Fratelli d’Italia an der Macht, Abschottung in der Sahelzone, Karawane des Lichts in Bewegung

Die EU blockiert Migration jetzt bereits in der Sahara und arbeitet dafür mit afrikanischen Binnenstaaten wie dem Niger zusammen.
Die EU blockiert Migration jetzt bereits in der Sahara und arbeitet dafür mit afrikanischen Binnenstaaten wie dem Niger zusammen.

Was ist neu?

Italien: Fratelli d’Italia kommt an die Macht
Giorgia Meloni dürfte Premierministerin Italiens werden.
Giorgia Meloni dürfte Premierministerin Italiens werden.

Am Sonntag wählten die italienischen Wahlberechtigten die Faschistin Giorgia Meloni an die Macht. Die wahrscheinlich erste Premierministerin Italiens ist somit keine Feministin sondern Teil der «Brüder Italiens», den Fratelli d’Italia. Die Partei gibt es seit 2012. Ihre Vorläuferpartei war die Alleanza Nazionale, welche ihrerseits 1995 aus dem Movimiento Sociale Italiano hervorging. Das Movimiento Sociale Italiano wurde 1946 von ehemaligen Funktionär*innen Mussolinis gegründet. Das Erbe und der Hintergrund der Partei sind im Vergleich zu vielen faschistischen und faschistoiden Parteien klar und deutlich.

Obwohl sich die Partei selbst nicht als faschistisch bezeichnet, weist sie viele faschistische Merkmale auf. Sie glorifiziert Italien und seine mythische Vergangenheit. Sie vertreten ein hierarchisches autoritäres Weltbild. Sie zielen auf die Dominanz einer als überlegen konstruierten Gruppe – Italiener*innen – ab. Sie kriminalisieren und bekämpfen jede Form der Abweichung. Sie setzen destruktive Propaganda-Rhetoriken ein. Es wird sich zeigen, inwiefern die Fratelli d’Italia ihre Machtposition nutzen wird, um demokratische Institutionen zu untergraben und Grundrechte abzubauen, wie z.B. von Frauen, Geflüchteten, Migrant*innen, LGBTIQ und anderen Minderheiten.

Der Faschismusbegriff hilft zu verstehen, wie klassistische, transfeindliche, heterosexistische, rassistische Angriffe zusammenhängen. Sei es auf der Strasse, in den Medien oder im Parlament – sie sind Teil einer gleichen Agenda, die gewaltförmig auf nationalistische patriarchale weisse Vorherrschaft abzielt. All dies lässt sich als Faschismus zusammenfassen und analysieren. Faschismus ist nicht Geschichte, sondern Gegenwart. Faschismus hat Konjunkturen und ist wandelbar. In Italien wird deutlich, wie Faschismus zeitgleich soziale Bewegung, Ideologie und staatliche Macht ist. Nach den USA mit Trump, den Schwedendemokrat*innen oder dem Orban-Regime in Ungarn zeigt sich: Liberale Demokratien, die sich sogar antifaschistisch verstehen, können zur Brutstätte des Faschismus verkommen. Alerta, Alerta!

https://www.deutschlandfunkkultur.de/neue-rechte-usa-weg-zum-faschismus-100.html

 

Was geht ab beim Staat?

Ständerat blockiert erneut Aufnahme von Migrant*innen von den griechischen Inseln
In der aktuellen Herbstsession hat sich der Ständerat gegen eine Aufnahme von Menschen aus den Lagern auf den griechischen Inseln ausgesprochen. Er stellt sich damit gegen das Engagement des Kantons Basel-Stadt und die Empfehlung der Staatspolitischen Kommission.
 
Die Kampagne Evakuieren Jetzt hat es gefordert, zehntausende Menschen in der Schweiz haben es gefordert, über 30 Städte haben es gefordert: Evakuiert die Menschen aus den unwürdigen griechischen Lagern. Das war bereits vor zwei Jahren. Seither ist das Lager Moria abgebrannt. Neue, gefängnisähnliche Strukturen wurden aufgebaut. Auf Lesbos steht geflüchteten Menschen der nächste Winter in Zelten bevor. Evakuiert wurde noch immer nicht – und wird auch nicht werden.
 
Der Kanton Basel-Stadt hatte in einer Standesinitiative vom Bund gefordert, Menschen aus Griechenland aufzunehmen und die Asylzentren auszulasten. Angesichts der anhaltenden menschenunwürdigen Bedingungen in den griechischen Lagern stimmte im Februar 2022 ebenfalls die Staatspolitische Kommission zu, dass der Bund in Bezug auf die Aufnahme von den griechischen Inseln dringend handeln muss. Nach dem National- lehnte nun auch der Ständerat dies ab.
 
 
 
Drei Beispiele für den institutionellen Rassismus des Berner Nothilferegimes

Im Kanton Bern müssen abgewiesene Asylsuchende unzulässige Behördenauflagen erfüllen, wenn sie statt in einem Nothilfecamp in einer anerkannten Privatunterbringung bei Freund*innen oder solidarischen Personen wohnen wollen. Personen, denen die sogenannte Privatunterbringung verweigert wird, müssen weiterhin in Nothilfecamps leben. Dort werden ihre Freiheitsrechte durch eine ebenfalls unzulässige, zwingende Anwesenheitspflicht stark eingeschränkt.

Das Rückkehrcamp Gampelen liegt ausserhalb von Gampelen – irgendwo verloren im grossen Moos.
Das Rückkehrcamp Gampelen liegt ausserhalb von Gampelen – irgendwo verloren im grossen Moos.

In der Schweiz regeln die Bundesverfassung und einige Bundesgerichtsentscheide das Recht auf Nothilfe. In Artikel 12 der Bundesverfassung verpflichtet sich der Staat zur Hilfe in Notlagen. Anspruch haben ausnahmslos alle, die auf sie angewiesen sind – unabhängig von Aufenthaltstitel. Da abgewiesene Asylsuchende nicht lohnarbeiten dürfen und von der Sozialhilfe ausgeschlossen sind, haben sie Anrecht auf Nothilfe. Die Nothilfe umfasst ein Dach über dem Kopf, die Krankenversicherung und Nothilfegeld (oder Sachleistungen) zum Überleben. Laut Bundesgericht können auch nur die 10 Franken und/oder die Krankenkasse und/oder das Dach über dem Kopf in Anspruch genommen werden (BGE 138 V 310 E. 5.3). Auflagen und Einschränkungen der Nothilfe sind nur zulässig, wenn sie dazu beitragen, (a) die Notlage zu beseitigen (vgl. Bundesgerichtsentscheid 131 I 166 E. 4.4) oder (b) zu überprüfen, ob die Notlage und die Bedürftigkeit noch besteht.

