Europa im Herbst: Neuer Türsteher-Deal, neue Abschottungs-Abkommen, neuer Stacheldrahtvorhang

Ein polnischer Grenzposten bei Kuznica im Winter 2022 als Symbol: Europa stehen kalte Zeiten bevor.

Was ist neu?

Ausschaffungknast Bazenheid: Brand in Gefängniszelle

Am Donnerstag kam es in einem Ausschaffungsgefängnis in Bazenheid SG zu einem Brand in einer Zelle. Eine 35-jährige marokkanische Person in Abschiebehaft wurde dabei verletzt und musste ins Spital geflogen werden. Dies ist der zweite Brand in diesem Ausschaffungsgefängnis innerhalb von 2 Jahren.

Die ausgebrannte Zelle in Bazenheid.
Die ausgebrannte Zelle in Bazenheid.

Der 35-jährige Marokkaner musste laut Behörden am selben Tag in eine Disziplinarzelle verlegt werden, da er sich gegenüber Mitarbeitenden und dem Gefängnisarzt beschimpfend und widersetzlich verhalten habe. Schlussfolgernd liege der Verdacht nahe, dass er trotz hoher Sicherheitsvorkehrungen ein Feuerzeug in die Zelle schmuggeln konnte und den Brand verursachte. Schon im 2020 brach in einer Zelle in Bazenheid ein Brand aus und wiederum ein marokkanischer Geflüchteter wurde in den Medien als mutmasslicher Brandstifter bezeichnet. 

Das ehemalige Untersuchungsgefängnis, das seit 2011 als Ausschaffungsgefängnis genutzt wird, stand schon mehrfach in der Kritik. Die Bedingungen wurden sowohl von regionalen Aktionsgruppen als auch von der schweizerischen Kommission gegen Folter schon früher kritisiert, seither aber kaum angepasst: Die personellen Ressourcen und baulichen Standards reichten für die (damals) 12 Plätze nicht aus, medizinische Notfälle konnten an Sonntagen nur verspätet behandelt werden, Freigang für die Insassen wird Sonntags ausgesetzt, da der Posten über zu wenig Personal verfügt. Den Insassen wird nur eine Besuchszeit von einer Stunde pro Woche erlaubt und teilweise wird der Kontakt zu Familienmitgliedern ganz untersagt. Hygienische Artikel reichen nicht aus, die Insassen sind der Willkür ausgesetzt.

Dies lässt natürlich vielerlei Fragen aufkommen. Nicht nur wird die in den Medien implizierte Unschuldigkeit der Gefängnismitarbeitenden infrage gestellt, auch dass dies der zweite Fall innerhalb 2 Jahren ist. Massnahmen, wie z.B. brennsichere Matratzen, wurden folglich wohl nicht getroffen und die Sicherheit der Insassen wird nicht priorisiert. Auch kommen Erinnerungen von Oury Jalloh hoch, welcher im Jahr 2005 an starken Verbrennungen in seiner Zelle starb. Bis heute kämpfen Menschen für die Aufklärung seines Todes, mehrere Gutachten sprechen für Fremdeinwirkung.

Selbst, wenn beide Brände in Bazenheid selbstverschuldet waren, spricht dies stark für die Menschenunwürdigkeit des Ausschaffungsgefängnis Bazenheid. Wie schlimm müssen die Umstände denn sein, dass mensch zu solchen Mitteln greift?

www.sg.ch/news/sgch_kantonspolizei/2022/11/bazenheid–brand-in-gefaengniszelle.html
www.change.org/p/aktion-zunder-stoppt-die-beugehaft-ausschaffungsgef%C3%A4ngnis-in-bazenheid-st-gallen-sofort-schliessen
initiativeouryjalloh.wordpress.com/

Aktuelle Entwicklungen in der Festung Europa

Die EU-Kommision empfiehlt die Erweiterung des Schengenraumes. Gleichzeitig halten EU-Staaten innerhalb des Schengenraumes ungestraft Grenzkontrollen aufrecht. Und während die Mitgliedstaaten eine zunehmende Technologisierung samt Massenüberwachung fordern, werden in Nord- und Osteuropa wieder Stacheldrahtzäune hochgezogen. Rechtsaussen-Parteien lassen sich als Retter Europas feiern und vier Mittelmeerstaaten wollen gegen die private Seenotrettung vorgehen. Europa quo vadis?

