Geforderte Sklavereireparationszahlungen an die Schweiz, geschlossene Lager in Lesbos, smartifizierte Grenzen im Schengen-Raum

Bild von Moria 2.0: Kein Strom, nicht mal 40 Klos für Tausende, keine vernünftigen Unterkünfte, kaum Duschen…

Hier geht’s zum Podcast der antira-Wochenschau

antira-Wochenschau: Neues geschlossenes Lager auf Lesbos | Aufklärungsflugzeug Moonbird sowie die Sea-Watch 4 von italienischen Behörden festgesetzt | Die europäische Abschottungspolitik fordert weitere 27 Tote auf dem Mittelmeer | Smart Borders: Parlament stimmt verschärften Einreiseregeln im Schengen-Raum zu | Asylstatistik August 2020 | USA: Ein Viertel der befragten jungen Erwachsenen glauben, der Holocaust sei ein Mythos | Deplatforming und die Diktatur der Techkonzerne | Zypern schiebt Menschen ohne Asylverfahren in den Libanon ab | Weitere rechtsextreme Chatgruppe von 30 Polizeibeamt*innen in Deutschland zufällig entdeckt | Zum alltäglichen Rassismus in Italien | Vietnam: Ersturteile nach dem Tod von 39 Geflüchteten, die nahe London in einem Lastwagen starben | PNOS-Ableger in der Romandie mag nicht mehr | Die Schweiz soll Sklavereireparation bezahlen | Geflüchtete springen von Bord der Open Arms, um nach Europa zu schwimmen |Tausende Menschen demonstrieren für die Evakuierung Morias


Was ist neu?

Neues geschlossenes Lager auf Lesbos

Die griechische Regierung hat bereits ein neues Camp auf Lesbos errichtet. Es heisst jetzt «TRIC: Temporäres Registrierungs- und Identifizierungscamp». Die angegebene Kapazität von 5.000 Personen ist bereits überschritten. Die Bedingungen sind Moria 2.0. Kein fliessendes Wasser, katastrophale Sanitäranlagen, keine geschützten Waschmöglichkeiten für Frauen*, generell kaum Duschen, weniger als 40 WCs für Tausende, kein Strom, unzureichende Trinkwasser- und Lebensmittelversorgung, viele Menschen schlafen auf dem Boden. Das sei immerhin besser als auf der Strasse, sagt eine Sprecherin der Schweizer DEZA, die vor Ort Trinkwasser im neuen Lager bereitstellt. Diese Hilfe vor Ort, die die offizielle Schweiz als so wichtig betont, wird von vielen Menschen dort nicht gewollt. Sie wollen nicht in das nächste Elendslager, sondern nach Europa, sie wollen ein Asylverfahren, eine Perspektive.
Dieses offizielle Europa will sie aber nicht. Eine Lösung zur Verteilung der Menschen auf andere europäische Staaten ist nicht in Sicht. Die 1.500 Menschen, die Deutschland aufnehmen will, haben bereits einen anerkannten Asylstatus und werden voraussichtlich gar nicht von Lesbos kommen. Der Fokus auf unbegleitete Minderjährige in der Aufnahmedebatte suggeriert, dass die Bedingungen für Erwachsene und für Familien schon okay wären. Das sind sie nicht, für niemanden. In der Schweiz blockiert Karin Keller-Sutter die Aufnahme, obwohl es dafür aus rechtlicher Sicht zahlreiche Möglichkeiten gebe. Die griechischen Behörden wollen ebenfalls nicht, dass die Menschen die Insel verlassen.  Das würde “falsche Signale” in dieser “Flüchtlingskrise” senden. Die Regierung lasse sich “nicht erpressen”. Die Brandstiftung, die von den Behörden sehr schnell den Geflüchteten zugeschrieben wurde, dürfe kein Vorbild für andere Lager werden, um eine Evakuierung “zu erzwingen”. Es wird auf rassistische Weise ein Bild der geflüchteten Menschen als kriminell, gefährlich und undankbar gezeichnet, das ihre unmenschliche Behandlung zu rechtfertigen versucht. Denn das Vorgehen der griechischen Behörden, um die Geflüchteten in das neue Lager zu zwingen, ist menschenverachtend. Auf der gesperrten Strasse, wo seit nun über einer Woche Tausende ausharren müssen, gibt es keine offizielle Lebensmittel- und Wasserversorgung, ist der Zugang von NGOs erschwert, die Presse ist unerwünscht, Wasserwerfer und Polizeikräfte stehen als Drohkulisse bereit. Eine Aushungerungstaktik, um die Menschen “freiwillig” in das neue Lager zu bekommen. Auf Flugblättern wird den Menschen mitgeteilt, dass ihr Asylverfahren gestoppt wird, wenn sie sich nicht im neuen Camp registrieren.
Auch über Social Media wendet sich die Migrationsbehörde an die Geflüchteten auf Lesbos: “Lieber Asylsuchender, wenn Sie in Lesbos sind, ist der einzige sichere Ort für Sie und Ihre Familie im neuen Lager. Dort garantiert der griechische Staat Ihre Sicherheit und versorgt Sie mit Strom, Wasser, medizinischer Versorgung, Wifi usw. Informieren Sie sich nur bei den offiziellen Behörden. Vertrauen Sie niemandem sonst, sie werden nur benutzt.” Hohn und Lüge zugleich. Und eine Entmündigung der Menschen.
https://www.facebook.com/seawatchprojekt/videos/419106152394676
https://www.srf.ch/play/tv/10vor10/video/endstation-moria—wie-weiter?urn=urn:srf:video:25fdf69b-0042-4f2c-ad9f-80e4cf97e5c7
https://www.woz.ch/2038/europaeische-fluechtlingspolitik/um-welche-uhrzeit-kommt-die-freiheit
https://www.bluewin.ch/de/news/international/die-behoerden-fahren-eine-aushungerungsstrategie-439702.html
https://www.tagesschau.de/ausland/moria-211.html

