Todespolitik im Mittelmeer, Frontex in Griechenland, Rassismus in der Schweiz

Was geht ab beim Staat? 

Weniger Geld für die Asylsozialhilfe

Das Parlament kürzt die Sozialhilfe für Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Geflüchtete um 30 Millionen Franken. 

Der Nationalrat hat sich am 11. Dezember einem entsprechenden Entscheid des Ständerats angeschlossen und damit dem Vorschlag des Bundesrates widersprochen. Im kommenden Jahr sollen dem Staatssekretariat für Migration (SEM) knapp 1,1 Milliarden Franken für die Asylsozialhilfe zur Verfügung stehen.  

Nachdem das Parlament entschieden hatte, die Direktzahlungen an Bauern und Bäuerinnen nicht zu kürzen, wollten sie anderswo kürzen, um die Schuldenbremse einzuhalten. Es sei «reine Symbolpolitik», sagt Sarah Wyss von der SP Bern. 

https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2023/20231211172701864194158159038_bsd151.aspx

Erneuter Todesfall eines jungen Asylsuchen in Genf: Ali P.

Am Sonntagabend wurde die Leiche des 20-jährigen Ali P. in der Rhone von der Polizei gefunden. Es scheint sich um einen Suizid zu handeln. 

Am selben Tag war gegen 18 Uhr ein junger Mann beim Sprung in die Rhone am Quai Turretini oberhalb der Coulouvrenière-Brücke beobachtet worden. Ali P. ist als minderjähriger Asylsuchender mit afghanischer Herkunft in der Schweiz angekommen. Seine Freund*innen berichten von der mental belastenden Situation seiner Unterbringung in der Schweiz. Innerhalb der Gruppe minderjähriger oder junger Asylsuchender wird immer wieder Kritik bezüglich der Überbelegung der Unterkünfte sowie der mangelnden Rücksichtnahme seitens der Behörden auf ihre Existenz und Lebensqualität laut.

Ali P. ist leider nicht der erste Fall von Suizid unter jungen Asylsuchenden. Bereits in der Vergangenheit kam es in Genf zu Suiziden. So haben in den Jahren 2019 und 2022 zwei weitere junge Asylsuchende aus Afghanistan, beide mit Vornamen Alireza, Suizid begangen. Der Tod von Alireza im Jahr 2019 hatte bereits die problematischen Bedingungen der Unterbringung von minderjährigen Asylsuchenden hervorgehoben. Der Tod von Alireza in 2022 wurde durch den Erhalt eines negativen Entscheides ausgelöst, welcher ihn dazu gezwungen hätte, zurück nach Griechenland zu gehen – ein Ort, der für ihn mit diversen traumatischen Erlebnissen verbunden war. 

Genève: probable nouveau suicide d’un jeune requérant d’asile – Blick
L’asile à nouveau endeuillé – Le Courrier
Nouveau décès d’un jeune requérant d’asile à Genève – Le Temps​​​​​​​

Was ist aufgefallen?

Wo keiner ist, wird er heraufbeschworen: Der «Notstand»

Polen, Litauen, Lettland : Drei europäische Staaten, ein und das selbe Narrativ. Seit dem Sommer 2021 herrscht in den baltischen Staaten «Ausnahmezustand». Ein Staat nach dem anderen errichtet(e) Mauern, um sich gegen den inszenierten «hybriden Krieg» in Stellung zu bringen. In Lettland, wo der Zaun noch nicht vollständig fertiggestellt ist, wird fleissig daran gearbeitet, die Festung Europa und den damit einhergehenden Untergang der Menschenrechte mit voranzutreiben. 

Die lettische Regierung schlägt mal wieder Alarm und übt sich damit erneut in der europäischen Inszenierungskür, bei welcher flüchtende Menschen als Bedrohung dargestellt werden, welche in einem hybriden Krieg das Land destabilisieren würden. Lettland sei aufgrund des noch nicht komplett fertig gestellten Zauns vorläufig noch die Schwachstelle der Region, was dazu führen würde, dass es zu «massenhaft» illegalen Grenzübergängen kommen würde. 

