Medienspiegel 20. November 2022

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+++BERN
derbund.ch 20.11.2022

Geflüchtete im Gurnigelbad: Fachleute kritisieren die abgelegene Asylunterkunft

Ab Januar sollen 220 Asylsuchende im Gurnigelbad wohnen. Dort werde die Integration schwierig, kritisieren Fachleute. Der Kanton macht dennoch vorwärts.

Sabine Gfeller

Marschiert man in Riggisberg los, geht es zuerst den Hügel hoch bis nach Plötsch. Dann den Hügel hinunter bis nach Rüti. Eine kurze Verschnaufpause? Vielleicht besser. Denn sogleich folgt der zweite Aufstieg.

Zuerst führt noch ein schmales Brückchen über einen Bach, dann ein schmaler Pfad steil den Waldhügel hinauf. Matsch und nasses Laub machen den Weg rutschig. Nach gut zwei Stunden Wanderung erwartet einen beim Gurnigelbad auf 1155 Metern über Meer eine weite Aussicht. Und Ruhe. Menschenleere Ruhe.

Letztes Postauto am Nachmittag

Dies wäre der Nachhauseweg für die Asylsuchenden, die ab Januar im ehemaligen Kurhotel Gurnigelbad in der Gemeinde Riggisberg Unterschlupf finden werden. Und diese Erklimmung wäre quasi unumgänglich, wenn man um 15:30 Uhr das letzte Postauto aus besiedeltem Gebiet hoch zur Unterkunft verpasst hat und kein Auto besitzt. Bis zu 220 Personen hätten laut dem Kanton im Gurnigelbad Platz. Erwartet werden nach aktuellem Stand grösstenteils Menschen aus Afghanistan, Syrien und der Türkei, wobei sich das jederzeit ändern kann.

Laut dem Kanton würden hier voraussichtlich Personen untergebracht, die bereits einen rechtskräftigen Entscheid haben, dass sie bleiben dürfen, oder ein erweitertes Asylverfahren durchlaufen. Hinzu können aber auch Personen ohne Asylentscheid kommen: Da die Bundesasylzentren überlastet sind, weist der Bund seit Anfang November den Kantonen zusätzlich Personen in einer solchen Situation zu. Betrieben wird die Kollektivunterkunft im Gantrischgebiet durch das Schweizerische Rote Kreuz (SRK).

Momentan sind die Innenräume im Gurnigelbad laut dem Riggisberger Gemeindepräsidenten Michael Bürki (SVP) noch leer. «Da werden gegenwärtig Betten organisiert, sanitäre Anlagen und Einzelkochherde eingebaut.» Geplant sei, dass das Gebäude für vier bis fünf Jahre als Kollektivunterkunft zur Verfügung gestellt werde. Danach soll es wieder zu einem Hotel werden, sagt Bürki.

Daniel Winkler ist Pfarrer in Riggisberg und hat vor acht Jahren begonnen, Asylsuchende zu betreuen. Damals gab es in Riggisberg vorübergehend eine Asylunterkunft. Seither engagiert sich Winkler für Geflüchtete in der Region. Er geht davon aus, dass die Mehrheit der im Gurnigelbad untergebrachten Menschen in der Schweiz bleiben werde. Und er findet: «Es ist ein No-go, Asylsuchende ohne Auto in dieser totalen Abgeschiedenheit unterzubringen – oder höchstens als Ultima Ratio.»

Kein Rückzug

Doch bringt die Unterkunft auf dem Hügel nicht auch Vorteile mit sich wie etwa die Möglichkeit, sich zurückzuziehen? Winkler entgegnet: «Ruhe hat man mit 219 anderen Personen auf so engem Raum ohnehin nicht.» Klar, man könne spazieren gehen. Doch aus seiner Sicht wiegt diese Spaziermöglichkeit die Nachteile nicht auf.