Weitere rechtsextreme Chatgruppe von 30 Polizeibeamt*innen in Deutschland zufällig entdeckt
Letzte Woche wurde öffentlich, dass 30 Polizeibeamt*innen eines Polizeireviers in Mülheim an der Ruhr, Nordrhein-Westfalen, mehrere Chatgruppen betrieben, in denen sie u.a. Hitlerbilder und andere rechtsextreme, rassistische, menschenverachtende und gewaltverherrlichende Inhalte teilten. Eine der Chatgruppen besteht bereits seit 2012. Alle Beamt*innen sind bis auf Weiteres vom Dienst suspendiert. Gegen elf von ihnen wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Bei zweien ist der Vorwurf bereits verjährt und gegen den Rest kann nicht ermittelt werden, weil sie selber nichts geteilt haben, sondern ‚nur‘ Mitglieder der Gruppe waren. Das Stillschweigen darüber ist nicht nur erschreckend, sondern Voraussetzung dafür, dass rechtsextreme Gesinnungen im Polizeiapparat so gut funktionieren und deswegen auch verbreitet sind. Eine Recherche des Deutschlandfunks spricht von ca. 200 eingeleiteten Verfahren gegen Polizeibeamt*innen in Deutschland in den letzten Jahren wegen Verbindungen zur rechtsextremen Szene, Verbindungen zur Reichsbürger-Szene, wegen rassistischer Beleidigungen, Volksverhetzung, Mitgliedschaft in rechtsextremen Chatgruppen und dem Tragen rechtsextremer Symbole. Darunter z.B. ein Bundespolizist, der in Thor Steinar-Hose eine Zeugenaussage vor Gericht machte. Und das sind nur die Fälle, in denen Ermittlungen eingeleitet wurden. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein. Wenn es zu keiner Strafanzeige, sondern zu einem Disziplinarverfahren innerhalb der Polizei kommt, werden die Ermittlungen häufig eingestellt oder enden lediglich mit einer Missbilligung oder einer Geldbusse. Und das sind wiederum nur diejenigen, welche als rechtsextrem eingestuft werden. Alle mit rechter Gesinnung und rassistischem Gedankengut, das ja immer salonfähiger wird und deswegen gar nicht als rechtsextrem gilt, werden nicht einmal mitgedacht. Zum Beispiel alle Polizist*innen, die AfD-Mitglieder sind, alle Polizist*innen, die Racial Profiling betreiben, alle Polizist*innen, die unbescholten rassistische Ausdrücke benutzen. Der Hamburger Polizeiwissenschaftler Rafael Behr sagt, dass sich bereits zu Beginn der Polizeiausbildung eine Disposition der Auszubildenden abzeichnet: ‚wertkonservativ‘, ‚staatsbejahend‘, ‚hierarchiebejahend’. Die zusätzliche Radikalisierung findet jedoch häufig während des Berufes statt. Das Problem liegt also innerhalb der Strukturen. Und darin, dass Menschen nicht zugehört wird. Denn diejenigen, welche von Polizeigewalt betroffen sind, erzählen seit Jahrzehnten davon. Doch sie werden nicht ernst genommen. Polizeigewerkschafter Michael Maatz spricht demgegenüber von einer Studie in Nordrhein-Westfalen, in der die Polizei bei 86% der Befragten ein hohes Ansehen geniesse. Da frage ich mich wirklich, welche Menschen sie befragt haben. Diejenigen, welche noch nie mit Polizist*innen in Berührung gekommen sind? Diejenigen, welche ihnen nicht ausgesetzt sind, sondern von ihnen beschützt werden? Da verläuft eine Linie entlang von Besitzverhältnissen, Rassifizierung, Aufenthaltsrechten, eine Linie entlang der Norm, die die Gesellschaft zweiteilt und definiert, wer als schützenswert gilt. Dass bereits prekarisierte Menschen in vulnerablen Positionen am häufigsten mit der Polizei in Berührung kommen, zeigt doch schon das Problem auf. Da läuft etwas komplett falsch.
Und auch in NRW wurde nicht zugehört. Es gab mehrere Vorwürfe, dass die Essener Polizei mit exzessiver Gewalt gegen BIPoC-Personen (Black Indigenous People of Color) vorgegangen ist. 2017 und 2019 wurden Michael Haile und Adel B. unter ominösen Umständen von Essener Polizeibamt*innen erschossen. Das antifaschistische Bündnis „Essen stellt sich quer“ wies seit Jahren darauf hin, dass Polizeibeamt*innen mit einer rechtsradikalen Bürgerwehr sympathisierten und bemängelte das andauernde Racial Profiling. Anstatt diese Anschuldigungen ernst zu nehmen, hatte der Polizeipräsident daraufhin nichts besseres zu tun, als Anzeige wegen Beleidigung gegen das Bündnis zu erstatten. Eine umfassende Studie zu Racial Profiling und Rechtsextremismus in der Polizei lehnt Bundesinnenminister Seehofer (CSU) nach wie vor ab, mit den Worten: „Wir haben kein strukturelles Problem.“ Er muss ja ganz schön Angst davor haben, was bei dieser Studie herauskommen könnte, wenn er sich so vehement dem Leugnen verschreibt und damit als weisser Mann gewaltvoll alle Stimmen von BIPoC-Personen zum Schweigen bringt, die Gegenteiliges berichten. NRW-Innenminister Reul (CDU) möchte zwar eine Studie, aber keine unabhängige. Das begründet er folgendermassen: »Eine grosse, weltumfassende Studie, am besten von einem Professor, der vorher schon weiss, was hinterher rauskommt und nur eine Finanzierung braucht, die brauchen wir nicht.« Naja, wenn es eine polizeiinterne Studie geben wird, dann wissen wir ja auch schon, was hinterher rauskommt. Zusätzlich werden Forderungen nach unabhängigen, möglicherweise anonymen Anlaufstellen laut, in denen Polizeibeamt*innen Hinweise zu ihren Kolleg*innen geben können, ohne befürchten zu müssen, als ‚Kamerad*innenschwein‘ zu gelten. Auf die Frage, ob das eine geeignete Möglichkeit sei, den Polizeiapparat zu verändern, antwortet Jörg Radek, stellvertretender Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei: „Ich möchte nicht, dass Polizisten in einer Behörde leben müssen, in der sie Angst haben.“ Gut, und ich möchte nicht an einem Ort leben, an dem man keine Angst haben muss, wenn man rechtsradikales Gedankengut verbreitet. Die rechtsradikalen Enthüllungen innerhalb von deutschen Sicherheitsbehörden reissen übrigens nicht ab. Letzte Woche wurde auch bekannt, dass einige Polizeibeamt*innen und Soldat*innen mit der privaten Sicherheitsfirma ‚Asgaard’ zusammenarbeiten. Heimlich gefilmte Videoaufnahmen aus deren Firmensitz in Bagdad, Irak, aus dem Jahr 2017 zeigen den Wandschmuck: Reichsadler, Reichkriegsflagge, Eisernes Kreuz, Hakenkreuz, ein Spruch aus dem Nationalsozialismus (‚Klage nicht, kämpfe!‘) und viele andere Worte in Nazi-Typografie. Da soll nochmal eine Person sagen, das seien alles Einzelfälle..
https://www.srf.ch/news/international/nordrhein-westfalen-gewerkschafter-zu-rechtsextremen-polizisten-wir-sind-geschockt
https://taz.de/Konsequenzen-aus-NRW-Polizeiskandal/!5714778/
https://taz.de/Rechtsextremismus-bei-der-Polizei/!5710034/
https://taz.de/Rechtsextremismus-bei-der-Polizei/!5710027/
https://taz.de/Rechtsextreme-Polizisten-Chatgruppen/!5710023/
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141929.rechtsextremismus-in-der-polizei-empoerung-ueber-neuen-polizeiskandal.html
https://www.jungewelt.de/artikel/386591.rechte-in-uniform-ringen-um-konsequenzen.html
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/rechtes-netzwerk-bei-der-polizei-100.html
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/gespraech-mit-rafael-behr-100.html
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextremismus-problem-die-polizei-muss-besser-sein-als.694.de.html?dram:article_id=484236
https://www.tagesschau.de/inland/nrw-polizei-rechtsextremismus-101.html
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141916.rechtsextremismus-in-der-polizei-wer-ist-antifa.html
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextreme-chatgruppen-wir-fordern-den-unabhaengigen.694.de.html?dram:article_id=484293
https://www.tagesschau.de/inland/interview-behr-101.html
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/rechtsextremismus-polizei-nrw-skandal-100.html
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-09/nsu-2-0-drohschreiben-politiker-prominente-rechtsextremismus
https://www.sueddeutsche.de/politik/seehofer-polizei-gutachten-1.5035857
https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/bundeswehr-asgaard-rechtsradikale-101.html https://www.rbb-online.de/kontraste/archiv/kontraste-vom-17-09-2020/soldaten-und-polizisten-arbeiten-fuer-dubiose-sicherheitsfirma.html
https://www.i24news.tv/fr/actu/international/europe/1600269619-allemagne-29-policiers-suspendus-pour-avoir-partage-des-photos-d-hitler
https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextremismus-bei-der-polizei-zu-viele-einzelfaelle.724.de.html?dram:article_id=466389
https://antira.org/2020/09/17/medienspiegel-16-september-2020/