Hintergrund: Im Sommer 2021 machten sich überdurchschnittlich viele flüchtende Menschen auf den Weg über Belarus, Polen und letztlich die baltischen Staaten, um in Europa ein sichereres Leben zu ersuchen. Die belarussischen Behörden hatten den Menschen zuvor das falsche Versprechen gemacht, sie könnten von Belarus aus problemlos in die EU gelangen, um so im Zusammenhang mit den EU-Sanktionen gegen Belarus Druck auszuüben. Die fliehenden Menschen wurden zur «hybriden Gefahr» stilisiert, mit der der belarussische Diktator Lukaschenko die EU destabilisieren wolle. Damit wurden sie unfreiwillig zum politischen Spielball verschiedener Akteur*innen, welche sich gegenseitig vorwarfen, die flüchtenden Menschen als Druckmittel zu benutzen, sprich, sie zu «instrumentalisieren»

Ebenfalls im August 2021 verhängte Lettland den (regionalen) Ausnahmezustand. Dieser (Ausnahme-)Zustand wurde mehrfach verlängert und hält in südlichen und südöstlichen Teilen des Landes teilweise bis heute an. Unter den Bestimmungen des Ausnahmezustands dürfen Sicherheitskräfte physische Gewalt anwenden, um Migrant*innen zurückzudrängen. Grenzbeamt*innen sind während des Ausnahmezustands ausserdem nicht verpflichtet, Asylanträge von Migrant*innen zu akzeptieren. Konkret bedeutet dies: Der Ausnahmezustand entspricht einem Freifahrtschein für Menschenrechtsverletzungen, wovon das gewaltsame Zurückdrängen von Flüchtenden, kurz Pushbacks, eine davon ist. Im Juni 2023 hat das lettische Parlament ausserdem einer eklatant rechtswidrigen Gesetzesänderung zugestimmt, die de facto dafür sorgt, dass die anhaltende Praxis rechtswidriger Abschiebungen und die dehumanisierenden Praktiken gesetzlich legitimiert und damit normalisiert werden.  

Normen sind keine statischen Naturgesetzte, sondern umkämpfte, komplexe und menschengemachte Werteinheiten. Im Ausnahmefall wird die Norm – per Gesetzt – vernichtet. Da die Norm, welche in diesem Kontext die Menschenrechte darstellen, an Europas Aussengrenzen längst vernichtet wurde, ist der Ausnahmezustand – mindestens seit der Verschärfung der GEAS(Gemeinsames europäisches Asylsystem) Reform – im Begriff, die neue Norm darzustellen.

Im Dezember 2022 wurde die Reform verhindert, doch nun wird sie wieder unter Hochdruck verhandelt: Die Instrumentalisierungsverordnung lebt in der sogenannten Krisen-Verordnung wieder auf. Beim Treffen der EU-Innenminister*innen im Rat der EU im September 2023 wurde die lange umstrittene Krisenverordnung zwischen den Mitgliedstaaten vereinbart. In Zeiten von «Krise», «höherer Gewalt», oder eben «Instrumentalisierung» sollen Ausnahmeregeln gelten, die das Recht auf Asyl weitgehend aushebeln. Unter dieser Verordnung haben EU-Mitgliedstaaten, die – wie im Fall von Lettland – Situationen der «Instrumentalisierung» im Bereich Migration und Asyl ausgesetzt sind, das Recht, von ihren EU-rechtlichen Verpflichtungen abzuweichen.

Ein Ausnahmezustand erlaubt es einem Staat, bestimmte Menschenrechte unter extremen Umständen einzuschränken, wenn eine «Bedrohung für das Leben der Nation» besteht. Eine solche Bedrohung besteht weder in Polen, noch in Litauen oder Lettland. Vielmehr entspricht die Praxis dem Versuch, solche aussergewöhnlichen Befugnisse auszunutzen, um Menschen auf der Flucht zu kriminalisieren und die Menschenrechtsverletzungen, welche an den europäischen Aussengrenzen tagtäglich begangen werden, zur EU-Norm der systematischen Entrechtung zu machen. 