Der zuständige Regierungsrat Philippe Müller und die Migrationsbehörden im Kanton Bern schränken das Recht auf Nothilfe willentlich ein und dies auf eine juristisch unzulässig Art. Hierfür gibt es drei Beispiele:

(1) In den kantonalen Nothilfecamps herrscht eine zwingende Anwesenheitspflicht. Diese führten sie ohne Parlamentsbeschluss und ohne Gesetzesgrundlage, lediglich über eine Änderung der Nothilfeweisung ein. Ziffer 5.4 der Nothilfeweisung schreibt vor, „dass sich die Nothilfebeziehenden an sieben Tagen die Woche im RZB (=Nothilfecamp) aufhalten und dort übernachten“ müssen. Es geht also um eine Freiheitsbeschränkung, die (a) ein einschneidender Eingriff in die Menschen- und Verfassungsrechte darstellt. Beispielsweise wird das Recht auf Bewegungsfreiheit oder das Recht auf Sozialleben verletzt. (b) Dass die Freiheitsbeschränkung nur über eine Weisungsänderung eingeführt wurde ist unzulässig. Die Gewaltentrennung wurde schlicht umgangen, was gegen das sogenannte Legalitätsprinzip verstösst. (c) Auch muss gesagt werden, dass die Anwesenheitspflicht in den Nothilfecamps im Vergleich zur Privatunterbringung diskriminierend ist. Dort gilt für abgewiesene Asylsuchende keine Anwesenheitspflicht.

(2) Ziffer 5.4 derselben Nothilfeweisung sieht für Personen die in den Nothilfecamps isoliert werden die Möglichkeit vor, sie ganz von der Nothilfe auszuschliessen: „Bei Personen, die nicht im RZB übernachten, vermutet das ABEV, dass sie Leistungen Dritter beziehen und deshalb nicht bedürftig sind.“ Die davon betroffenen abgewiesenen Asylsuchenden verlieren nicht nur ihren Schlafplatz im Nothilfecamp. Sofort und ohne weitere Prüfung der Bedürftigkeit wird auch die Krankenkasse und das Nothilfegeld zum überleben eingestellt. Zudem wird die Person ebenfalls sofort als „unkontrolliert abgereist“ bzw. „untergetaucht“ gemeldet.

Dass die Prüfung der Nothilfebedürftigkeit dadurch erfolgt, dass eine Person sich ständig an einem Ort aufhalten muss, ist absurd unverhältnismässig. Es bestehen wesentlich mildere Möglichkeiten um zu Prüfen, ob die Bedürftigkeit einer abgewiesenen Person noch gegeben ist. Es ist stark pauschalisierend von einer potentiellen Übernachtungsmöglichkeit bei Dritten allgemein darauf zu schliessen, dass kein Bedarf nach einer Krankenversicherung oder nach Nothilfegeld zum Überleben besteht. Das automatische Einstellen sämtlicher Nothilfeleistungen widerspricht zudem dem Bundesgerichtsentscheid, wonach, wenn kein Bedarf vorhanden ist, nicht zwingend alle drei Nothilfeleistungen bezogen werden müssen. Wer kein Dach über dem Kopf braucht, hat bei Bedarf dennoch Anspruch auf Krankenkasse und/oder Nothilfegeld zum Überleben. Für die betroffenen Personen ist der Ausschluss schliesslich nicht nur kurzfristig sondern auch langfristig ein einschneidendes Problem. Abgewiesene Asylsuchende, die einmal als „unkontrolliert abgereist“ oder „untergetaucht“ gelten, verlieren tragischerweise die Chance auf Regularisierung durch ein Härtefallgesuch.

(3) Eine vergleichbar unzulässige Praxis wenden die Behörden auch an, wenn es darum geht eine Privatunterbringung offiziell zu gewähren. Hierfür gibt es allerlei Auflagen, z.B. dass die Abschiebung praktisch unmöglich erscheint oder dass die Person zuerst zwei Jahre im Nothilfecamp isoliert war. Die Privatunterbringung wird neuerdings auch verweigert, wenn Behörden erachten, dass abgewiesene Asylsuchende ihrer sogenannten Mitwirkungspflicht nicht genügend nachkommen. Die Mitwirkungspflicht hat an sich nichts mit dem Recht auf Nothilfe zu tun, sondern mit dem Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG). Das AIG verlangt von abgewiesenen Asylsuchenden, dass sie sich an der Beschaffung der Reisedokumente beteiligen, die ihre Abschiebung ermöglichen. Wer der Mitwirkungspflicht nicht nachkommt, kann mit Administrativhaft bestraft werden. Durch das Verweigern der Privatunterbringung haben die Berner Behörden eine Bestrafung für mangelnde Mitwirkung eingeführt, die so im AIG nicht vorgesehen ist. Auch dies ist unzulässig. Zudem muss auch hier an den Bundesgerichtsentscheid erinnert werden, der besagt, dass nicht alle drei Nothilfeleistungen gleichzeitig bezogen werden müssen und dass Auflagen nur zulässig sind, wenn sie erlauben, die Bedürftigkeit zu überwinden oder diese zu überprüfen. Das Erbringen der Nothilfeleistungen an die Mitwirkungspflicht zu koppeln ist völlig sachfremd zu Artikel 12 der Bundesverfassung.

Die drei Beispiele illustrieren, was institutioneller Rassismus bedeutet: Das bewusste kollektive Versagen staatlicher Organisationen in ihrem Auftrag, Menschen professionelle Leistungen und Angebote zu erbringen, auf die sie Anrecht hätten. Er zeigt sich in Prozessen und Abläufen, die auf eine Diskriminierung und Herabsetzung hinauslaufen.

 

Was ist aufgefallen?

Sahel-Zone: Millionen für die Abschottung, Externalisierung um jeden Preis

Voraussichtlich wird der EU-Rat ein neues Budget in Höhe von 72 Millionen Euro für die Mission EUCAP Sahel Niger (EU Capacity Building Mission) bewilligen, welche 2012 im Rahmen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU als zivile Aufbaumission gestartet und seither wiederholt verlängert wurde.

Niamey im Niger, 21. Juli 2022: Unterzeichnung des Vertrags mit dem Militäringenieurwesen zum Beginn der Bauarbeiten an der Kaserne für die neue Mobile Grenzkontrollkompanie (CMCF)
Niamey im Niger, 21. Juli 2022: Unterzeichnung des Vertrags mit dem Militäringenieurwesen zum Beginn der Bauarbeiten an der Kaserne für die neue Mobile Grenzkontrollkompanie (CMCF)

Das als Entwicklungshilfe getarnte Programm verfolgt laut der EU das Ziel, die nigrischen Sicherheitsorgane bei der Bekämpfung von Terrorismus, organisierter Kriminalität und bei der Entwicklung von Strategien, Techniken und Verfahren zur wirksamen Kontrolle und Bekämpfung der Einwanderung zu unterstützen. De Facto  kann in diesem Kontext jedoch nur jene Entwicklung gemeint sein, welche der Funktionsweise des europäischen Migrationsregimes entspricht und daher darauf abzielt, die Fluchtrouten in der Sahel Zone gänzlich zu blockieren. Indem sie mit dem Slogan “Partner. For Security. In the Sahel“ Rückschritte als Fortschritte verkauft, hilft sich die EU wie gewohnt vor allem einem, nämlich sich selbst.