Aufklärungsflugzeug Moonbird sowie die Sea-Watch 4 von italienischen Behörden festgesetzt

Bild: Gebiet vor Libyen, welches von der Moonbird beobachtet wird

Das Aufklärungsflugzeug Moonbird hat im Jahr 2020 bisher 75 Seenotfälle dokumentiert und mehr als 3.943 Menschen in Seenot gesichtet. Zudem dokumentierte es mehrere Fälle, in denen Boote in Seenot, statt gerettet zu werden, von der maltesischen Küstenwache mit Motoren und Rettungswesten ausgestattet wurden – offensichtlich, damit sie selbstständig nach Sizilien fahren können und nicht in Malta landen. Nun ist dieses zivile Auge auf dem Mittelmeer, wie der grösste Teil der gesamten zivilen Seenotrettungsflotte, blockiert worden. Während Frontex-Flugzeuge immer wieder ihre Positionen verschleiern, um Beteiligungen europäischer Rettungsleitstellen an Push-backs, unterlassenen Hilfeleistungen und Verzögerungen zu vertuschen, ist das zivile Flugzeug den Behörden ein Dorn im Auge. Sea-Watch schreibt dazu: “Unser Flugzeug Moonbird ist derzeit auf Lampedusa festgesetzt, weil es zu viele Stunden geflogen ist. Gleichzeitig wird die Sea-Watch 3 in Porto Empedocle blockiert. Der Vorwurf: Es gibt zu viele Schwimmwesten und zu viele Passagier*innen an Bord. Obwohl diese Gründe mehr als absurd sind, befürchten wir, dass die Behörden mit ähnlich erfundenen Gründen aufwarten werden, um auch die Sea-Watch 4 zu blockieren. […] Menschen, die im zentralen Mittelmeer sterben, sind das Ergebnis der ekelhaften Politik Europas und der willkürlichen Blockade von zivilen Akteur*innen, die ihre Arbeit tun. Wir brauchen Augen. Wir brauchen Hände. Wir brauchen Flugzeuge. Wir brauchen Schiffe. Und wir werden unseren Kampf fortsetzen, damit niemand im Mittelmeer ertrinken muss.” Am Sonntagmittag erfahren wir: Die Sea-Watch 4 wurde von den italienischen Behörden festgesetzt.
https://www.facebook.com/seawatchprojekt/posts/2639056426312422
https://blogs.taz.de/finiskleinerlieferservice/2020/09/15/rcc-malta-zu-busy-fuer-seenotrettung/?fbclid=IwAR2etFwwc7sbv8PYJQBqq2z3pXrjb0oaXZ6z6pshz1yvWeZrqSXKlwLXvPY

https://www.welt.de/politik/ausland/article216132604/Hafen-von-Palermo-Deutsches-Rettungsschiff-Sea-Watch-4-festgesetzt.html

Vietnam: Ersturteile nach dem Tod von 39 Geflüchteten, die nahe London in einem Lastwagen starben
Ende Oktober letzten Jahres wurde südlich von London ein Lastwagen gefunden, in dem sich 39 Leichen befanden. Leichen von Menschen, die versucht hatten, von Vietnam nach Europa zu gelangen und in dem Lastwagen erstickten. Weitere Todesopfer der europäischen Abschottungspolitik. Letzte Woche wurden nun erste Urteile gegen vier Menschen in Vietnam gefällt, die in den Fall involviert waren. Diese Urteile stehen stellvertretend dafür, wie einzig und ausschliesslich Einzelpersonen für die Tode an europäischen (Aussen-) Grenzen verantwortlich gemacht werden, sog. ‚Menschenschmuggler*innen‘. Sie verzerren allerdings die Tatsache der Mitbeteiligung der europäischen Regierungen an den vielen Toden von Menschen auf der Flucht oder auf der Reise nach Europa. Sie sind das Ergebnis der europäischen Migrationspolitik, die geflüchtete Menschen illegalisiert, schikaniert, misshandelt, verwaltet, einsperrt, sie dazu zwingt, gefährliche Fluchtrouten in Kauf zu nehmen, Seenotrettung verhindert, mit libyschen Folterlagern kooperiert, FRONTEX aufrüstet. Die Urteile verschleiern, dass das Migrationsregime von Schreibtischtäter*innen innerhalb der europäischen Behörden mitgetragen wird.
Und dass eine Abschiebung der legale Weg von ‚Menschenschmuggel‘ ist, nur gegen den Willen der Person.
https://www.infomigrants.net/en/post/27265/4-people-sentenced-in-vietnam-for-british-truck-deaths

