Themen
- Fluchtrouten-Update: 14 Tote vor den Kanaren, Push-Back in der Ägäis, 442 Menschen vor Italien von ziviler Flotte aus Seenot gerettet
- EU plant Abkommen mit Ägypten zur Bekämpfung von Migration
- Antisemitismus bei der Basler Polizei
- Crowdfunding: Halbtax gegen Isolation
- 19. Todestag von Oury Jalloh
- Podium: Armut ist kein Verbrechen
Was ist neu?
Fluchtrouten-Update: 14 Tote vor den Kanaren, Push-Back in der Ägäis, 442 Menschen vor Italien von ziviler Flotte aus Seenot gerettet
Auch um den Jahreswechsel kam es auf verschiedenen Fluchrouten zu Todesfällen, Verhaftungen, Push-Backs und Seenotrettungseinsätzen.
ATLANTIK
Am Donnerstag, den 28. Dezember sind 14 Menschen bei dem Versuch, die Kanaren zu erreichen gestorben. Kurz hinter der marokkanischen Küste geriet das Schlauchboot mit 58 Menschen an Bord in Seenot. Menschen fielen ins Wasser und hielten sich am Boot fest. Die NGO Caminando Fronteras kritisierte das späte Eingreifen der Behörden. Der Rettungseinsatz sei dadurch verzögert worden, dass sich die marokkanischen und spanischen Behörden gegenseitig die Verantwortung zuschoben.
Die gefährliche Route über den Atlantik von Westafrika auf die Kanarischen Inseln wird im Laufe der letzten Jahre immer häufiger frequentiert, da das Mittelmeer eine der am stärksten überwachten Zonen der Welt geworden ist. Nach Informationen von Caminando Fronteras starben allein in den ersten 6 Monaten des Jahres 2023 778 Menschen bei der Überquerung dieser Fluchtroute über den Atlantik.
MELILLA & CEUTA
In der Neujahrsnacht hat die marokkanische Armee mehr als 1.100 Menschen abgefangen, welche die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla erreichen wollten. Viele von ihnen wurden festgenommen. Sie stammten aus unterschiedlichen afrikanischen und asiatischen Ländern und wurden in den Städten Nador, M’diq und Fnideq aufgegriffen. Erst letztes Jahr sind marokkanische und spanische Behörden äusserst brutal gegen eine grosse Gruppe von Menschen vorgegangen, welche dasselbe versucht hatte. Hierbei hatten Armee und Grenz-Beamt*innen mindestens 37 Menschen getötet. Melilla und Ceuta markieren die einzige Landgrenze zwischen Europa und Afrika. Ceuta befindet sich rund 70 Kilometer östlich von Tangier, während Melilla nördlich der Stadt Nador liegt.
ÄGÄIS
Südlich von Lebsos befand sich am Freitag, den 5. Januar ein Boot mit 30 Menschen an Bord in Seenot. Sie waren in Panik, Wasser drang ins Boot ein und Menschen fielen ins Meer. Daraufhin wurde das Boot von der griechischen Küstenwache – in ihrem üblichen Modus Operandi – in türkische Gewässer geschleppt. Zurzeit gibt es keine zivile Seenotrettung in der Ägäis, da die Repression und Kriminalisierung durch griechische Behörden zu stark wurde. Die griechische Küstenwache führt seit Jahren regelmässig Push-Backs durch, bei welchen sie die europäische Grenzschutzagentur Frontex- zumindest in der Vergangenheit – immer wieder unterstützt hat.
ZENTRALES MITTELMEER
Am Dienstag, den 26. Dezember hat die Sea-Eye 4 der Organisation Sea-Eye 106 Menschen von zwei Booten aus Seenot gerettet. Mehrere Tage dauerte die Reise aus internationalen Gewässern südlich von Lampedusa bis in den Hafen von Brindisi, welcher ihnen von italienischen Behörden zugeteilt worden war. Seit einigen Gesetzesänderungen ist dies die übliche Praxis: Zivile Seenotretter*innen dürfen nur einen einzigen Rettungseinsatz durchführen und müssen daraufhin direkt einen Hafen ansteuern, welcher ihnen von der italienischen Regierung zugeteilt wird und sich zumeist hunderte bis tausende Kilometer weit entfernt befindet. Unter den Menschen, die an Land gingen, befanden sich auch 45 Minderjährige.
