verkauft werden. Auch im aktuellen Aktionsplan Österreichs und der Schweiz umfassen die geplanten Massnahmen mehr Abschottung, Kontrolle und Abschiebungen. Zu den Plänen gehört unter anderem:

  • Eine engerer Zusammenarbeit der österreichischen und schweizer (Grenz-) Polizei durch besseren Informationsaustausch, gemeinsame Fahndungen und koordinierte Streifen im grenzüberschreitenden Bahnverkehr.
  • Ein gemeinsamer Aufbau von Druck auf EU-Instanzen zum Umbau des europäischen Migrationssystems hin zu mehr Abschottung. Die schnelle Umsetzung der Eurodac-Verordnung, mit der Personendaten von Migrant*innen zwischen EU-Staaten ausgetauscht werden können, und der Screening Verordnung, mit der Personen bis zu fünf Tagen für «Identifizierungs- und Sicherheitskontrollen» festgehalten werden können. Innerhalb der EU sollen Abschiebungen in alle Dublin-Staaten wieder ermöglicht werden. Gegenüber Drittstaaten soll die EU beispielsweise über die Visapolitik Druck zu besserer Abschiebekooperation machen.
  • Gegenüber Drittstaaten soll Druck zur stärkeren Grenzabschottung, Rückübernahme von Menschen und Verhinderung von Transportmöglichkeiten für Migrant*innen gemacht werden. Ein Fokus liegt dabei auf den Westbalkanstaaten. Hier wollen sich Österreich und die Schweiz bei Frontex dafür einsetzen, dass diese ‚bessere‘ Abkommen mit diesen Staaten abschliessen und mehr Personal an die Aussengrenzen der Westbalkanroute schicken.

Sprachlich verpackt wird alles in ein Bedrohungsszenario der steigenden Asylzahlen und der zunehmenden «irregulären Migration«, in diesem Fall vor allem über die Westbalkanroute. Zahlen zur Westbalkanroute hat das SEM im zugehörigen «Faktenblatt: Steigende Migrationszahlen» keine. Zahlen zu den Grenzaufgriffen von Personen durch den Schweizer Zoll sind wenig überraschend höher als im Vorjahr, in dem neben der Pandemie mit weltweiten Reisebeschränkungen auch beispielsweise weder bereits Krieg in der Ukraine war, noch die Taliban an der Macht in Afghanistan.

Menschen in Zahlen und Statistiken zu verpacken, blendet grundsätzlich ihre Menschlichkeit aus. Zahlen sagen nichts über die Gründe und Ziele von Menschen aus, die in einem anderen Land leben möchten oder in ihrem bisherigen nicht mehr leben können. Wenn schon Zahlen als Argumentation genutzt werden , dann wäre mehr Transparenz aber ein Grundanspruch an diese. Schwer zu finden sind beispielsweise Darstellungen der genutzten Zahlen in Vergleichszeiträumen, die über die letzten zwölf Monate hinaus gehen. Zu den vom SEM genutzten Asylzahlen zeigt Amnesty in einem Bericht auf: «Im Jahr 2021 wurden in der Schweiz insgesamt 14’928 Asylgesuche eingereicht (3’887 Gesuche mehr als im 2020). Von den 14’928 Asylgesuchen entfielen 1’232 auf Familienzusammenführungen, 2’704 auf Geburten und 978 auf Mehrfachgesuche. Im 2021 kamen also insgesamt 10’010 Asylsuchende in die Schweiz und stellten einen Asylantrag.» Das heisst: Das SEM bemüht sich nicht im Geringsten, transparente und damit wirklich aussagekräftige Zahlen zu liefern. Fast 20 % der «gestiegenen Asylzahlen» im Jahr 2021 sind Kinder, die hier geboren wurden. Schwer vorstellbar, dass sich mit dem Fokus auf diese jungen Menschen die gleiche menschenverachtende Abschottungspolitik rechtfertigen liesse.

https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/medien/mm.msg-id-90515.html#links
https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/einwanderung-schulterschluss-schweiz-und-oesterreich-wollen-illegale-migration-eindaemmen-ld.2350834
https://www.srf.ch/news/schweiz/keller-sutter-zu-aktionsplan-bei-dieser-migration-haelt-sich-die-begeisterung-sehr-in-grenzen
https://www.ejpd.admin.ch/dam/ejpd/de/data/aktuell/anlaesse-reisen/aktionsplan-at-ch.pdf
https://www.amnesty.ch/de/themen/asyl-und-migration/asylpolitik-schweiz/dok/2022/zahlen-und-fakten-zu-asyl-in-der-schweiz

Was ist aufgefallen?

