Sieben Polizeischüsse gegen Jacob Blake, Geflüchtete ohne Bewegungsfreiheit, Selbstmord in Glarus nach negativem Asylentscheid

Bild: Proteste in Wisconsin nach weiterer rassistischer Polizeigewalt

antira-Wochenschau: Ein kurdischer Geflüchteter aus dem Iran, dessen Asylgesuch abgelehnt wurde, beging im Kanton Glarus Selbstmord | Österreich stellt alle Synagogen im Land unter Überwachung | Jacob Blake und die Polizeigewalt in Kenosha, Wisconsin | Entwicklungen in der zivilen Seenotrettung | Unbeschreibliche Gewalt auf der Fluchtroute durch Bosnien | „Ausländer- und Integrationsgesetz“: Auf Verschärfung folgt Verschärfung, folgt Verschärfung | Rassistische Attacke in Nordgriechenland | Kapitalist*innendilemma: Rassistische Kontingente oder rassistische Personenfreizügigkeit? | Das WEF 2021 ist abgesagt

Was ist neu?

Ein kurdischer Geflüchteter aus dem Iran, dessen Asylgesuch abgelehnt wurde, beging im Kanton Glarus Selbstmord
Das Migrant Solidarity Network veröffentlichte diese Woche folgende Meldung: „Masoud Ghadiri (31), der im Durchgangszentrum für Asylbetreuung des Kantons Glarus, Rain 8, 8755 Ennenda, verbleibt, beging Selbstmord, indem er sich in der Nähe des Asylcamps auf die Eisenbahn im Bahnhof Ziegelbrücke warf. Gemäss den Informationen, die wir von seinen Freunden erhalten haben, hält sich Masoud Ghadiri seit 2,5 Jahren in der Schweiz auf, und vor 3 Monaten wurde sein Asylgesuch vom SEM abgelehnt. Diesen Entscheid hat er vor dem Bundesverwaltungsgericht angefochten. Seine Freunde sagten, er habe erklärt, dass er sich selbst Schaden zufügen würde, wenn sein Antrag abgelehnt würde. Dasselbe habe er auch zu den Beamt*innen gesagt. Ghadiri, der als freundlicher und hilfsbereiter Mann bekannt war, soll eine Schwester in der Schweiz haben, der sein Tod gemeldet wurde. Obwohl die Beamt*innen im Asylcamp erklärten, er habe wegen seiner Freundin Selbstmord begangen, gaben seine Freunde bekannt, dass er keine Freundin habe, und der wahre Grund für den Selbstmord wird von den Behörden zu verbergen versucht. Seine Freunde fügten hinzu, dass die Schweizer Behörden den Leichnam in der Schweiz begraben wollen, doch sie wollen ihn lieber in den Iran schicken. Dieses schmerzliche Ereignis zeigt, wie sich die Schweiz in ihrer Migrationspolitik von den Prinzipien des Rechts und der Menschlichkeit entfernen kann. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) lehnt häufig die Asylanträge iranischer Geflüchteter ab und schickt sie in den Iran, wo die Menschenrechte durch Todesurteile, Folter und langfristige Haftstrafen verletzt werden.“ Zudem erhebt die Nachrichtenseite AvaToday schwere Vorwürfe gegen das SEM: So handle es sich beim Vertrauensanwalt der Behörde, der damit beauftragt wird, Dokumente und Unterlagen von geflüchteten Menschen aus dem Iran zu prüfen, um eine Person mit besten Beziehungen zum Regime in Teheran. Ausserdem sei er Anwalt der iranischen Botschaft in Genf. Damit sorge das SEM, das für die Anerkennung von Fluchtgründen zuständig ist, für die Entstehung zusätzlicher Verfolgungsgründe, so AvaToday. Geflüchtete aus dem Iran haben nun folgende Petition lanciert, um das SEM zur Rechenschaft zu ziehen: https://www.change.org/p/human-rights-campaign-asylum-seekers-cases-is-been-reviewed-by-the-government-that-people-had-flee-from-it?redirect=false
https://anfdeutsch.com/aktuelles/schweiz-abgewiesener-asylbewerber-aus-bokan-begeht-suizid-21239
https://migrant-solidarity-network.ch/2020/08/26/ein-kurdischer-gefluechteter-aus-dem-iran-dessen-asylgesuch-abgelehnt-wurde-beging-im-kanton-glarus-selbstmord/

