Flucht, Vertreibung und die Chance der praktischen Solidarität

Die Medien schreiben von «Flüchtlingsmassen», um Ängste zu schüren. Aber eine Massenbewegung sind die Leute, die nach Westeuropa flüchten durchaus – und darin liegt eine Chance. Für revolutionäre Linke stellt sich die Frage, wie wir mit einer widersprüchlichen Situation umgehen.

(az) Neulich, im Treppenhaus einer Berner Genossenschaftssiedlung: Ein Aushang wirbt fürs gemeinsame Deckennähen für Flüchtlingskinder. Damit die Kinder Wärme hätten, «wo immer sie die Reise hinführt.» Jemand anderes, offenbar nicht erfreut über die Hilfsaktion, schrieb auf das Plakat mit Filzstift «peinlich». Die Mobilisierung, die seit Sommer in den Medien «Flüchtlingskrise» genannt wird, setzt hierzulande auch mentale Vorstellungen in Bewegung: Rührselige, distanzierte, kämpferische, abstrakte oder praktische Vorstellungen, wie den Leute, die in Massen nach Europa flüchten, Solidarität entgegengebracht werden soll. Es scheint, als seien die Flüchtenden zunächst mal eine Projektionsfläche. Sie gelten als hilfsbedürftige Opfer für diejenigen, die ihr eigenes Weltbild bestätigen und sich mit ihrer Wohltätigkeit nobel fühlen möchten, wie im Fall des kollektiven Deckennähens. Für andere bedeuten sie das politische Subjekt schlechthin, weil Vertreibung und Entrechtung den verschärftesten Ausdruck globaler Ungleichheit bilden würden. Wer flüchte, so lautet diese Annahme, trage aufgrund des erlittenen Leids automatisch zu einer gesellschaftsverändernden Kraft bei. Sans Papiers und Geflüchtete steigen dann zu einer abstrakten Figur auf, die den Linken die Rettung bringen sollen. Bei all diesen Projektionen bleiben die Geflüchteten selbst aussen vor, sie hat dabei niemand gefragt. Und auch wie Solidarität aussehen, wie sie gelebt und erkämpft werden soll, wird gar nicht erst gefragt.

Solidarität an der Grenze

Dabei gäbe es durchaus Anhaltspunkte für diese Suche nach den Möglichkeiten von Solidarität. Man muss Momente aufgreifen, die zeigen, wie Flüchtlinge als konkrete Subjekte ihrer eigenen Lage sind. Zum Beispiel in der ersten Septemberwoche 2015, als sich die Demo auf Ungarns Autobahnen formierte, die das Dublin-Abkommen zu Fall brachte und den Schengen-Raum ausser Kraft setzte. Dieser Moment hat deutlich gemacht, dass die Macht auf der Strasse liegt. Keine humanitäre Hilfe, sondern Frauen, Männer und Kinder, die sich in Bewegung setzten und sich zu einem Zug formierten, haben die institutionellen Grundpfeiler der Festung Europa geschleift. Allerdings nur für einen Moment – sogleich kam der Rückschlag, und heute sind Zäune und Mauern, nach dem Vorbild der USA und Israels, auch in Europa zuoberst auf der Tagesordnung der Herrschenden. Aber dennoch: der Demo-Zug von September war eine kollektive Aktion, die unter schwierigsten Bedingungen die Stärke der Geflüchteten bewies. In ihr schlug ein sozialer Brennpunkt in eine politische Situation um.