Am Mittwoch, den 3. Januar erreichte die Geo Barents der Organisation Ärzte ohne Grenzen den Hafen von Ravenna mit 336 Menschen an Bord, 27 von ihnen minderjährig. 200 Menschen aus der Zivilgesellschaft oder die für die Region arbeiten, nahmen sie in Empfang.
Ravennas Bürgermeister und der Leiter von Ravennas Sozialrat äusserten sich solidarisch, kritisierten jedoch die Entscheidung der italienischen Regierung, auch in diesem Fall einen Hafen ausgesucht zu haben, der zu weit vom Ort des Rettungseinsatzes entfernt sei und die Menschen dazu zwingen würde, weitere Tage auf See zu bleiben.
Die Gesetzesänderungen sind reine Schikane. Die ultrarechte Regierung unter Giorgia Meloni betreibt mit ihnen Symbolpolitik und stellt leere Behauptungen auf, wonach die Ankunft der Boote mit solchen Massnahmen gestoppt werden könne. Vielmehr sind die Ankünfte der Boote im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr um ca. 50’000 Menschen von ca. 100’000 auf ca. 150’000 angestiegen. Entgegen dem Eindruck, welcher sowohl durch rechte Hetze allgemein, als auch der Panikmache rechter Parteien vermittelt wird, muss betont werden, dass die Zahlen von Ankünften geflüchteter Menschen in Europa weit niedriger ausfallen, als in den Jahren 2015 und 2016. Ob nun ein Anstieg oder eine Reduktion der Anzahl an Menschen, welche flüchten müssen verzeichnet wird, ändert nichts an dem Fakt, dass das Problem nicht die Anzahl an Menschen auf der Flucht ist, sondern der fehlende politische Wille der Regierenden, etwas gegen das Sterben an Europas Aussengrenzen zu unternehmen.
Die Zahlen sind nur ein weiteres Zeichen dafür, dass sich Migration nicht verhindern lässt, egal welche repressiven Massnahmen eingesetzt werden. Ultrarechte Regierungen machen Versprechungen, um Stimmung zu machen, Stimmen zu bekommen und durch diese an der Macht zu bleiben. Versprechungen, die sie nicht halten können. Die Folgen dieser Massnahmen sind allein für die Menschen auf der Flucht spürbar. Sie sind hierdurch noch grausameren Bedingungen ausgesetzt, beispielsweise sind sie noch viel stärker den Schlepper*innen ausgeliefert, gegen die EU-Politiker*innen vorgeblich mit ihren Massnahmen vorgehen wollen. Infolge dessen sind die Geflüchteten gezwungen, auf noch gefährlichere Routen auszuweichen, was die Sterblichkeit auf den Routen massiv erhöht. Im Jahr 2023 waren es mindestens 2’678 Menschen, die auf dem zentralen Mittelmeer ihr Leben verloren. In den zehn Jahren seit 2014 waren es über 28’000. Menschen flüchten, weil sie müssen – daher verschieben sich lediglich die Routen, welche benutzt werden, nicht aber die Verhältnisse, welche die Menschen zur Flucht veranlassen.
Ein anschauliches Beispiel für die stetige Verlagerung und Anpassung der Fluchtrouten gab es z.B. im letzten Jahr. Die sog. libysche Küstenwache fängt – finanziert durch EU-Gelder – im grossen Stil Menschen auf der Flucht ab und schleppt diese zurück in die Internierungslager in Libyen, wo sie Folter, (sexualisierter) Gewalt und moderner Versklavung ausgesetzt sind. Als Reaktion auf die stetige Zunahme dieser Pull-Backs, verlagerte sich die am meisten frequentierte Fluchtroute über das Mittelmeer nach Tunesien. Darauf hin setzte die tunesische Regierung hunderte Geflüchtete in der Wüste aus und hetzte die Bevölkerung zu Pogromen auf, worauf sich die Haupt-Fluchtroute wieder zurück nach Libyen verschob.