Österreich stellt alle Synagogen im Land unter Überwachung

In Österreich wurde Elie Rosen, der Präsident der jüdischen Gemeinde von Graz, tätlich angegriffen. Der Angreifer wollte Rosen mit einem Holzprügel schlagen. Dieser flüchtete jedoch in sein Auto, das die Hiebe abbekam. Nun kündigen die österreichischen Behörden an, ab sofort alle Synagogen des Landes rund um die Uhr unter Bewachung zu stellen. Auch gestand offenbar ein 31-jähriger Mann die Tat. Der österreichische Innenminister Karl Nehammer nutzte die Tatsache aus, dass die Person aus Syrien kommt, um sich rassistisch zu äussern: diese sei „ein radikaler antisemitischer Islamist“.
https://fr.timesofisrael.com/lautriche-place-sous-surveillance-toutes-les-synagogues-du-pays/
https://www.rtbf.be/info/monde/detail_l-agression-du-president-de-la-communaute-juive-de-graz-motivee-par-l-islamisme-radical?id=10568219
https://www.leparisien.fr/societe/autriche-indignation-apres-des-attaques-contre-la-communaute-juive-23-08-2020-8371818.php

Jacob Blake und die Polizeigewalt in Kenosha, Wisconsin

Kenosha, Wisconsin: Auf einem Video vom 23. August ist Jacob Blake zu sehen. Er läuft zu seinem Auto. Ein Polizist folgt ihm. Blake öffnet die Tür. Er beugt sich hinunter. In diesem Moment wird ihm von der Polizei siebenmal in den Rücken geschossen. Blake kommt auf die Intensivstation und wird, so seine Familie, nie mehr laufen können. Im Auto, so der Anwalt auf «CNN», seien Blakes drei Kinder  – im Alter von drei, fünf und acht – gesessen.
Die Polizei, so weitere Informationen zum Vorgang, sei wegen eines «häuslichen Zwischenfalls» gerufen worden. Blakes Anwalt erklärt, Blake haben einen Streit geschlichtet. In dem Auto, in das Blake einsteigen wollte, wurde ein Messer sichergestellt, wie Wisconsins Generalstaatsanwalt Joshua Kaul mitteilte. Blake habe dem Polizisten zuvor «an einem bestimmten Punkt» gesagt, dass er ein Messer habe. Weitere Waffen waren nicht im Auto. Weshalb die Polizei ihm siebenmal in den Rücken geschossen hat, ist schlicht unerklärlich. Der Polizist, der geschossen hat, ist aktuell vom Dienst suspendiert.
Der Angriff auf Blake löste in Kenosha weitere Proteste gegen Polizeigewalt aus. Zwei Demonstrierende wurden getötet, unzähligen Autos brannten, Gebäude standen in Flammen.  Weder, dass die Polizeigewalt in Kenosha zu einem weiteren toten Menschen führte, noch die daraus entstehenden Proteste seien eine Überraschung, so Christy Clark-Pujara, Dozentin an der Universität Wisconsin-Madison. Jahrelang gab es Spannungen zwischen der Polizei und der schwarzen Community. Der mittlere Westen habe eine 200-jährige unaufgearbeitete Geschichte des Rassismus, so Clark-Puajra. So führen etwa die Bundesstaaten North und South Dakota, Nebraska, Kansas, Minnesota, Iowa, Missouri, Illinois, Michigan, Indiana, Ohio und eben auch Wisconsin die Statistik an, wenn es um die grösste Differenz zwischen Weissen und Schwarzen bei der Arbeitslosigkeit geht. Auch die Zahl der konzentrierten Armut bei der Schwarzen Bevölkerung ist im Mittleren Westen am höchsten. Seit langem kämpfen Bürgerrechtler*innen zudem für die Überwachung gewalttätiger polizeilicher Übergriffe in Wisconsin. Bisher wurde nichts umgesetzt. Und nun kam es zum Mordversuch an Jacob Blake.
George Floyd war nicht der Anfang. Es gibt bereits unzählige Tote aufgrund rassistischer Polizeigewalt. Jede*r von der Polizei getötete Mensch nach George Floyd und im Zuge der wiedererstarkten Black Lives Matter Bewegung ist jedoch eine Faust ins Gesicht der Protestierenden. Als ob sie nicht gehört würden. Als ob die staatlichen Gewaltinstitutionen sich nicht dafür interessierten und nur ihre Macht sichern wollten. Wenn das die Antwort der staatlichen Institutionen auf den herrschenden Rassismus ist, müssen die Proteste noch lange weitergehen.
https://www.srf.ch/news/international/am-rande-der-proteste-nach-todesschuessen-in-kenosha-17-jaehriger-verhaftet
https://www.dw.com/de/eskalation-mit-ansage-in-kenosha-wisconsin/a-54721423


Was passiert auf den Migrations- und Fluchtrouten?