Hier, an der Grenze in Mazedonien oder Ungarn beispielsweise, kann Solidarität praktisch werden – etwa, wenn Linke Infos über den Weiterweg in Westeuropa verbreiten und beim Grenzübertritt unterstützen. Das sind Momente, in denen die GenossInnen aus Europa nicht nur diejenigen sind, die die Infos haben und vermitteln, sondern in denen sie auch von ihren zeitwiligen WeggefährtInnen aus Syrien lernen. Vor allem sind das Erfahrungen, die ebenso den Horizont der GenossInnen aus Europa erweitern. Denn die so genannte «Flüchtlingskrise» hat eben auch Situationen geschaffen, in der Leute verschiedener Herkunft und mit einer enorm unterschiedlichen Lage sich auf Augenhöhe begegnet sind. So barg dieser Sommer in Deutschland, in dem Unterkünfte und Essen organisiert wurden, eben auch ein Potenzial – nämlich, dass ein Teil der Leute, die schon vorher da waren, ihr Bewusstsein dank derer, die flüchteten, ein Stück weit änderten. Eine solche Veränderung im Bewusstsein ist flüchtig und nicht messbar. Trotzdem ist sie möglich. Und diese Veränderung im Bewusstsein beruht auf einer Erfahrung, die nicht so einfach wieder rückgängig gemacht werden kann – die Erfahrung, dass man praktisch etwas tun kann. Sicher, herablassende Wohltätigkeit gibt es viel, Hetze, rassistische Gewalt, brennende Unterkünfte, das gibt es in aller Gefährlichkeit (dazu gleich mehr), aber praktische Unterstützung, in der konkrete Solidarität entsteht, gibt es eben auch.

Eines ist klar: die Geflüchteten werden die Gesellschaft in Westeuropa verändern. Wie diese Veränderung aussieht – ob sie eine Verschärfung rassistischer Hetze, eine vertiefte Spaltung oder eine Zunahme solidarischer Kämpfe bedeutet, das weiss im Moment niemand. Die Klassenlage – die soziale Herkunft der Geflüchteten – und die Klassensituation, in der sie sich vor Ort in Europa befinden, sind unabsehbar. Stimmt es, dass vor allem bürgerliche Leute den Weg nach Europa schaffen, und werden diese mit der Haltung von globalen Expats nun die flexiblen Fachkräfte abgeben, als die sie ein Teil der deutschen Kapital-Ideologen in der Zeitung Die Zeit abfeiern? Ziemlich sicher gilt etwas anderes, nämlich dass, egal, was ihre Lage vorher war, die Leute gesellschaftlich «unten» ankommen werden – in Billigjobs und prekärer Beschäftigung. Wirklich sicher weiss man nur eines – dass die Patrons aus jeder Scheisse auf der Welt eine Gelegenheit machen, um die Löhne zu drücken und die Lohnabhängigen gegeneinander auszuspielen. Und dass die politischen Geiferer, die jammern, der Sozialstaat werde von den Geflüchteten unter Druck gesetzt, genau dieselben sind, die diesen Sozialstaat seit je systematisch zerstören wollen.

Verbindungen aufzeigen

Alle politischen Kräfte bringen sich gegenüber der Flüchtlingssituation in Stellung. Für Angela Merkel war die «Willkommenskultur» ein Manöver, um von Griechenland abzulenken – für ihre Partei mag es dabei schief gelaufen sein, aber von Griechenland spricht in den Medien trotzdem niemand mehr. Für Reformist-Innen wiederum sind Flüchtlinge stumme Opfer, die dem Reden der Helfenden nicht widersprechen. Der Sans Papier ist nicht zuletzt eine zentrale Figur in der Debatte der ReformistInnen, weil mit der Papierlosigkeit rechtliche, formale und erst davon abgeleitet und in zweiter Linie materielle Brennpunkte im Vordergrund stehen: der Sans Papier ist das ideale Phantom, um die Politik der ReformistInnen zu unterstreichen, dass formale Gleichheit der materiellen Gleichheit vorauszugehen habe. Reale Leute aber, die ohne Papiere hier leben und malochen, sind anders. Die sind kein Phantom; manche sind angepasst, andere aufsässig, erheben Ansprüche, haben eigene Vorstellungen.

Für die Reaktionären sind die Geflüchteten schlicht ein Anlass für noch mehr Hetze, für Gesetzesverschärfungen und Gewalt. So wird die Politik von den HetzerInnen vorgespurt – und SozialdemokratInnen bieten sich an, um diese Politik dann praktisch umzusetzen, in der Polizei, im Justizdepartement, im Asylwesen.