Brasilien nach vier Jahren Bolsonaro

In Brasilien wird derzeit gewählt. Es sieht danach aus, als würde sich an der Urne der linkspopulistische Lula da Silva gegen den faschistischen Jair Bolsonaro durchsetzen. Wo steht das Land nach vier Jahren Todespolitik, andauernden Angriffen auf den Rechtsstaat und ständiger Hetze? Werden Bolsonaro und sein Regime die drohende Wahlschlappe akzeptieren?

Bild: Jair Bolsonaro mobilisiert den rechten Mob, verbreitet Hassideologien und festigt so faschistische Macht.

Vor vier Jahren wurde Bolsonaro in Brasilien zum Präsidenten gewählt. Gewählt wurde er von Waffen- und Armeefans, Grossgrundbesitzer*innen, Vertretenden des Agrobusiness sowie von christlich-fundamentalistischen, bibeltreuen Kreisen, denen er angehört. Während seiner Amtszeit blieb er den Interessen dieser Gruppen treu. Für die Ersten lockerte er die Waffengesetze, den Zweiten gab er freien Zugang zum Amazonas, für die Dritten kriminalisierte er das Abtreibungsrecht der Frauen.

Mit seiner Todespolitik akzentuierte das Bolsonaro-Regime die bereits tiefen Klassengräben Brasiliens. Die Ärmsten wurden ärmer. Das rohstoffreiche Land erscheint erneut auf der Hungerkarte des Welternährungsprogramms. Heute hungern mindestens 33 Millionen Menschen. Wie viele an den direkten und indirekten Folgen des Hungers und der Armut sterben, ist unbekannt.

Auch die Abholzungsprogramme im Amazonas fordern Tote. Seitdem das Regime den ohnehin schwachen Schutz des Regenwaldes abbaute, strömen immer mehr Firmen in den Amazonas und zerstören Natur und Lebensräume. Menschen werden vertrieben und getötet.

Bewusst in Kauf genommene Tote gab es besonders während der COVID-Pandemie. Das Regime verneinte die Gefahren. Es gab kaum Tests, kaum Impfstoffe und kaum staatliche Schutzprogramme. Aufgrund der menschenfeindlichen Politik des Regimes schrumpfte 2021 gar die Gesamtbevölkerung. Dies hat eine ernsthafte Debatte darüber ausgelöst, ob Bolsonaro und seinem Regime ein Genozid vorzuwerfen sei.

Der Faschismus von Bolsonaros Regime zeigte sich auch an seinem Umgang mit Rechtsstaatlichkeit. Immer wieder wurde die Gewaltentrennung missachtet und immer wieder wurde die demokratische Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt. Die Polizei und die Armee standen stramm auf seiner Seite, doch gelang es dem Regime nicht, die Gerichte völlig zu vereinnahmen.

Nebst der Todespolitik und der Aushöhlung der Rechtsstaatlichkeit ist auch charakteristisch, dass das Regime mit einem Diskurs der ständigen Drohungen, des Hasses und einem Klima der Gewalt regiert. Bolsonaros Reden sind klassistisch, heteropatriarchal, rassistisch und verehren Gewalt und Hierarchien. Gerne nimmt Bolsonaro deshalb positiv auf den Putsch von 1964 und die darauf folgenden 21 Jahre Militärdiktatur Bezug. Durch seine Hasshetze gelang es Bolsonaro, eine gewaltbereite Bewegung zu mobilisieren, die heute hinter ihm steht. Er präsentiert sich ihnen als Ausdruck des „wahren“ Volkswillens, der sich mit Gewalt durchsetzen muss.