Entwicklungen in der zivilen Seenotrettung
Seit Wochen harren 27 Menschen auf dem dänischen Frachtschiff ‚Maersk Etienne‘ aus, auf der ‚Sea-Watch 4‘ seit dem 22. August 202 Menschen. Wiederholte Anfragen für einen sicheren Hafen, wiesen sowohl Malta als auch Italien ab. Hiermit erhalten sie ihre menschenverachtende, rassistische Politik aufrecht. Unterdessen hat die ‚Louise Michel‘ – ein von dem ehemaligen Street Art-Künstler Banksy gesponsertes Schiff – ihre erste Mission begonnen und am 27. August bereits 89 Menschen aus Seenot an Bord geholt. Die Crew bezeichnet das Projekt als anti-rassistisch und anti-faschistisch. Sie wollen radikalen politischen Wechsel herbeiführen und vereinen feministische, anarchistische, umweltpolitische sowie LGBTIQ*-Kämpfe mit Kämpfen gegen das Migrationsregime und soziale Ungleichheit.
https://www.theguardian.com/world/2020/aug/27/banksy-funds-refugee-rescue-boat-operating-in-mediterranean?fbclid=IwAR0CyTzzZqtokl7weTNFbOFQrhDbiVIkuILHJncNlLoITR5u56dPwbVHftI
https://www.tagesschau.de/ausland/seawatch-4-fluechtlinge-rettung-103.html
https://www.tagesanzeiger.ch/die-sea-watch-4-sucht-einen-hafen-563489291418

Unbeschreibliche Gewalt auf der Fluchtroute durch Bosnien
In Otoka, Bosnien, in einer sog. „neutralen Pufferzone“ zwischen den Gebieten Republika Sprska und Una-Sana werden seit fast zwei Wochen ca. 150 Menschen auf der Flucht ohne Nahrung, Unterkunft und sanitäre Anlagen festgehalten. Sie wurden von Polizist*innen in Strassen und Läden abgefangen, in Busse gezwungen und in Otoka ausgesetzt. Sobald sie versuchen, sich zu bewegen, werden sie wieder eingefangen und zurückgebracht. Die Menschen leben unter freiem Himmel und ernähren sich von einem naheliegenden Maisfeld. Dies ist ein weiterer Akt der Gewalt, der Menschen auf der Fluchtroute über den Balkan täglich angetan wird, wo sich die Lage weiterhin verschärft.
https://www.facebook.com/NoNameKitchenBelgrade/posts/1057343011330649


Was geht ab beim Staat?