Viel wichtiger sei für die Menschen, dass sie zwischendurch von der Unterkunft wegkommen könnten, sagt Winkler. Ein Café als Begegnungsort mit der restlichen Dorfbevölkerung wäre ideal. Allerdings sei das an diesem «komplett abgelegenen Ort» nicht möglich.

«Die jungen Leute sollten zum Beispiel Fussball spielen können, um ihre Energie rauszulassen», sagt Winkler. In Rüti, der nächstgelegenen Ortschaft, gibt es zwar einen Sportplatz. «Doch jetzt im Winter müssten sie bis nach Riggisberg fahren, um eine Turnhalle benutzen zu können.» Und da komme wieder die eingeschränkte Mobilität in die Quere.

Martina Blaser, die beim SRK Kanton Bern die Abteilung Migration leitet, begrüsst zwar Liegenschaften, die einigermassen angenehm und oberirdisch seien. Jedoch sieht sie ähnliche Nachteile wie Winkler: «Das Gurnigelbad ist ausserhalb des Dorfes und mit öffentlichem Verkehr schlecht erschlossen», hält sie fest. Momentan fährt viermal pro Tag ein Postauto zum Gurnigelbad hoch und wieder hinunter. Wie viele zusätzliche Fahrdienste künftig für die Geflüchteten angeboten würden, sei momentan noch offen, sagt Blaser.

Auch der Kanton gesteht die Nachteile des Standortes ein: «Schule und Einkaufsmöglichkeiten sind weit entfernt», sagt Gundekar Giebel, Sprecher der zuständigen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern (GSI). Beides liegt in Riggisberg. «Wir versuchen deshalb Personen unterzubringen, bei denen diese Nachteile weniger ins Gewicht fallen, also eher keine Familien mit schulpflichtigen Kindern.»

Wenn die Nachteile so gross sind – weshalb wird dann überhaupt eine Kollektivunterkunft im abgelegenen Gurnigelbad eröffnet? «Wir nehmen jede Unterkunft, die wir bekommen», antwortet Giebel. Da die Bundesasylzentren voll sind, weist der Bund den Kantonen vorübergehend deutlich mehr Personen zu als sonst.

Eine Allianz rot-grüner Berner Stadträtinnen und Stadträte sieht allerdings durchaus eine Möglichkeit, die Asylsuchenden zentraler unterzubringen. In einer Motion fordern sie, dass das Containerdorf im Viererfeld dafür genutzt werden soll. Dort gebe es Platz für 1000 Personen. Nach aktuellsten Zahlen sind jedoch nur 168 Plätze besetzt.

Ende Oktober hiess es vonseiten des Kantons dazu noch, dass eine «gemischte Unterbringung im Sinne der Belegung durch zwei Gruppen in Abklärung sei». Nun sagt Pressesprecher Giebel jedoch: «Das Viererfeld ist als temporäre Unterkunft für ukrainische Personen konzipiert, die relativ rasch in Wohnungen umziehen. Die gemischte Nutzung mit anderen Personengruppen, für die andere Regeln gelten, ist im Moment nicht geplant.»

Ukrainerinnen sind oft mobiler

Pfarrer Winkler hingegen fände es sinnvoller, im Gurnigelbad ukrainische Geflüchtete unterzubringen, da diese teilweise ein Auto besässen. Und Martina Blaser vom SRK Kanton Bern verweist darauf, dass für Ukrainerinnen und Ukrainer, deren Status rückkehrorientiert sei, die Integration nicht im Fokus stehe: «Für andere Geflüchtete mit Aufenthalts- oder Bleiberecht hingegen schon.»

Wenn man ein Postauto erwischt und nach Riggisberg fährt, gibt es dort laut Winkler eine grössere Bereitschaft, sich für Asylsuchende einzusetzen und sie zu begleiten.