Aufgrund seiner geografischen Lage als Binnenstaat spielt der Niger als Transitland für Menschen auf der Flucht eine zentrale geopolitische Rolle bei der europäischen Bekämpfung von „irregulärer“ Migration. Die Republik Niger ist ein Mitgliedsstaat der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ECOVAS (Economic Community Of West African States). Durch ihn verläuft eine der wichtigsten Handels- und Migrationsrouten, welche von den Ländern West-Afrikas und der Subsahara in Richtung Libyen führt. Ähnlich wie in der EU dürfen Bürger*Innen dieser Staaten die Grenzen passieren, ohne dabei ein Visum vorweisen zu müssen. Dies gilt zumindest in der Theorie. In der Praxis wird seit der Einführung der EUCAP Mission 2012 jede Person, welche im Begriff ist die Grenze zu passieren, kontrolliert und bei Verdacht nach Europa gelangen zu wollen inhaftiert oder zurückgeschickt.

Bis 2012 wurde dem Binnenstaat Niger aus europäischer Sicht keine relevante Aufmerksamkeit beigemessen, was sich mit der EUCAP Mission Sahel Niger, welche eine von 17 GSVP-Operationen darstellt, schlagartig änderte. Heute ist der Niger einer der wichtigsten Verhandlungspartnern der EU. Das Konzept der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), welche in Wahrheit eine Erpressungsstrategie der EU darstellt, ist laut den EU-Sicherheitsakteur*innen nötig, um den immer komplexer werdenden Bedrohungen der inneren und äusseren Sicherheit begegnen zu können.  Die Verabschiedung der EU-Globalstrategie, welche nicht überraschend im Jahr 2016 entwickelt wurde, trug zur weiteren Vertiefung der GSVP bei. Die Lektüre grenzt dabei nicht nur stellenweise an Realsatire. Auf der Webseite wird heroisch verkündet, welche Erfolge die nigrischen internen Sicherheitskräfte, die nationalen Behörden sowie nichtstaatliche Akteur*innen mit der gönnerhaften Unterstützung der EU bereits erzielt haben. Die Argumentationsweise der EU-Funktionär*innen verfolgt geradezu penetrant das Narrativ omnipräsenter Sicherheitsrisiken, welchen die zivile Bevölkerung aufgrund von Extremismus, organisierter Kriminalität, Drogen, Waffen- und Menschenhandel etc. ausgesetzt sei. Die Entwicklung des Landes sei durch die anhaltende Gewalt der Nachbarstaaten gefährdet und da der Niger nicht über die nötigen Ressourcen verfüge, um mit der Bedrohung fertig zu werden, benötige er die Unterstützung der EU. Alle diese  Bedrohungen würden ein enormes Sicherheitsrisiko für die lokale Bevölkerung und letztlich für die Stabilität in Europa darstellen. Zumindest in diesem Punkt wird das tatsächliche Ziel der Intervention benannt.

Um Migrationsströme besser zu „regulieren“ schlug die EU Kommission 2016 eine Mischung aus sogenannten positiven und negativen Anreizen vor. Die damals als neue Strategie beschworene Intervention sah vor, dass EU-Staaten, Institutionen und Drittländer enger zusammenarbeiten um diejenigen Drittländer zu belohnen, die bereit seien, effektiv mit der EU zu kooperieren. Für jene, die dies nicht täten, solle es Konsequenzen geben. Hierfür setzte die EU ihre Entwicklungs- und Handlungspolitik als Hebel ein.

Welche katastrophalen Auswirkungen dieser „Hebel“ auf die Lebensbedingungen der auf materieller Ebene besitzlosen Menschen hat, welche in diesen Staaten leben oder gezwungen sind diese zu verlassen, wird deutlich, wenn die von dieser Entwicklungspolitik konkret Betroffenen zu Wort kommen. Was im EU-Sprech als positive und negative Anreize bezeichnet wird, ist in der Realität ein und dasselbe: Ein Kampf ums nackte Überleben. Das einst blühende Transportgeschäft ist fast gänzlich zum Stillstand gekommen. Das zuvor legale Geschäft mit Migrierenden brachte Geld, jetzt steht das Geschäft als Schleusertätigkeit unter Strafe. Ein ganzer Wirtschaftszweig ist damit weggebrochen, viele Menschen sind jetzt ohne Arbeit und nicht mehr im Stande ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Von dem Geld, das ihnen versprochen wurde, sollten alternative Arbeitsmöglichkeiten geschaffen oder in Viehzucht investiert werden, doch das Geld wurde in andere Entwicklungszusammenhänge investiert. Die Folgen für Menschen  die fliehen müssen, sind nun noch verheerender. Ibrahim Manzo Diallo, Chefredakteur von Sahara FM, auf dem regelmässig über die wirtschaftlichen Folgen der EU Politik berichtet wird, sagt, die Sahara seih im Dienste Europas zu einem Friedhof unter freiem Himmel geworden. Eine sich auf der Flucht befindende Person, welche es von der Elfenbeinküste bis in den Niger geschafft hat und dort nun festsitzt, antwortet auf die Aussage der nigrischen Grenzwächter*innen, dass er in der Sahara sterben werde sollte er versuchen weiterzukommen, mit:“ Selbst wenn ich sterbe, ich habe meinen Traum“.

Über 100 internationale Expert*innen, von denen die meisten aus europäischen Sicherheitskräften und Justizbehörden stammen, sind ständig in Niamey im Einsatz und „unterstützen“ die nigrischen Behörden bei der „Stärkung des internen Sicherheitssektors“. Die operative Partnerschaft zur Bekämpfung der „Schleuserkriminalität“, bei der mittlerweile auch Frontex mitmischt, zielt wie bereits erwähnt darauf ab, die von der EU diktierten gemeinsamen Ziele zu erreichen, die im erneuerten EU-Aktionsplan zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität festgelegt sind und bis 2025 anhalten.

Dieser Aktionsplan sieht es beispielsweise vor, dass Kontrollposten an den Wasserstellen in der Sahara stationiert werden. Konsequenterweise werden diese von den „Schleppern“ umfahren. Aufgrund der zunehmenden Militarisierung der Sahara werden Flüchtende von Menschenschmugglern aus Angst vor Festnahmen und Strafverfolgung immer wieder in der Wüste zurückgelassen, wo sie elend verdursten. Seit die EU den Druck auf nordafrikanische Staaten 2016 erhöhte um Schutzsuchende von der Flucht nach Europa abzuhalten, sind nicht nur Flüchtende, welche sich selbst auf den Weg Richtung Norden machen, gefährdet. Auch das algerische Militär führt Massenabschiebungen durch, bei welchen tausende Menschen in der nigrischen Wüste ohne Wasser oder Nahrung ausgesetzt werden. Recherchen zufolge sterben weit mehr mehr Menschen auf der Flucht in der Sahara, als auf dem Mittelmeer.

