Rassistischer Mord in Frankreich, Vermehrt Ausschaffungen nach Algerien, “Kämpfe verbinden!” bei feministischen Streiktag in der Schweiz

 Was ist neu?

Rassistischer Polizeimord in Nizza

Ein 35-Jähriger Ägypter wurde am Abend des 15. Juni von einem französischen Polizeibeamten ermordet. Er befand sich mit vier anderen Menschen on the Move in einem Kühlwagen, welcher eine Grenzkontrolle zwischen Italien und Frankreich durchfahren hatte.

Bild: Um nach Frankreich zu gelangen, reisen Migrant*innen oft durch die kleine französische Stadt Sospel, nicht weit von der italienischen Grenze entfernt.

Nahe des Dorfs Sospels in Frankreich versuchten französische Polizeibeamt*innen daraufhin, den Van zu stoppen. Als der Fahrer nicht anhielt, eröffnete einer der Beamten das Feuer. Vier Mal schoss er auf den Wagen, zwei Kugeln trafen, eine davon den 35-Jährigen im Kopf. Einen Tag später verstarb dieser an den Folgen der Kopfverletzung im Krankenhaus. Die anderen Menschen im Van blieben unverletzt. Der Wagen wurde letztlich führerlos im Distrikt Moulins in Nizza gefunden.
Der Polizist wurde wegen fahrlässiger Tötung in Gewahrsam genommen. Er beruft sich darauf, in ‚unmittelbarer Gefahr‘ gehandelt zu haben. Die Gruppe der Polizeibeamt*innen behauptete, der Van sei auf sie zugefahren. Die Frage lautet nur, was fünf Menschen ohne Papiere für eine Gefahr darstellen sollen. Und was rechtfertigen könnte, das Feuer zu eröffnen. Warum die Leute nicht einfach fahren lassen?
Warum müssen sich Menschen überhaupt in die gefährliche Situation begeben, in einem Kühltruck eine Grenze zu überqueren?
Der Bürgermeister von Nizza liess verlauten: “Natürlich bedauere ich die Verletzungen in diesem Fall, aber sie sind das Ergebnis einer kriminellen Handlung, die die Polizei verhindern musste, um weitere Tragödien zu vermeiden.“
Diese Rechtfertigung einer Tat ist geläufig: der illegalisierte Grenzübertritt wird als kriminelle Handlung gebrandmarkt und auf einmal sind alle Reaktionen darauf verständlich. Auch jemanden zu ermorden scheint in den Augen des Bürgermeisters als eine passende Reaktion darauf, eine Grenze zu übertreten. Das ist blanker Hohn.
Des weiteren wird ein Verfahren gegen die sog. Menschenschmuggler eröffnet. Als seien allein die Fahrer des Trucks verantwortlich für die Situation, in die sich die Menschen begaben und für den Toten, in dessen Kopf die Kugel eines Polizisten steckt.
Die Art und Weise, wie Staatsgewalt unsichtbar gemacht wird – sei sie exekutiv wie die Polizei oder legislativ wie die restriktiven Asylgesetze Europas – ist einfach perfide.
Es bleibt festzuhalten: Der Ermordete ist ein weiteres Opfer des europäischen Migrationsregimes, welches brutal verteidigt wird.
https://www.infomigrants.net/fr/post/41284/egyptian-migrant-dies-after-police-shooting-in-southern-france

Was ist aufgefallen?

«Das Ende der Solidarität»: Einseitige Diskussion um ukrainische Geflüchtete

Geht es nach den Schweizer Medien, hat sich die Stimmung der Gastfamilien den ukrainischen Geflüchteten gegenüber gewendet: sie erklären die Solidarität als beendet und führen eine einseitige Berichterstattung, in der die Stimme und Perspektive der migrantischen Personen einmal mehr ausgelassen wird.  