„Ausländer- und Integrationsgesetz“: Auf Verschärfung folgt Verschärfung, folgt Verschärfung
Nachdem der Bundesrat bereits im Dezember letzten Jahresdie Reise- und Bewegungsfreiheit von anerkannten Geflüchteten stark eingeschränkt hatte (https://antira.org/2019/12/23/antira-wochenschau-frontex-langstreckendrohnen-vucjak-raeumung-uno-fluechtlingsforum/), folgt nun eine markante Verschärfung des Reiseverbots für Personen mit einer vorläufigen Aufnahmebewilligung. Dies, obwohl die Reisefreiheit von vorläufig aufgenommenen Personen bereits heute stark eingeschränkt ist. Konkret passt der Bundesrat nach einer Motion von Gerhard Pfister dasAusländer- und Integrationsgesetz (AIG) wie folgt an: Neu sollen Personen mit einer vorläufigen Aufnahme gar nicht mehr in ihr Heimatland reisen dürfen. Einzige Ausnahme stellt die Reise zur Vorbereitung der selbständigen und definitiven Ausreise dar. Bei Reisen in Drittstaaten geht Justizministerin Karin Keller-Sutter sogar noch weiter, als es das Parlament gefordert hatte: Ihr Gesetzesentwurf verbietet vorläufig Aufgenommenen nicht nur Reisen ins Herkunftsland, sondern gleich sämtliche Auslandsreisen, mit sehr wenigen Ausnahmen. Bereits heute müssen vorläufig Aufgenommene für alle Auslandsreisen eine Bewilligung einholen. Neu sollen aber nur noch Reisen beim Tod oder bei einer Krankheit eines Familienangehörigen, Reisen wie Schul- oder Ausbildungsreisen, «die der Integration dienen», oder Reisen aus beruflichen Gründen ins grenznahe Ausland im Einzelfall bewilligt werden können.
Sollten Personen gegen diese extrem restriktiven Regeln verstossen, drohen fatale Sanktionen: Die vorläufige Aufnahme erlischt automatisch. Kann die Wegweisung der betroffenen Person aufgrund von Vollzugshindernissen dennoch nicht durchgeführt werden und wird diese erneut vorläufig aufgenommen, soll sie grundsätzlich während zehn Jahren ab der erneuten Erteilung der vorläufigen Aufnahme keine Aufenthaltsbewilligung wegen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls erhalten. Zudem soll eine unerlaubte Auslandsreise neu auch mit einer Busse bestraft werden.
Mit diesen Neuerungen wird die Bewegungsfreiheit und dadurch die persönliche Freiheit der betroffenen Personen erneut und praktisch ungesehen von der Öffentlichkeit enorm eingeschränkt.Der Bundesrat rechtfertig diese Verschärfungen damit, dass eine Person ja nicht wirklich bedroht sei, wenn diese in ihr Herkunftsland reisen könne. Dieser Argumentation liegt der absurde Gedanke zugrunde, dass Menschen nur ein Bleiberecht in der Schweiz erhalten sollen, wenn ihnen der sofortige Tod droht, sobald sie nur einen Schritt in ihr Herkunftsland machen. Dass Menschen möglicherweise vor komplexeren Unterdrückungsmechanismen oder Gewalterfahrungen fliehen, durch die sie bei einem kurzen Aufenthalt in ihrem Herkunftsstaat nicht akut bedroht sind, kommt dem Bundesrat wohl nicht in den Sinn.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80175.html

https://www.derbund.ch/vorlaeufig-aufgenommene-sollen-nicht-mehr-ins-ausland-reisen-duerfen-134778536466
https://www.watson.ch/!263740852
https://www.fluechtlingshilfe.ch/medienmitteilungen/unhaltbare-verschaerfung-des-reiseverbots


Was ist aufgefallen?

Rassistische Attacke in Nordgriechenland
Am 22. August wurde in Thessaloniki ein junger Mann von einer Gruppe aus sechzehn gewalttätigen Rassist*innen zusammengeschlagen. Er erlitt u.a. schwere Kopfverletzungen. Die Polizeibeamt*innen, die angefordert wurden, sahen der Attacke von weitem zu und griffen nicht ein. Sie stellten dem Betroffenen keine Fragen, lachten ihn vielmehr aus und ignorierten, dass er ihnen die Richtung nannte, in welche die Täter*innen gerannt waren. Der Betroffene begründet das damit, dass die Beamt*innen Angst vor den Faschos hätten. Ähnliche Attacken würden häufig stattfinden, die Gruppe sei bekannt in der Stadt.
https://medium.com/are-you-syrious/ays-daily-digest-24-08-20-racist-attack-in-thessaloniki-by-violent-reoccurring-group-641fee6ac52d