Erwischt man jedoch kein Postauto und geht vom Gurnigelbad zu Fuss los, landet man als Erstes in der nächstgelegenen Ortschaft Rüti. Und da geht Winkler davon aus, dass ukrainische Geflüchtete wohl eher Unterstützung von den Bewohnerinnen und Bewohnern von Rüti bekämen als andere Asylsuchende. Denn er habe gehört, in Rüti seien die Leute über die Pläne im Gurnigelbad irritiert, sagt Winkler: «Auf dem Land sind die Ressentiments gegenüber nicht europäischen Leuten stärker.»

Je weniger sie mit Drittstaatleuten in Berührung kämen, desto grösser seien die Vorbehalte. «Begegnungen wären daher gut, um Vorurteile abzubauen», sagt Winkler. Zwischen Rüti und dem Gurnigelbad liegen jedoch rund 300 Höhenmeter. Da treffe man sich kaum einfach so, sagt Winkler. Ergänzt dann jedoch: «Aber vielleicht wundert man sich plötzlich, und es entsteht etwas.»
(https://www.derbund.ch/fachleute-kritisieren-die-abgelegene-asylunterkunft-211557890121)


+++SOLOTHURN
Flumenthal SO: «Müssen auf Boden schlafen» – Flüchtender klagt über Asylzentrum
Die Auslastung der Bundesasylzentren in der Schweiz sei derzeit am Limit. Gemäss dem Flüchtenden Amir* müsse man aufgrund der fehlenden Betten sogar auf dem Boden schlafen.
https://www.20min.ch/video/muessen-auf-boden-schlafen-fluechtender-klagt-ueber-asylzentrum-442750225837


+++SCHWEIZ
Sonntagszeitung 20.11.2022

Flüchtlingskrise: Linke und Rechte fordern härteren Umgang mit Asylbewerbern

Weil neue Flüchtlingsströme drohen, soll die Schweiz eine Verschärfung des internationalen Asylrechts initiieren.

Adrian Schmid, Mischa Aebi

Seit zwei Monaten drängen wieder mehr Asylbewerber aus anderen Ländern in die Schweiz als Flüchtlinge aus der Ukraine. Im Oktober zählte der Bund 3208 Asylgesuche – am meisten von Leuten aus Afghanistan, der Türkei und Syrien. Demgegenüber gab es 2757 Anmeldungen für den Schutzstatus S, den Ukrainerinnen und Ukrainer erhalten. Im März und April waren es jeweils über 20’000.

Der Migrationsexperte Beat Stauffer rechnet in den nächsten Jahren sogar mit weiteren, grossen Flüchtlingstrecks, die Richtung Europa aufbrechen werden. «Allein im nördlichen Afrika und im östlichen Mittelmeerraum ist der Migrationswunsch in vielen Ländern enorm», sagt er.

Flüchtlingskonvention gerät unter Druck

Für SVP-Nationalrätin Martina Bircher sind das Alarmzeichen. Nach der Flüchtlingskrise von 2015 sei jetzt schon die nächste da. So könne es nicht weitergehen. Sie fordert deshalb eine grundlegende Reform des internationalen Rechts. «Die Genfer Flüchtlingskonvention und die Menschenrechtskonvention sind veraltet. Wie jedes andere Gesetz müssen auch sie von Zeit zu Zeit reformiert werden», sagt Bircher. Sie will nun einen Vorstoss im Parlament einreichen.

Die Flüchtlingskonvention ist ein internationales Abkommen, das Staaten verpflichtet, Menschen Asyl zu geben, wenn sie wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Rasse, einer Religion, einer Nationalität, einer sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauung verfolgt werden.

Insbesondere die SVP kritisiert aber, dass die Schweiz viele Flüchtlinge aufnehme, die eigentlich keinen Schutz bräuchten, sondern bloss Wirtschaftsflüchtlinge seien. Bircher gibt zu bedenken, dass heute 60 Prozent einen Flüchtlingsstatus bekämen. «Diese Willkommenskultur ist mit unserem Sozialstaat je länger, je weniger vereinbar.»

