Festung im Ausbau, Horrorshow im Nationalrat, Identitäre in Afrika

Was ist neu?

Drastisch: Europa verschärft das Migrations- und Asylregime

In Luxemburg schnürten die Justiz- und Innenminister*innen der Schengen-Staaten zwei einschneidende Verschärfungspakete. Offiziell ist sexy von einem neuen „Solidaritätsmechanismus“ die Rede. Die Solidarität der Minister*innen gilt jedoch nicht den flüchtenden Migrant*innen, sondern den ultrarechtsregierten Grenzstaaten Italien, Kroatien, Griechenland, Ungarn.

Das erste Verschärfungspacket soll die heutige Dublin-Verordnung ersetzen. Die Änderungen schränken die ohnehin eingeschränkten Rechte von sogenannten Dublin-Fällen weiter ein und beschleunigen die ohnehin rasch durchgeführten Dublin-Ausschaffungen. Neu sollen auch unbegleitete minderjährige Asylsuchende von Dublin-Abschiebungen betroffen sein und in jene Staat abgeschoben werden, wo sie als erstes erkennungsdienstlich erfasst wurden. Durch die vielen Abschiebungen in Grenzstaaten wie Italien, Griechenland oder Kroatien würden diese innerhalb der Festung Europa weiterhin für vergleichsweise viele asylsuchende Menschen zuständig bleiben. Deshalb einigten sich die Minister*innen auf ein menschenfeindliches System, das sie Solidaritätsmechanismus nennen: Dieser soll dann greifen, wenn Grenzstaaten einen „Migrationsdruck“ empfinden. Die anderen Schengenstaaten müssten dann entweder durch sogenanntes „Relocation“ Asylsuchende oder Flüchtlinge aus den Grenzstaaten aufnehmen. Doch wenn sie nicht wollen, können sie auch einfach 20.000 € pro nicht aufgenommener Person bezahlen. Dieses Geld kann an die Grenzstaaten fliessen, doch es können damit auch aussereuropäische Drittstaaten gesponsert werden, falls diese sich europatreu an der Flüchtlingsabwehr beteiligen.

Das zweite Verschärfungspacket besteht in der Einführung von sogenannten Grenzverfahren in riesigen geschlossenen Camps direkt im Grenzgebiet. Obwohl sie sich auf EU-Boden befinden, gelten Personen dort noch als „nicht eingereist“, wodurch rechtlich erlaubt wird, sie zu entrechten. Das Grenzverfahren dauert 12 bis 16 Wochen. Die meisten, die in Europa ankommen, werden es durchlaufen müssen. In dieser Ausnahmesituation, die als Bestrafung erlebt werden kann, sollen Personen, nachdem sie Flucht oder die Reise über ein Meer überlebten haben und oft an Traumas leiden, ihre Asylgründe glaubwürdig und fundiert geltend machen. Im besten Fall geht es weiter in andere Camps zur weiteren Prüfung. Doch der Vorrang des Grenzverfahrens liegt beim Ablehnen und Abschieben. Gesuche von Staatsangehörigen, bei denen die EU-weite durchschnittliche Anerkennungsquote des Herkunftsstaats unter 20 Prozent liegt, müssen z.B. gar nicht erst geprüft. Gemäss Statistiken betrifft dies aktuell sämtliche Personen aus Russland, Pakistan, Nigeria und Bangladesch. Die negativen Asylentscheide an der Grenze werden massiv zunehmen. Deshalb erleichterten die Minister*innen die Bedingungen für Abschiebungen. Neu wird es leichter, Personen nicht nur in den Herkunftsstaat sondern auch in irgendwelche sogenannt „sichere Drittstaaten“ abzuschieben.

Als nächstes befasst sich das europäische Parlament mit den Verschärfungen. Das beschleunigte Grenzverfahren in den geschlossenen Riesencamps ist eine Verschärfung des europäischen Asylverfahrens. Das EJPD lies verlauten, dass die Schweiz zwar nicht verpflichtet sei, diese zu unterstützen. Doch die Idee schnellerer Verfahren sei „auch aus eigener Erfahrung“ super: „Die Schweiz hat den europäischen Partnern signalisiert, sich mit den anderen Dublin-Staaten solidarisch zeigen zu wollen“. Das erste Verschärfungspaket betreffend des Dublinsystems muss die Schweiz entsprechend dem Assoziierungsabkommen übernehmen. Bzw. muss das Parlament entscheiden, ob es sie annimmt oder aus dem Dublin-System aussteigt. Das EJPD und die SP-Bundesrätin Baume-Schneider begrüssen die Verschärfnungen: „Sie haben zum Ziel, die Effizienz des Systems zu erhöhen, Sekundärmigration zu erschweren und die Rechte und Pflichten der Gesuchsteller genauer zu definieren.“ Dagegen kann auch das Referendum ergriffen werden.