SRF titelte: «Mehrere Berner Familien möchten die ukrainischen Flüchtlinge in den eigenen vier Wänden wieder loswerden.» Und die Sonntagszeitung schreibt «Grenze der Solidarität: Probleme mit ukrainischen Flüchtlingen in privaten Haushalten häufen sich». In den dazugehörigen Artikeln wird über Alltagsprobleme im Zusammenleben geschrieben. Es sind Konflikte, die in jedem Zusammenleben auftauchen – doch von bürgerlichen Medien werden sie dramatisiert und aufgebauscht, bis zur Schlussfolgerung: die Solidarität ukrainischen Geflüchteten gegenüber sei beendet.   Das vorherrschende Narrativ der Medien hat sich geändert. So bemerkt das Online-Magazin Bajour: «Nachdem sich die Schweizer Medien am Anfang des Invasionskriegs in der Ukraine nicht genug über die Schweizer Hilfsbereitschaft freuen konnten, kommen jetzt die Solidarität-am-Ende-Storys.» Auffallend dabei: Die konfliktreichen Alltagssituation oder die Unterbringungsschwierigkeiten werden stets aus der Perspektive der Gastfamilien, oder der schweizer Behörden erzählt. Die Geschichten, die erzählt werden, sind jene der Familien, deren Gäst*innen sich nicht an einseitig entschiedene Regeln halten. Wie es den vielen ukrainischen Geflüchteten mit dem Zusammenleben geht, wird kaum gefragt.   Es ist klar: Zusammenleben ist eine Herausforderung, Konflikte gehören dazu. Sprachbarrieren, die Folgen einer Flucht, der andauernde Krieg, grosse Ungewissheiten etc. bringen zusätzliche Herausforderungen für das Zusammenleben. Es ist übertrieben, wenn bürgerliche Medien daraus ein Ende der Solidarität schlussfolgern. Und wieder einmal die Stimme geflüchteter Menschen auslassen. Anstatt nur über ukrainische Geflüchtete zu berichten, die sich nicht an Regeln halten, könnte auch die Rolle der Gastfamilie betrachtet werden: Hierarchien zwischen Gastfamilien und ukrainischen Geflüchteten, einseitig bestimmte Regeln oder erwartete Dankbarkeit – welche Rolle spielen diese Dinge im Zusammenleben?   Gleichzeitig muss immer wieder daran erinnert werden: sprechen bürgerliche Medien oder der schweizer Staat von Solidarität, ist es stets eine einseitige, sie gilt nur bestimmten Personengruppen gegenüber. Geht es um Menschen aus Kriegsgebieten wie Afghanistan, Syrien, Kurdistan u.s.w. kann die absurde Gastfamilien-Diskussion gar nicht erst geführt werden, denn ihnen bleibt diese Möglichkeit sowieso verwehrt.  
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/unterbringungsfristen-fuer-fluechtende-in-gastfamilien-laufen-aus?urn=urn:srf:video:3853bc48-46d5-4fe3-a502-10571f1393ac
https://bajour.ch/a/xtRaV3FTQVtg0jMK/in-jeder-wg-gibt-es-streit

„Diskrete Ausschaffungen“ nach Algerien hinter den Kulissen

Nach Jahren in der Schweiz wird Abdel Brahimi nach Algerien ausgeschafft. Inwiefern hat Justizministerin Keller-Sutter einen neue Ausschaffungsdeal nach Algerien ausgehandelt?