Österreichs Kanzler geht voran

Bircher stösst mit ihrer Forderung eine Debatte an, die in Österreich bereits kontrovers geführt wird. Das Nachbarland ist besonders stark von der aktuellen Flüchtlingswelle betroffen. Bundeskanzler Karl Nehammer erklärte diese Woche das EU-Asylsystem für gescheitert. Es dürfe keine «Diskussionverbote» mehr geben, weder bei der Flüchtlings- noch bei der Menschenrechtskonvention. Diese müssten so verändert werden, dass die Staaten wieder handlungsfähig würden, sagte Nehammer. Linke Politiker bezeichneten dies als «brandgefährlich».

In der Schweiz bekommt die Forderung aber selbst in linken Kreisen Unterstützung. So sagt der ehemalige SP-Nationalrat und -Vordenker Rudolf Strahm: «Im heutigen internationalen humanitären Recht fehlt eine rechtliche Antwort auf jene Armutsmigration von meist jungen Männern, die nicht persönlich und individuell an Leib und Leben bedroht sind.»

Asyl nur noch auf Schweizer Botschaften?

Strahm schlägt deshalb eine koordinierte Einführung des Botschaftsasyls vor. Demnach sollten Flüchtlinge im Grundsatz nur noch auf der Schweizer Botschaft in ihrem Heimatland einen Asylantrag stellen dürfen. Dort würden auch die Erstbefragungen durch die Schweizer Behörden stattfinden. «Gleichzeitig müsste dann der Zutritt in die Schweiz restriktiver abgewickelt werden», sagt Strahm. «Das würde dem Schlepperbusiness die Luft abstellen.» Das sei aber nur sinnvoll, wenn andere Länder mitzögen.

Um ein Botschaftsasyl, wie Strahm es sich vorstellt, einzuführen, wäre zumindest eine Ergänzung der internationalen Abkommen notwendig. Strahm geht mit seiner Forderung deshalb noch weiter. Die Schweiz sei Depositärstaat der Genfer Flüchtlingskonvention und wäre deshalb geradezu prädestiniert, diese Anpassungen auf internationaler Ebene zu initiieren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden

Andere Experten, die nicht der SVP nahestehen, sehen es ähnlich: «Die Genfer Flüchtlingskonvention ist veraltet», sagt Toni Stadler, der viele Jahre für die UNO, das Rote Kreuz oder das Aussendepartement tätig war. Die Konvention war einst unter dem Eindruck des Holocaust und von ethnischen Säuberungen verfasst und auf Europa beschränkt worden. 1967 wurde sie auf Unterzeichnerstaaten der ganzen Welt ausgeweitet. «Niemand sah voraus, was für eine Anziehungskraft dieser Vertrag auf Armutsmigranten haben wird.»

Beat Stauffer findet auch, dass die Flüchtlingskonvention neu aufgegleist werden müsste. Er zweifelt jedoch, ob das kurzfristig möglich ist. «Viele Staaten müssten ihr Einverständnis geben. Gerade die Länder im Süden haben aber wenig Interesse, etwas zu ändern.»
(https://www.derbund.ch/linke-und-rechte-fordern-haerteren-umgang-mit-asylbewerbern-784008800968)

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Mehr Asylanträge: Martina Bircher will darum Wirtschaftsflüchtlingen den Riegel schieben
Es kommen wieder vermehrt Wirtschaftsflüchtlinge in die Schweiz und man muss in den nächsten Jahren mit noch mehr Flüchtlingsströmen rechnen. SVP-Nationalrätin Martina Bircher will deshalb einen Vorstoss im Parlament einreichen.
https://www.telem1.ch/aktuell/mehr-asylantraege-martina-bircher-will-darum-wirtschaftsfluechtlingen-den-riegel-schieben-148827015



NZZ am Sonntag 20.11.2022

Zunehmend reisen Flüchtlinge aus Italien durch die Schweiz. Die Behörden lassen die meisten passieren

Die Süd-Nord-Route ist weit offen. Das zeigt ein Augenschein vor Ort, das zeigen auch die offiziellen Zahlen.