Am 06. September wurden 847 Personen aus Subsahara-Afrika von Algerien in den Niger abgeschoben. Am 17. September kamen erneut 696 Personen zu Fuss in Assamaka an, der ersten nigrischen Stadt hinter der Grenze zu Algerien. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) spricht von durchschnittlich 2’000 Personen pro Monat, die diese „unmenschliche Behandlung“ erfahren und von Algerien, das keine Asylgesetzgebung kennt, oder von Libyen aus in den benachbarten Niger zurückgeschickt werden.

Konfrontiert mit dieser durch sie hervorgerufenen Realität antworten die Verantwortlichen entweder gar nicht, oder sie wiederholen das koloniale Märchen in welchem der weisse europäische Held den armen, rückständigen Schwarzen Menschen zur (Entwicklungs-)Hilfe eilt: “Diese neue Partnerschaft wird dazu beitragen, Leben zu retten, das Geschäftsmodell krimineller Netzwerke zu untergraben, die Ausbeutung von Migranten zu verhindern und ihre Grundrechte zu schützen (…).“

„Vertrauenswürdige Partner, Zusammenarbeit, gemeinsamer Kampf, Beziehungen stärken, gemeinsame Bedürfnisse“, das begriffliche Hervorheben der Gemeinsamkeiten vermag nicht zu beschönigen, dass das genaue Gegenteil der Fall ist. Das europäische Erfolgsrezept, welches Regierungen dafür bezahlt, Menschen auf der Flucht bereits weit vor den Grenzen Europas daran zu hindern, in der EU Asyl zu beantragen, entspricht reiner Interessenspolitik. Um die Interessen der EU durchzusetzten werden Präsidenten, welche sich gerade noch des Völkermordes schuldig gemacht haben, plötzlich zu vertrauenswürdigen Partnern. So geschehen 2016, als die EU einen Deal mit dem Sudan vereinbarte, obwohl das Land aus Gründen von massiven Menschenrechtsverletzungen kurz zuvor noch mit Sanktionen belegt war. Aus geheimen EU Dokumenten geht das Ziel klar hervor, welches offenbar eine solch enorm hohe Bedeutung hat, dass jegliche europäischen Werte moralischer, rechtlicher oder ökonomischer Art missachtet werden: Die Weiterbewegung nach Europa zu reduzieren. Angefügt wird noch, dass die EU „das hohe Risiko der Rufschädigung gut abwägen sollte“. Dies scheint  die einzige Sorge der EU im „gemeinsamen Kamp“ gegen die Bedrohung zu sein, welche in Wirklichkeit sie selbst ist. Indem die EU kontinuierlich ihre eigenen Gesetze bricht, wird die Rechtsstaatlichkeit, welche ein Teil der argumentativen Basis für die Legitimation der weissen Vorherrschaft darstellt, erneut jeglichen Inhaltes entleert. Was bleibt ist eine leere Hülle der Genfer Flüchtlingskonvention und ein anhaltender neokolonialer Krieg, in welchem die EU gegen People of Color kämpft. An den Fluchtursachen, welche sie zu bekämpfen vorgibt, ist die ausbeuterische Politik der EU nicht nur am Rande, sondern grundlegend beteiligt.

Get angry, get organized.

Lektüreempfehlung zum Thema: Christian Jakob, Simone Schlindwein, Berlin 2017: Diktatoren als Türsteher Europas. Wie die EU ihre Grenzen nach Afrika verlagert.

 

Cowboy und Indianer: Wie Medien bewusst die Realität verzerren

In den letzten Monaten ist es im deutschsprachigen Raum zu diversen kleinen und grossen Medienereignissen gekommen, die sich um die Themen kulturelle Aneignung, rassistische Stereotypen und diskriminierungsfreie Sprache drehen. Oder wie es die (rechts-) bürgerlichen Medien in feinsten Anglizismen runtergebrochen haben: Um eine woke generation und ihre cancel culture. Die öffentliche Debatte ist dabei vor allem im Internet mittlerweile völlig ausser Kontrolle geraten.

Ursprung und Auslöser des durch die BILD inszenierten anti-woken shitstorms: Das Begleitbuch zum neuen Film
“Auslöser” des durch die BILD inszenierten anti-woken shitstorms: Das Begleitbuch zum neuen Film “Der junge Häuptling Winnetou”.

Dreadlocks, Winnetou, Cowboy-Glace, Sprachleitfäden: Die Anlässe und Gegenstände der (Nicht-) Ereignisse sind divers. Allen gemein ist, dass sie Teil einer Debatte sind, welche sich längst nicht mehr nur um Rassismus und Meinungsfreiheit dreht. Sondern bei der demokratische Grundprinzipien missachtet werden und sich immer mehr die Frage stellt: Hat unsere Gesellschaft überhaupt noch einen minimalen Grundkonsens, auf den wir uns bei der Betrachtung der Welt verständigen können? Eine Datenanalyse aus Deutschland zur Winnetou-Debatte und ein Artikel auf 20minuten.ch zur Design-Änderung einer Glace-Verpackung bei der Migros zeigen beispielhaft, wie ein durch einzelne Medien gesteuertes Narrativ die politische Wahrnehmung einer ganzen Gesellschaft verzerren kann.

Der Ursprung des «woken shitstorms», wie es unter anderem die BILD nannte, war der Entscheid des Ravensburger Verlages, das Fanbuch zum neuen Film «Der junge Häuptling Winnetou» vom Markt zu nehmen. Der angebliche Skandal welcher darauf entbrannte, gipfelte in der Forderung, dass der Bundeskanzler höchstpersönlich sich für den Erhalt der Winnetou-Filme und -Bücher einsetzen müsse. Auf scompler.com findet sich eine gute Chronologie der Ereignisse rund um das totale Medienversagen in der Winnetou-Debatte. Das gleiche Portal hat nun auch eine Datenanalyse erstellt, welche zeigt, dass die BILD aktiv eine völlig falsche und den Fakten widersprechende Erzählung in Gang brachte und bewusst einen «anti-woken Shitstorm» erzeugte. Dieses Verhalten des Boulevard-Journalismus ist leider nichts neues. Wirklich besorgniserregend ist aber die Tatsache, wie stark die öffentliche Meinungsbildung von solchen Desinformationen mittlerweile beeinflusst wird. Und dass dabei die Grundfrage, wie wir die Interessen von Minderheiten schützen, komplett verloren geht.