Das Gerücht habe schon vor einigen Monaten die Runde gemacht, erzählt Abdel Brahimi: «Von mehreren Seiten habe ich gehört, dass bald neue Möglichkeiten bestünden, um Algerier*innen auszuschaffen.» Die Angst sei umgegangen. «Ich wurde auch nervös», sagt Brahimi. Aber es blieb ihm trotzdem nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass sich das Gerücht nicht bewahrheiten würde.
Dann wurde er verhaftet. Mithilfe seiner Anwältin legte er sofort Einsprache gegen die verfügte Ausschaffungshaft ein. Aber noch bevor er eine Antwort erhielt, wurde er in ein Flugzeug gesteckt, gefesselt und nach Algerien ausgeschafft. Zwei Tage später meldete sich seine Anwältin bei ihm: Seine Einsprache war erfolgreich. Er hätte aus der Ausschaffungshaft entlassen werden müssen.
Er sagt: «Früher hätte so eine Ausschaffung nie geklappt, und das hat mir immer Sicherheit gegeben.» Die Schweiz und Algerien verfügen eigentlich schon seit 2006 über ein Rückübernahmeabkommen, das «die freiwillige oder zwangsweise Rückkehr» nach Algerien regelt, wie die Medienstelle des Staatssekretariats für Migration (SEM) schreibt. Im Vergleich zu anderen Abkommen war dasjenige mit Algerien aber immer limitiert: Ausschaffungen nach Algerien dürfen nur auf Linienflügen erfolgen. Im Gegensatz dazu sind etwa nach Marokko auch Ausschaffungen auf dem Seeweg vorgesehen, also mit Fähren. Üblich ist ausserdem die Möglichkeit, sogenannte Sonderflüge durchzuführen, um Personen mit besonders repressiven Mitteln auszuschaffen. Die algerische Regierung lässt das nicht zu.
Stattdessen fanden lange alle Ausschaffungen nach Algerien von Genf aus mit Linienflügen der Fluggesellschaft Air Algérie statt. Diese gehört dem algerischen Staat. Wenn sich eine Person, die ausgeschafft werden sollte, im Linienflug stark wehrte, konnte die Ausschaffung in der Regel nicht vollzogen werden.
Doch dann kam der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. In einer Interpellation von 2017 bemängelte er, dass Air Algérie «sich weigere, renitente oder unkooperative Auszuschaffende an Bord zu nehmen». Seine Parteikollegin Karin Keller-Sutter musste später als Bundesrätin Stellung nehmen, was sie dagegen zu unternehmen gedenke.
Auch die Bundesrätin konnte aber bloss auf die Regeln des Luftverkehrs verweisen, nach denen eine Bordkommandantin das Recht hat, «stark renitente Personen» von einem Flug auszuschliessen. Diese Regel ist für viele algerische Staatsangehörige ein Rettungsanker, um in der Schweiz bleiben zu können.
Also machte der Bundesrat die Ausschaffung von algerischen Staatsbürger*innen in den letzten Jahren zu einem Hauptfokus. Gemäss der aussenpolitischen Strategie für die Region «Mittlerer Osten und Nordafrika» ist die «konsequente Umsetzung des mit Algerien unterzeichneten Abkommens» einer von nur drei diplomatischen Schwerpunkten, die mit Algerien verhandelt werden sollen. Im Frühling 2021 reisten sowohl Aussenminister Ignazio Cassis als auch Karin Keller-Sutter nach Algerien. Im Fokus auch hier wieder: die aus Sicht Keller-Sutters unbefriedigende Umsetzung des Rückübernahmeabkommens.
Beim Treffen in Algerien ging es dann offenbar vorwärts: In einer Medienmitteilung ihres Departements heisst es, dass sie und der algerische Innenminister Kamel Beldjoud vereinbart hätten, «nach praktischen Lösungen» zu suchen. Das Aussendepartement schreibt auf Anfrage, dass mit Algerien «regelmässig ein spezifischer Dialog über die Zusammenarbeit im Bereich der Migration» stattfinde, zuletzt im Mai diesen Jahres.
Abdel Brahimi wurde zwar mit einem Linienflug ausgeschafft – aber nicht in einem Flugzeug von Air Algérie. Von Zürich Kloten aus wurde er mit einem Linienflug von Turkish Airlines nach Istanbul gebracht und von dort aus weiter nach Algier. «Ich habe mich zwar zu wehren versucht», erzählt er. Der Pilot sei aber trotzdem gestartet. «So haben sie es jetzt also doch noch geschafft, mich loszuwerden.»
Die für das Gefängnis verantwortliche Zürcher Justizdirektion kann keinen Überblick über die Staatsangehörigkeit der inhaftierten Personen geben. Die auf Migrations- und Asylrecht spezialisierte Organisation Zurich Legal bestätigt aber: «Wir beobachten derzeit eine Intensivierung der Bemühungen, algerische Staatsbürger*innen, die sich bereits weit über zehn Jahre in der Schweiz aufhielten, auszuschaffen.» Brahimi glaubt, der Beweis dafür zu sein, dass der Bundesrat eine neue Übereinkunft mit Algerien erzielt hat: dass «praktische Lösungen» gefunden wurden.
Das SEM will keine Antwort darauf geben, ob sich die Praxis verändert habe. Es verweist bloss auf das Rückübernahmeabkommen von 2006. Aus den Absichten, die Algerier*innen loszuwerden, hat Karin Keller-Sutter allerdings nie einen Hehl gemacht. Wenige Tage vor ihrer Abreise nach Algerien 2021 erläuterte sie im Ständerat ihre Pläne. Anlass dafür war eine neuerliche Motion von Damian Müller. Er forderte darin, dass der Bundesrat mit Algerien über Rückführungen auf dem Seeweg verhandelt.
In der Debatte beteuerte Keller-Sutter erneut, alle Möglichkeiten auszuloten, um den Vollzug von Rückführungen zu vereinfachen. Und sie fügte an: «Ich möchte in der Öffentlichkeit nicht darüber sprechen, was unsere Pläne sind, weil es immer etwas delikat ist, wenn man diese Länder bereits mit öffentlichen Verlautbarungen unter Druck setzt.» Es sei einfach besser, «wenn man hier diskret hinter den Kulissen arbeitet».
Seien wir uns also im Klaren darüber, dass das SEM und die zuständige Justizministerin Keller-Sutter das Ausschaffungsregime der Schweiz erneut drastisch verschärft haben. Einige mussten dies tragischerweise bereits am eigenen Leib erfahren. Sorgen wir dafür, dass diese Realität möglichst vielen erspart bleiben kann. Indem wir aufeinander aufpassen, uns gegenseitig warnen, uns klar und deutlich gegen Ausschaffungen positionieren und dagegen wehren. In welcher Form auch immer wir die Möglichkeit dazu haben. 
https://antira.org/2022/06/16/medienspiegel-15-juni-2022/