Beat Stauffer

Youssef ist 27 Jahre alt und stammt aus Marokko. Nach der Überfahrt von Tunesien nach Sizilien ist er durch ganz Italien und anschliessend durch die Schweiz gereist. Nun ist er in Basel gestrandet. In einem Café im Stadtzentrum von Basel trifft er auf einen Landsmann. Er bittet ihn um finanzielle Unterstützung und um Tipps, um unkontrolliert nach Frankreich ausreisen zu können. Dabei erzählt er von seiner Reise durch Italien und die Schweiz.

Die Fahrt mit den italienischen Staatsbahnen bis nach Mailand sei vollkommen unproblematisch gewesen, berichtet Youssef. Er sei ohne Ticket durch ganz Italien gereist; die Zugbegleiter hätten ihn nie behelligt. In Mailand seien sie sogleich von unbekannten Personen auf Arabisch angesprochen worden. «Sie haben uns eine ganze Auswahl an Reisemöglichkeiten vorgeschlagen», sagt Youssef.

«In Privatautos auf der Autobahn oder über kleine Grenzübergänge, mittels Kleinlastwagen, via Intercity, betreut durch einen «Begleiter», der den Weg kennt, oder mit einem Regionalzug.» Jedes Angebot habe seinen Preis; ein «Package» bis nach Mulhouse oder nach Süddeutschland sei auch verfügbar gewesen. Youssef entscheidet sich für das günstigste Angebot und reist mit einem gültigen Zugticket in Richtung Norden.

Ohne Kontrolle über die Grenze

Youssef ist einer von vielen. Zurzeit versuchen Zehntausende junger Männer aus dem Maghreb, aus Ägypten, Bangladesh und aus Ländern südlich der Sahara, von Norditalien aus via die Schweiz nach Deutschland oder Frankreich zu gelangen. Fast alle sind in Tunesien oder in Libyen auf Boote gestiegen und zwischen Ende August und Anfang November in Süditalien angekommen.

Auf der zentralen Mittelmeerroute (siehe Kasten) ist Hochsaison; bis zu 1000 Personen haben in den vergangenen Wochen täglich versucht, auf diesem Weg nach Europa zu gelangen. Vielen gelingt die Überfahrt; andere werden von der tunesischen Küstenwache aufgehalten. So hinderten etwa am 9. November die Küstenwächter fast 800 Personen auf 17 Booten an der Ausreise. Rund 90 000 Migranten und Flüchtende sind bis Mitte November 2022 auf dem Seeweg in Italien angekommen.

Entsprechend nimmt auch der Druck auf die Schweizer Südgrenze zu. In den vergangenen Monaten ist dort die Zahl der «gesetzeswidrigen» Einreisen stark angestiegen. Laut Bundesamt für Grenzsicherheit wurden im Juli 537 Personen aufgegriffen, im Oktober waren es 2435 – also fast fünfmal so viele. Und die Dunkelziffer dürfte noch einmal so hoch sein, wie Augenzeugen berichten.

Auch Youssef gelingt es, die Schweizer Grenze ohne Kontrolle zu passieren. Andere haben weniger Glück.

Chiasso, 9. November. Grenzwächter steigen in den Eurocity 318 aus Mailand, der 13.58 in Chiasso ankommt. Kurze Zeit später führen sie acht junge Männer aus dem Zug; ihrem Aussehen nach stammen sie aus Afghanistan oder Nachbarstaaten. Dem Journalisten ist es nicht gestattet, mit den Grenzwächtern oder mit den Geflüchteten zu sprechen.

Diese werden zuerst in den kleinen, geschützten Warteraum auf dem Perron geführt. Wenige Minuten später verlassen sie den Bahnsteig und begeben sich, eskortiert von den Beamten, in die Räumlichkeiten der Grenzwache. Dann herrscht wieder eine gespenstische Ruhe auf dem weiten Bahnhofsareal von Chiasso.