Ein überfülltes Schlauchboot mit geflüchteten Menschen wird auf dem Mittelmeer von der Crew eines privaten Seenotrettungsschiffes gerettet.
Ein überfülltes Schlauchboot mit geflüchteten Menschen wird auf dem Mittelmeer von der Crew eines privaten Seenotrettungsschiffes gerettet.

In Rumänien hat letzte Woche eine internationale Konferenz rechtskonservatier europäischer Parteien stattgefunden. Ziel war es, eine gemeinsame ideologische Plattform zu schaffen, um eine konservative Revolution in Europa auszulösen. Eingeladen hatte die rechtsradikale Partei AUR (Allianz für die Vereinigung der Rumänen). Die Partei will sich gegen das «zerstörerische Projekt eines übernationalen Bundesstaates» einsetzen und sprach dabei verstörend von den «Vereinigten Staaten von Europa». Eine äusserst seltsame Formulierung, machten sich doch die anderen bekannten Vereinigten Staaten, jene von Amerika, in den letzten Jahren unter der Trump-Regierung vor allem durch Nationalismus, Abschottung und antidemokratische Politik einen Namen. Gleichzeitig empfahl die EU-Kommission letzte Woche die Erweiterung des Schengenraums um Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Weitere Spannungen dürften somit folgen.

Und obwohl das oberste EU-Gericht kürzlich entschieden hat, dass Deutschland, Dänemark und andere Schengen-Staaten keine Rechtsgrundlage für die Verlängerung der 2015 wieder eingeführten Grenzkontrollen haben, leitet die Europäische Kommission kein Vertragsverletzungsverfahren ein. Bereits im Januar 2021 argumentierte die Kommission, dass eine Anpassung der Regeln eine bessere Lösung sein könnte, als die Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren. EU-Mitgliedstaaten forderten bereits, dass Technologien, die derzeit nur an den EU-Aussengrenzen eingesetzt werden, auch innerhalb des Schengen-Raums angewendet werden können. Zu diesen Technologien gehören die automatische Überwachung und die Datenerfassung durch die Behörden, z.B. durch die Analyse von Fluggastdatensätzen und erweiterten Fluggastinformationen. Dies kann zu einer „Invisibilisierung“, also Unsichtbarmachung, der Grenzkontrollen führen. Aus Sicht der Grundrechte können diese Massnahmen gefährlicher als eine physische Barriere sein. Denn sie beruhen letztlich auf einer Art Massenüberwachung. Diese Alternativen könnten auch das Risiko der Diskriminierung an der Grenze erhöhen. PICUM, eine Nichtregierungsorganisation, die sich für den Schutz der Menschenrechte von Migrant*innen ohne Papiere einsetzt, äusserte die Befürchtung, dass der Vorschlag der rassistischen Profilerstellung Tür und Tor öffnet.

Zusätzlich zur zunehmenden Technologisierung der europäischen Aussengrenzen werden auch wieder Grenzzäune gebaut. Besonders in Nord- und Osteuropa ziehen Staaten vermehrt wieder Sperranlagen auf. Einerseits aus Angst vor einer russischen Invasion. Andererseits in der Befürchtung, dass Russland und seine Verbündeten Migrant*innen als „Waffe“ einsetzen könnten, indem sie sie in ausreichender Zahl über die Grenzen schicken, um die europäischen Länder zu destabilisieren. Und zwar nicht nur im Hinblick darauf, dass sie diese aufnehmen müssten, sondern auch politisch, da die Angst vor jeder Art von „Invasion“ zu politischer Spaltung und Unruhe führt. 30 Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhangs erfolgt nun also ein neuer «Stacheldrahtvorhang». Die Sperranlagen würden sicher keine Panzerarmee aufhalten. Doch sie sind durchaus effektiv, wenn es darum geht, einzelne Migrant*innen an einem bestimmten Punkt aufzuhalten. Damit werden flüchtende Menschen auf noch gefährlichere Routen getrieben, müssen noch mehr Ressourcen aufwenden und mehr Risiken eingehen, um nach Europa zu gelangen. Diese Entwicklung zeigt, wie viel Empathie gegenüber geflüchteten Menschen in den westlichen Ländern bereits verloren gegangen ist.