Was schreiben andere?

Schluss mit den Zwangsrückführungen! Bleiberecht für alle in der Schweiz!

Ein Beitrag von Collettivo R-esistiamo, Autonome Schule Luzern und Seebrücke Schweiz

Maria, eine 30-jährige Frau aus Eritrea, kam Ende Dezember 2021 in die Schweiz. Im Bundeszentrum in Chiasso stellt sie ein Asylgesuch. Die Schweizer Behörden verweigerten ihr die Aufnahme unter dem Vorwand, dass ihr in Griechenland der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden sei. Anfang Mai wurde sie an den Kanton Luzern überstellt, der für die Durchführung der Zwangsrückführung zuständig ist. Dort verschwendeten sie keine Zeit. Ein paar Tage später ging sie zum Termin beim Migrationsamt, um ihr Aufenthaltsdokument zu verlängern. Doch dort wartet die Polizei auf sie. Sie wird verhaftet und in das Verwaltungsgefängnis Zürich gebracht. Sie wird von den Polizisten stark unter Druck gesetzt: Entweder sie nimmt den für sie gebuchten Linienflug, oder sie wird inhaftiert und zwangsweise nach Griechenland zurückgeschickt. Sie möchte eine Spur ihrer Erfahrungen und ihrer Verzweiflung hinterlassen.

„Als ich 12 Jahre alt war, floh ich aus meinem Heimatland Eritrea, und liess mich mit meinem Bruder und meiner Mutter in Äthiopien in der Region Oromo nieder. Ich bin vor drei Jahren aus politischen und familiären Gründen aus Äthiopien geflohen. Jetzt herrscht in dieser Region Krieg und eine sehr grosse Hungersnot, aber niemand spricht darüber oder unternimmt etwas dagegen. Von Äthiopien kam ich in die Türkei. Nach mehreren Versuchen, die Türkei auf dem Seeweg nach Griechenland zu verlassen, kam ich auf der Insel Chios an. Ich dachte, Griechenland sei das Paradies, stattdessen war es die Hölle. Ich lebte zwei Jahre lang in einem Flüchtlingslager unter unmenschlichen, katastrophalen Bedingungen. Ich wohnte mit einer Freundin in einem provisorischen Zelt, mit einem Gaskocher zum Kochen. Im Winter war es sehr kalt, die Zelte sind nicht für Winter und Regen geeignet. Wir hatten nicht genug Decken und Kleidung. Das Lager war überfüllt, die Toiletten waren löchrig, die hygienischen Bedingungen erbärmlich, überall lag Müll herum. Es gab kein fliessendes Wasser und es gab nicht genug Essen für alle. Das Essen, das es gab, war sehr schlecht. Totaler Schwachsinn. Niemand sollte unter solchen Bedingungen leben müssen. Wir hatten keine Unterstützung von irgendjemandem, es war ein totales Chaos. Manchmal gab es sogar Polizisten, die uns wie streunende Hunde verjagten oder schlimmstenfalls mit ihren Schlagstöcken verprügelten.