Ein zweites aktuelles Beispiel für die komplette Verkehrung der Problemstellung ist ein Artikel auf 20minuten.ch über das neue Design einer Glace-Verpackung der Migros. Hier sind wir mittlerweile schon soweit, dass ein Nicht-Ereignis so interpretiert wird, dass Menschen sich ihrer Meinungsfreiheit beraubt sehen. Obwohl es zuvor gar keine öffentliche Empörung über die stereotpischen Abbildungen auf der alten Verpackung gab. Aus medientheoretischer Sicht ist der Vorfall spannend, aus aktivistischer Sicht weiss mensch gar nicht mehr wo er ansetzen soll. Die Migros hat aus rein marketingtechnischen Überlegung und kommerziellen Interessen im Sommer 2021 die Verpackung eines Produktes so angepasst, dass sie besser mit dem Namen übereinstimmt und besser zur Zielgruppe passt. Bewusst, oder viel wahrscheinlicher unbewusst, wurden mit dem neuen Design tatsächlich einige diskriminierende Stereotypen entfernt. Doch ein findiger «Newsscout» und seine Community sind über ein Jahr später offensichtlich schon so paranoid, dass sie damit Meinungsfreiheit samt der ganzen abendländischen Kultur bedroht sehen. Es ist sprachlich ganz passend, dass es keine «Leserreporter*innen» sondern «News-Scouts» sind, welche mittlerweile für den Content auf 20minuten und co. sorgen. Neuigkeiten müssen also wie Nachwuchstalente im Sport schon aktiv «gescoutet» werden, damit diese Medien etwas zu berichten haben.

Es war ursprünglich nicht geplant, dass dieser Artikel eine sarkastische Note erhält. Nur wird es teilweise echt schwierig, die zentralen Punkte in Fragen von Diskriminierung, stereotypischen Darstellungen und kultureller Aneignung zu behandeln, wenn davor immer um die angeblich nicht mehr vorhandene Meinungsfreiheit diskutiert werden muss. Sind sich diese Menschen eigentlich bewusst, dass all ihre User-Kommentare, Forumbeiträge, Instagram-Posts, Tweets und Demo-Parolen gerade existieren können, weil die Meinungsfreiheit eben zu grossen Teilen noch existiert? Und dass sie in diesem Lande besonders für weisse Menschen mit Schweizer Pass existiert und in der Praxis jene am meisten Raum erhalten, welche am wenigsten von struktureller Diskriminierung betroffen sind? Wahrscheinlich nicht. Oder wie es der deutsche Kabarettist Moritz Neumeier pointiert formulierte: Wenn sich jemensch als Baum identifizieren möchte, lass ihn doch. Niemand zwingt dich ihn zu giessen.

https://www.20min.ch/story/wie-weit-geht-das-noch-migros-entfernt-mexikaner-von-glace-bild-424822217219
https://www.20min.ch/story/wir-machen-unsere-kultur-durch-unsere-ueberkorrektheit-kaputt-320379406945
https://scompler.com/winnetou-umfrage/
https://scompler.com/winnetou
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/kritik-an-sprachpolizei-an-der-zhaw-148059275

 

Normalisierung von Push-Backs an der deutsch-polnischen Grenze

Offizielle Zahlen sprechen von 46 rechtswidrigen Push-Backs von Deutschland nach Polen in der ersten Hälfte 2022 – ohne Folgen für die zuständigen Grenzbeamt*innen. Und die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher sein.

„Die Verweigerung des Zugangs zu Asyl und Rückführungen ohne Wahrung der individuellen Schutzrechte“ breite sich auf „alarmierende Weise“ in Europa aus, das hatte die Menschenrechtskommissarin des ­Europarats, Dunja Mijatović, letzten Herbst ganz richtig erkannt – mal abgesehen davon, was man vom Europarat selbst als politischem Instrument halten will. Tatsächlich hat sich die Praxis von illegalen und brutalen Push-Backs an fast allen europäischen (Aussen-) Grenzen etabliert. So auch an der Grenze zwischen Deutschland und Polen, an der in der ersten Hälfte diesen Jahres bereits 46 Menschen dieser rechtswidrigen Praxis zum Opfer fielen, wie die Bundestagsantwort auf eine Anfrage der Linken-Abgeordneten Clara Bünger lautete. Demnach waren von den 46 Zurückweisungen bis Juli unter anderem 27 Staatsangehörige aus Georgien, Moldau, Afghanistan, Syrien und aus dem Jemen betroffen. Das sind nicht nur mehr als doppelt so viele wie letztes Jahr, sondern das Innenministerium behauptet auch noch, die „bundespolizeiliche Praxis steht mit der Rechtslage in Übereinstimmung“.

Was aber steckt hinter diesen Aussagen? Grobe Fahrlässigkeit aufgrund gefährlichen Halbwissens? Politische Strategie, um den Diskurs weiter nach rechts zu verschieben? Eine blosse Behauptung und bewusste Verbreitung von Fake News, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen? Oder gibt es an der deutsch-polnischen Grenze tatsächlich ein rechtliches Niemandsland, wie ein solches an der polnisch-belarussischen Grenze eingeführt wurde? Zwar vom EuGH als rechtswidrig erklärt, aber munter weitergeführt? Denn wo ansetzen, wenn weder ein umfassender öffentlicher Aufschrei folgt, noch die Rüge von Behörden als Druckmittel wirkt? Als hätten solche jemals gewirkt… Oder, wenn zwar ein öffentlicher Aufschrei folgt, aber besagte Behörden oder Regierungen nichts unternehmen? Also wenn es letztlich niemanden interessiert, ausser die Menschen, welche die Gewalt am eigenen Leib erfahren und einige Gruppierungen von Aktivist*innen? Wenn die Schicksale und das Leiden der Menschen und das Fehlverhalten der Behörden unsichtbar gemacht werden?

Hinzu kommt die Tatsache, dass dies nur die gemeldeten und von den Behörden preisgegebenen Fälle sind, in denen Menschen ohne Asylverfahren wieder zurück nach Polen gedrängt wurden. Die Dunkelziffer dürfte noch viel höher sein. Und auch an der deutsch-tschechischen Grenze werden Menschen ohne Asylverfahren zurückgedrängt. Die grundlegende Missachtung der Menschenrechte wird unterdessen kaum noch dementiert, sie schockiert nicht mehr. Mittlerweile sollen sogar rechtliche Verankerungen dafür gefunden werden:
Wo soll das alles noch hinführen? Wir dürfen die Normalisierung von Menschenrechtsverletzungen nicht hinnehmen! Behaltet die beunruhigenden Entwicklungen im Auge und macht weiter darauf aufmerksam!

https://taz.de/Pushbacks-an-deutsch-polnischer-Grenze/!5879831/

„Everyhwere we go, they do us harm!“: Studie zu Gewalterfahrungen von Kindern auf der Flucht veröffentlicht

48 Kinder zwischen 13 und 19 Jahren, die sich zurzeit in Bosnien und Serbien auf der Durchreise befinden, wurden von der Organisation Save the Children zu Gewalterfahrungen auf ihrer Flucht befragt. Die Ergebnisse sind erschreckend, wenn auch leider wenig überraschend: Alle waren bereits verschiedenen Formen von Gewalt ausgesetzt, sowohl in ihren Herkunftsländern, als auch in Transitländern.