Während in Ost- und Nordeuropa Zäune die Abschottung sichern sollen, fordern die vier EU-Mittelmeerstaaten Italien, Griechenland, Zypern und Malta, dass die EU hart gegen die private Seenotrettung vorgehen soll. Wie die Wochenschau bereits letzte Woche berichtete, hat dieser Kurs der neuen Rechtsaussen-Regierung Italiens unter Meloni bereits zu Spannungen zwischen den Regierungen in Rom und Paris geführt. Als kleiner Lichtblick bei all diesen schlechten Nachrichten kann darum gewertet werden, dass die deutsche Regierung erstmals Gelder für die private Seenotrettung zur Verfügung stellt. Mit acht Millionen Euro wird der Verein United 4 Rescue unterstützt. Dennoch, die aktuellen Entwicklungen sind besorgniserregend. Politische und ideologische Machtkämpfe werden wieder einmal auf dem Rücken der vulnerabelsten Menschen ausgetragen. Und es stellt sich immer mehr die Frage: Europa, wohin führt dein Weg?

http://www.infomigrants.net/en/post/44814/schengen-states-extend-border-checks-ignoring-eu-court
https://germany.representation.ec.europa.eu/news/schengen-betritt-bulgariens-kroatiens-und-rumaniens-kommission-ruft-mitgliedstaaten-zu-entscheidung-2022-11-16_de

https://www.diepresse.com/6216380/die-offenen-grenzen-und-ihre-feinde

https://taz.de/Internationale-Konferenz-in-Rumaenien/!5892089/

http://www.infomigrants.net/en/post/44817/barbed-wire-borders-increase-in-europe

https://www.srf.ch/news/international/migration-im-mittelmeer-italienische-polizei-nimmt-mehrere-mutmassliche-schlepper-fest

https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-11/asyl-europa-migration-grenzschutz-gefluechtete

https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/mittelmeerstaaten-fordern-schritte-der-eu-gegen-seenotretter,TN4GuZK

https://taz.de/Fluechtlingspolitik-im-Haushaltsausschuss/!5894549/

https://www.zeit.de/politik/2022-11/bundesregierung-seenotrettung-mittelmeer-gefluechtete

Österreich, Ungarn und Serbien beschliessen rassistischen Rückführungspakt

Am vergangenen Mittwoch trafen sich die Regierungschefs von Österreich und Ungarn mit dem serbischen Präsidenten zu einem „trilateralen Migrationsgipfel“ in Belgrad. Serbien soll gegen Bezahlung fortan als „Türsteher“ fungieren. Das Abkommen lässt Erinnerungen an den EU-Türkei Deal wieder wach werden.

Dieser Gipfel war der zweite von dreien, den Nehammer, Orbán und Vucic geplant haben. Durch die Treffen erhoffen sich die drei Politiker, eine „Lösung“ für die ansteigende Zahl der illegalisierten Migrant*innen, die ihren Weg über Serbien und Ungarn nach Österreich nehmen, zu finden. Dabei geht es ihnen nicht darum, die Lebensumstände von Schutzsuchenden an den EU-Aussengrenzen zu verbessern und ihre Menschenrechte zu achten. Sie sind auch nicht darum bemüht, die von EU-Mitgliedstaaten ausgehenden Rechtsbrüche in Form von gewaltvollen „Pushbacks“ zu stoppen. Ganz im Gegenteil – die Staatsmänner beendeten den Gipfel mit einem Abkommen, dass Serbien finanzielle Unterstützung für die Durchführung von sog. Rückführungen zusichert. Migrierende Menschen und Schutzsuchende sollen dadurch an der Weiterreise nach Ungarn und Österreich gehindert werden. Ihr Recht, einen Asylantrag in der EU zu stellen und diesen in einem rechtsstaatlichen, fairen Prozess geprüft zu bekommen, wird ignoriert und durch den Pakt verhindert.