Die europäische Abschottungspolitik fordert weitere 27 Tote auf dem Mittelmeer
Vor Libyen sind drei Boote von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen worden. Eines der Boote war gekentert, wobei mindestens 24 Menschen ums Leben kamen. Mindestens 45 Menschen wurden an den Ort zurück gebracht, vor dem sie versucht hatten, zu fliehen. Damit kostet die europäische Abschottungspolitik erneut zahlreiche Menschenleben und bringt andere in Gefahr, massiver Gewalt ausgesetzt zu sein. Auch vor Kreta ertranken mindestens drei Menschen, als ein Boot am späten Montag bei starkem Wind vor der Insel kenterte.
In der eurozentrischen weissen Logik kann man sich an diese Nachrichten gewöhnen. Mit einer rassistischen Abwertung von BIPoC-Menschen und der umgekehrten Schuldzuweisung, sie hätten ihr Land ja nicht verlassen müssen, kann man sie selbst für ihren Tod und ihre Gewalterfahrungen verantwortlich machen. Akzeptieren wir diese Nachrichten nicht als Normalität!
Die nordafrikanischen Staaten erhalten von der EU und der Schweiz Millionen, um die Grenzen zu sichern. Die sogenannte libysche Küstenwache hat in diesem Jahr bereits 8.000 Menschen auf See abgefangen und zurück ins Land geschleppt. 400 Menschen starben. Auch die marokkanische Küstenwache macht ihre Arbeit ganz im Sinne der EU. Sie hat in der vergangenen Woche 168 Menschen daran gehindert, mit Behelfsfahrzeugen wie Jet Skis, Kajaks und anderen Booten Spanien zu erreichen.
https://www.rnd.de/politik/fluchtlinge-kentern-vor-libyen-mindestens-24-menschen-im-mittelmeer-ertrunken-LSK3XVR4SH3KHENTHI5I5VUWPE.html
https://www.infomigrants.net/en/post/27273/at-least-3-dead-dozens-rescued-after-migrant-boat-sinks-off-cretehttps://www.infomigrants.net/en/post/27253/morocco-intercepts-migrants-trying-to-reach-spain-on-jet-skis-and-kayaks

Was geht ab beim Staat?

Smart Borders: Parlament stimmt verschärften Einreiseregeln im Schengen-Raum zu

Die EU erweitert die Möglichkeiten für präventive Kontrollen bei der Einreise in den Schengen-Raum. Nach dem Ständerat hat am Donnerstag nun auch der Nationalrat entschieden, nachzuziehen und sich am Europäischen Reiseinformations- und Genehmigungssystem (Etias) zu beteiligen.
Die EU hatte das Etias-System im Herbst 2018 beschlossen. Dieses wird ca. 2023 in Betrieb genommen. Für nicht visumspflichtige Drittstaatenangehörige wird mit Etias ein automatisiertes Sicherheitskontrollsystem für die Einreise in den Schengen-Raum eingeführt. Diese Personen müssen vor ihrer Reise online ein gebührenpflichtiges Gesuch um Erteilung einer Reisegenehmigung stellen. Das Gesuch wird anschliessend automatisch mit den Schengen-Datenbanken abgeglichen, um zu prüfen, ob eine Person «eine Bedrohung für die Sicherheit darstellt» oder falsche Angaben zu ihrer Identität gemacht hat. Über die definitive Einreiseerlaubnis entscheidet die Etias-Stelle. Zudem können Strafverfolgungsbehörden fallweise Einsicht in die Etias-Daten nehmen. Der Bundesrat verspricht sich von dem System mehr ‘Sicherheit für die Schweiz’. Die Kontrolle der Schengen-Aussengrenzen werde durch den Einsatz moderner Technologien und besserem Informationsaustausch verstärkt, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter. Tatsächlich erhoffen sich die Behörden dadurch wohl die komplette Kontrolle über Migrationsbewegungen in und aus dem Schengen-Raum. Denn die Sicherheitsbedrohung in der Schweiz ist nicht gerade gross. Dieser Entscheid reiht sich ein in eine allgemeine Technologisierung der Grenzen und Zentralisierung der Informationsspeicherung: Dem neuen Einreise- und Ausreisesystem EES hat das Parlament bereits vergangenes Jahr zugestimmt. Der Ausbau des Schengener Informationssystems SIS ist am Donnerstagmorgen im Nationalrat abgestürzt, nun ist der Ständerat am Zug. Der Bundesrat schlägt dem Parlament zudem die Vernetzung aller Schengen- und Dublin-Datenbanken vor (mehr Infos zu den einzelnen Informationssystemen und Datenbanken: https://antira.org/2019/10/13/tuerkischer-staat-greift-rojava-an-neonazi-greift-synagoge-an-greta-greift-sem-an/).
All diese Massnahmen in Richtung «Smart Borders» erhöhen die Fahndungs- und Ermittlungsfähigkeiten der Behörden massiv, was unter anderem die Situation von Menschen auf der Flucht stark beeinträchtigt. Für (geflüchtete) Migrant*innen wird es in Zukunft wohl fast unmöglich sein, noch unbemerkt eine Grenze überqueren zu können oder irgendwo unbemerkt mit einem abgelaufenen Visum zu leben.
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2020/20200917165550347194158159041_bsd130.aspx

Was ist aufgefallen?