Und was heisst das für uns? Die widersprüchliche Lage zu bestimmen, bedeutet vor Ort nach gemeinsamen Kampfmöglichkeiten zu suchen. Leute, die geflüchtet sind, als Subjekte ihrer Lage zu anerkennen, heisst auch aufzuhören mit Zuschreibungen, nach denen diese Leute so zu handeln haben, wie Linke sich das gerne wünschen. Wer sein Leben rettet und die eigene Lage verbessern will, hat mit einem Scheissjob in Westeuropa schon etwas erreicht, zumindest im Vergleich zu vorher. Die «Merkel!»-Sprech-Chöre in Budapest waren nicht Ausdruck von Illusionen, sondern einer widersprüchlichen Lage. Für revolutionäre Linke bedeutet dies, zu bestimmen, wo Interessen zusammenkommen und wie weit ein Stück Weg gemeinsam möglich ist. Denn revolutionäre Linke haben von Grund auf eine enge Verbindung zu Flucht und Exil; ja, man kann sagen, dass der Internationalismus in praktischer Hinsicht auf der Erfahrung von Flucht und Exil beruht. Und die GenossInnen, die sich als revolutionäre Linke engagieren, sind sets auch Leute, die irgendwie ihr Überleben sichern müssen; nicht selten, indem sie migrieren.

So stecken wir heute – die Geflüchtete wie die Anderen – in einer gesellschaftlichen Lage, in der sich systemsprengende Kämpfe aufbauen können, aber nicht zwingend müssen. Solidarität, die über die Nothilfe hinausgeht, wird dort möglich, wo gegen Trennungen – etwa die Lohnklassen oder Aufenthalts-Schemen – etwas Gemeinsames in den Kampf gebracht werden kann. Zur kämpfenden Solidarität gehört auch, dass die wirtschaftlichen und politischen Verwicklungen deutlich gemacht werden, die eine solche Lage herbeiführten. Welche Verbindungen haben das schweizerische Kapital und die Rüstungsfirmen in den Nahen Osten, und wie stehen diese Kräfte, die für ihren Profit den Krieg vorantreiben, zu den HetzerInnen in den schweizerischen Parlamenten und Medien, die Stimmung machen oder eine Politik der brutalen Härte durchsetzen? Wenn wir solchen Fragen nachgehen, können wir jenseits eines abstrakten Humanismus zeigen, wie heute, im Kapitalismus, die Welt in einer Weise verknüpft ist, dass Krise und Profit, Elend und Überfluss, Gewalt und Sicherheit stets auf einander bezogen sind.

Frontex wird weiter gestärkt

Geplant ist erstens die Schaffung eines Frontex-Soforteinsatzpools von 1500 Einsatzkräften. Diese sollen für Frontex mehr Aufgaben übernehmen und mehr Kompetenzen erhalten. So erfolgten Frontex-Einsätze bisher nur auf Ersuchen eines Schengen-Staates. Neu reicht der Beschluss des Europarates, damit Frontex in einem Schengen-Staat aktiv werden kann. Weigert sich der betreffende Schengen-Staat, so können andere Schengen-Staaten beschliessen, an ihren Binnengrenzen wieder eigene Grenzkontrollen einzuführen.

Was sind die Aufgaben, die Frontex im rassistischen Grenzregime zukommen? Wie bisher aber verstärkt wird Frontex Grenzkontrollaktionen auf See in grösserem Umfang durchführen und Migrationsbehörden in Grenzgebieten, wo viele Geflüchtete durchreisen, bei der Repression unterstützen und kontrollieren. Neu soll Frontex auch vermehrt beim Verschleppen von Geflüchteten aktiv werden. Frontex soll Verschleppungsaktionen für die Schengenstaaten erleichtern, organisieren und finanzieren. Hierfür wird Frontex neues Personal anstellen, das auf Verschleppungen spezialisiert ist. Auch ist vorgesehen, dass sich Frontex die zum Verschleppen nötige Ausrüstung erwirbt und unterhält. Und es ist geplant Frontex-Personal in Nicht-Schengenstaaten (sogenannte Drittstaaten) zu entsenden, um diese zu bewegen, den Prinzipien des rassistischen Grenzregimes Folge zu leisten.