Save the Children Kampagne

Hierzu zählen körperliche und sexualisierte Gewalt, psychische Gewalt wie Drohungen und Erniedrigungen, sowie Kinderarbeit, z.B. in türkischen Fabriken, in der griechischen Landwirtschaft oder, wenn sie Schmuggler*innen assistieren. Diese Gewalt wurde vor allem von Grenzbeamt*innen und Schmuggler*innen ausgeübt, aber auch von Menschen aus der Lokalbevölkerung.
Als psychischen Schutzmechanismus hätten die Kinder die ständigen Gewalterfahrungen zumeist normalisiert. Da es keine legalen Fluchtwege gibt, sind Menschen auf die Dienste von Schmuggler*innen angewiesen und der Gewalt von Grenzbeamt*innen ausgeliefert und gerade Kinder sind besonders vulnerabel.
Die Gesetze, die auf Abschottung setzen und die Menschen auf der Flucht an den Grenzen illegalisieren, geben sowohl Schmuggler*innen als auch Grenzbeamt*innen Macht über die flüchtenden Menschen.
So fordert die Organisation Save the Children, die die Studie durchgeführt hat, vor allem eins: legale Fluchtwege!
https://rabe.ch/2022/09/20/alle-kinder-gaben-an-gewalt-erfahren-zu-haben/

 

Was schreiben andere?

Polizei Bern führt Bodycams definitiv ein

Nach einem einjährigen Pilotversuch übernimmt die Berner Polizei den Einsatz von Bodycams in den regulären Betrieb, in welchem die Polizist*innen diese nutzen “können”. Auch in anderen Kantonen sowie bei der SBB-Transportpolizei ist das in Planung oder bereits Praxis. netzpolitik.org fordert dazu: “Bodycams richtig einsetzen – oder abschaffen”, denn: “Polizeiliches Fehlverhalten zeichnen Bodycams nur selten auf. Im Gegenteil verstärken sie einseitig das Machtgefälle zwischen Polizei und Bürgerschaft. Wenn also schon Bodycams eingesetzt werden, dann bitte auch zur Kontrolle der Polizei.”

Ein Beitrag von netzpolitik.org

Wenn es drauf ankommt, sind sie meistens aus: Bodycams bei der Polizei.
Wenn es drauf ankommt, sind sie meistens aus: Bodycams bei der Polizei.
“Seit einigen Jahren halten Bodycams bei der Polizei in Deutschland Einzug. Die großen Polizeigewerkschaften begrüßen das, aber bitte nur als Instrument zum Schutz der Polizei. Die Kamera am Revers soll dem Bürger zeigen, dass er gleich aufgenommen werden könnte. Das soll angeblich deeskalierend wirken – und im Zweifel Beweismaterial liefern. Dabei könnten Bodycams eigentlich auch den Bürger:innen helfen, gegen Fehlverhalten von Polizist:innen vorzugehen. Doch in der polizeilichen Praxis sind die Kameras bei umstrittenen Einsätzen auffallend häufig ausgeschaltet.
In Dortmund erschoss die Polizei vergangene Woche einen psychisch kranken Jugendlichen. In einer internen Mitteilung erklärte das Polizeipräsidium Dortmund nun, dass keine:r der zwölf beteiligten Polizist:innen in der Situation die Bodycam angeschaltet hatte.
Bei einem Einsatz in Frankfurt 2020 ist angeblich der Akku leer gegangen. Später soll ein Polizist auf einen Festgenommenen eingetreten haben, was nur von einem Bürger aufgezeichnet wurde. Nach einer Polizeikontrolle in Mannheim starb ein Mann. Auch hier waren die Bodycams ausgeschaltet.
„Einseitige Drohkulisse“
„Aktuell stellt die Bodycam eine einseitige Drohkulisse dar, da sie ausschließlich zulasten von Bürgerinnen und Bürgern eingesetzt wird, unabhängig davon, ob sich die Polizei rechtswidrig verhält oder nicht“, schreiben die Polizeiexperten Hartmut Aden und Jan Fährmann. Schon bei der Einführung der Bodycams in den Bundesländern gab es Kritik an der Art und Weise und den gesetzlichen Regelungen – die sich nun immer wieder bestätigt.
Die wichtigste Frage bei Bodycams ist: Wer entscheidet, was wann gefilmt wird? Und wer darf wie darauf zugreifen?
Bürgerrechtsorganisationen in den USA hatten im Jahr 2015 gefordert, dass die überwiegende „Mehrheit der Interaktionen mit der Öffentlichkeit – einschließlich aller Fälle, in denen Gewalt angewendet wird – auf Video aufgezeichnet werden“ solle. Die Verpflichtung zum Aufzeichnen müsse laut der Organisationen disziplinarrechtlich streng verankert sein, damit die Polizist:innen sich auch an die Regeln hielten.
Wer kontrolliert die Kamera?
Auch für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International ist zentral, wann die Kamera ein- oder ausgeschaltet ist. Dabei gibt es ein Dilemma: Aus Datenschutzgründen könne die Bodycam nicht permanent laufen, gleichzeitig könnten auch strenge Dienstvorschriften nicht davor schützen, dass die Kamera in manchen Situationen ausgeschaltet bleibt oder zu spät eingeschaltet wird. Deswegen schlägt Amnesty vor, „dass auch auf Verlangen von kontrollierten Personen oder Dritten die Kamera eingeschaltet wird.“ Dadurch sei es möglich, auch im Nachhinein eine polizeiliche Handlung überprüfen zu können.
Andere Stimmen fordern, dass die Kameras einfach immer laufen sollen und dafür der Zugriff auf diese Daten streng reglementiert sein müsse. Auch andere Berufsgruppen wie Pilot:innen oder Angestellte im Supermarkt würden permanent überwacht. Sie müssten dies hinnehmen, ohne dass sie wie die Polizei auch Gewalt gegen Bürger:innen einsetzen dürften. Das schreibt beispielsweise Frida Thurm in der Zeit.
In Deutschland liegt die Kontrolle über Kamera und Material bei der Polizei. Doch solange die Polizei entscheidet, ob sie filmt und speichert, fördern Bodycams die Allgegenwart von Überwachung und erhöhen das Machtgefälle zwischen Polizei und Bürgerschaft.
Überwachung in beide Richtungen
Wenn wir also durch die Akzeptanz der Bodycam ein Mehr an Überwachung hinnehmen, dann muss die Überwachung zum Ausgleich in beide Richtungen verlaufen und so ein Mehr an Kontrolle des Staates liefern. Sie muss Transparenz und Nachprüfbarkeit herstellen sowie bei rechtswidrigen Handlungen von Polizist:innen bei der Aufklärung helfen. 
Um das zu erreichen, ist wichtig, dass die Videos nicht unbemerkt manipuliert werden können. Amnesty schlägt deswegen vor, dass dafür nicht eine übergeordnete Polizeistelle das Material sichtet, bewertet und über die (fristgerechte) Löschung entscheidet, sondern eine unabhängige Kontroll-Kommission.
Während in den USA die Einführung von Bodycams von bürgerrechtlicher Seite anfänglich als große Chance gegen Polizeigewalt gesehen wurde, kehrt nun nach ein paar Jahren wieder Ernüchterung ein. Eine Überblicksstudie kam zum Ergebnis, dass Bodycams den Einsatz von polizeilicher Gewalt nicht statistisch nennenswert beeinflussen. Gleichzeitig wurde das Material von Staatsanwälten nur selten genutzt, um gegen polizeiliches Fehlerverhalten vorzugehen. Dafür aber häufig als Beweis gegen Bürger:innen.
Die ACLU Washington kommt deshalb zum Schluss, dass Polizeigewalt nicht durch den Kauf von mehr Technik und durch mehr Ressourcen für die Polizei weniger würde, sondern indem das Geld für andere nicht-polizeiliche Maßnahmen ausgegeben würde, die mehr Sicherheit schaffen.
Schieflage in Deutschland
Bodycams in Deutschland sind derzeit eine reine Stärkung der Polizei – ohne die demokratische Kontrolle zu erweitern oder zu verbessern. Und die Kameras entwickeln sich zur Standardausrüstung. Damit verstärkt sich die Asymmetrie zwischen Bürger:innen und Ordnungskräften. Denn wenn sie selbst von Umstehenden mit Smartphones gefilmt werden, gehen Polizist:innen oft hart dagegen vor. Dabei ist eindeutig: Film- und Tonaufnahmen von polizeilichen Einsätzen im öffentlichen Raum sind grundsätzlich erlaubt.
Wir sollten uns also entscheiden: Entweder wir machen die Bodycam zu einem Instrument, das auch die Träger:innen des Gewaltmonopols kontrolliert – oder wir schaffen sie wieder ab, weil sie das Machtgefälle zwischen Polizei und Bürger:innen sowie das Ausmaß an Überwachung unverhältnismäßig erhöhen.”
 