Die logische Konsequenz kann nur sein, die Milliarden von Geldern, welche in Abschottung, Aufrüstung und Überwachung gesteckt, oder die der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und den autoritären Regimen in Nordafrika oder der Türkei in den Rachen geworfen werden, endlich in ein System zu investieren, in dem Bewegungs- und Bleibefreiheit für alle ermöglicht wird.
https://www.nau.ch/news/ausland/hilfsorganisation-14-migranten-vor-marokkos-kuste-ertrunken-66678558
https://www.nau.ch/news/europa/deutsche-seenotretter-bringen-106-fluchtlinge-in-italien-an-land-66679052
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178945.gefluechtete-trotz-abschottung-mehr-migration-in-italien.html
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178964.toedliche-eu-politik-migration-laesst-sich-nicht-stoppen.html
https://www.infomigrants.net/en/post/54279/geo-barents-disembarks-336-people-in-ravenna–amid-controversy
https://www.infomigrants.net/en/post/54254/ngo-emergency-over-28000-migrants-have-died-at-sea-since-2014
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2024-01/migration-marokko-exklaven-ceuta-mellila-asylrecht -> https://www.watson.ch/international/migration/885938048-marokko-faengt-hunderte-migranten-vor-spanischen-exklaven-ab
EU plant Abkommen mit Ägypten zur Bekämpfung von Migration
Die EU möchte noch in diesem Monat ein weiteres Abkommen unterzeichnen: Diesmal soll Ägypten bei der Bekämpfung der Migration nach Europa mithelfen.
Eine einer «strategischen und umfassenden Partnerschaft» soll es sein, die über Bekämpfung von Migration hinausgeht. So will die EU auch auf militärischer Ebene stärker mit dem autoritären Regime von Abdelfatah al-Sisi zusammenarbeiten. Konkret sollen europäische Soldaten gemeinsame Manöver mit der ägyptischen Marine im Rahmen der EU-Operation Atalanta (Eunavfor Atalanta) durchführen.
Mit Investitionen, Krediten und Schuldenerleichterungen will die EU schliesslich der maroden ägyptischen Wirtschaft zu Hilfe kommen. Das geplante Abkommen mit Ägypten orientiert sich demnach am bereits bestehenden Abkommen mit Tunesien: Die EU finanziert, schickt Geld und im Gegenzug werden flüchtende Menschen von der Weiterreise nach Europa abgehalten. Dazu sollen unter anderem auch Patrouillenboote nach Ägypten geliefert werden.
Was geht ab beim Staat?
Antisemitismus bei der Basler Polizei
Ein polizeilicher Sicherheitsassistent des Justiz- und Sicherheitsdepartements soll vor der Basler Synagoge den Hitlergruss gezeigt haben. Die Polizeileitung stellte den Mann frei.
Vor der Synagoge an der Leimenstrasse in Basel hat im Herbst 2022 ein Mitarbeiter der bewaffneten Sicherheitsassistenz bei einer Patrouillenfahrt einen Hitlergruss gezeigt. Intern wurde dieser Vorfall der Leitung der Kantonspolizei gemeldet. Als Reaktion auf diese antisemitische, rechtsextreme Handlung hat die Polizei den Beamten freigestellt. Adrian Plachseli, der Leiter der Kommunikation der Kantonspolizei, äusserte sich folgendermassen zu dem Vorfall: «Rechtsextremismus und Antisemitismus haben keinen Platz in unserem Korps. Die Kantonspolizei ist sich der Verantwortung für die Sicherheit der jüdischen Gemeinde in Basel bewusst und toleriert kein Verhalten, das den Werten der Kantonspolizei widerspreche und die Integrität unserer Institution in Frage stellt.»
Wie lange der Beamte bei der Kantonspolizei angestellt war, und weswegen dieser Vorfall nicht kommuniziert wurde, ist nicht bekannt. Es stellt sich die Frage, ob dieser spezifische Fall als Vorzeige-Beispiel instrumentalisiert wird, bei welchem eine gewisse Offenheit und Bereitschaft zur Verantwortlichkeit seitens der Behörden dargestellt werden soll. In vielen anderen rassistischen und antisemitischen Fällen, in welchen Polizist*Innen offensichtlich und systematisch involviert sind, wird diese sowohl intern, als auch extern immer wieder mit der Behauptung verteidigt, dass es bei der Polizei kein Rassismus sowie auch kein Antisemitismusproblem gäbe.
Was nun?
Crowdfunding: Halbtax gegen Isolation
Abgewiesene Geflüchtete und asylsuchende Personen müssen oft in abgelegenen Asylcamps leben. Mobilität hilft gegen diese Isolation. Doch das Geld reicht nicht für ÖV-Tickets. Ein Halbtax kann einen entscheidenden Unterschied machen. Hilf mit, damit mindestens 300 abgewiesene Geflüchtete, Sans-Papiers oder asylsuchende Personen ein Halbtax kaufen können und setze ein solidarisches Zeichen gegen die rassistische Isolationspolitik.
https://www.crowdify.net/de/projekt/halbtax-gegen-isolation
Wo gabs Widerstand?