Asylstatistik August 2020: Zwang und Brutalität in Zahlen
Die Asylstatistik vom August 2020 gibt Aufschluss über die Brutalität, die sich hinter meist verschlossenen Bürotüren des Staatssekretariats für Migration (SEM) oder hinter den Mauern und Gittern der Ausschaffungsstrukturen der Schweiz abspielt. Es sind dutzende Tabellen abstrakter Zahlen, die vergessen lassen, dass es sich bei jeder dieser Zahl um einen Menschen und eine Biografie handelt, die durch das schweizer Asylregime massgeblich durchkreuzt wird.
Der Statistik sind folgende Punkte zu entnehmen: Das SEM erledigte im August 2020 insgesamt 1.247 Asylgesuche in erster Instanz. Auf 17.5% dieser Gesuche ging das SEM gar nicht erst ein, grösstenteils wegen fehlender Zuständigkeit aufgrund des Dublin-Abkommens. 34% der Gesuche endeten in einer Asylgewährung und 27% in einer vorläufigen Aufnahme. 21.5% der Gesuche wurden abgelehnt, was bedeutet, dass die Personen die Schweiz wieder verlassen müssen.
Die Anerkennungsquote der wichtigsten Herkunftsländer der Personen, die im August ein Asylgesuch in der Schweiz eingereicht haben, ist teilweise enorm tief. So wurden nur 17.2% der Gesuche von Menschen aus Afghanistan anerkannt. Für Menschen aus Syrien sind es 40.4%, 0% der Gesuche von Menschen aus Algerien, 69% für Menschen aus Eritrea, 68% für Menschen aus der Türkei und 35% für Menschen aus dem Iran.
Insgesamt haben im August 651 Personen aus dem Asylprozess die Schweiz wieder verlassen oder sind untergetaucht. Auffällig dabei ist, dass der Anteil der Untergetauchten mit Abstand der grösste ist. 74% der Menschen sind untergetaucht oder «unkontrolliert abgereist», 15% wurden ausgeschafft und 11% verliessen die Schweiz «selbstständig». Dies verdeutlicht einmal mehr die krassen Konsequenzen, die ein negativer Asylentscheid und die Aufforderung zur Ausreise für eine Person haben. Lieber tauchen Menschen unter und führen ein Leben in der Illegalisierung, als in Staaten zurückzukehren, die sie bewusst verlassen haben. Das schweizer Asylregime scheint sich wenig darum zu scheren, wohin die Menschen ausgeschafft werden, solange es seine Ausschaffungspolitik «effizient und glaubwürdig» durchsetzen kann. So wurden unter anderem Menschen nach Äthiophien, Algerien, Afghanistan, Marokko und Irak ausgeschafft. Gleichzeitig rät das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) den schweizer Staatsbürger*innen zwingend von einer Reise in viele dieser Staaten ab, da die Sicherheitslage schlicht zu prekär ist.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80411.html

USA: Ein Viertel der befragten jungen Erwachsenen glauben, der Holocaust sei ein Mythos
Die Claims Conference hat in den USA 1’000 junge Erwachsene im Alter von 18 bis 39 Jahren interviewt. Die Ergebnisse sind krass. Ein Viertel der Befragten glaubt, der Holocaust sei ein Mythos. Zwei Drittel wissen nicht, dass während des Holocausts 6 Millionen Jüd*innen ermordet wurden und 11% denken wirklich, dass Jüd*innen den Holocaust selbst verursacht haben. Laut der Studie kann zudem fast die Hälfte (48%) kein einziges KZ oder Ghetto nennen. Gleichzeitig gab die Hälfte an, auf sozialen Medien oder in der Öffentlichkeit Nazi-Symbole (56%) oder Holocaust-Leugnungsbeiträge (49%) gesehen zu haben. Ein schlechtes Zeugnis für all jene, die im Kampf gegen Antisemitismus auf die Kraft der Aufklärungsarbeit (von staatlichen Bildungssystemen) vertrauen. In der Schweiz liegt die Zahl der Personen mit einer «Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen und Juden» laut einem ähnlichen Bericht zwischen acht und zehn Prozent.
http://www.claimscon.org/millennial-study/
https://www.theguardian.com/world/2020/sep/16/holocaust-us-adults-study

https://www.antisemitismus.ch/content/analyse-antisemitismusbericht-2019

Deplatforming und die Diktatur der Techkonzerne
Vermehrt sperren, löschen, verbannen Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter oder Youtube Accounts von bekennenden Rassist*innen. Für das Phänomen, das dieses Jahr stark an Fahrt gewonnen hat, gibt es bereits einen Anglizismus: „Deplatforming“. Allen, die zu Hass aufrufen, soll das Online-Mikro entzogen und ihre öffentliche Sichtbarkeit eingeschränkt werden. YouTube verschärfte vergangenes Jahr seine Regeln, um gegen Hate-Speech vorzugehen. Nach eigenen Angaben wurden seither schon 25.000 Youtube-Kanäle gesperrt. Twitter führte neue Möglichkeiten ein, damit User*innen genauer bestimmen dürfen, ob alle, nur Follower oder ausschliesslich im Tweet erwähnte Accounts auf eigene Tweets kommentieren oder antworten können. Die verschärften Twitterregeln trafen nicht nur kleine Rassist*innen, sondern auch grosse wie Donald Trump. Bei Facebook brauche es zwar etwas mehr, um die Deplatformingforderungen durchzusetzen. Doch nach eigenen Angaben löschte auch Facebook seit April sieben Millionen Beiträge und verschickte 98 Millionen Warnhinweise. Für diesen Herbst ist zudem das „Oversight Board“, eine Art Gericht, angekündigt. 40 „unabhängige“ Expert*innen, die aber zur Hälfte in den USA oder in Europa wohnen, sollen im Zweifelsfall über die Veröffentlichung von Beiträgen entscheiden.
Deplatforming wurde bereits länger gefordert. Die sozialen Netzwerke seien nicht nur ein neutraler Spiegel des Rassismus in der Gesellschaft, sondern würden diesen auch verstärken. Daher tragen sie eine gesellschaftliche Verantwortung. Wenn Accounts von grossen Rassist*innen gelöscht werden, wird dies meist positiv wahrgenommen. Problematische Folgen und Grenzen von Deplatforming geraten teilweise aus dem Blick. Zum Einen ist das Mittel nur beschränkt wirksam. Verbannte Gruppen oder Personen steigen meist erfolgreich auf unbekanntere Foren oder auf Messenger-Dienste um. So sei beispielsweise „Telegram“ bei Rassist*innen hoch im Kurs, heisst es immer wieder. Telegram-Gruppen können bis zu 200.000 Mitglieder haben und Telegram-Channels gar unbegrenzt viele. Zum Anderen übernehmen die Techkonzerne mit ihren Policies immer mehr staatliche Funktionen. Den Konzernen wird die Macht delegiert, über moralisch Gutes und Verwerfliches zu richten. Dabei ist nicht einmal demokratische Mitbestimmung vorgesehen. Schliesslich trifft Deplatforming nicht nur Rassist*innen, sondern potenziell alle, die die herrschenden Verhältnisse wütend in Frage stellen. Also auch uns, die wir uns mit einem privatisierten Redeverbot für Online-Rassist*innen nicht zufrieden geben wollen.
https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/youtube-sperrt-account-des-rechtsextremen-chris-ares,S7ci195

https://www.br.de/nachrichten/netzwelt/facebook-ernennt-eine-art-obersten-gerichtshof-fuer-inhalte,RyIcFEC
https://www.tagesanzeiger.ch/soziale-medien-verbannen-rassisten-und-rechtsradikale-520927839061