Die Schweiz ist durch das Grenzwachtkorps seit 2011 aktiv an Frontex und ihren Operationen beteiligt und ist im Frontex-Verwaltungsrat vertreten. Finanziell wird die Schweiz künftig massiv mehr Geld an Frontex bezahlen. 2015 bezifferte sich der schweizer Beitrag bei 4.6 Mio. Euro. Dieses Jahr liegt er bei 9.9 Mio. Euro. Dies obwohl lediglich 3.6 Mio. Euro für Frontex budgetiert waren. Insgesamt steht Frontex dieses Jahr ein Budget von 148.2 Mio. Euro zur Verfügung. Das Budget soll bis 2020 auf 345.9 Mio. Euro aufgestockt werden. Dann plant die Schweiz einen Beitrag von 14.2 Mio. Euro.
Die hier beschriebenen Neuerungen sind noch nicht unter Dach und Fach. Der Bundesrat hat die neue Frontex-Verordnung heute in Vernehmlassung geschickt. Informationen zu dieser Verordnung rassistischer Gewalt im schweizer-technokratischen Behördendeutsch gibt’s hier: https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/45644.pdf

Swimmingpools für Alle!

Aufruf zur Demonstration für menschenwürdige Unterbringung in Mörschwil – und überall! Am 15. Oktober 2016 (Besammlung 14.00 Bahnhofplatz Mörschwil) Demo bewilligt

Es ist einer der grossen und absurden Widersprüche in unserer Wohlstandsgesellschaft: In Mörschwil, einer der reichsten Gemeinden des Kantons und Steuerparadies am Rande der Stadt St.Gallen, herrschen äusserst problematische Zustände für die Menschen in der Asylunterkunft.

Durch die Öffentlichkeitsarbeit des Solidaritätsnetzes Ostschweiz und durch persönlichen Kontakt mit Geflüchteten, die in Mörschwil leben, konnten wir uns auch selber ein Bild machen. Trotz Intervention bei der Gemeinde ist – abgesehen von Einzelinitiativen der sogenannten „Spurgruppe“, einer ökonomischen Initiative aus Mörschwil – bislang wenig geschehen. Zeit, die Dinge selber in die Hand zu nehmen und vor Ort zu helfen. Unsere Solidarität für Geflüchtete in Mörschwil!

Wir, eine Gruppe junger OstschweizerInnen, finden es stossend, dass in einer reichen Gemeinde wie Mörschwil – 2013 hatten es sich rund 233 Millionäre in der Steueridylle gemütlich gemacht – offenbar keine ausreichenden menschenwürdigen Strukturen für schutzbedürftige Menschen zur Verfügung gestellt werden können. Viele von diesen Personen sind vor Krieg, Gewalt und Unrecht geflohen.

Die Gemeinde Mörschwil ist damit in bester Gesellschaft: Der Höhepunkt und bekanntestes Beispiel der öffentlichen Verweigerung der Gemeindeaufgaben und der Verantwortung, sich angemessen und MigrantInnen zu kümmern, ist sicherlich Oberwil-Lieli, das sich in den letzten Jahren stur weigerte überhaupt Asylsuchende aufzunehmen. In Mörschwil leben zwar momentan rund 28 Asylsuchende, von einer angemessenen Unterbringung kann jedoch nicht die Rede sein. Das Haus ist in einem miserablen Zustand, gerade im Kontrast zu den vielen schicken Einfamilienhäuser in der Umgebung. Es fehlt an Küchen- und Putzmaterial, Duschen funktionieren teilweise nicht, das Haus ist im Allgemeinen sehr trostlos eingerichtet.
Hinzu kommt die räumliche und soziale Isolation. Das Haus befindet sich ganz am Rande der Gemeinde, Beschäftigungsprogramme scheint es – abgesehen von Einzel(!)initiativen in der Gemeinde – nicht zu geben. Erst vor kurzem wurde die Schaffung einer Teilzeitstelle für die Bewohner beschlossen.