Diese treue Anhängerschaft ruft er seit Monaten auf, im Fall einer Wahlniederlage zu kämpfen. Nur er könne die Wahlen gewinnen. Alles andere sei Wahlbetrug der Lula-Anhänger*innen. Gut möglich, dass es zu ähnlichen Szenen kommen wird, wie jene nach den US-Wahlen. Damals stürmten faschistische Trump-Anhänger*innen das Capitol. Auch sie behaupteten, die Wahlen seien nicht rechtens vonstatten gegangen. Fascho-Mobs könnten die Lage in Brasilien destabilisieren und Bolsonaro den Ausnahmezustand ausrufen, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Entscheidend werden dann die Reaktionen der derzeit mobilisierungsschwachen Linken und der sozialen Bewegungen.

https://alencontre.org/ameriques/amelat/bresil/bresil-bolsonaro-a-replace-le-bresil-sur-la-carte-de-la-faim.html
https://www.arte.tv/de/videos/107710-232-A/brasilien-nach-4-jahren-bolsonaro/

Was schreiben andere?

Das UNHCR soll den ausfälligen Sonderbeauftragten Vincent Cochetel entlassen
Bildunterschrift: Mütter und Schwestern von Menschen, die bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben kamen, bei einer Protestaktion in Zarzis, Tunesien.

Ein Beitrag von sea-watch.org:

„Am Dienstag, den 6. September 2022, während Familien von vermissten und verstorbenen Personen an den EU-Grenzen zu einer Protestaktion in Zarzis, Tunesien, zusammenkamen, sendete Vincent Cochetel, der Sonderbeauftragte des UNHCR für das westliche und zentrale Mittelmeer, einen Tweet:

„Wir trauern um die Verluste. Aber dieselben Mütter hatten kein Problem damit, ihre Kinder zu ermutigen oder zu finanzieren, sich auf diese gefährlichen Reisen zu begeben. Wie im Senegal könnte die symbolische Verfolgung von Eltern, die ihre Kinder in Gefahr bringen, einen ernsthaften Einstellungswandel in Bezug auf Todesfahrten auslösen.“

Trauernde Mütter, die zum Teil seit mehr als einem Jahrzehnt nach Antworten suchen, zu beschuldigen und sogar ihre Kriminalisierung durch „symbolische Strafverfolgung“ zu fordern, ist schlichtweg empörend. In dieser gemeinsamen Erklärung verurteilen wir die Worte von Herrn Cochetel auf das Schärfste. Herr Cochetel sendete seinen Tweet als Reaktion auf eine „CommemorAction“, eine große Versammlung in Zarzis, an der die Familien der Vermissten, lokale Fischer sowie Aktivist:innen aus Afrika und Europa teilnahmen. Während die schwer traumatisierten Mütter öffentlich Antworten forderten, beschuldigte Herr Cochetel sie, indem er sie für das Verschwinden ihrer Söhne verantwortlich machte.