Zypern schiebt Menschen ohne Asylverfahren in den Libanon ab
Am vergangenen Montag wurde in internationalen Gewässern vor der libanesischen Küste ein Boot mit 36 Menschen an Bord aus Seenot geholt. An Bord befand sich auch eine bereits verstorbene Person. Das Ziel des Bootes könnte Zypern gewesen sein. In den Tagen zuvor hatten mehrere Boote mit insgesamt mehr als 150 Menschen die zypriotischen Gewässer erreicht.
Dort wurden sie jedoch daran gehindert, auf der Insel an Land zu gehen, um dort ein Asylgesuch in Europa zu stellen. Die Boote wurden von der zypriotischen Küstenwache jeweils in den Libanon zurückgeschickt. In einem bekannt gewordenen Fall wurden die Menschen auf ein gechartertes Schiff überführt und dieses die 100 sm zum Abfahrtsort zurück eskortiert. “Die Tatsache, dass diese Menschen zurückgeschickt wurden, ist sehr alarmierend, da einige Libanesen wegen illegaler Ausreise aus dem Land strafrechtlich verfolgt werden,” sagt eine Person mit Asylstatus in Zypern, dessen Familienangehörige nach der Rückkehr des Bootes in den Libanon verhaftet und mit der Rückführung nach Syrien bedroht worden seien, weil sie den Libanon illegal verlassen hätten.
Zypern macht aus den Rückführungen kein Geheimnis. Sie hätten keinen Platz für “Wirtschaftsmigranten”, die die Insel “überschwemmten”. Die Aufnahmezentren seien voll. Weiterhin wird mit der Corona-Pandemie argumentiert, um keine Menschen ins Land zu lassen. Innenminister Nouris sagte, dass Zypern und der Libanon “ein Einvernehmen” für eine solche Rückkehr erreicht hätten. Weitere Einzelheiten der Vereinbarung werden unter Verschluss gehalten. Weitere Gespräche zwischen den Regierungen der beiden Länder sind geplant. Als EU-Land müsste sich Zypern auch an europäische Gesetze halten. Da keine Asylgesuche gestellt wurden, seien mit der Rückführung jedoch auch keine Gesetze gebrochen worden, argumentiert der Innnenminister.
https://www.dw.com/en/refugee-pushbacks-by-cyprus-draw-attention-from-eu-un/a-54908678
https://www.infomigrants.net/en/post/27298/un-peacekeepers-rescue-36-at-sea-off-lebanon
https://www.spiegel.de/politik/ausland/migration-zypern-will-zusammen-mit-libanon-fluechtlinge-stoppen-a-97f34e6e-e1ce-48b5-86fb-c083a7a6b322

Zum alltäglichen Rassismus in Italien
1. Anfang September häuften sich im Asylzentrum Villa Sikania in Siculiana (Agrigento, Sizilien) die Proteste der Geflüchteten gegen die herrschenden Regeln zur Bekämpfung der Coronavirus-Verbreitung: Trotz negativer Testergebnisse und 14-tägiger Quarantäne war es den Geflüchteten nicht erlaubt, das überfüllte Asylzentrum zu verlassen. Sie wurden regelrecht darin gefangen gehalten. Die Geflüchteten besetzten daraufhin das Dach des Zentrums, einige begaben sich auf die Flucht. Dabei wurde ein 20-jähriger Eritreer auf der Schnellstrasse von einem SUV überfahren und verunglückte dabei tödlich. Die aktuelle Asylpolitik der italienischen Regierung in Zusammenhang mit dem Coronavirus sieht vor allem repressive Massnahmen vor, die oft grundlegende Menschenrechte verletzen.
2. Apartheid im öffentlichen Transport gegen das Coronavirus? Die Lega von Sedrina (Bergamo) hat beim Präfekt des lombardischen Hauptortes die Forderung deponiert, für Asylsuchende spezielle Zeiten für die Benutzung des öffentlichen Transports einzuführen. Somit solle vermieden werden, dass die Busse während der Stosszeiten überfüllt sind und die Schüler*innen, die ab Mitte Monat zurück zur Schule gehen werden, den verlangten Sicherheitsabstand nicht einhalten können.
3. Der mitte-rechts Bürgermeister der norditalienischen Stadt Vicenza, Francesco Rucco, hat beschlossen, dass in der Altstadt ausländische Restaurants und Läden schliessen und diese den Platz italienischen Ladenbesitzer*innen überlassen sollen. So will Rucco das Stadtzentrum ‘aufwerten’. Es liegt nun bei den Verantwortlichen der Region Venetien, diesen Beschluss zu bestätigen oder abzulehnen. Kritiker*innen verurteilen diesen “rassistischen Beschluss, der an die ethnische Säuberung von 1938 erinnert”.
https://t.me/ItalienNews

Kopf der Woche  Ursula von der Leyen

Am Mittwoch vor einer Woche ist das Lager in Moria niedergebrannt. Die Polizei reagierte mit Gummischrot und Wasserwerfern. Die europäischen Länder schauen zu und diskutieren über eine mögliche Aufnahme von ein paar hundert Geflüchteten. Den Städten wurde eine Aufnahme von Menschen, die im Lager Moria leben mussten, verwehrt.
Letzten Mittwoch hielt EU-Präsidentin Ursula von der Leyen in Brüssel die alljährliche Rede zur Union. In der Rede geht es um die jährliche Prioritätensetzung und eine Positionierung der EU zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen, unter anderem zur Migration. Ursula von der Leyen erklärte:  «Die Bilder in Moria führen uns schmerzlich vor Augen, dass Europa hier gemeinsam handeln muss». Und dann hätte ein Satz kommen können wie: Die europäische Union nimmt die Menschen aus Moria auf! Oder: Die europäische Union evakuiert die Lager. Oder: Die europäische Union schafft sichere Fluchtwege!
Stattdessen kündigte sie die Errichtung eines neuen Lagers auf Lesbos und einen weiteren Ausbau des EU-Grenzschutzes an. So viel Gerede! So wenig Handlung in Solidarität mit den betroffenen Menschen.
https://taz.de/Grundsatzrede-vor-halb-leeren-Raengen/!5714619/
https://www.unionesarda.it/de/articolo/news/mondo/2020/09/16/migranti-von-der-leyen-aboliremo-il-sistema-di-dublino-137-1059960.html

Was war eher gut?