Get angry, get organized!

https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/lettland/dok/2022/gefluechtete-inhaftiert-gefoltert-zur-rueckkehr-gezwungen/report-latvia-return-home-or-never-leave-the-woods.pdf
https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/lettland-schutzsuchende-inhaftiert-gefoltert-abgeschoben
https://www.spiegel.de/ausland/lettland-ruft-wegen-migranten-aus-belarus-ausnahmezustand-aus-a-bd35c021-abf6-4627-affb-a56fa5e4cc1e
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/fehlender-grenzzaun-macht-lettland-zu-schaffen?partId=12500745
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/lettland-voelkerrechtswidrige-pushbacks
https://www.frnrw.de/themen-a-z/eu-fluechtlingspolitik-1/abkehr-der-bundesregierung-vom-koalitionsvertrag-und-menschenrechten.html

Teile des Grenzzauns seien immer noch nicht fertig, für die lettischen Behörden ein riesiges Problem. 

«Ruanda-Deal»: Britische Regierung unterzeichnet neuen Vertrag

Trotz eines Urteils des britischen High Courts im November, welches die Auslagerung des Asylprozesses und die damit einhergehenden Abschiebungen nach Ruanda als rechtswidrig bestätigte, schreiten die Pläne weiter voran.

Anfang Dezember hat die britische Regierung einen neuen Vertrag mit der Regierung in Ruanda unterzeichnet. Dieser ist eine Variante der bisherigen Vereinbarungen zwischen den zwei Regierungen, Menschen, die in Grossbritannien Asyl suchen nach Ruanda zu senden. Dorthin sollen nicht nur die Asylverfahren ausgelagert werden, sondern die asylsuchenden Menschen sollen letztlich in dem Land in Ostafrika auch Asyl erhalten.
Bereits seit Jahren versucht die britische Regierung den Weg für diesen Plan zu ebnen, auch die letzte Regierung versuchte, ihn in die Tat umzusetzen.
Einen ersten Flug von London nach Kigali hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EUGH) im Juni 2022 im letzten Moment gestoppt. Als Reaktion verfolgte die britischen Regierung die Idee, Gesetzesanpassungen vorzunehmen und den Gerichtshof als Instanz nicht mehr anzuerkennen.

Im Dezember letzten Jahres hatte der High Court in Grossbritannien das Urteil gefällt, die Abschiebungen nach Ruanda seien rechtmässig. Menschenrechtsorganisationen und Aktivist*innen hatten daraufhin ein Berufungsverfahren gefordert. Hierauf folgte im Juni wiederum das Urteil des Berufungsgerichts, die Abschiebungen seien rechtswidrig und Ruanda sei kein sicheres Land. Mitte November – also nur drei Wochen vor der Unterzeichnung des neuen Vertrags – bestätigte das höchste Gericht in Grossbritannien nun die Rechtswidrigkeit des geplanten Verfahrens. Dieses Gerichtsurteil möchte die britische Regierung mit einer neuen Gesetzgebung und angepassten Zusagen aus Ruanda umgehen.
Um mit den Plänen weiter fortzuschreiten, könnte sich die britische Regierung dazu entscheiden, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention auszutreten.