Laut Angaben der EU-Grenzschutzorganisation Frontex, hat sich die Migration über die Serbien-Ungarn-Österreich-Route in den letzten Monaten im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. Aktivist*innen im Norden Serbiens berichten, dass über 3’000 Menschen in notdürftigen, selbstorganisierten Unterkünften in der serbisch-ungarischen Grenzregion ausharren. Zuletzt sei die Anzahl der Durchreisenden aufgrund eines Visa-Abkommens zwischen Serbien und u.a. Burundi, Tunesien und Kuba gestiegen. Als diplomatischen Dank dafür, dass diese Staaten den Kosovo nicht als unabhängigen Staat anerkennen, erlaubte Serbien ihren Staatsbürger*innen die visafreie Einreise. Viele Menschen nutzten diese Chance, um über Serbien in die EU zu migrieren. Auf Druck der EU, die ihre Abschottungspolitik erbarmungslos fortführt, hat Serbien diese Abkommen nun beendet. Laut Angaben des serbischen Aussenministeriums müssen Einreisende aus diesen Staaten nun eine Einladung nach Serbien oder eine bezahlte Reservierung für ein Hotel, sowie einen Nachweis über ausreichende finanzielle Mittel (50 Euro pro Tag), eine Krankenversicherung und ein Rückflugticket mit vorweisen. Diese finanziellen und bürokratischen Hürden werden es für den Grossteil der Menschen, die gerne über Serbien in die EU migrieren würden, unmöglich machen, diese Route weiterhin zu nutzen. Auf Druck der EU implementiert Serbien klassistische und rassistische Schranken der Bewegungsfreiheit.

Neben dem Ende der Visafreiheit trägt auch die neue Einigung zwischen den drei Staats- und Regierungschefs am vergangenen Mittwoch zur anhaltenden und weiterführenden Abschottung der EU bei. Schutzsuchende Menschen sollen ohne Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit in ihr Heimatland abgeschoben werden, wenn eine vorschnelle Prüfung ihren potenziellen Asylantrag für aussichtslos hält. Das wird dazu führen, dass zahlreiche Menschen pauschal abgeschoben werden, ohne dass ihre persönlichen Geschichten und Hintergründe geprüft und einbezogen werden. Das internationale Flüchtlingsrecht sieht eigentlich eine persönliche Einzelfallprüfung vor. Der beschlossene Pakt ist somit rechtswidrig, reiht sich jedoch in die menschenverachtende, abscheuliche, rassistische Migrationspolitik der EU ein.

https://www.derstandard.at/story/2000140884259/oesterreich-ungarn-und-serbien-beraten-ueber-migration
https://www.derstandard.at/story/2000140913579/geld-aus-oesterreich-und-ungarn-um-migranten-aus-serbien-rueckzufuehren?ref=rss

Was geht ab beim Staat?

Asylstatistik: Mehr Asylgesuche, konstante Rückführungen und die Rede von „illegaler Migration“

Im Oktober setzte sich der Trend zu mehr Asylgesuchen fort. Konstant werden Menschen abgeschoben. Wieviele tauchen unter und entziehen sich dem Asyl- und Abschieberegime? Ein paar Worte zur aktuellen Asylstatistik und Lagerpolitik in der Schweiz.

Grenzwächter*innen behandeln Afghan*innen an der Grenze in Buchs als
Grenzwächter*innen behandeln Afghan*innen an der Grenze in Buchs als „Illegale“.

Wenn Bundesrätin Karin Keller-Sutter (KKS) von flüchtenden Menschen spricht, welche auf der Balkanroute Richtung Westeuropa unterwegs sind oder die Schweiz von Osten her durchreisen, verwendet sie meist die Bezeichnung „illegale Migration“. Damit stigmatisiert sie (asyl- wie auch arbeitssuchende) Migrant*innen, rechtfertigt Grenzgewalt und erschwert Solidarität. Dieser Diskurs hat konkrete Folgen: Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) griff in Grenzgebieten zu Österreich und Italien zunehmend viele Menschen auf, die durchs Band als „rechtswidrig“ klassifiziert werden. Im September betraf dies 6’679, im Oktober 7’891 Personen. Mehrheitlich stammen diese Personen aber aus Afghanistan. Diese Personen hätten eine Chance auf einen Schutzstatus. Die meisten der an der Grenze kontrollierten Personen dürfen dann nach Deutschland oder Frankreich weiterreisen. Dies führt zu Spannungen zwischen den Behörden dieser Länder und der Schweiz, welche das Dublinsystem umgehe und zu wenig gegen den Transit durch die Schweiz unternehme. Im Oktober wurden 755 Personen – jede 10te – direkt an österreichische oder italienische Behörden übergeben.