PNOS-Ableger in der Romandie mag nicht mehr
Nach der «Kalvingrade Patriot» will der „Parti Nationaliste Suisse“ – eine Art Genfer PNOS-Ableger – seine rassistische Struktur „einfrieren“. Seit 2011 sucht die Gruppe vergebens den Urnenerfolg an den kantonalen und nationalen Parlamentswahlen.
In der Westschweiz verschwinden also zwei faschistische Gruppen, was eher gut ist. Aktiv bleibt jedoch die Gruppe „Résistance Helvétique“.
https://hans-stutz.ch/texte/schwundprozess-bei-rechtsextremen

Was nun?

Die Schweiz soll Sklavereireparationen bezahlen
Seit dem 18. Jahrhundert dominiert hierzulande die Vorstellung, die Schweiz sei zur Zeit des Kolonialismus und des transatlantischen Sklavenhandels vom 16. bis ins 19. Jahrhundert ein einfaches Binnenland genügsamer Älpler und Älplerinnen gewesen, die hart arbeiteten, zufrieden waren und mit der Welt nichts zu tun hatten. Doch die Schweiz war damals längst global vernetzt. Entsprechend umfangreich war die Beteiligung von Schweizer*innen am kolonialen Projekt und an der Sklaverei. Oder besser gesagt: Die Beteiligung von «Eidgenoss*innen», denn die moderne Schweiz existierte zunächst ja noch nicht. Es ist historisch belegt, wie sich Einzelpersonen, Familienunternehmen und Banken in allen möglichen Bereichen der Sklaverei betätigten: Sie besassen nicht nur Plantagen und versklavte Menschen, sie handelten zum Beispiel auch mit Gütern, die für den Handel mit versklavte Menschen relevant waren. Sie investierten in Spekulationsvehikel, um aus dem Handel mit versklavten Menschen Profite zu ziehen. Sie versicherten Schiffe, die versklavte Menschen transportierten und finanzierten Expeditionen. Einzelsoldaten und ganze militärische Einheiten gingen in die Kolonien, um dort ‘für Ruhe und Ordnung’ zu sorgen, meist in französischen und holländischen Diensten.
Der Historiker und SP-Politiker Hans Fässler fordert deshalb, dass die Schweiz Sklavereireparationen zahlt. Wie genau diese aussehen könnten, ist laut Fässler eine zu diskutierende Frage, denn eine Wiedergutmachung im engsten Sinn ist ja eigentlich unmöglich: Die versklavten Menschen lebten, litten und starben in Gefangenschaft, und nichts wird daran etwas ändern. So ist die Wiedergutmachung vielleicht eher als Prozess zu verstehen – und der erste Schritt wäre ein Bewusstseinswandel, eine gezielte Aufarbeitung. Wie genau diese assehen könnten, diskutiert Hans Fässler im Gespräch mit der WOZ:
https://www.woz.ch/2037/schweizer-wiedergutmachung/die-damaligen-argumente-klingen-sehr-vertraut

Wo gabs Widerstand?

Geflüchtete Menschen springen von Bord der Open Arms, um nach Europa zu schwimmen

Bild: Geflüchtete Menschen schwimmen auf Sizilien zu, nachdem sie von Bord des NGO-Schiffs gesprungen sind

Über hundert Menschen, die vom NGO-Schiff Open Arms vor über einer Woche aus Seenot geholt wurden und seitdem auf einen Hafen warteten, machten Druck auf die italienischen Behörden. Nachdem das Schiff bereits von Malta abgewiesen wurde, lag es zuletzt gut einen Kilometer vor dem Hafen von Palermo, Italien, als am Donnerstag 76 Menschen und am Freitag nochmals 48 Menschen über Bord sprangen, um die so nah erscheinende Küste schwimmend zu erreichen. Die italienische Küstenwache fing sie ab. Am Freitagabend dann die Nachricht der italienischen Behörden: Auch die verbliebenen 140 Menschen an Bord der Open Arms können an Land – beziehungsweise zuerst auf das Quarantäneschiff im Hafen von Palermo.
Der politisch motivierte Standoff von zehn Tagen ist extrem belastend. Viele der insgesamt 280 Menschen kamen bereits stark dehydriert und geschwächt an Bord. Das Schiff war völlig überfüllt und die See zudem rau. Drei Menschen waren aus medizinischen Gründen bereits evakuiert worden. Zehn Tage Standoff bedeuten aber auch zehn Tage, in denen das Rettungsschiff nicht retten kann. Zehn Tage mit neuen Meldungen über Ertrunkene, die ohne Verzögerungstaktiken und Kriminalisierung der zivilen Flotte noch am Leben sein könnten. Die Open Arms war in diesem Zeitraum das einzige zivile Schiff, das in der Such- und Rettungszone vor der libyschen Küste patrouillierte. Am Samstag zeigte die Alan Kurdi, wie wichtig die Präsenz von Rettungsschiffen ist. Die Crew rettete innerhalb von zwölf Stunden 133 Menschen aus drei verschiedenen Booten. Wieder hatten die zuständigen libyschen Behörden sowie auch die informierten maltesischen, italienischen und deutschen Rettungsleitstellen nicht reagiert.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141957.mittelmeer-erneut-gerettete-von-bord-der-open-arms-gesprungen.html
https://www.infomigrants.net/en/post/27401/migrants-on-open-arms-rescue-ship-to-disembark-in-sicily?fbclid=IwAR0-TYRNcgsQejZvY6wVgeak0EiSpOwBci5aETj_rsKk-4yPxerlQ-Bd5dU
https://sea-eye.org/62-kinder-gerettet/?fbclid=IwAR0S0apdlRrPrEy0cGCz9c2rlocpZOQ-4QtKc1_0n8xezbRC9wF5TEued3w
Bild: https://www.infomigrants.net/en/post/27401/migrants-on-open-arms-rescue-ship-to-disembark-in-sicily?fbclid=IwAR0-TYRNcgsQejZvY6wVgeak0EiSpOwBci5aETj_rsKk-4yPxerlQ-Bd5dU

Tausende Menschen demonstrieren für die Evakuierung Morias

Bild: In Zürich wurden 13.000 Post-its stellvertretend für 13.000 Menschen auf der Flucht auf Lesbos durch die Stadt getragen.