Die meisten werden weggewiesen

Was mit den Aufgegriffenen passiert, bleibt offen. Viele von ihnen dürften bald weiter nach Norden reisen. Das geht aus zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen und Zugpersonal hervor. Diesen Schluss lassen auch die offiziellen Zahlen des Bundes zu.

Laut Staatssekretariat für Migration SEM wollten von den 2435 im Oktober Aufgegriffenen bloss 190 ein Asylgesuch stellen. Sie wurden ins Bundesasylzentrum Chiasso eingewiesen. Weitere 476 Personen wurden laut dem SEM im sogenannten «vereinfachten Verfahren» an die italienischen Behörden überstellt.

Dies bedeutet, dass die Betreffenden direkt an der Grenze den italienischen Beamten übergeben werden. 22 von ihnen waren sogenannte Dublin-Fälle; diese Personen hatten bereits ein Asylgesuch in Italien gestellt.

Dass die Schweiz relativ unbürokratisch Migranten zurückschicken kann, liegt an einem Abkommen, das die beiden Länder abgeschlossen haben. Dieses erlaubt maximal 40 Rückübernahmen pro Tag. Allerdings wurden im Oktober 2022 durchschnittlich nur etwa 16 Personen pro Tag zurückgeführt; weshalb dieses «Kontingent» nicht ausgeschöpft wurde, konnte das SEM auf Anfrage nicht schlüssig erklären.

Unter dem Strich bleiben im Oktober also 1769 Personen, die weder ein Asylgesuch stellten noch zurück nach Italien geschickt wurden. Von ihnen registrierten die Grenzwächter bloss Personalien und Fingerabdrücke. Anschliessend erliessen sie einen «Wegweisungsbescheid», was bedeutet, dass sie den Schengenraum eigentlich verlassen müssten. Es ist davon auszugehen, dass kein einziger dieser 1769 Migranten den Rückweg nach Italien angetreten hat.

Ganz im Gegenteil: Die meisten dürften unverzüglich weiter in Richtung Norden gereist sein; mit Schnell- oder Regionalzügen, viele offenbar auch mit Privatautos, die in Chiasso bereits auf sie warteten. Zugbegleiter berichten dieser Zeitung, dass sich auch in den grenzüberschreitenden Regionalzügen, Tilo genannt, stets Migranten befinden. Einmal sind es bloss zwei oder drei, manchmal eine grössere Gruppe. Vor allem am frühen Morgen und gegen Abend habe es manchmal 30 bis zu 50 Flüchtlinge auf einem Schnellzug, allerdings mit grossen Schwankungen.

Basel als Drehscheibe

Basel, 10. November, 19 Uhr 56. Ein Treno Gottardo aus Bellinzona trifft ein, acht junge Migranten steigen aus. Sie haben kein Gepäck und sind sichtlich müde. Alle halten ein Handy in den Händen. Auf der Passerelle sind ein paar Männer zu sehen, die offensichtlich weder von einem Zug kommen noch weiterreisen wollen. Sie reden pausenlos in ihr Handy; einer hält dieses ab und zu auch in die Höhe, als wollte er ein Zeichen geben.

Eine Woche später, gleicher Ort: ein weiterer Treno Gottardo. Mindestens sechs Migranten steigen aus, zwei suchen den Schnellzug nach Frankfurt. Sie sprechen tunesisches Arabisch, wirken misstrauisch und wollen nicht reden.

Zwei andere, der eine wohl noch minderjährig, sind gesprächiger. Sie stammen aus Afghanistan. Der eine will nach Deutschland, der andere nach Frankreich. Der eine will wissen, wie der Badische Bahnhof zu erreichen ist. Der andere fragt nach dem Park, in dem sich die Afghanen treffen.

Youssef hat es offenbar geschafft, unbehelligt nach Frankreich auszureisen. Er hat erfahren, dass das Tram Nr. 3 direkt zur Gare de St. Louis führt. Er ist in Frankreich.