Kapitalist*innendilemma: Rassistische Kontingente oder rassistische Personenfreizügigkeit?
Am 27. September stimmen die Stimmberechtigten in der Schweiz über die SVP-Begrenzungsinitiative oder offiziell «Volksinitiative für eine massvolle Zuwanderung» ab. Direkt davon diskriminierte Personen (ohne schweizer Pass) dürfen sich jedoch nicht zur Vorlage äussern. In klassischer Manier wird über sie entschieden, was aber keine öffentlich hörbare Stimme stört.
Das Ziel der SVP ist es, mit dieser Vorlage das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU zu Fall zu bringen. Personenfreizügigkeit ist nicht mit der oft geforderten Bewegungsfreiheit für alle zu verwechseln. Einzig EU-Bürger*innen, die in der Schweiz einen Job finden (oder mit einer solchen Person als «Familie» zusammenleben), dürfen einreisen und erhalten ein Bleiberecht. Wer die Stelle aber wieder verliert und nach der Arbeitslosigkeit sechs Monate Sozialhilfe beziehen muss, verliert auch sein Bleiberecht (Ausweis B oder C) wieder. So kann die Arbeitskraft zuerst ausgepresst und dann kostenschonend weggeworfen werden. Ein erster Grund, warum dieses Abkommen aus Sicht von schweizer Kapitalist*innen überzeugt. Vorteilhaft für die Kapitalist*innenklasse ist zweitens der Umstand, dass Menschen, die neu aus EU-Staaten in die Schweiz einwandern, dies oft aus ökonomischem Druck heraus tun und daher in der Schweiz oft auch niedrigere Löhne und schwierige Arbeitsbedingungen akzeptieren (müssen). Aus Angst vor einem Verlust des Bleiberechts wegen Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug lastet ein ähnlicher Druck auch auf den EU-Bürger*innen, die bereits länger – z.B. seit Geburt – ohne Schweizer Pass in der Schweiz leben. Die schweizer Kapitalist*innen verteidigen die innereuropäische Personenfreizügigkeit zudem aus einem dritten Grund. Mit ihr einher geht die mörderische Abschottung der EU-Aussengrenze gegenüber allen nicht-euopäischen Arbeiter*innen, die in Europa oder der Schweiz eine Stelle suchen. Das benötigte Arbeitskräfte-Reservoir und die Konkurrenz innerhalb Europas scheint dem Kapital derzeit auszureichen.
Zudem sieht das System Ausnahmen für Kapitalist*innen vor, die spezielle Arbeitskräfte aus nicht-europäischen Staaten benötigen. Sie können diese über Kontingente bestellen. 700 Informatiker*innen, 300 Forscher*innen usw. Jedes Jahr können solche Kontingente mit dem Staat ausgehandelt werden.
Ein solches Kontingentmodell wäre nun das, was sich die SVP auch für die Rekrutierung von nicht-schweizer Arbeitskräften aus der EU wünscht. Deshalb ist auch von der «Kündigungsinitiative» die Rede. Das Personenfreizügigkeitsabkommen ist der SVP zu liberal. Deshalb muss es weg. Würde die Initiative angenommen, dürfte die Wirtschaft schon bald vorlegen, wieviel Arbeitskräfte pro Branche im Ausland geholt werden. Diese dürfen dann einwandern und keine einzige Person mehr. Eventuell mit oder ohne Familie, je nach Kräfteverhältnis.
Obwohl dieser Beitrag zu zeigen versucht, warum das aktuelle Zwei-Kreise-Migrationsregime – offene Grenzen für EU-Arbeitskräfte und Abschottung gegenüber Nicht-EU-Arbeitskräften – Schweizer Kapitalist*innen attraktiv erscheinen kann, ist es der SVP in den letzten Jahrzehnten gelungen, viele Unternehmer*innen von der noch schlimmeren Migrations- und Arbeitsmarktpolitik mit Kontingenten zu überzeugen. Diese Kräfte organisieren sich nun in der nationalistischen SVP statt der neoliberalen Economie Suisse. Die anstehende Abstimmung wird u.a. ein Gradmesser dafür, wie weit diese Spaltung bereits fortgeschritten ist. Bisher stand die Mehrheit des Kapitals noch für den Neoliberalismus ein.
https://www.svp.ch/kampagnen/uebersicht/fu%CC%88r-eine-massvolle-zuwanderung-begrenzungsinitiative/
https://www.economiesuisse.ch/de/dossier-politik/annahme-der-kuendigungsinitiative-bedeutet-das-ende-des-bilateralen-wegs