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-95611.html
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/eu-pakt-fluechtlingsschutz-und-menschenrechte-sollen-geopfert-werden
https://www.proasyl.de/news/ausverkauf-der-menschenrechte-deutschland-stimmt-fuer-aushebelung-des-fluechtlingsschutzes/

Was geht ab beim Staat?

Rassistische Horrorshow am feministschen Streiktag

Ausgerechnet am 14. Juni steht im Nationalrat eine Sondersession zu Migrationsthemen an. Der bürgerliche Rassimus von SVP und Mitte kennt keine Grenzen mehr. Aber von Links werden an diesem Tag maximal Pilotprojekte und Evaluationsberichte gefordert.

Was sind die Forderungen von Rechts:

Roger Köppel (SVP) fordert, dass Asylgesuche nur geprüft werden, wenn die Personen über den Luftweg einreisen. Asylsuchende müssen glaubhaft machen, dass sie „nicht über ein angrenzendes Land eingereist“ seien.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233200

Georg Rutz (SVP) stellt „schwerwiegende Mängel bei Kontrollen an den Aussengrenzen“ fest und fordert in Anlehnung an den Schengener Grenzkodex Artikel 29 die Wiedereinführung von systematischen Kontrollen entlang der Schweizer Grenzen.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233074

Andreas Glarner (SVP) fordert im Schweizer Grenzgebiet Transitzonen zur Durchführung sämtlicher Asylverfahren. Auf andernorts gestellte Gesuche wird nicht mehr eingetreten. Die eigentliche Einreise solle ausschliesslich nach einem positiven Asylentscheid bewilligt werden. Diese Transitzonen sind wohlverstanden geschlossen, also Knäste.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20224397

Martina Bircher (SVP) fordert, dass das Ressentiment-Programm, das KKS kurz vor ihrem Abdanken stoppte, für weitere Jahre auszusetzen sei.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233072

Marchesi Piero (SVP) fordert dringend ein Konzept, damit „die Zahl der Rückführungen und Ausweisungen in den kommenden Jahren deutlich erhöht werden kann.“ Dies solle auch geschehen, indem die Entwicklungshilfe gestrichen und Sanktionen gegen Staaten des globalen Südens ergriffen werden können.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233073

Romano Marco (Mitte) fordert ein Abkommen mit Österreich. Es soll ähnlich dem bereits existierenden Abkommen mit Italien „zur erleichterten Rückübernahme von Personen mit unbefugtem Aufenthalt“ dienen. Tausende Flüchtende im Transit durch die Schweiz wären Opfer dieses Deals.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20224186

Auf diese Welle antwortet die Ratslinke mit zwei Vorschlägen:

Samira Marti (SP) will die Erfahrungen mit den Geflüchteten aus der Ukraine evaluieren lassen. Die private Unterbringung von anerkannten Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen biete Integrations- und Sparpotential für Bund, Kantone und Gemeinden.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233203

Nathalie Imboden (Grüne) schlägt ein Pilotprojekt für sogenannt „Community Sponsorship Programme“ vor. Damit gemeint sind Einreisemöglichkeiten, die für rechte Politiker*innen auch attraktiv sein könnten, weil der Staat nur einen Teil der Verantwortung übernehmen muss. So könnten z.B. vom UNHCR Personen analog zum Resettlement Verfahren ausgewählt und nach der Einreise von einer Privaten (Kirche, NGOs) unterstützt werden. In anderen Staaten gibt es solche Programme. Die Privaten müssten sich während der ersten zwei Jahre für die Integrationsmassnahmen, die Unterbringung und die Finanzierung verpflichten.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233035

Die Gründliberalen reichten über Judith Bellaiche (GL) ebenfalls einen Vorschlag ein. Sie propagieren die Annahme (ohne gesichertes Wissen), dass eine 10-Millionen-Schweiz vielen Angst mache. Der Bundesrat solle deshalb aufzeigen, inwiefern sich der Wohnungsmarkt, die Verkehrsnetze, das Bildungs- und Gesundheitssystem oder die Altersvorsorge angesichts der Migration und des Bevölkerungswachtums verändern: „Dabei soll auch der Finanzierungsbedarf der Massnahmen und die Auswirkungen auf unseren Wohlstand benannt werden“.
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233042

Was ist aufgefallen?

Rassistische Kampagne der „Identitären“

In Deutschland startet die rechtsradikale «Identitäre Bewegung» die Kampagne “No Way – Do not come to Europe”. Das Ziel: Menschen in verschiedenen afrikanischen Ländern zu überzeugen, sich nicht auf die Reise nach Europa zu begeben. Im Rahmen der Kampagne seien in verschiedenen afrikanischen Städten gosse Schilder installiert worden.