Seit dem 9. September, dem Tag nach dem grossen Feuer im Camp Moria auf Lesbos, protestieren Menschen in ganz Europa gegen die rassistische und menschenverachtende Migrationspolitik. Am Sonntag gingen  wieder Tausende Menschen auf die Strasse, 11.000 allein in Berlin.  Auch in der Schweiz fanden Aktionen statt.
https://www.facebook.com/europemustact

Was steht an?

„In diesem System kann kein Mensch atmen“
Schweizweite Demo I 22. September 2020 I 14 Uhr I Schützenmatte I Bern
https://migrant-solidarity-network.ch/2020/09/18/1771/

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Podcast “We read theory” (Spotify)
In den verschiedenen Episoden werden Bücher linksradikaler Menschen besprochen. Folge 18 behandelt das Thema “Mental health and colonialism”

Podcast: Erinnerungslücke 1980 – Das Terror-Jahr der Rechten
Bei einem Anschlag auf das Münchner Oktoberfest 1980 starben 12 Menschen. Das ist bis heute der schwerste Terrorakt in der bundesdeutschen Geschichte. Aber nicht der einzige in diesem Jahr. Ebenfalls 1980 schlug eine Neonazi-Gruppe allein sieben Mal zu und tötete u. a. in Hamburg zwei Asylbewerber*innen. In Erlangen wurden ein Rabbiner und seine Lebensgefährtin ermordet. Ein Schweizer Grenzbeamter wurde von einem Rechtsextremisten erschossen.Warum kann sich kaum jemand an diese Geschehnisse erinnern?
https://www.swr.de/swr2/doku-und-feature/erinnerungsluecke-1980-swr2-feature-2020-10-28-100.html

Den Strich ziehen – „Nationalanarchismus“
https://www.untergrund-blättle.ch/politik/theorie/nationalanarchismus-querfront-esoterik-5999.html

Zum Jagen getragen
Simon Goekes Buch über migrantische Arbeitskämpfe in Westdeutschland
https://www.akweb.de/gesellschaft/simon-goeke-migrantische-kaempfe/

Kolonialismus und Nationalsozialismus. Zur Politik des Vergleichs in den 1930er Jahren
Antikoloniale und panafrikanische Politiker*innen sowie politische Aktivist*innen in Grossbritannien haben in den späten 1930er Jahren den Nationalsozialismus mit dem Kolonialismus verglichen – und sich dabei gleichzeitig mit den bedrohten Juden und Jüdinnen in Deutschland solidarisiert.
https://geschichtedergegenwart.ch/kolonialismus-und-nationalsozialismus-zur-politik-des-vergleichs-in-den-1930er-jahren/

WOZ-Flüchtlingsgipfel: «Zwanzig Minderjährige? Was für ein schlechter Witz!»
Nach dem Brand auf Lesbos – was ist zu tun? Ein Gespräch mit dreien, die es wissen müssen: Malek Ossi war am «March of Hope» nach Europa beteiligt, Fabian Bracher hat ein Hilfswerk auf Lesbos aufgebaut, Samira Marti kämpft im Parlament gegen rechte Mehrheiten.
https://www.woz.ch/2038/woz-fluechtlingsgipfel/zwanzig-minderjaehrige-was-fuer-ein-schlechter-witz

Die Buhmänner
SCHWARZ AUF WEISS: Warum eigentlich nur Frauen und Kinder retten, fragt Sheila Mysorekar
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1141797.nach-dem-brand-in-moria-die-buhmaenner.html

Endlich
Entkorkt die Champagner­flaschen, serviert erlesene Häppchen, feiert! Es gibt einen Gott, Moria brennt.
https://www.republik.ch/2020/09/15/endlich

Grundrechte für Geflüchtete in Gemeinschaftsunterkünften: Eingriffe begrenzen, Einschränkungen verhindern (Deutschland).
Eine Heimunterbringung mag zwar gesetzlich zulässig sein, sie liefert aber leider auch die besten Belege dafür, dass und wie Gesetze bestimmte Personengruppen diskriminieren. Denn eine Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften setzt oft auf unbestimmte Zeit das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner* innen ausser Kraft und hintertreibt damit die Achtung der Menschenwürde.
https://www.antidiskriminierungsberatung-brandenburg.de/wp-content/uploads/2019/03/Grundrechtsverletzung_Heime_Online.pdf

Pass als Abschiebegrund: Wenn Identität zur Bedrohung wird
Was macht die Identität eines Menschen aus? Für die deutschen Behörden oft: der Pass. Doch selbst ehemals geflüchteten Menschen, die jahrelang in Deutschland arbeiten, kann er zum Verhängnis werden. Denn einerseits sollen sie bei der behördlichen Feststellung ihrer Identität mitwirken, also Pässe und Dokumente in ihren Heimatländern beschaffen. Sonst droht der Verlust der Arbeitserlaubnis. Andererseits gibt es immer wieder Fälle, in denen lange in Deutschland gelebte Geflüchtete prompt abgeschoben werden, sobald das geforderte Dokument vorliegt. Die Kooperation mit den Behörden wird dann für Geflüchtete existenzgefährdend.
https://www.br.de/mediathek/video/pass-als-abschiebe-grund-wenn-identitaet-zur-bedrohung-wird-av

Interview „Iuventa“: „Die Diskursverschiebung gegen Seenotrettung hat Menschenleben gekostet“
Crew-Mitgliedern drohen Gefängnis und horrende Geldstrafen: Wer Menschen aus dem Meer rettet, wird überwacht und rechtlich verfolgt. Im Interview sprechen wir mit Hendrik Simon über politische Hürden für Seenotretter, über die Diskursverschiebung und die Schuld der europäischen Regierungen daran und über eine neue Webseite zum Fall des Schiffes „Iuventa“.
https://netzpolitik.org/2020/interview-iuventa-die-diskursverschiebung-gegen-seenotrettung-hat-menschenleben-gekostet/#vorschaltbanner