Ein Teil der einreisenden Personen stellen in der Schweiz ein Asylgesuch. Im Oktober waren die wichtigsten Herkunftsländer Afghanistan mit 1’154 Gesuchen (330 mehr als im September), die Türkei (644 Gesuche; +100), Burundi (315 Gesuche; +179), Algerien (160 Gesuche; +19) und Eritrea (151 Gesuche; +2). Der Trend zu mehr Asylgesuchen setzt sich somit fort. Im Juli wurden 1’784 Asylgeusche eingereicht, im August 2’046, im September 2’681 und im Oktober insgesamt 3’208.

Gleichzeitig führt der konstante Druck aufgrund von Campisolation, Entrechtung und Abschieberisiko dazu, dass viele Personen das Land sogenannt „freiwillig“ verlassen. Im Oktober waren es 1’352 Personen. 127 wurden Opfer einer Abschiebung gegen ihren Willen. Erstmals seit längerem ist die Zahl der „freiwilligen“ und unfreiwilligen „Rückkehr“ höher als die Anzahl Menschen, die untertauchen. Im Oktober entschieden sich 924 Personen für diesen Weg. Wer diese Zahlen durch die 31 Oktobertage teilt, kann sich ansatzweise vorstellen, was täglich im schweizer Asyl- und Grenzregime abgeht.

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-91661.html
https://www.srf.ch/news/schweiz/schweiz-anzahl-illegaler-grenzuebertritte-steigt-weiter-deutlich

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-89952.html
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90723.html

Was ist aufgefallen?

Ärmelkanal: Küstenwache lässt Menschen ertrinken, neues Abkommen zwischen GB und Frankreich verstärkt Abschottung
Am 24. November 2021 verloren mindestens 27 Menschen unter den Augen der Küstenwachen auf dem Ärmelkanal ihr Leben, wie Dokumente nun belegen. Ein Jahr später einigen sich Frankreich und Grossbritannien auf mehr Abschottung, mehr Überwachung, mehr Zusammenarbeit. Ihre Antimigrationspolitik konnte in diesem Jahr 40’000 Menschen nicht davon abhalten, den Ärmelkanal zu überqueren.
 
Beerdigung von Shakar Ali Pirot in Rania (Irak), am 26. Dezember 2021. Der Mann starb bei dem Versuch, am 24. November 2021 mit einem kleinen Boot den Ärmelkanal nach England zu überqueren. Siebenundzwanzig Menschen starben bei diesem Schiffsunglück.
Beerdigung von Shakar Ali Pirot in Rania (Irak), am 26. Dezember 2021. Der Mann starb bei dem Versuch, am 24. November 2021 mit einem kleinen Boot den Ärmelkanal nach England zu überqueren. Siebenundzwanzig Menschen starben bei diesem Schiffsunglück.
 «Help us! We are in the water!» – «Yes, but you are in english waters, sir.» Am 24. November vor einem Jahr kamen auf einer der meistbefahrenen Schifffahrtsstrassen der Welt 27 Menschen ums Leben, deren Leichen geborgen wurden, zwischen drei und fünf Personen werden bis heute vermisst, nur zwei Menschen überlebten. Sie wurden trotz zahlreicher Hilferufe von den Küstenwachen zurückgelassen, wie juristische Dokumente basierend auf dem Notfallprotokoll der französischen Küstenwache nun minutiös aufzeigen.
Der erste Hilferuf der Passagier*innen des kleinen Bootes ging um 1.48 Uhr des 24. Novembers bei der französischen Küstenwache ein, als das Boot anfing, Wasser zu ziehen und die Luft zu verlieren. Der Motor blieb stehen und auch die Bemühungen der Migrant*innen, das Wasser aus dem Boot zu bekommen, schlugen fehl.
 