Kopf der Woche
Nidwaldner Regierung

Sie nennen sich Regierung und ignorieren uns. Im Juni hatten in Nidwalden ein paar dutzend Vertreter*innen des Bistros Interculturel sowie der palamentarischen Linken die kantonale Regierung aufgefordert, mehr für die geflüchteten Menschen in den überfüllten Hotspotcamps auf den ägäischen Inseln zu tun. Der Kanton solle dem Bund die Bereitschaft mitteilen, Menschen aufzunehmen und darlegen, für wie viele geflüchtete Menschen es in den bestehenden Strukturen Platz hätte.
Nun – Monate später – erhalten die Initiant*innen eine – angesichts des vorherrschenden rassistischen Klimas kaum erstaunliche – Antwort. Der Kanton wisse um die Lage in Moria und habe dem Bund mitgeteilt, nächstes Jahr ACHT vulnerable – also besonders verletzliche – Personen aus Griechenland aufnehmen zu wollen. Zur Frage nach den gesamten Aufnahmekapazitäten schreibt die Regierung unverfroren: «Wir haben in der Schweiz und auch in Nidwalden momentan den Platz und Strukturen, um mehr als die erwähnten acht vulnerablen Personen aufzunehmen».
Die Stellungnahme zeigt einmal mehr, dass seitens des Staats derzeit eine ernsthafte Bereitschaft besteht, die humanitäre Notlage an den Aussengrenzen, sowie Menschen, die sich dagegen einsetzen und ihre Forderungen, zu ignorieren. Offensichtlich ist die weisse Nidwaldner Regierung bereit, Leiden und Tod von tausenden geflüchteten BIPoC-Menschen unnötig in Kauf zu nehmen, was eine Form von strukturellem Rassismus darstellt. Dies verlangt auf persönlicher Ebene eine grosse Portion Menschenfeindlichkeit der einzelnen Regierungsmitglieder. Aber nicht nur, denn Regierungen arbeiten mit struktureller Macht und berechnen deshalb immer auch den Weg des geringsten Widerstands. Indem sie den Wert der Leben – in diesem Fall der BIPoc-Menschen in Moria – sehr niedrig einstufen und den Wert der Dominanzgesellschaft im Kanton Nidwalden und deren Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen sehr hoch. Es liegt daher wohl auch an uns allen, unsere Empörung zu zeigen, um solche kalten Rechungen der Regierung ernsthaft durcheinander- und ihre menschenfeindlichen Vertreter*innen zum Fall zu bringen.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/nidwalden/appell-zur-aufnahme-griechischer-fluechtlinge-im-kanton-nidwalden-ld.1229979


Was war eher gut?

Das WEF 2021 ist abgesagt
Wegen Corona wird das anstehende World Economic Forum (WEF) abgesagt beziehungsweise verschoben. Das ist eher eine gute Nachricht, denn wenn sich die politischen und wirtschaftlichen Herrschenden dieser Welt hinter verschlossenen Türen versammeln können, kommt gewöhnlich nicht viel Gutes dabei heraus. Meist vertritt das WEF gegen Aussen hin gut klingende Phrasen, die den Eindruck erwecken sollen, die dort Versammelten sorgen sich um das Gemeinwohl. Wer hinter die Kulissen blickt oder einfach das Lineup studiert, erkennt unschwer, dass der Anlass vorwiegend dazu dient, eine Weltordnung aufrecht zu erhalten, die sich über ein Oben und Unten, ein Besitzend und Enteignet, ein Schwarz und Weiss, ein Männlich und Weiblich, ein innerhalb und ausserhalb der Norm strukturiert. Die WEF-Teilnehmenden hoffen jeweils, für sich das Beste rausholen zu können, indem sie eine Doppelstrategie verfolgen: Gemeinsam mit der eigenen sozialen Klasse gegen unten treten und innerhalb der sozialen Klasse möglichst den Ton angeben. 
https://www.blick.ch/news/wirtschaft/wegen-corona-wef-in-davos-abgesagt-id16061716.html

Was steht an? Sende deinen Veranstaltungshinweis an antira@immerda.ch.

Demo: United Against Racism
05.09.20 I 17.00 I Helvetiaplatz Zürich

United against Racism – Für eine Gesellschaft der Vielen! Am 5. September gehen wir alle zusammen europaweit auf die Strassen und zeigen laut und deutlich in was für einer Gesellschaft wir leben wollen: in einer Gesellschaft ohne Rassismus! Genau fünf Jahre nach dem „March of Hope“. Denn der September 2015 war ein Lichtblick. Ein historischer Durchbruch gegen das Grenzregime, nicht nur auf der Balkanroute. Eine Dynamik des Kommens und Willkommens, die wir nicht vergessen werden. Und für die wir weiter streiten: trotz und gegen das anhaltende Rollback der rassistischen Gesetze und Hetze.
https://seebruecke.ch/aktionstage/

Demo: Jetzt! Ein ökologischer und solidarischer Neustart
05.09.20 I 15.00 Uhr I Bahnhofplatz Luzern
Packen wir jetzt die Zukunft an! Nach der Coronakrise zurück zum Status Quo zu kehren ist keine Option. Denn die Normalität vor der Krise war auch eine Krise. Gemeinsam können wir die Weichen stellen, damit alle die Krise überstehen und die Gesellschaft künftig ihre soziale und ökologische Verantwortung wahrnimmt.
https://www.facebook.com/events/374246013566341