Ich beantragte politisches Asyl, ohne überhaupt zu verstehen, was mit mir geschah, niemand erklärte mir, worum es ging und welche Rechte ich hatte. In zwei Jahren habe ich 90 Euro erhalten. Als sie mir die Genehmigung erteilten, sagten sie mir, dass ich das Lager verlassen müsse und für mich selbst sorgen müsse. Ich glaube, sie machen das absichtlich, damit sie leicht Genehmigungen erteilen können, denn sie wissen, dass die Menschen die schrecklichen Lager verlassen und sich in Luft auflösen. Nach zwei Jahren kam ich also in Athen an, wir liessen uns in der Strasse (Viktoria Platzes) nieder. Ich habe keine Hilfe erhalten. Es war furchtbar, jede Nacht hatten wir mit meiner Freundin Angst, überfallen zu werden. Es war zu gefährlich, als Frau riskiert man, täglich missbraucht zu werden.

Als ich in Chios war, wurde ich Opfer einer Gruppenvergewaltigung. Ich konnte mit niemandem darüber reden und erhielt keine Unterstützung, weder medizinisch, gynäkologisch, rechtlich noch psychologisch. Ich war allein.

Aber für die Schweizer Behörden ist alles, was ich in Griechenland erlebt habe, nicht genug, sie haben meinen Asylantrag abgelehnt. Ich bin nur eine Nummer, keine Person. Sie sagen mir, dass ich zurück nach Griechenland auf die Strasse gehen muss, dass ich nicht glaubwürdig genug bin: Wie ist es möglich, auf diese Weise behandelt zu werden? Wie kann ich eine Vergewaltigung beweisen?

Es gibt keine Würde in Griechenland, niemand sollte unter diesen Bedingungen leben. Ich würde ihnen gerne ins Gesicht sehen, denjenigen, die von ihren Ämtern aus den negativen Entscheidungen treffen, und mir erklären lassen, wie ich in Griechenland in Würde leben kann: Ich bin ein Mensch, eine Person mit Rechten, ich bin keine Maus.”. Sie versuchte, sich zu wehren, aber nach einer Weile verlor sie die Hoffnung und befindet sich nun wieder auf der Strasse in Athen, immer am selben Ort (Viktoria Platzes), ohne Hilfe, ohne Schutz, ohne Würde.

Im März wurde eine Bekannte von mir von Polizisten geweckt, verhaftet und nach Athen abgeschoben. S. wohnte mit mir im Zimmer, in Chiasso, in der Via Motta. Frühmorgens klopften sie an die Tür, drei von ihnen betraten den Raum, aber unten am Eingang waren viele, vielleicht ein Dutzend. Sie legten ihr vor meinen Augen Handschellen an, als sei sie die schlimmste aller Kriminellen, als sei es in der Schweiz ein Verbrechen, Asyl zu beantragen. Sie nahmen ihre Sachen und steckten sie in einen Sack. S. erzählte mir einige Tage nach ihrer Ankunft in Athen, dass sie drei Tage, einen in Lugano und zwei in Zürich, in Polizeizellen verbracht hat, kalt, mit nichts, drei Tage, ohne zu duschen, und dass sie immer wieder psychologisch unter Druck gesetzt wurde: “Entweder du unterschreibst die Rückführung oder du kommst ins Gefängnis, du hast keine andere Wahl”. Sie versuchte, sich zu wehren, aber nach einer Weile verlor sie die Hoffnung und befindet sich nun wieder auf der Strasse in Athen, immer am selben Ort (Viktoria Platzes), ohne Hilfe, ohne Schutz, ohne Würde.

Nach einigen Wochen war ich an der Reihe. Ich lebte jeden Tag mit der Angst, dass ich die Nächste sein würde. Ich war ziemlich gefasst, weil ich einen Wiederholungsantrag beim Bundesverwaltungsgericht anhängig hatte. Aber nichts, überall, wo ich hinkomme, jagten sie mich weg. Als ich beim Migrationsamt in Luzern ankomme, verhaften sie mich dort, sie legen auch mir Handschellen an. Sie sagen mir: ’Du musst gehen, geh zurück nach Griechenland’. Sie bringen mich nach Zürich, ich schlafe eine Nacht in einer Zelle ohne Fenster, um 9 Uhr wartet ein Flugzeug auf mich; wenn ich es nicht erwische, Gefängnis und Zwangsrückführung. Ich weiss nicht, was ich tun soll, aber ich habe nicht mehr die Kraft, mich zu wehren, zu kämpfen, ich lasse mich gehen….