Gerichte sind von Machtverhältnissen und «blinden Flecken» durchzogen und Gerichtsverfahren sind häufig ungerecht; und sowohl die Gesetzgebung in Europa als auch die Europäische Menschenrechtskonvention sind weit davon entfernt, Bewegungs- und Bleibefreiheit zu garantieren.  Und trotzdem können diese Instanzen immerhin innerhalb des Rahmens einen geringe Art von Schutz und Kontrolle bieten.
Nun sehen wir eine beständige Aushöhlung dieser Instanzen. Zuerst wurden die Gesetze und Regelungen zwar offiziell anerkannt, aber dann im Verborgenen umgangen (s. z.B. die europäische Grenzschutzagentur Frontex und ihre Beteiligung an illegalen und brutalen Push-Backs von geflüchteten Menschen). Doch mittlerweile werden diese Gesetze und Regelungen also öffentlich missachtet, mit Gesetzesänderungen umgangen und «mit leichten Anpassungen» wird munter fortgefahren.
Dies ist eine gefährliche Entwicklung. Denn wenn demokratische Regierungen ihre demokratischen Werte ach so hochhalten (häufig einhergehend mit rassistischer und ideologischer Abwertung anderer), aber demokratische Instanzen ignorieren, bleibt von der Demokratie letztlich wenig übrig.

Zynisch: selbst in der Logik des Staates und des Kapitals macht das Vorhaben wenig Sinn. Denn während der britische Premierminister Rishi Sunak noch rassistische Narrative wiederholte und verlauten liess: «Illegale Migration zerstört Leben und kostet britische Steuerzahler Millionen Pfund pro Jahr. Wir müssen das beenden, und wir werden alles tun, was dafür nötig ist», können wir uns einerseits fragen, welche Leben hier eigentlich zerstört werden und andererseits die Zahlen anschauen, die das Projekt bisher britische Steuerzahler*innen mindestens gekostet hat: nämlich 240 Millionen Pfund.

https://www.derstandard.at/story/3000000195318/grossbritannien-darf-asylsuchende-nicht-nach-ruanda-abschieben
https://www.sueddeutsche.de/politik/grossbritannien-asylsuchende-urteil-abschiebung-ruanda-rechtswidrig-1.6303768
https://www.zentralplus.ch/news/gb-will-gefluechtete-abschieben-2602406/#comments

Todespolitik im Mittelmeer: Folter statt Rettung 

Durch die Hilfe von Frontex und der maltesischen Regierung werden Flüchtende in Seenot von der Tareq Bin Zeyad Miliz (TBZ) abgefangen und gefoltert. «Lighthouse Reports» hat am 11.12 erneut eine Recherche zu der anhaltenden Todespolitik und deren Verknüpfungen veröffentlicht.

Seit Mai 2023 operiert die TBZ, eine der gefährlichsten Milizen weltweit, ein Boot im zentralen Mittelmeer. Mit diesem Boot wurden bisher über 1’000 Flüchtende abgefangen, gefoltert und nach Libyen verschleppt. Verantwortlich dafür ist auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex und die maltesische Regierung, denn ohne ihre Flugzeuge hätte die Miliz kaum eine Chance gehabt, die Flüchtenden aufzuspüren.
«Lighthouse Reports» untersuchte das Vorgehen mithilfe vertraulicher EU-Dokumente, Positionsdaten von europäischen Überwachungsflugzeugen und Frachtschiffen, sozialer Medien von Milizangehörigen an Bord des TBZ-Schiffs, Insiderquellen in EU- und libyschen Institutionen, einer Analyse des Funkverkehrs und Zeug*innenaussagen. Die Untersuchung zeigt drei verschiedene Wege auf, wie Informationen über die Koordinaten der Boote von Flüchtenden von EU-Flugzeugen zu der TBZ gelangen.