China and the Left – Critical Analysis & Grassroots Activism
05.-26.09.20 I 14.00 Uhr I online

This online discussion series brings together activists and researchers with a left-wing perspective in order to shed more light on China’s changed role in the world as well as on the social conflicts and mobilizations in the country. It tries to instigate more direct exchanges and solidarity at the grassroots level between overseas initiatives and social struggles and activists in China. In doing so, it also aims to undermine the rising tide of anti-Chinese racism in countries of the Global North that governments and right-wing players stir up to promote their own economic and political nationalism.
https://www.gongchao.org/2020/08/17/online-discussion-series-china-and-the-left/


Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Eisenjugend Schweiz : les terroristes néo-nazis de Winterthour
Synthèse des principales informations connues sur le groupe néo-nazi, apparu en début d’année, qui souhaite précipiter l’effondrement de la société et mener une guerre raciale.
https://renverse.co/infos-locales/article/eisenjugend-schweiz-les-terroristes-neo-nazis-de-winterthour-2737

Enough. Antirassistischer Widerstand und Migrationskämpfe
Am Wochenende fanden in Zürich die Enough. Aktionstage statt. Alle Veranstaltungen sind online nachhörbar: „5 Jahre March of Hope“ aus der Perspektive von Beteiligten mit unterschiedlichen Hintergründen, Buchpräsentation von Parwana Amiri: „Letters to the World from Moria“, die Situation von LGBTQIA in Marokko, Infoveranstaltung der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh, Gespräch zwischen Jovita Pinto und Reem Kadhum „Welche Schwarze Geschichte der Schweiz?”, Women in Exile.
megahex.fm

Realitäten aus dem Asylregime – polyphon 25.08.2020
Eine Sendung mit Stimmen von Menschen, die durch die Dominanzgesellschaft oft unsichtbar gemacht werden. Stimmen von Menschen, die oft einengend als Opfer oder als Täter*innen nicht aber als Menschen gehört werden. Stimmen von Menschen, die etwas zu sagen haben.
Sie sind zu hören, weil sich Geflüchtete und Nichtgeflüchtete zusammengetan haben, um sich politisch Gehör zu verschaffen. Einige darunter sind organisiert – z.B. bei riseagainstborders, bei Drei Rosen gegen Grenzen, beim Migrant Solidarity Network oder bei augenauf.
https://rabe.ch/2020/08/25/realitaeten-aus-dem-asylregime/

Asylpraxis der Schweiz von 1979 bis 2019
Die Bestandesaufnahme «Asylpraxis der Schweiz von 1979 bis 2019» des Historikers Stephan Parak bietet auf 208 Seiten einen Überblick über vier Jahrzehnte Schweizer Asyl- und Wegweisungspraxis aus der Perspektive der Bundesverwaltung.
https://www.sem.admin.ch/dam/sem/de/data/publiservice/publikationen/asylpraxis-schweiz-1979-2019.pdf.download.pdf/asylpraxis-schweiz-1979-2019-d.pdf

Feminismus als Feindbild: Wie Frauen in rechten Ideologien zum Hassobjekt werden
Im rechten Spektrum ist der Hass gegen Frauen in unterschiedlicher Form zu finden: von seiner zugespitzten Form als Teil der Ideologie rechtsextremistischer Gewalttäter bis zum Merkmal vermeintlich liberaler Kräfte. Der Feminismus als Feindbild rückt zunehmend aus der extremistischen Ecke – in unseren Alltag.
https://www.deutschlandfunk.de/feminismus-als-feindbild-wie-frauen-in-rechten-ideologien.724.de.html?dram:article_id=483115

Rechtsextremer Techno: Raven für Deutschland
Immer wieder eignen sich Nazis Subkulturen an, um ihre faschistische Ideologie zu verbreiten. Auch die Technoszene ist dagegen nicht immun. Besonders anfällig dafür scheint das Subgenre „Dark Techno“ zu sein. Durch Codes und Symbole in der Ästhetik und Aufbereitung werden rechtsextreme Ideen normalisiert und der Nationalsozialismus verharmlost – verpackt als vermeintlich rebellische Provokation.
https://www.belltower.news/rechtsextremer-techno-raven-fuer-deutschland-102803/