Einige der Mütter und Schwestern der Vermissten haben Herrn Cochetel geantwortet:
Jalila Taamallah (Mutter): Es ist das Visa- und Grenzsystem, das Migrant:innen in Gefahr bringt, nicht ihre Mütter. Es ist die Schuld der Migrationspolitik, die den Tod von Menschen bei der Überfahrt über das Mittelmeer verursacht. Deshalb werden wir weiterhin an Demonstrationen für Bewegungsfreiheit teilnehmen. Sie können unsere Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit nicht unterdrücken.
Hajer Ayachi (Mutter): Es sollte eine Schande sein, Mütter und Schwestern, die ihre Angehörigen verloren haben, zu beschuldigen, für deren Tod verantwortlich zu sein. Wir kämpfen seit 2011 gegen Regierungen, um zu zeigen, dass es deren Migrationspolitik ist, die das Leben unserer Söhne gefährdet, nicht wir. Jedes Mal, wenn Behörden ihre Verantwortung leugnen, sterben unsere Söhne ein zweites Mal.
Gamra Chaieb (Mutter): Wir, die Mütter der Vermissten, halten es für eine große Schande, dass man uns die Verantwortung für den Tod unserer Söhne anlastet. Unsere Söhne sind Opfer und wir sind es auch, ohne dass die Regierungen und das Visasystem darauf eingehen. Sie sind die Verbrecher, sie haben unsere Söhne durch Elend zur Ausreise getrieben und dann haben sie uns im Stich gelassen. Mein Sohn ist gegangen, weil er an Krebs erkrankt ist. Er wollte gesund werden und für seine Familie und seine kleine Tochter überleben.
Samia Jabloun (Mutter): Ich glaube, dass dieser Mann krank ist, denn niemals drängt eine Mutter ihren Sohn zur Auswanderung. Er handelt nicht humanitär, er spürt unseren Schmerz nicht, die Politik der „Dritte-Welt-Länder“ ist verantwortlich und auch die Europäische Union, die den Reichtum dieser Länder ausbeutet und sie verarmt, deshalb sind junge Menschen arbeitslos; die Armut, die sie zur Auswanderung zwingt, um ihren Lebensstandard zu verbessern.
Awatef Daoudi (Mutter): Wenn unsere Kinder über das Meer fahren, dann nur, um ihren Familien etwas Gutes zu tun, denn in ihrem Land werden sie schlecht behandelt und schlecht bezahlt, und es herrscht ständige Segregation. Diejenigen, die Geld haben, haben die Macht und können tun und lassen, was sie wollen, auch wenn es um Visa geht. Das sind Geschäftsleute und Politiker, aber die meisten jungen Menschen haben keine Rechte, und deshalb stürzen sie sich ins Wasser. In beiden Fällen, entweder auf dem Meer oder in ihrem Land, sterben sie. Aber leider ist es eine Schande, dass unsere Regierung nicht für das Wohlergehen unserer jungen Menschen sorgt.
Nourhene Khenissi (Schwester): Bevor Sie die Mütter der Vermissten anprangern, wäre es besser gewesen, Sie hätten den tunesischen und den italienischen Staat kritisiert, vor allem die Europäische Union, denn sie ist die erste und letzte Ursache für all diese Tragödien. Und Sie sollten wissen, dass die Bewegungs- und Reisefreiheit ein Recht für jeden Menschen ist.
Besbes Sarra (Schwester): Es ist nicht wahr, was er über die Mütter der vermissten Migrant:innen geschrieben hat, es gibt keine Familien, die ihre Söhne ins Meer schicken, das Hölle und Gefahr verkörpert. Sie haben also nicht das Recht, über die Gefühle der Familie zu urteilen, denn die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Sohn ist nicht nur ein Wort, sondern sie ist mehr als das. Man muss wissen, dass die Beziehung zwischen allen Familienmitgliedern vor allem intim ist, weil der Sohn für die Mutter den Vater ersetzt, für die Schwester stellt der Bruder den zweiten Vater und alle Stützen des Lebens dar, für den Vater stellt der Sohn die Person dar, die während seiner Abwesenheit die erste Verantwortung für die Familie trägt und für den Bruder ist er Hilfe und Kraft. Schließlich ist es wichtig zu wissen, dass das Fehlen eines Familienmitglieds die ganze Familie erschüttert.
Rania Abdeltif (Schwester): Eine Mutter wird ihren Sohn nicht in Gefahr bringen, im Gegenteil, eine Mutter möchte, dass ihr Sohn immer an ihrer Seite ist, aber die jungen Leute hatten keine Chance in ihrem Land, also beschlossen sie auszuwandern, um das Leben ihrer Familie zu verbessern. Mütter werden ihre Kinder nie im Stich lassen, sie kämpfen jetzt für ihre vermissten Kinder. Das Gefühl einer Mutter oder Schwester, ihren Sohn oder Bruder zu verlieren, ist ein sehr schmerzhaftes Gefühl, das niemand verstehen kann, solange er es nicht selbst erlebt hat.

Anstatt die EU-Grenz- und Visaregelung zu verurteilen, anstatt die tödliche Migrationspolitik Europas anzuprangern, hat Herr Cochetel es vorgezogen, die Opfer zu beschuldigen und sie zu Täter:innen zu machen. Das ist unerträglich und wir sind verwundert: Wie kann eine solche Person in einer hochrangigen Beamtenposition des UNHCR bleiben?

Wir erkennen an, dass sich Herr Cochetel entschuldigt hat, und wir wissen auch zu schätzen, dass sich das UNHCR für die Äußerungen seines Sonderbeauftragten entschuldigt hat. Dennoch sind wir der Meinung, dass dies nicht ausreicht, zumal sich Herr Cochetel bereits in der Vergangenheit auf inakzeptable Weise geäußert hat. Wir fordern den UNHCR auf, Maßnahmen zu ergreifen und den Sonderbeauftragten zu entlassen oder den Rücktritt von Herrn Cochetel zu fordern.