Zwei Wege führen nach Europa

Die zentrale Mittelmeerroute und die Balkanroute sind zurzeit die zwei wichtigsten Wege, auf denen Migranten nach Europa gelangen. Die Mittelmeerroute führt von der westlibyschen Mittelmeerküste oder von Tunesien auf dem Seeweg nach Süditalien. Die Balkanroute verläuft via die Türkei und Griechenland oder Bulgarien durch verschiedene Staaten nach Ungarn und weiter in die Schweiz.

Diese Route gewann dieses Jahr an Bedeutung, weil Migranten aus Tunesien, Marokko, Burundi und weiteren Staaten visumfrei nach Belgrad fliegen konnten und sich von dort aus direkt an die serbisch-ungarische Grenze begaben. Seit kurzem gewährt Serbien Angehörigen dieser Staaten allerdings keine visumfreie Einreise mehr. Auf der Balkanroute reisen Migranten teilweise via Bregenz durch die Schweiz und weiter nach Frankreich und Deutschland, was zumindest in Deutschland für politische Verstimmung sorgte, wie diese Zeitung berichtete.

Derweil wird auch die zentrale Mittelmeerroute dieses Jahr wieder viel stärker genutzt. In Italien sind bis Mitte November rund 56 Prozent mehr Flüchtlinge angekommen als im Vorjahr. Die miserable wirtschaftliche Lage und die schlechte Stimmung in Tunesien lässt befürchten, dass irreguläre Ausreisen weiter zunehmen werden. Neu ist, dass in Italien in den vergangenen zehn Monaten Ägypten Tunesien als Herkunftsland der Migranten überholt hat.

Laut dem Staatssekretariat für Migration SEM hat die Zahl der Aufgriffe an allen Grenzposten von 18 859 (2021) auf 38 341 (bis Ende Oktober 2022) zugenommen. Dabei handelt es sich gemäss SEM hauptsächlich um Personen afghanischer und tunesischer Herkunft. (stf.)
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/migration-die-sued-nord-route-ist-weit-offen-ld.1713100)



Editorial von SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty: Darum muss Karin Keller-Sutter Asylministerin bleiben
Die Schweiz erlebt den grössten Zustrom von Flüchtenden seit dem Zweiten Weltkrieg. Es wäre eine schlechte Idee, würde Karin Keller-Sutter in dieser schwierigen Situation in ein anderes Departement wechseln.
https://www.blick.ch/meinung/kommentare/editorial-von-sonntagsblick-chefredaktor-gieri-cavelty-darum-muss-karin-keller-sutter-asylministerin-bleiben-id18068009.html


Bundesrat zeigt wenig Herz: Keine Sonderregeln für russische Kriegsdienstverweigerer
Russische Kriegsdienstverweigerer sind zu Zehntausenden auf der Flucht vor dem Ukraine-Krieg. In der Schweiz haben sie allerdings kaum Chancen, Schutz vor Putin und seinen Schergen zu erhalten.
https://www.blick.ch/politik/bundesrat-zeigt-wenig-herz-keine-sonderregeln-fuer-russische-kriegsdienstverweigerer-id18069703.html


+++MITTELMEER
Küstenwache: Vier Migranten im Mittelmeer gestorben
Mindestens vier Migranten sind im zentralen Mittelmeer ums Leben gekommen. Die Gruppe von 13 Personen war in Seenot geraten. Vier von ihnen starben beim Versuch, ein nahendes Rettungsschiff schwimmend zu erreichen, zwei werden vermisst.
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/kuestenwache-vier-migranten-im-mittelmeer-gestorben,TNieLBl


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Spontandemo in Bern: Kurden protestierten gegen türkische Luftangriffe
In der Nacht auf Sonntag trafen sich in Bern Kurden zu einer spontanen Protestkundgebung als Reaktion auf türkische Bombardierungen kurdischer Stellungen.
https://www.derbund.ch/kurden-protestierten-gegen-tuerkische-luftangriffe-737713591536
-> https://twitter.com/gegen_oben/status/1594368935574609920
-> https://www.instagram.com/p/ClMRJ0OLf1c/?igshid=MDJmNzVkMjY%3D
-> https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/demonstrationen-in-bern-148827970
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/ueber-100-kurden-demonstrieren-in-bern-wegen-angriffen-der-tuerkei-148824290