–    Direkte Kommunikation durch einen Mayday-Ruf von Frontex: Am 26. Juli sandte ein Frontex-Flugzeug einen Mayday-Ruf mit den Koordinaten eines Boots in Seenot aus. Innerhalb weniger Minuten antwortete das TBZ-Schiff. Die zuständigen Behörden wurden erst danach kontaktiert, intervenierten nicht und überliessen so das Schicksal der Menschen der TBZ. Nach einer Stunde verliess das Frontex-Flugzeug das Gebiet und liess unbeobachtet den «Pullback» nach Libyen zu.
–    Indirekte Kommunikation durch Tripolis: Frontex teilt routinemässig die Koordinaten von Schiffen mit Flüchtenden mit den libyschen Behörden. Im Frontex-eigenen System wurde festgehalten, dass die am 16. August geteilten Koordinaten an die TBZ weitergegeben wurden und zu einem «Pullback» durch diese führten.
–    Direkte Kommunikation mit der maltesischen Armee: Am 2. August wurde ein Pilot mit maltesischem Akzent aufgezeichnet, der Koordinaten an die TBZ weitergab. Stunden später wurde das TBZ-Schiff von NGOs in der Nähe der Koordinaten gesichtet. Die maltesische Armee hat den Vorfall nicht abgestritten.

Die TBZ wird von Saddam Haftar, dem mächtigen Sohn des ostlibyschen Warlords Khalifa Haftar, geleitet. Auch in geheim gehaltenen Dokumenten der EU wird beschrieben, wie die TBZ-Miliz Menschenhandel betreibt und von der russischen privaten Militärgruppe PCM-Wagner unterstützt wird. Nichtsdestotrotz möchte Frontex sich nicht dazu äussern, ob die TBZ ein geeigneter Partner für sie sei.

Welche Gräueltaten durch die Zusammenarbeit mit der TBZ ermöglicht werden, ist in den Geschichten der Überlebenden zu finden. So berichtet ein Zeuge, die TBZ-Crew habe ihm die Augenbrauen und Wimpern abrasiert und seinen Kopf verstümmelt. «They beat us until our bodies turned black,» sagte er. «Then they threw our bodies in the water».

Er berichtet weiter, dass er und andere Flüchtende über Nacht stundenlang im Hafen von Benghazi neben dem angedockten Schiff liegen gelassen wurden, während das Salz in ihren Wunden brannte. Um 4 Uhr morgens holten sie ihn und schlugen ihn weiter.
Schliesslich zwangen die bewaffneten Männer ihn, einen orangefarbenen Häftlingsanzug zu tragen und sich an eine Wand zu stellen. Sie eröffneten das Feuer und lachten, als er zusammenbrach. Erst als er das Bewusstsein wiedererlangte und seinen Körper auf Blut absuchte, stellte er fest, dass die Kugeln ihn nicht getroffen hatten.
Genauso, wie die Betroffenen nie vergessen werden, was die Todespolitik im Mittelmeer mit ihnen gemacht hat, werden wir ihre Geschichten nie vergessen. Nutzen wir unsere Wut und Trauer, um dieser Gewalt ein Ende zu setzen.

https://www.lighthousereports.com/investigation/frontex-and-the-pirate-ship/

David Lohmueller – Sea-Watch.org
Auf einem Boot im Mittelmeer der TBZ Miliz müssen Menschen zusammengepfercht ausharren. Auf sie wartet Folter und Versklavung in Libyen, statt ein sicherer Hafen und eine lebenswerte Zukunft.

Europaparlament: Frontex soll sich aus Griechenland zurückziehen

Die griechische Küstenwache setzt in der Ägäis flüchtende Menschen auf dem Meer aus. Wie Frontex an diesen Menschenrechtsverletzungen beteiligt ist, machte 2020 eine Medienrecherche publik. Nun fordert das Europaparlament Konsequenzen: Frontex solle sich aus Griechenland zurückziehen. 

Am 14. Dezember stimmte das Europaparlament mehrheitlich einer Resolution zu, die von Frontex verlangt, ihre Aktivitäten in Griechenland «zu reduzieren» und sich auf das «Monitoring» von möglichen Menschenrechtsverletzungen zu konzentrieren. 

Die Abgeordneten reagierten damit auf Recherchen des SPIEGEL, Lighthouse Reports und anderer Medien. Die Recherchen zeigten auf, wie die griechische Küstenwache in der Ägäis systematisch flüchtende Menschen stoppte, aufs Meer hinausschleppten und dort in kleinen antriebslosen Rettungsinseln aussetzten. Auch Frontex war daran beteiligt: Es war die EU-Grenzschutzagentur, die zuvor die Boote der flüchtenden Menschen ortete oder stoppte und sie den griechischen Behörden übergab – im Wissen um die Konsequenzen. 