Um 2.28 Uhr rief die französische Küstenwache ihre englischen Kolleg*innen an und übergab den Seenotfall, da sich das Boot nun in englischen Gewässern befände. Die Migrant*innen wurden aufgefordert, die englische Notfallnummer anzurufen.
Um 2.44 Uhr schrieb die englische Küstenwache wiederum in einer Mail, dass sie nicht zuständig sei, da sich das Boot in französischen Hoheitsgewässern befände, wie sie an einem kontinentalen Klingelton auf dem Telefon einer Passagier*in gehört haben wollte.
Stunden vergingen, ohne irgendeine Hilfe für die Menschen in Seenot zu entsenden.
Gegen 3 Uhr morgens kippte das Boot um. Um 4.16 Uhr ging ein letzter Anruf bei der französischen Küstenwache ein, in dem es hiess: „Die Leute sind im Wasser, es ist vorbei.“ Neun Stunden später fand ein französischer Fischer die Toten im Wasser.
 
Dass es überhaupt zu einer Aufarbeitung kommt und diese Informationen öffentlich wurden, ist dem juristischen Kampf der Angehörigen zu verdanken, die die französischen Behörden der fahrlässigen Tötung anklagen. Auf britischer Seite gab es bisher keinerlei Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit dem Ereignis. Dafür sind die britischen Bemühungen umso vehementer, möglichst viele Menschen von der Fahrt über den Ärmelkanal abzuhalten. Mehr als 40’000 Menschen haben diesen in diesem Jahr bisher nach offiziellen Angaben überquert, allein am vergangenen Samstag waren es insgesamt 972 Menschen auf 22 Booten. Im Gesamtjahr 2021 waren es 28’561 Menschen gewesen, die in Grossbritannien ankamen.
 
Deshalb zahlt Grossbritannien für die verstärkte Grenzkontrolle einen Betrag von 72,2 Millionen Euro für die Jahre 2022 und 2023 an Frankreich (9 Millionen mehr als im vergangenen Jahr). Mit dem Geld wollen die Länder 350 weitere Polizist*innen finanzieren und neue Überwachungstechnik anwenden. Ein Teil der Summe ist für die Erhöhung der Sicherheit in den Häfen vorgesehen, einschliesslich des Einsatzes von Drohnen, Polizeihunden, Videoüberwachung und Hubschraubern, um die Überfahrt von Migrant*innen zu verhindern. Die Aufnahme- und Abschiebezentren auf der französischen Seite des Kanals werden ebenfalls Mittel für die Versorgung der Menschen erhalten, die an der Überfahrt gehindert werden. Zudem sieht das am Montag unterzeichnete Abkommen vor, dass britische Beamt*innen als Beobachter*innen nach Frankreich entsendet werden und umgekehrt.
 
Auch der Einsatz von Frontex, die seit dem 1. Dezember 2021 mit einem Flugzeug an der nordfranzösischen Küste im Einsatz ist, wird verlängert. An den Flugbewegungen lässt sich ablesen, dass die Luftüberwachung vor allem darauf abzielt, geplante Bootspassagen vor dem Ablegen zu identifizieren. Dies ergänzt die Patrouillen der französischen Polizei und Gendarmerie, die ihrerseits Drohnen zur Überwachung der weitläufigen und unübersichtlichen Küstenlandschaft einsetzen. Die Situation für Menschen, die die Überfahrt nach Grossbritannien geschafft und überlebt haben, ist die Situation prekär. Mehr als 120’000 Menschen warten in Großbritannien aktuell auf eine Bearbeitung ihres Asylantrages. Von Dezember 2017 bis Juni 2022 hat sich die Zahl fast vervierfacht. Es fehlt an adäquaten Unterbringungsmöglichkeiten und einer angemessenen Versorgung der Menschen. Nach Angaben der britischen Regierung müsse sie wegen überfüllter Lager täglich 6,8 Millionen Pfund (7,7 Millionen Euro) für die Unterbringung von Migrant*innen in Hotels ausgeben. Ein Narrativ, dass in der Bevölkerung Neid schürt und die Stimmung gegen Migrant*innen weiter anheizt.
 