Als ich in Athen ankam, war niemand da. Die griechischen Behörden wussten von nichts, obwohl die Schweiz verpflichtet ist, sie über meine Ankunft zu informieren. Ich bin wieder da, wo ich angefangen habe, wieder auf der Strasse, wieder in Gefahr, wieder ohne Schutz. Dank einigen Freunden finde ich einen Platz zum Schlafen, aber ich weiss nicht, für wie lange…. Was für ein Elend! Warum behandelt uns Europa auf diese Weise? Auch in Äthiopien herrscht Krieg, warum werden wir nicht so behandelt wie die Ukrainer?“

Seit mehreren Jahren prangern zahlreiche NGOs (HCR, Amnesty International, Human Rights Watch, Ärzte ohne Grenzen usw.) regelmässig die Lage der Menschen auf der Flucht in Griechenland an. Die Hilfsleistungen für Flüchtende und Asylbewerber*innen sind äusserst prekär. Die Menschen haben keinen Zugang zu Wohnraum oder finanzieller Unterstützung durch die griechischen Behörden und landen oft ohne jegliche Unterstützung auf der Strasse.

Warum schikanieren die schweizerischen und kantonalen Behörden Männer, Frauen, Kinder, schutzbedürftige Menschen, um sie in Länder zurückzuschicken, in denen es keine Bedingungen für ein menschenwürdiges Leben gibt? Sie sind keine Menschen mehr, sondern nur noch Pakete. Wie ist es möglich, die katastrophalen Bedingungen des griechischen Aufnahmesystems zu übersehen?

Wir fordern ein Ende aller Abschiebungen und Zwangsrückführungen, ein Ende der staatlichen Gewalt, für die Aufnahme aller schutzbedürftigen Menschen!

Chiasso, Juni 2022.

Tatort AMIGRA: Im Amt für Migration in Luzern wurde M. am Morgen des 16. Mai von der Polizei festgenommen und in Handschellen ins Gefängnis gebracht. Dabei sollte es sich nur um einen Gesprächstermin handeln.
Tatort POLIZEI: Bei der Luzerner Polizei wurde M. 24 Stunden festgehalten. Sie erhielt keine Informationen über ihre Situation und bis zum Abend keine Lebensmittel.
Tatort FLUGHAFENGEFÄNGNIS: Im Flughafengefängnis verbrachte M. die letzten Stunden, bevor sie am 18.05. nach Griechenland ausgeschafft wurde. Die Weigerung in den Flieger zu steigen hätte zu einer Rückführung unter körperlichem Zwang geführt. In Griechenland erwartete sie niemand.

1-4 Suizidversuche pro Woche pro BAZ: Spielt das SEM mit seiner Fürsorge- und Schutzpflicht für das Recht auf Leben?

Ein Beitrag vom Migrant Solidarity Network

Es sind alarmierende und skandalöse Zahlen. Allein im Bundesasylzentrum (BAZ) in Boudry haben sich mindestens zwei Personen das Leben genommen. Laut einer vom Staatssekretariat für Migration (SEM) in Auftrag gegebenen Studie von UNISANTÉ/CHUV kommt es in den BAZ Boudry, Vallorbe und Giffers jede Woche zu 1-4 Suizidversuchen/Selbstschädigungen. „Offensichtlich unternimmt das SEM zu wenig, um das Recht auf Leben in diesen BAZ genügend zu schützen“, kritisiert das Migrant Solidarity Network und fordert vom SEM Zahlen und Erklärungen zur Lage in den anderen Asylregionen der Schweiz.

Wo gabs Widerstand?

In Solidarität mit #WirbleibeninBiel: Oberes Ried besetzt!  

Das ehemalige Altersheim “Oberes Ried” in Biel wurde besetzt! Kommt alle und zeigt gemeinsam mit den Besetzenden eure Solidarität mit den abgewiesenen asylsuchenden Menschen in Bözingen.