Die drei Grundforderungen der Kampage sind:
1. Aufbau ökonomischer Sonderzonen zur örtlichen Aufbauhilfe. Vorausschauende Migrationspolitik bekämpft die Ursachen der Migration bereits an der Quelle.
2. Gründung lokaler Stiftungen und Werbeagenturen, die zielgerichtet auf die öffentliche Meinungsbildung der afrikanischen Gesellschaften einwirken und dazu animieren, sich eine Zukunft in der eigenen Heimat aufzubauen, statt nach Europa einzuwandern.
3. Politischer Einsatz für eine international agierende Polizei- und Militär-Task-Force zur Bekämpfung der Menschenschlepperstrukturen in Afrika.

Klar, dass koloniale Ausbeutung und Kriege sowie klimatisch bedingte Gründe keine Erwähnung finden. Diese Gründe stünden ja im Widerspruch zur Aufrechterhaltung von Vorherrschaft und Wohlstand des globalen Nordens und des Überlegenheitsgefühls faschistischer Organisationen.

https://www.identitaere-bewegung.de/neuigkeiten/no-way-do-not-come-to-europe-identitaere-aufklaerungskampagne-in-afrika-gestartet/
https://www.identitaere-bewegung.de/themen/no-way/
https://no-way-to-europe.com/

Kopf der Woche

Müller lässt den Ständerat beschliessen, abgewiesenen Eritreer*innen in Drittländer auszuschaffen

Am Montag sagte der Ständerat mit 20 gegen 18 Stimmen ja zu einem Vorschlag FDP-Müller aus Luzern. Dieser verlangt ein Pilotprojekt, um abgewiesene Asylsuchende in ein Drittland statt ins Herkunftsland auszuschaffen. Dieses Land würde dafür von der Schweiz entschädigt. Der Vorschlag geht nun an den Nationalrat.

Mit dem Entscheid zeigt der Ständerat, dass ernichts von den Grundrechten der Betroffenen hält, sie sind ihm schlichtweg gleichgültig. Müller überzeugte mit Fake-News. Er sagte, abgewiesene Personen erhalten in der Schweiz zu viel Sozialhilfe. Doch in Wahrheit überleben Abgewiesene von der Nothilfe: 8 bis 10 Franken pro Tag, einen Platz im Camp und die obligatorische Krankenversicherung. Trotzdem überzeugte Müller.

Es war übrigens der gleiche Müller, der 2018 eine Motion einreichte, in der er den Bundesrat aufforderte, „so viele vorläufige Aufnahmen wie möglich aufzuheben“. Wer diesen Status aufhebt, nimmt den Menschen die letzte Möglichkeit zur Selbstbestimmung und treibt sie aktiv in die Abhängigkeit der Nothilfe. „Müller spielt Feuerwehrmann und Brandstifter, indem er haarsträubende Lösungen für Probleme vorschlägt, die er selbst geschaffen hat“, schreiben dazu der Eritreische Medienbund Schweiz und Solidarité sans frontières in einer gemeinsamen Stellungnahme.

https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2023/20230605184015523194158159038_bsd122.aspx
https://www.sosf.ch/de/themen/migrationspolitik/informationen-artikel/230406_motion-fdp.html?zur=41

Wo gabs Widerstand?

Widerstand gegen Polizeirassismus in Basel

Schläge ins Gesicht, in den Bauch, Würgegriffe an Menschen in Handschellen: Mindestens vier Migrant*innen wurden dieses Jahr von der Polizei in Basel zusammengeschlagen. Das No More Komitee und Drei Rosen gegen Grenzen veröffentlichten Fotos, Erfahrungs- und Arztberichte. Strafanzeigen gegen einen Polizisten wurden eingereicht.

„Er hat mir Handschellen hinter dem Rücken angelegt und sie sehr eng zugezogen. Dann hat er mich ins Auto gebracht. Sobald wir im Auto waren, hat er mich in den Würgegriff genommen und lange Sekunden gewürgt.“ So wird eines der Opfer auf Twitter zitiert. Andere betroffene Migrant*innen berichten von Polizeieinheiten, die ungehemmte Gewalt an People of Colour ausüben und sich für unantastbar halten. Eine andere betroffene Person wird auf Twitter zittert: „Ich habe gefragt, warum er das tut, worauf er antwortete, dass er es tut, weil er es kann.“ Der Polizist, der dies sage, sei keine Einzelfall. Ganze Einheiten seien beteiligt oder würden zumindest wegschauen. Bisher werden solche Praxen von ganz oben seitens der Polizeiführung Eymann und Roth gedeckt. Die beiden Kollektive schreiben dazu: „Die Staatsgewalt trifft rassifizierte und illegalisierte Menschen auf einer alltäglichen Ebene umso mehr. Häufig ist keine Öffentlichkeit anwesend, um zu dokumentieren oder sich zumindest zu empören. Häufig heisst es in solchen Fällen: Einzelfall. Doch: Rassistische Gewaltanwendung ist Alltag bei der Polizei.“

Nun rufen die Kollektive zu einer Demo auf! Samstag, 17. Juni, 15 Uhr, Claraplatz Basel

https://twitter.com/3rosen/status/1666907860402405378/photo/1