Wenn es zu «schwerwiegenden und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen» kommt, ist Frontex nach Artikel 46 der eigenen Regularien dazu verpflichtet, Missionen zu beenden oder zumindest teilweise auszusetzen. Es ist jener Artikel, auf den sich  das EU-Parlament nun bezieht. Auslösen kann ihn nur Fabrice Leggeri’s Nachfolger, der Frontex-Chef Hans Leijtens. 

https://www.spiegel.de/ausland/griechenland-europaparlament-draengt-auf-frontex-rueckzug-nach-pushbacks-gegen-fluechtlinge-a-a1ef75f3-1d71-4667-b025-f02afab05bce

Frontex Direktor Hans Leijtens

Was schreiben andere?

Einstellung vom Fall Lamin Fatty

Ein Artikel von Droit De Rester Lausanne

Lamin Fatty war ein junger, Schwarzer Mann, welcher in Gambia geboren, und  in der Schweiz einen Asylantrag gestellt hat. Sein Tod ist das Ergebnis einer Kette von (Un-)Verantwortlichkeiten, in die das Grenzwachtkorps, das Personal des Universitätsspitals Lausanne und die Waadtländer Gendarmerie vor dem Hintergrund eines tödlichen Asylsystems involviert sind. Zu dieser Liste der Schuldigen kam am Montag die Justiz hinzu, als die Staatsanwältin den Fall einstellte.

Am 22. Oktober 2017 wurde Lamin Fatty im Bahnhof von Lausanne von Beamten des Grenzwachtkorps willkürlich und rechtswidrig festgenommen. Sie verwechselten ihn mit einem anderen Lamin Fatty, der im Kanton Luzern registriert war. Am Abend seiner Festnahme wurde Lamin Fatty von Erbrechen und Kopfschmerzen geplagt und in das CHUV (Centre hospitalier universitaire vaudois) gebracht. Obwohl seine Epilepsiediagnose und seine tägliche Medikation in seiner Akte vermerkt waren, wurde ihm kein Medikament gegeben, um die Vorboten dieses Anfalls zu stoppen. 

Lamin wurde kein Dolmetscher angeboten, obwohl er kein Französisch sprach und Englisch nur schlecht beherrschte. 

Nach einer langen Nacht, die eine gewöhnliche Betreuung ermöglicht hätte, wurde bei Lamin eine Sinusitis diagnostiziert und er wurde am Morgen in den Händen der Polizei aus dem CHUV entlassen, ohne einen Vorrat an antiepileptischen Medikamenten. Bei seinem Treffen mit Lamin Fatty versäumt es der Krankenpfleger der Polizeistation, die computergestützte Akte des CHUV zu konsultieren, obwohl er Zugang dazu hat. Hätte er sich die Akte angesehen, hätte er schnell festgestellt, dass Lamin vor kurzem operiert wurde und dass er eine wichtige Behandlung für seine Epilepsie benötigt. Auch hier wurde kein Dolmetscher hinzugezogen. 

Am nächsten Morgen, Dienstag, erleidet Lamin vor der Überwachungskamera über eineinhalb Stunden lang einen epileptischen Anfall. Es wurde nichts unternommen, um ihm Hilfe zu leisten. Der Bericht der Gerichtsmediziner*innen bestätigt, dass ein zu niedriger Grenzwert für Antiepileptika seinen Anfall begünstigt hat, der tödlich endete. Der Zentralist, der für die Überwachung der Bilder der Überwachungskameras zuständig ist, bleibt seltsam “blind” für die offensichtlichen Zeichen der Not, die Lamin während seines langen Todeskampfes zeigt.