Communiqué zur Demo gegen die FIFA und die WM in Katar in Zürich 19.11.2022
Zur „Liebsch de Fuessball – Hassisch d Fifa“-Demo in Zürich
https://barrikade.info/article/5481
-> Demoaufruf: https://barrikade.info/article/5474


+++BIG BROTHER
Zur Handy-Überwachung: Katar wollte Schweizer Spionage-Technik – Bund bewilligte
Eine Appenzeller Firma plante 2014 die Lieferung von Handy-Überwachungsgeräten nach Doha. Der Bund gab grünes Licht. Glaubt man dem Hersteller, wurde die Ware nie geliefert.
https://www.blick.ch/schweiz/zur-handy-ueberwachung-katar-wollte-schweizer-spionage-technik-bund-bewilligte-id18068545.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
Aktion von Neonazis: Junge Tat hisst Transparent auf Basler Bahnhofsdach
Mitglieder der Neonazigruppe Junge Tat haben am Sonntagmittag Petarden auf dem Basler Bahnhofsdach gezündet und ein Transparent mit der Aufschrift «Kriminelle abschieben» aufgehängt.
https://www.tagesanzeiger.ch/junge-tat-hisst-transparent-auf-basler-bahnhofsdach-375070054771
-> https://www.20min.ch/story/neonazis-klettern-auf-basler-bahnhofsdach-und-zuenden-petarden-992377232576
-> https://www.blick.ch/schweiz/basel/polizeieinsatz-in-basel-neonazis-klettern-auf-dach-und-haengen-plakat-auf-id18069320.html
-> https://telebasel.ch/2022/11/20/junge-tat-klettert-auf-bahnhofgebaeude
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/39-basler-stadtlauf-8000-laeuferinnen-und-laeufer-waren-dabei?id=12289585
-> https://www.watson.ch/schweiz/basel/484047538-rechtsextreme-auf-dem-dach-des-basler-hauptbahnhofes
-> https://www.nau.ch/ort/basel/basel-vermummte-neonazis-klettern-auf-das-bahnhofsdach-66344412


„Gestern hatte die rechtsextreme Junge Tat ein Boxtraining im Kanton Bern angekündigt. Am Abend marschierten sie dann als Gruppe durch #Langenthal, wo in den letzten Wochen vermehrt Junge Tat Kleber und Hakenkreuz Schmierereien aufgetaucht sind.
Danach zog die rechtsextreme Gruppe durch Solothurn wo sie für ein Gruppenfoto vor der Kathedrale posierten. Sie klebten in den beiden Städten Sticker mit ihrem Logo, der Tyr-Rune und Aufkleber mit dem Logo von  @klimastreik und dem rassistischen Slogan „save Bees not Refugees““
(https://twitter.com/antifa_bern/status/1594384305765031936)


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Ein CDU-naher Think Tank bläst zum Kulturkampf
Gegen die da unten
Die CDU-nahe Denkfabrik R21 kaschiert ihre rechtskonservative Programmatik mit dem Kampf um Meinungsfreiheit.
https://jungle.world/artikel/2022/46/gegen-die-da-unten


+++HISTORY
Gastarbeiter-Kinder: «Das Wort ‹Bruder› hatte keine Bedeutung für mich»
Gastarbeitern war es verboten, ihre Kinder mit in die Schweiz zu nehmen. Das führte dazu, dass Tausende von den Eltern im Heimatland zurückgelassen wurden. Auch der Bruder von Carmine Andreotti. Er erzählt von einem Geschwister mit denselben Eltern, aber einem ganz anderen Leben.
https://www.beobachter.ch/gesellschaft/gastarbeiter-kinder-so-ging-es-den-familien-546658