Was nun?

Jetzt Menschen im polnisch-belarussischen Grenzgebiet unterstützen
In den Grenzwäldern zwischen Belarus und Polen benötigen Menschen auf ihrer Reise Ausrüstung um ihr Weiterkommen einigermassen warm und sicher gestalten zu können. Solidaritätsstrukturen in Polen fragen nach Geldspenden: Mit 75 Fr. / 375 Złoty ermöglichst du einer Person trockene Kleidung und Regenschutz für die Weiterreise. Auch Smartphones und Powerbanks oder Geld für diese werden benötigt.
Geldspenden via Crowdfunding an Grupa Granica: https://zrzutka.pl/en/j5z5aa/wplac.Sachspenden können jeden Mittwochnachmittag ab 15 Uhr im Rahmen des Deutschcafe im Räzel, Horwerstrasse 14, Luzern, abgegeben werden.

Wo gabs Widerstand?

Bis zu 100’000 Menschen versammeln sich als „Karawane des Lichts“ an türkisch-griechischer Grenze

Sie sind aus Syrien in die Türkei geflohen und versammeln sich nun unter dem Namen „Karawane des Lichts“, um gemeinsam und im Schutz einer grossen Gruppe in die EU einzureisen. Sie setzen hiermit ein politisches Zeichen gegen das regressive und repressive Migrationsregime der EU.

Der Zaun entlang der griechisch-türkischen Grenze.
Der Zaun entlang der griechisch-türkischen Grenze.

Sie fliehen vor dem latenten Rassismus gegen die 3.5 Millionen Syrer*innen, die seit 2011 in der Türkei Zuflucht gesucht haben, vor den zunehmenden Spannungen und der Gewalt:
1. Seit Anfang des Jahres kam es wiederholt zu rassistischen Attacken: Die 70-jährige Leyla Mohammed wurde im Mai ins Gesicht getreten. Der 18-jährige Faris Mohammed al-Ali wurde Anfang September bei einem rassistischen Angriff in Antakya getötet. Und es ist davon auszugehen, dass sich viele Menschen, die rassistische Übergriffe erfahren, nicht bei den Behörden melden.
2. Erdogan und die Opposition instrumentalisieren den vorherrschenden Rassismus in ihren Wahlversprechen, den Anteil der syrischen Bevölkerung in der Türkei zu reduzieren.
3. Immer wieder kommt es zu Deportationen. Anfang des Jahres wurden 150 Syrer*innen zwangsweise abgeschoben. Und die Pläne zur Umsiedlung von einer Million Syrer*innen aus der Türkei in den Nordosten Syriens nehmen immer mehr Form an.

Einer der Teilnehmenden der Karawane, Khairu, ein 22-jähriger Ingenieur aus Homs, fasste zusammen: “Es gibt keine Zukunft für mich und jeden Syrer hier“, er befürchte eine plötzliche Ermordung oder eine barbarische Abschiebung. Er fügt hinzu, er wolle “ohne Angst vor dem Morgen leben, denn die Angst vor dem Morgen ist ein sehr langsamer Tod“. Die Organisator*innen der Karawane erwarten etwa 100’000 Menschen. In der Stadt Edirne im Nordwesten der Türkei nahe der Grenze zu Griechenland wollen sie sich sammeln, um gemeinsam Richtung EU aufzubrechen. Die Organisator*innen forderten die UNO auf, die syrischen Geflüchteten vor “allen Formen von physischem, psychologischem und politischem Missbrauch” zu schützen. Doch es ist fragwürdig, ob die griechischen Grenzbeamt*innen entgegenkommend auf die Karawane reagieren werden und die UNO ihnen Schutz gewährleisten wird.
https://www.theguardian.com/global-development/2022/sep/21/syrian-refugees-mass-in-convoy-on-turkish-border-to-walk-into-greece


Pro Asyl fordert Einstellung des Verfahrens gegen #ElHiblu3

Am Donnerstag fand ein weiterer Prozesstag des Verfahrens gegen die sogenannten El Hiblu 3 statt. Ein weiterer Tag, der keine neuen Erkenntnisse brachte und das Verfahren wie eine Farce erscheinen lässt.

Zwei der drei angeklagten Männer waren bei der Prozesseröffnung noch minderjährig.
Zwei der drei angeklagten Männer waren bei der Prozesseröffnung noch minderjährig.