19. Todestag von Oury Jalloh
Am 7. Januar jährte sich der Mord an Oury Jalloh zum 19. Mal. In Deutschland fand eine Demonstation in Dessau statt, der Stadt in welcher Oury Jalloh vor 19 Jahren der Polizeigewalt zum Opfer fiel. Wir teilen hier einen kleinen Text in Gedenken an Oury Jalloh.
Oury Jalloh- das war Mord!
Aber nicht nur Mord. Oury Jalloh wurde auch gedemütigt, misshandelt und gefoltert.
Oury Jalloh steht für Vertuschung, Küngelei und Behinderung der Aufklärungsarbeit.
Bis heute bleibt sein Mord ungesühnt.
Heute gedenken wir Oury Jallohs. Ein forensisches Gutachten offenbart die Grausamkeiten, die er vor seinem Tod erleiden musste. Eine gebrochene Nase, schwerste Kopfverletzungen, eine gebrochene Rippe. Danach wurde er in seiner Zelle an Händen und Füßen gefesselt verbrannt.
Ein forensisches Gutachten, das nicht etwa die Staatsanwaltschaft in Auftrag gegeben hat. Nein- ein Gutachten, dass die Hinterbliebenen erkämpften und selber bezahlten.
Das Polizeirevier, das für den Mord an Oury Jalloh verantwortlich ist, hat noch weitere Menschen auf dem Gewissen- auch hier folgten Vertuschung und Wegsehen.
Justiz und Polizei arbeiten hier Hand und Hand. Urteile die gegen jedes Verständnis von Recht verstoßen. Polizist*innen, die ohne Konsequenzen Menschenleben auslöschen.
Der Fall beschäftigt mittlerweile den europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Oury Jalloh- ein Fall. Ein Fall von vielen.
Heute gedenken wir Oury Jalloh. Niemand ist sicher, bevor nicht alle sicher sind. Heute gedenken wir Oury Jalloh und all jenen, die unter dem systematischen Rassismus der Polizei, Justiz, Gesetzgebung und Politik leiden.
Oury Jalloh ist einer von vielen. Oury Jalloh ist jeden Tag.
Lasst uns gemeinsam aufstehen und dagegen kämpfen.
Um die Aufarbeitung rund um den Mord an Oury Jalloh und weiteren Polizeimorden zu unterstützen, könnt ihr unter folgendem Link die Initiative Oury Jalloh unterstützen.
https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/spenden-2/
https://initiativeouryjalloh.files.wordpress.com/2024/01/oj-twitter-vorlage_1.jpg
Was steht an?
Podium: Armut ist kein Verbrechen
Passend zum Artikel der letzten Wochenschau zur Kriminalisierung von Armut und der Ausschaffbarkeit durch langjährigen Sozialhilfebezug, veranstaltet das Kafi Klick am 22. Januar ein Podium.
Podium: Armut ist kein Verbrechen
Wer Sozialhilfe bezieht und keinen Schweizer Pass hat, riskiert nicht nur soziale Stigmatisierung, sondern auch den Entzug der Aufenthaltsbewilligung. Seit den Änderungen im Ausländer- und Integrationsgesetz 2019 sind die Sozialen Dienste verpflichtet, automatische Meldungen an das Migrationsamt zu machen. Damit werden die Betroffenen trotz rechtmässigem Anspruch auf Unterstützung massiv unter Druck gesetzt und der Willkür des Migrationsamtes ausgesetzt. Damit wird Armut kriminalisiert und die Ziele der Sozialhilfe grundsätzlich in Frage gestellt. Gemeinsam diskutieren wir über diese Verschärfungen und stellen die Thematik in einen migrationsrechtlichen und sozialpolitischen Kontext.
Podiumsdiskussion mit:
Marc Spescha, Rechtsanwalt und Professor für Migrationsrecht
Lukas Posselt, Soziologe
Ladina Marthaler, Co-Leiterin Kafi Klick
Montag, 22. Januar 2024, 19 Uhr
Kafi Klick, Gutstrassee 162, Zürich
www.kafiklick.ch
Lesens -/Hörens -/Sehenswert
AYS Special: “You forced me to claim asylum”. Baltic Pushbacks, a Personal Story
A personal account of a journey to the EU, told with the help of Sienos Grupe.
https://medium.com/are-you-syrious/ays-special-you-forced-me-to-claim-asylum-baltic-pushbacks-a-personal-story-0caeabf8df55