«Vor einem Jahr, am 24. November 2021, ertranken 27 Menschen, nachdem ihr Boot zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich gesunken war. Vier werden noch vermisst und zwei Menschen haben überlebt. Sie alle, Frauen, Männer und Kinder, die vor Krieg, Armut oder Diktatur geflohen waren, hatten die Hoffnung, sich im Vereinigten Königreich ein würdiges und freies Leben aufzubauen. An diesem Tag wurden ihre Hilfeschreie ignoriert und sie starben. Lasst uns am 24. November 2022 zusammenkommen, für sie, ihre Familien und für alle, die trotz aller Hindernisse weiterhin Zuflucht suchen. Lasst uns zusammenkommen, um dieser mörderischen Politik ein Ende zu setzen.» In Paris, Dünkirchen, Rennes und London wird es am 24. November Gedenkveranstaltungen geben. Und auch der Kampf der Angehörigen geht weiter.

Was nun?

Das Jean Dutoit-Kollektiv braucht Unterstützung

Von Mai 2020 bis Mai 2022 lebte das Kollektiv Jean Dutoit in einem Haus in Écublens mit einem Vertrauensvertrag und guten Beziehungen zu den Eigentümer*innen der Räumlichkeiten. Seit dem Ende dieses Vertrags hat das Kollektiv keine stabile Situation mehr gefunden und lebt unter unwürdigen und gefährlichen Bedingungen.

Ein Beitrag des Jean Dutoit-Kollektiv

„Während dieser Zeit haben wir mehrmals mit der Stadtverwaltung von Lausanne gesprochen, Termine mit Unternehmen vereinbart, die über einen großen Immobilienbestand verfügen. Wir haben 6 Häuser besetzt und unsere Situation an einem Runden Tisch zum Thema Notunterkünfte vorgestellt, der von der Stadt Lausanne in Zusammenarbeit mit der HETSL (Haute École de Travail Social de Lausanne) und mit Unterstützung des Kantons Waadt organisiert wurde. Bisher hat keiner dieser Schritte zu einer tragfähigen Situation für die Mitglieder des Kollektivs geführt. Heute leben die 70 Bewohner des Kollektivs in einem alten, heruntergekommenen Restaurant, das viel zu klein und unhygienisch ist, um alle Mitglieder zu beherbergen.

Das Jean Dutoit-Kollektiv entstand 2015 in Lausanne aus dem Zusammentreffen von etwa 100 Personen aus Westafrika mit einer Gruppe von Schweizer Bürger*innen. Das Kollektiv gründete sich mit dem Ziel, ein Dach über dem Kopf zu finden, da die afrikanischen Mitglieder auf der Straße lebten und schliefen. Seither setzt sich das Kollektiv auch mit sämtlichen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimensionen auseinander, die die Existenz der Menschen, die in die Schweiz und nach Europa migrieren, bestimmen. Die Mitglieder des Kollektivs mit Migrationshintergrund und die Schweizer Mitglieder (die als Schnittstelle zur Gesellschaft fungieren) haben in den letzten sechs Jahren ihre Kräfte gebündelt, sich zusammengeschlossen, um die Diskriminierung und den Missbrauch der Ersteren zu bekämpfen und tragfähige Alternativen aufzubauen. Seit sieben Jahren ist das Kollektiv bestrebt, allen seinen Mitgliedern ein Dach über dem Kopf zu bieten. Derzeit leben 70 Menschen im Haus des Kollektivs.

Heute gibt es nur ein einziges Zimmer. Die Fenster sind zerbrochen und durch Holzbretter ersetzt. Das Dach ist undicht. Es gibt keinen Strom, ein Generator wird einige Stunden am Tag für den minimalen Bedarf genutzt. Es gibt keine Heizung. Es gibt kein Wasser, sondern nur ein selbstgebasteltes System aus einem externen Wasseranschluss. Es gibt keine Küche, zwei Gaskocher wurden erst vor kurzem installiert. Um zu duschen, muss das Wasser mit Kohle erhitzt werden. Der Winter wird immer härter und die Situation immer gefährlicher.“

Der Aufruf zur Unterstützung ist breit angelegt. Es braucht Räumlichkeiten, Geld und Kommunkation.   
Das Jean Dutoit-Kollektiv – jeandutoit@riseup.net – CH39 0900 0000 1472 9025 8

Wo gabs Widerstand?