Der Tod von Lamin Fatty ist das Ergebnis einer Kette von schweren Fehlern und Versäumnissen, für die mehrere Institutionen verantwortlich sind. Der Fehler der Staatsanwältin besteht darin, dass sie davon ausgeht, dass niemand verantwortlich ist, obwohl das Gegenteil der Fall ist: Alle Beteiligten sind verantwortlich. Es ist die Summe aller rassistischen Entscheidungen dieser staatlichen und öffentlichen Einrichtungen, die zu seinem Tod geführt haben. ​Die Familie von Lamin Fatty hat einen Rekurs gegen diesen Entscheid beim Kantonalgericht eingereicht. ​​​​​​

Während die Fälle von Hervé Bondembe Mandundu, Mike Ben Peter und Roger Nzoy Wilhelm noch immer nachhallen, zeigt die Justiz einmal mehr, dass sie völlig unwillig ist, das Problem der rassistischen Gefängnis- und Polizeigewalt im Kanton Waadt anzugehen.

Wo gabs Widerstand?

Raissis Teilnahme Global Refugee Forum verhindert

In Genf diskutierten am «Global Refugee Forum» Staatsvertretende aus der ganzen Welt über den UN-Pakt für Flüchtlinge. Es blieb wie zu erwarten bei vielen Lippenbekenntnissen. Gegen die heuchlerische Idee mit dem iranischen Mullah-Regime über Menschen- und Flüchtlingsrechte plaudern zu wollen, wehrten sich (exil-)politische Iraner*innen. Mit einem gewissen Erfolg. Der Besuch des iranischen Präsidenten Ebrahim Raissi wurde verhindert. 

Niemand weniger als der iranische Präsident Ebrahim Raissi hätte das Mullah-Regime vertreten sollen. Raisi hat nie Geflüchtete geachtet. Im Gegenteil. Raisi soll für das Massaker an 5.000 bis 30.000 politischen Gefangenen im Jahr 1988 verantwortlich sein. Er sei einer von vier Hauptverantwortlichen des so genannten “Todeskomitees”. Dieses hatte die Verantwortung dafür, dass politische Gefangenen hingerichtet wurden, weil sie Volksmudschaheddin-Organisationen unterstützten.

Doch geflüchtete Aktivist*innen, die unter der Verantwortung dieses Mannes gefoltert und unrechtmässig inhaftiert waren, bevor ihnen die Flucht gelang, reichten in Bern Strafanzeige gegen ihren Peiniger ein. Daraufhin hiess es plötzlich der Besuch von Raissi am Global Refugee Forum sei annulliert.

Während iranische Minister*innen am Forum im Namen der Mullahs Cüpli tranken und auf die Menschenrechte anstossen durften, organisierten dieselben oppositionellen Gruppen eine Medienkonferenz. Geflüchtete, Anwält*innen, Menschenrechtsverfechter*innen und geopolitische Expert*innen aus dem Iran stellten ihre Kritik und Schattenberichte vor.

https://www.swissinfo.ch/eng/business/iranian-president-ebrahim-raisi-cancels-geneva-trip-amid-calls-for-his-arrest/49051992
https://aijac.org.au/fresh-air/un-embraces-iranian-human-rights-abusers-at-refugee-forum/
https://www.youtube.com/watch?si=8V6XZDwkty3RjeIW&embeds_referring_euri=https%3A%2F%2Funwatch.org%2F&source_ve_path=Mjg2NjQsMTY0NTA2&feature=emb_share&v=0SDaoHWZlTA

Video: Medienkonferenz der Kritiker*innen

Sechs Monate nach dem Massaker von Pylos – Kein Vergeben, kein Vergessen

Am letzten Freitag versammelten sich Menschen in Zürich um bei einer CommemorAction den beim Massaker von Pylos Getöteten zu gedenken und unserer anhaltenden Wut über das EU-Grenzregime Ausdruck zu verleihen.