Heute Nacht wurde das Obere Ried besetzt ist. Die besetzende Gruppe schreibt: “Heute Nacht haben wir das ehemalige Altersheim Oberes Ried in Biel besetzt. In Solidarität mit den abgewiesenen Asylsuchenden im Lager Bözingen unterstützen wir mit dieser Aktion ihren seit langem anhaltenden Kampf gegen Isolation. Wir solidarisieren uns mit der Forderung #WirbleibeninBiel. Biel hat genug Platz für alle! Das Obere Ried ist seit Jahren unbenutzt und eine von vielen Möglichkeiten, in Biel einen Wohnort mit selbstbestimmtem Leben zu schaffen. Der Kreislauf der Ignoranz muss enden. Dieser Ignoranz gegenüber Menschen, die genauso viel Respekt und Würde verdienen wie alle anderen. Gemeinsam gegen die Verwaltung und Isolation der Menschen des Camps Bözingen und für eine solidarische Stadt Biel!”

Mehr Informationen zum Protest gibt es unter anderem hier und hier sowie in folgender Broschüre:
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/06/18/broschuere-wir-bleiben-in-biel/

14. Juni: Feminismus muss antirassistisch denken und handeln

Über 60’000 FLINTA-Personen (Frauen, Lesben, Inter, Non-Binäre, Trans und Agender Personen) und solidarische Verbündete haben sich am 14. Juni in der Schweiz die Strasse genommen. Gegen die zahlreichen andauernden Krisen gilt es heute und auch in Zukunft anzukämpfen: sei es die alltägliche patriarchale Gewalt, weltweite Angriffe auf das Recht auf Selbstbestimmung oder eine Krise der Care-Arbeit. Aber auch die Klimakatastrophe, das rassistische europäische Grenzregime oder die momentan herrschenden Kriege betreffen die feministische Bewegung – nur, in dem wir Kämpfe verbinden, können wir Patriarchat und weitere unterdrückende Machtverhältnisse überwinden. Ein konkretes Beispiel, wieso Feminismus antirassitisch denken und handeln muss, zeigt der folgende Text von Brava:

Mehrfach marginalisiert: gewaltbetroffene Frauen und ihre Familien in Rückkehrcamps

Für gewaltbetroffene Frauen und ihre Familien, was leider die grosse Mehrheit aller geflüchteten Frauen ausmacht, ist es essentiell, dass sie zur Ruhe kommen und Stabilität erfahren können.   Nur so können sie Trauma und andere Gewaltfolgen verarbeiten, sich psychisch stabilisieren und ihre Kräfte und Energien für sich und ihr Umfeld stärkend einsetzen. Ein (oft erneuter) Transfer in eine andere Unterkunft bedeutet ja immer auch eine neue Umgebung, eine neue Gemeinde, in ein neues Schulhaus, neue Hausärzt*innen, neue Wege etc., was sehr viel Energie kostet. Energie über welche geflüchtete Frauen mit negativem Asylentscheid oft nicht (mehr) verfügen, da sie fast alle schon unzählige Ortswechsel und somit ständige Entwurzelungen erfahren haben durch ihre Fluchtgeschichte und die Wechsel der Asylzentren in der Schweiz. Zudem erleben sie durch die ungewissen Bleibeperspektive natürlich auch kaum Stabilität bezüglich ihrer Zukunft.   Denn meist sind sie es, welche die Hauptverantwortung für die Kinder übernehmen. Eine Destabilisierung der Kinder durch den Schulwechsel, der Verlust von aufgebauten Freundschaften, Neuorientierung in einer neuen Umgebung kann für die Kinder psychisch schwierig sein. Meist sind es dann die Mütter, welche nebst ihren eigenen Belastungen auch die Verunsicherung und Ängste der Kinder abfangen müssen.  Je abgelegener die Unterkunft, was leider für die Unterkunft in Enggistein zutrifft, desto schwieriger ist es, neue Wurzeln schlagen zu können und allenfalls die früheren aufgebauten Kontakte und Freundschaften weiter pflegen zu können.    Damit gewaltbetroffene Geflüchtete von ihren Sorgen und Ängsten Ablenkung erfahren können, ist ein Austausch mit anderen Menschen, Aufgehobenheit in Religionsgemeinschaften oder anderen Gefässen, die Geborgenheit und Vertrautheit bedeuten sehr wichtig. 
https://migrant-solidarity-network.ch/en/2022/06/14/mehrfach-marginalisiert-gewaltbetroffene-frauen-und-ihre-familien-in-rueckkehrcamps/

Was steht an?

Infotour Alarme Phone Sahara

https://barrikade.info/article/5218

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

​#WirbleibeninBiel: Eine Broschüre zur Forderung