Sans-Papiers-Kollektive Basel auf den Sozialen Medien

Zum Tag der Regularisierung am 14. November 2022 eröffnet das Sans-Papier-Kollektiv Basel ihre eigenen Sozialen Medien.

„Folgt uns, teilt unsere Beiträge und seid mit uns Teil der Veränderung. Kollektive Regularisierung jetzt! Eine andere Welt ist möglich!“
Instagram: @sanspapierskollektivebs
https://instagram.com/sanspapierskollektivebs?igshid=YmMyMTA2M2Y=
Facebook: Sans-Papiers-Kollektive Basel
https://www.facebook.com/profile.php?id=100087327384950
Twitter: @sanspapiersb
https://twitter.com/sanspapiersbs?s=21&t=9hSMw_WJJi89B1B1b5eFqg
YouTube: Sans-Papiers-Kollektive Basel
https://m.youtube.com/channel/UCvpLTYAcyZ9fylDZETRo5ug/featured

Antirassismus im Nachtleben

Am 12.11.22 startete in Zürich die Kampagne „Black People Are…“, die sich dafür einsetzt Themen wie Diskriminierung und Sensibilisierung im Nachtleben intersektional anzugehen. Eine Gruppe von Aktivist:innen aus dem Nachleben fordert, dass die Kulturbrache kompromisslos anti-rassistisch handelt und strukturelle Ungleichheiten anspricht.

https://ubwg.ch/news/kampagne-fuer-mehr-diversitaet-und-gegen-rassismus-in-der-kulturbranche/

Was steht an?

Antirassismus-Woche Aargau

Dienstag, 22.11.2022, ab 17:00 (Royal, Baden): „Kafi-Royal“ mit internationalem Abendessen. (Für eine bessere Planung währen wir froh, wenn ihr euch für das Essen anmelden könntet. Schreibt uns dazu auf Instagram „bandenistbunt“ kurz an).

Mittwoch, 23.11.2022, ab 19:00 (Kuzeb, Bremgarten): Film „No Apologies, Rassismuserfahrungen von POC in Lausanne.“

Donnerstag, 24.11.2022, ab 18:30 (Royal, Baden): Skandal Cinema zeigt „Gone with the Wind“ und versucht mit Hilfe der Historikerin Alexndra Binnenkade diesen rassistischen Film zu dekonstruieren.

Freitag, 25.11.2022, ab 22:30 (Royal, Baden): Plattenbar für alle. (An diesem Abend findet unabhänig auch noch das OAT-Aargau statt. Für mehr Infos dazu besucht deren Instagram-Seite).

Samstag, 26.11.2022, ab 12:00 (Würenlos): Antiracup (mehr Infos auf dem Flyer).

https://barrikade.info/article/5478

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

„Jeden Tag bin ich geflutet von den Gefühlen dieser Abschiebung und den Folterungen, die danach hier in Sri Lanka folgten.“
M. erzählt uns über seine Abschiebung von der Schweiz nach Sri Lanka, die er erleben musste. Und gibt einen Einblick über die alltägliche Gefährdung und die Gewalt, welcher er nun in Sri Lanka ausgesetzt ist. Sein humanitäres Visum ist noch hängig.
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/11/13/jeden-tag-bin-ich-geflutet-von-den-gefuehlen-dieser-abschiebung-und-den-folterungen-die-danach-hier-in-sri-lanka-folgten/
 
Schwarze Menschen in der Schweiz: Sie sollen den Frieden nicht stören
Wie rassistisch sind Schweizer Institutionen gegenüber Schwarzen Menschen? Das Land übt sich in Verdrängung – sei es bei der Polizei, in der Bildung oder in der Strafjustiz.
https://www.woz.ch/2246/schwarze-menschen-in-der-schweiz/schwarze-menschen-in-der-schweiz-sie-sollen-den-frieden-nicht