Einige Geflüchtete leben erst seit ein paar Monaten dort, andere wiederum bereits seit mehr als vier Jahren.

Auf die bereits geäusserte Kritik des Solidaritätsnetzes reagierten die Behörden mit vereinzelten kleinen Verbesserungen und der Äusserung, dass man doch zuerst auf die Behörden hätte zugehen können. Es braucht also erst öffentlichen Druck, um die vorhandenen Ressourcen und Mittel in Bewegung zu setzen. Den öffentlichen Druck könnt ihr haben! Und noch besser: Wenn es die Gemeinde nicht tut, tun wir es selber. Wir renovieren, bringen Küchengeräte mit, sitzen mit den Menschen zusammen, kurz: wir übernehmen die Aufgabe der Gemeinde, die dafür notabene vom Bund Geld erhält. Wir tun es laut und bunt. Für die Solidarität. Denn eine Gesellschaft hat sich daran zu messen, wie sie mit den Bedürftigsten umgeht, egal welcher Religion, Herkunft oder Hautfarbe.

Wir möchten uns nicht auf eine Diskussion einlassen, welche Fragen in der Migrationspolitik zu priorisieren sind. Die Forderung nach offenen Grenzen in Como, dem Widerstand gegen Frontex, gegen Ausschaffungen geht einher mit der Forderung nach menschenwürdiger Unterbringung geflüchteter Personen in unserer Nachbarschaft. Dass dafür kein Geld vorhanden sein soll – an dieses Märchen haben wir noch nie geglaubt.

Das soll auch eine solidarische Aktion sein für die Wenigen, die in Mörschwil Geflüchtete unterstützen, Deutschkurse und sonstige Dinge organisieren. Doch Migrationspolitik darf keine Aufgabe von Einzelinitiativen sein, sie geht uns alle an. Lasst uns teilen und verteilen. Swimmingpools für Alle!

Wir möchten betonen, dass diese Aktion zwar mit den Asylsuchenden besprochen, jedoch nicht von ihnen selber initiiert wurde. Oftmals fürchten sich Asylsuchende vor Repression oder Benachteiligung, wenn man sich dezidiert kritisch über die Zustände äussert. Andere wiederum sind in Anbetracht der Zustände in ihren Heimatländern und auf der Flucht, froh ein Dach über den Kopf zu haben. Das kann ein Ausgangspunkt sein, jedoch nicht die Legitimation für menschenunwürdige und ungerechte Unterbringung von Geflüchteten.

«Ziviler Ungehorsam ist Pflicht»