Text von Alarmphone

Heute vor sechs Monaten wurden im Mittelmeer mindestens 600 Menschen getötet. Am 14. Juni 2023 ertranken sie vor der griechischen Küstenstadt Pylos – während die griechische Küstenwache zusah. Zahlreiche Seenotrettungsleitstellen, verschiedene Küstenwachen und die EU-Grenzschutzagentur Frontex waren bereits viele Stunden zuvor über das in Seenot geratene Boot informiert worden. Ein Schiff der griechischen Küstenwache war sogar schon stundenlang am Ort des Geschehens. Doch die völlig überfüllte “Adriana” mit rund 750 Menschen an Bord wurde nicht gerettet. Nach Berichten von Überlebenden sank sie, als die griechische Küstenwache versuchte, das Boot mit einem Seil zu ziehen. War dies ein erfolgloser Versuch, das Boot aus der griechischen Rettungszone in Richtung italienische Gewässer zu ziehen, wie einige Überlebende glaubten? Es gibt viele Faktoren, die für dieses Szenario sprechen. Eines ist klar: Pylos war kein Unfall, es war ein weiteres Massaker im Mittelmeer. Es war die Folge der EU-Migrationspolitik und der eskalierenden Brutalisierung der Grenzabwehr auf See, an Land und im öffentlichen Diskurs.

Kein Vergeben, kein vergessen: Wir formen aus unserem Schmerz ein kollektives Gedächtnis und kämpfen weiter für die Bewegungsfreiheit für alle – für eine solidarische Gesellschaft und die Freiheit für alle, selbst über ihr Leben zu entscheiden.

In Solidarität vereint – Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für alle!

https://alarmphone.org/en/2023/12/14/well-never-forget-well-never-forgive-6-months-after-the-pylos-massacre/?post_type_release_type=post

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Migration – Wie erpressbar ist die EU?
Die Europäische Union verwandelt sich in eine “Festung”, die Migrant*innen abwehrt: Illegale Pushbacks, unmenschliche Bedingungen in Internierungslagern, Tote auf der Fluchtroute. Um Geflüchtete an der Einreise zu hindern, hat die EU in den letzten Jahrzehnten eine neue Strategie entwickelt und ihre Grenzen nach außen verschoben. Diese Politik trägt einen Namen: Externalisierung.
https://www.arte.tv/de/videos/108969-000-A/migration-wie-erpressbar-ist-die-eu/

Illegal nach Deutschland – halten Grenzkontrollen Schleuser auf?
Seit dem 16. Oktober 2023 sollen Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien illegale Einreisen verhindern. Funktioniert das? Was sagen die Bewohner der Grenzregionen? Und: Kann man so den Schleusern das Handwerk legen?
https://podcasts.apple.com/ch/podcast/mdr-investigativ-hinter-der-recherche/id1500550578?i=1000638672736

Deutschland kippt nach rechts
Die Bundes­republik hat 2023 einen dramatischen Rechtsruck erlebt. Ein Ende ist bislang nicht in Sicht – wenn sich nicht endlich einiges ändert. Sechs Strategien, um der rechten Mobilisierung entgegen­zuwirken.
https://www.republik.ch/2023/12/13/deutschland-kippt-nach-rechts

Die Route des Todes
Zwischen Tunesien, Libyen und Italien sind dieses Jahr mindestens 1300 Menschen auf der Flucht im Meer verschwunden, so viele wie seit Jahren nicht mehr.
https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/mittelmeer-migranten-tot-tunesien-libyen-italien-e276112/?reduced=true

Warum die Machtübernahme durch die AfD schon früher beginnen könnte, als viele glauben
Erst der Wahlsieg, dann der Griff nach dem höchsten Amt im Parlament: Die AfD könnte die Demokratie in Thüringen im kommenden Jahr auf eine sehr ernste Probe stellen. Aber das Schlimmste ließe sich verhindern – noch.
https://verfassungsblog.de/warum-die-machtubernahme-durch-die-afd-schon-fruher-beginnen-konnte-als-viele-glauben/