Am 26. März 2019 rettet der Frachter ‚El Hiblu 1‘ 108 Personen von einem Schlauchboot in Seenot im zentralen Mittelmeer. Das Schiff nimmt Kurs auf Libyen, von wo aus die geretteten Personen gestartet waren, angeblich auf Weisung europäischer Behörden. Daraufhin brechen Proteste aus. Drei Jugendliche aus Guinea und der Elfenbeinküste im Alter von 15, 16 und 19 Jahren vermitteln zwischen der Crew der ‚El Hiblu 1‘ und den Personen, die zurück nach Libyen geschleppt werden sollen. Und schliesslich bringt das Schiff sie nach Malta. Doch dort wird ihr Widerstand als terroristischer Akt gewertet und den drei jungen Männern drohen bis zu 30 Jahre Haft. Sie werden bei der Ankunft verhaftet und zunächst für 7 Monate inhaftiert. Zwar sind sie seit 2020 auf Kaution frei, doch werden sie immer wieder verhört und dürfen wegen des laufendes Verfahrens das Land nicht verlassen. Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung von Pro Asyl, erklärte: “Es ist grotesk, dass Schutzsuchende vor europäischen Gerichten zu drakonischen Haftstrafen verurteilt werden, weil sie das Recht auf Asyl einfordern und sich nicht widerstandslos in die Folterlager Libyens zurückschicken lassen. Sich einer illegalen Abschiebung nach Libyen zu widersetzen, ist kein Verbrechen.“
http://www.infomigrants.net/en/post/43400/renewed-calls-for-release-of-el-hiblu-3

Demonstration in Gedenken an Jina/Mahsa Amini und gegen das iranische Mullah-Regime

Ein Beitrag des Migrant Solidarity Network

Protestierende vor der iranischen Botschaft.
Protestierende vor der iranischen Botschaft.
Vor der iranischen Botschaft in Bern und in Zürich fanden Demonstrationen statt, um an Jina/ Mahsa Amini zu gedenken und das Mullah-Regime zu verurteilen. Der Mord an Jina/ Mahsa Amini war ein staatlicher Femizid – ausgeübt durch die Polizei. Es ist ein Mord unter vielen, angeordnet vom iranischen Mullah-Regime mit seinen menschenfeindlichen Scharia-Gesetzen. Mindestens 400 Menschen liessen die Mullahs allein dieses Jahr hinrichten. Dazu kommt die grosse Dunkelziffer, der zu Tode Gefolterten, Verschleppten und bei Protesten Ermordeten.
Die offizielle Schweiz bekämpft das Mullah-Regime nicht. Im Gegenteil – die wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Verflechtungen sind extrem eng.

 

  • Auf diplomatischer Ebene vertreten schweizer Diplomat*innen die Interessen der USA. Diese haben aufgrund der imperialistischen Interessenskonflikte im Iran keine Botschaft.
  • Auf politischer Ebene trifft sich Bundesrat Cassis gerne lächelnd mit Vertreter*innen des Regimes, nicht um die Menschenrechtslage zu kritisieren, sondern um wirtschaftliche Deals einzufädeln.
  • Auch im Umgang mit Geflüchteten aus dem Iran zeigt sich, wem gegenüber sich die offizielle Schweiz verpflichtet fühlt. Iranische Systemkritiker*innen und Widerstandskämpfer*innen, die vor dem Regime flüchten, erhalten in der Schweiz selten Asyl. Nach den negativen Asylentscheidungen erhalten sie nicht einmal eine vorläufige Aufnahme, wie dies für bei Staatsangehörigen anderer Unrechtsregimes – wie Afghanistan – der Fall ist. Viele iranische Aktivist*innen befinden sich jahrelang in der Nothilfe, werden isoliert und zermürbt. Rise in Power Jina/ Mahsa Amini!

    Der Name Jina/ Mahsa Amini soll um die Welt gehen. Stärken wir die Solidarität mit allen freiheitsliebenden Menschen im Iran und allen, die aufgrund des Mullah-Regimes im Exil leben. Stärken wir den Widerstand gegen das Mullah-Regime – innerhalb und ausserhalb des Irans.

  • #SayTheirNames #Mahsa_Amini
  • #MullahsCiao – Bringen wir Regime zu Fall.
  • Mindestens eine vorläufige Aufnahme (Ausweis F) für alle Geflüchteten aus dem Iran.
  • Keine Abschiebungen in den Iran.

https://migrant-solidarity-network.ch/2022/09/24/mullahsciao-demonstration-in-gedenken-an-jina-mahsa-amini-und-gegen-das-iranische-mullah-regime/

 

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

«Lassen Sie sich nicht einschüchtern!»
Früher hat Richter Roger Harris Klimaaktivisten verurteilt. Heute spricht er sie konsequent frei. Sonst würden bald alle friedlichen Demonstranten verfolgt, befürchtet er.
https://www.republik.ch/2022/09/21/am-gericht-lassen-sie-sich-nicht-einschuechtern

Die Nazis waren Hyperkapitalisten
Konservative und Liberale behaupten immer wieder, die Nazis seien Sozialisten gewesen. Wie die Wirtschaftspolitik der Nazis wirklich aussah, erläutert der Historiker Ishay Landa im JACOBIN-Interview.
https://jacobin.de/artikel/die-nazis-waren-hyperkapitalisten-ishay-landa-interview-faschismus-wirtschaftsliberalismus/

Sans-Papiers : Regularisiert und verfolgt
Wer lange als Sans-Papiers in der Schweiz lebt, kann einen regulären Aufenthaltsstatus beantragen – riskiert aber gleichzeitig eine Strafe. Ein Fall aus der Schweiz könnte nun am Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg für ganz Europa Präzedenz schaffen.
https://www.woz.ch/2238/sans-papiers/sans-papiers-regularisiert-und-verfolgt/%21CVBN2H3JW7KY

Schwarze Selbstorganisation in Deutschland – Karen Taylor
Karen Taylors Vortrag war Teil der Konferenz «Black Europe: Die Anfänge Schwarzer Selbstorganisation in Europa». Veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland e.V. vom 10. bis 12. Juni 2022 in Berlin. Längst haben sich in den meisten europäischen Metropolen Schwarze bzw. afro-europäische Communities etabliert. Ihre Wurzeln reichen oftmals Jahrzehnte, manchmal gar Jahrhunderte zurück. Die Präsenz von Menschen, deren Vorfahren zumindest teilweise afrikanischer Herkunft waren oder sind, ist ein Teil unserer Geschichte und Gegenwart.
https://www.youtube.com/watch?v=W_AiK00ZwdE
 
Armut ist kein Verbrechen
Seit 26 Jahren lebt Mudza E. in der Schweiz. Jetzt droht Kongolesin die Ausschaffung, einzig und allein, weil sie Schulden hat und auf Sozialhilfe angewiesen ist. Das Schicksal von Mudza E. sorgte kürzlich im Kanton Baselland für Schlagzeilen – Ein Einzelfall ist Mudza E. nicht.
https://rabe.ch/2022/09/20/armut-ist-kein-verbrechen/
 
Alleged sex abuse by aid workers unchecked for years in UN-run South Sudan camp
Accounts of sexual abuse by aid workers at a UN-run camp in South Sudan first surfaced in 2015, two years after the civil war erupted. Seven years on, such reports not only continue but have recently increased, an investigation by The New Humanitarian and Al Jazeera found.
https://www.thenewhumanitarian.org/investigation/2022/09/22/sexual-abuse-sexual-exploitation-aid-workers-UN