Im Kanton Waadt unterstützen solidarische BürgerInnen und PolitikerInnen Flüchtlinge, um sie vor der Rückführung zu bewahren und ihnen die Möglichkeit zu geben, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen. Der Staat reagiert mit Hausdurchsuchungen und Repression darauf.
«Sie sind in die WG gestürmt, haben alle aufgeweckt und jedes einzelne Zimmer durchsucht», berichtet Pierre Conscience. Der Gemeinderat und politische Sekretär der linken Partei solidaritéS erhielt am 15. September frühmorgens Besuch von der Kriminalpolizei des Kantons Waadt. Gleichzeitig betroffen waren Léonore Porchet, Präsidentin der Grünen Partei von Lausanne, und Céline Cerny, eine waadtländische Schriftstellerin. Alle drei gehören zum «Collectif R». Das Kollektiv ist ein 200 Personen zählendes Netzwerk, das sich gegen das Dublin-Abkommen und die Praxis der Rückschaffungen wehrt. Diesen Frühling hat das Kollektiv rund 25 prominente PolitikerInnen und KünstlerInnen zusammengetrommelt, die sich um die vorliegenden Fälle kümmern. Sie bringen Flüchtlinge während der Rückschaffungsfrist von sechs Monaten unter und sorgen dafür, dass die Behörden die Asylsuchenden nicht als «untergetaucht» registrieren. So steigt die Chance, dass sie trotz Dublin-Abkommen in der Schweiz ein Asylverfahren bekommen. Läuft die Überstellungsfrist nach sechs Monaten ab, beendet das SEM das Dublin-Verfahren und eröffnet ein nationales Asylverfahren, das es wie ein Erstgesuch behandelt. Einige Wochen vor den Hausdurchsuchungen wurden zwei andere Flüchtlinge, die mit Unterstützung des Kollektivs in der Kirche Mon-Gré Unterschlupf fanden, auf offener Strasse von zivilen PolizistInnen verhaftet. Der eine wurde nach Frankreich ausgeschafft, der andere nach Kroatien; zwei Länder, die bereits stark mit der Flüchtlingskrise überfordert sind. «Seit einiger Zeit werden immer mehr Menschen, die von ‹Dublin› betroffen sind, unter Hausarrest gestellt, um sie für die Rückschaffung einfacher zu sammeln», erklärt Pierre Conscience. Personen unter Hausarrest sind gezwungen, jeden Abend nach Hause zurückzukehren, andernfalls machen sie sich strafbar und/oder werden als untergetaucht behandelt, was ernsthafte Konsequenzen für ihr Verfahren nach sich zieht, erklärt der Aktivist.
Der Bund droht dem Waadt
Polizeirazzien, Verhaftungen, Hausarrest. Seit einigen Monaten nimmt die Zahl solcher Vorfälle, die das Kollektiv als «Einschüchterungsversuche» bezeichnet, zu. Aber sie lassen es sich nicht einfach gefallen. Die Presse wurde informiert, eine Petition mit 1500 Unterschriften konnte innerhalb kürzester Zeit gesammelt werden und eine Interpellation, die von dreissig Ratsmitgliedern unterschrieben worden ist, wurde dem Kantonsparlament vorgelegt. «Es findet ein Frontalangriff auf das Asylwesen statt», entrüstet sich Conscience. Diese Verschärfung führt der Kommunalpolitiker auf den 5. Juni zurück, als die Schweizer Stimmberechtigen für die 11. Asylgesetzrevision gestimmt haben. «Ein paar Tage später zeigte Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit dem Finger auf den Kanton Waadt und warf ihm Laschheit in Bezug auf Rückschaffungen vor.» Und Ende August wurden finanzielle Drohungen ausgesprochen, die der Bund dem Kanton aufbürdet. Auf den 1. Oktober wurde das Inkrafttreten eines «Monitoring des Wegweisungsvollzugs» angekündigt. «Kommt ein Kanton seiner gesetzlichen Vollzugsverpflichtung nicht oder nicht genügend nach, kann der Bund neu von der Ausrichtung von Pauschalabgeltungen absehen oder bereits ausgerichtete Pauschalen zurückfordern», heisst es in einer Medienmitteilung des Bundesrats.
«Es handelt sich um eine Infragestellung der Politik des Waadts. Der Kanton hatte aufgrund einer starken Mobilisierung der Bevölkerung schon immer eine tiefere Rückführungsrate. Heutzutage ist die Solidarisierung infolge des Drucks von oben zurückgegangen», analysiert Conscience. Gegenüber «le Courrier» versicherte Philippe Leuba von der FDP, der in der Kantonsregierung für die Asylpolitik verantwortlich ist, dass es keinen Druck gebe. Es gehe darum, «ein Gesetz, das vom Volk angenommen wurde und dem alle gleichermassen unterworfen sind», anzuwenden.
«Falls ein Gesetz inhumane Konsequenzen hat, ist ziviler Ungehorsam Pflicht», erwidert Conscience, der daran erinnert, dass das «Collectif R» den Flüchtlingen nur hilft, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen, mehr nicht.
«Besser, sie bleiben»
David Payot, PdA-Regierungsrat der Stadt Lausanne, der ebenfalls zum Netzwerk des Kollektivs gehört und einen Flüchtling beherbergt, äusserte gegenüber dem «Gauchebdo» seine Besorgnis: «Dieser Druck des Bundes und der Wille der Kantonsregierung, ihm nachzukommen, sind beunruhigend.» Wagt er es als Mitglied der Stadtregierung, auch zum zivilen Ungehorsam aufzurufen? «In Situationen, in denen Gesetze nicht mit der Realität in Einklang sind, tragen auch die Städte Verantwortung. Die Menschen werden auf ihrer Flucht blockiert, man zwingt sie, zu bleiben oder in ein Land zurückzukehren, das sie nicht aufnehmen kann. Dadurch bringt man sie in eine prekäre Lage und sie stecken in Massen an den Grenzen oder in urbanen Gebieten fest. Es wäre besser, man würde sie aufnehmen, als sie in ganz Europa hin- und herzuschicken», erklärt Payot. Für ihn muss die bisherige Politik des Kantons Waadt ausgedehnt werden, statt sie zu unterdrücken.
Pierre Conscience pflichtet bei: Der Kanton muss «sich weigern, gewisse Rückführungen durchzuführen, auch wenn es ihn finanziell etwas kostet», fügt er in Bezug auf die Drohungen der Schweizer Regierung hinzu.