Wichtig ist, dass wir der Meinung sind, dass die Probleme der UN-Organisation nicht durch die Entlassung eines Einzelnen gelöst werden. Das UNHCR als Ganzes weist tiefe institutionelle Mängel auf und hat die Menschen, die es zu schützen vorgibt, immer wieder im Stich gelassen. Das Verhalten des UNHCR gegenüber schutzbedürftigen Gruppen in Ländern wie Libyen und Tunesien und die verherrende Reaktion seiner Mitarbeiter:innen auf die dortigen Flüchtlingsproteste zeigen einige der vielen schwerwiegenden Unzulänglichkeiten dieser UN-Organisation.“

https://sea-watch.org/gemeinsame-erklaerung-ruecktritt-cochetel/

Wo gabs Widerstand?

Proteste gegen das Mullah-Regime im Iran

Im Iran gehen die Demos gegen das Regime weiter. Das Regime geht mit unerbittlicher Härte gegen Regimekritiker*innen vor, die ihr Leben auf der Strasse riskieren. Gleichzeitig demonstrieren auch Exiliraner*innen. Heute sind zwei Personen während einer Demo in Bern in das Gelände der iranischen Botschaft eingedrungen und haben die Fahne des Regimes abgenommen. Eine Person wurde von 4 Polizist*innen auf den Boden gedrückt und beide wurden verhaftet. Weiter setzte die Polizei Gummischrot gegen die Demo ein. Anstatt sich gegen das Regime einzusetzen, schützt die offizielle Schweiz lieber die Botschaft.

Bild: Auch in Bern fanden diese Woche drei Demos statt

Video: https://migrant-solidarity-network.ch/wp-content/uploads/2022/10/MullahsCiao1.mp4

Was steht an?

Demo: Antifaschistischer Abendspaziergang
22. Oktober 2022 | 19:30 | Bern Bahnhofplatz

Wir laden am 22. Oktober 2022 um 19:30 auf dem Bahnhofplatz Bern zu einem Antifaschistischen Abendspaziergang ein. Wir wollen ein bestimmtes, lautes und buntes Zeichen gegen Faschismus, Kriege und Krisen und gegen rassistische und antifeministische Tendenzen setzen! Auf solidarische und kämpferische Zeiten!
Damals wie heute: Kämpfe verbinden – Faschismus überwinden
https://barrikade.info/event/1812

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Kleine Germanen – Eine Kindheit in der rechten Szene
„Kleine Germanen“ erzählt in einer Kombination aus Dokumentar- und Animationsfilm von Kindern, die tagtäglich dazu erzogen werden, das vermeintlich Fremde zu hassen. Wie fühlt es sich an, in einer Welt aufzuwachsen, in der die nationale Identität über allem steht? Eine Aussteigerin erzählt von ihren Erfahrungen.
https://www.arte.tv/de/videos/066288-000-A/kleine-germanen/

Afghanischer Richter im Gefängnis von Catanzaro: „Ich bin kein Schmuggler“
Als Staatsanwalt geriet er wegen seiner Kämpfe für Gerechtigkeit in das Fadenkreuz der Taliban. In Italien, wo er Zuflucht suchte, wurde er als „scafista“ beschuldigt und verhaftet. Ohne die Mittel, die Kenntnis der Gesetze und Vorschriften oder der Sprache, um sich zu  verteidigen. Und sogar ohne die Möglichkeit seinen eigenen Namen geltend zu machen, der in den offiziellen Akten verfälscht wurde.
https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/afghanischer-richter-im-gef%C3%A4ngnis-von-catanzaro-ich-bin-kein-schmuggler?l=de

«Aus der Redaktion»: Wie man Lügen enttarnt
Unwahrheiten hatten gerade in der Corona-Krise Hoch­konjunktur. Da wird behauptet, vernebelt und desinformiert. Doch wie überführt man notorische Lügner? Die Republik-Reporter Daniel Ryser und Basil Schöni geben Einblick in ihre Arbeitsweise.
https://www.podcastclub.ch/podcasts/aus-der-redaktion-republik/

Bericht Scirocco von borderline-europe zu Sizilien
https://www.borderline-europe.de/sites/default/files/projekte_files/Scirocco_2022_September_Nr_15.pdf