Schweiz: Für ein echtes Asylrecht – mit zivilem Ungehorsam gegen Dublin III

Die Verordnung von Dublin III, wie sie im Januar 2014 in Kraft getreten ist, gilt für die 28 Staaten der EU, sowie für Island, Liechtenstein, Norwegen und die Schweiz. Dublin III schreibt vor, wie Asylanträge und Anträge auf internationalen Schutz (sogenannten subsidiären Schutz) zu bearbeiten sind. Das Regelwerk hat zum Ziel, die Menschen in das Land zurück zu schieben, wo sie zuerst ihren Asylantrag gemacht haben. Somit verlagert es bewusst einen grossen Teil des «Aufwandes», der durch Asylanträge entsteht, auf die Staaten, die an den äusseren Grenzen der EU liegen.

Die Zahnräder der rassistischen Verschleppungsmaschinerie haben sich trotz Widerstand gedreht

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat heute, Mittwoch, 28.09.2016, unseren Mitaktivisten JD und weitere Kongoles_innen per Sonderflug in die Demokratische Republik Kongo (DRK) verschleppt. Dies obwohl die Regierung Kabila seit Wochen gegen Oppositionelle vorgeht, diese tötet und verhaftet. Bisher haben wir keine Nachricht von JD und den anderen Zwangsausgeschafften. Ihnen droht Gefängnis und Folter. Die schweizer Behörden sind mitverantwortlich. Morgen Donnerstag um 18 Uhr findet in Bern eine Protestaktion gegen diese und künftige Verschleppungen in den Kongo statt.

Liberté pour JD – No Deportation to Congo

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29. September, 18:00 Uhr, Bahnhofsplatz Bern

Heute Morgen kam ein Anruf von Jean-Didier Mamvidila. Er werde vom Knast in Witzwil, wo er seit Juni in Ausschaffungshaft verharren muss, ins Regionalgefängnis Bern verlegt. Ein klares Zeichen, dass seine geplante Verschleppung in die demokratische Republik Kongo (DRK) ansteht. Jean-Didier ist ein Aktivist, der in der Schweiz und im Kongo gekämpft hat. Trotz Toten und angespannter Lage im Kongo hält die Schweiz am geplanten Sonderflug von über 30 Kongoles*innen – viele ebenfalls von der Opposition – fest. In der Demokratischen Republik Kongo (DRK) brodelt es. In den letzten Wochen kamen bei Protesten gegen die Regierung über 50 Menschen ums Leben.

Nazis blockieren – Weil am Rhein – 24. September 2016

Update: Andy Weigand und Co. haben die Demo abgesagt, bzw. auf November verschoben! Obwohl die Gegenkampagne erst anzulaufen begann, war es ihnen schon zu viel Gegenwind. Lasst uns trotzdem am 24. September auf die Strasse gehen! Denn die Nazistrukturen in Weil am Rhein bleiben ebenso wie die allgemeine rassistische Welle in Europa. Deshalb lasst uns den Tag nutzen, um eine starke antifaschistische Demo zu machen!