Unverhältnismässige Rückstufungen, aufrüttelnde Antisemitismus-Zahlen, menschenfeindliches FDP-Migrationspapier

In Zürich gingen am Samstag hunderte Menschen anlässlich des 1. Todestages von Nzoy auf die Strasse.
In Zürich gingen am Samstag hunderte Menschen anlässlich des 1. Todestages von Nzoy auf die Strasse.

Was ist neu?

Erschreckende Antisemitismuszahlen, die zu wenig bewegen

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) hat letzte Woche ihren Antisemitismusbericht veröffentlicht. Mediale Aufmerksamkeit erhielt der Bericht kaum, nur eine einzige Zeitung griff das Thema auf. Antisemitismus wird in der Schweiz immer noch kleingeredet und kaum thematisiert. Eine intensive Auseinandersetzung mit Antisemitismus findet weder in der institutionalisierten Politik noch in der linken Bewegung statt.

Gemäss dem Bericht sind 8% der Schweizer Bevölkerung antisemitisch eingestellt. 22% neigen zu antisemitischen Stereotypen. 285 antisemitische Vorfälle wurden seit Inkrafttreten der Antirassismus-Strafnorm 1995 und bis 2020 vor Gericht verhandelt und es kam zu 217 Strafurteilen. Diese Zahlen sind nicht unwesentlich, im Vergleich zum Antisemitismusbericht des Schweizerisch Israelischen Gemeindebundes (SIG) aber noch um einiges tiefer. Das SIG führt eine eigene Meldestelle für antisemitische Vorfälle: Angriffe, Beschimpfungen, Schmierereien, Nachrichten oder Onlinebeiträge auf Sozialen Medien werden darin dokumentiert. Allein im Jahr 2021 wurden beim SIG knapp 860 antisemitische Vorfälle gemeldet. Der grösste Teil davon waren Onlinevorfälle auf dem Messenger-Dienst Telegram. Insbesondere diese hätten 2021 stark zugenommen.

Im Bericht hält das SIG fest, dass in den aktuellen Krisen das Bedürfnis nach Sündenböcken mit antisemitischen Klischees und Theorien befriedigt wird. Jonathan Kreutner, Generalsekretär des SIG, sagt, dass die jüdische Minderheit als historisch gewachsener Südenbock oft ein Seismograf für Diskriminierungstendenzen in der Gesellschaft ist. Er meint damit, dass die Pandemie und die Mobilisierung der Coronaleugner sowohl Nährboden für Antisemitismus wie auch für Rassismus waren. Sichtbar wurde das unter anderem an der antisemitischen Symbolik der Corona-Demos und der Verbreitung von Verschwörungstheorien zur jüdischen Weltübernahme.

Verschwörungstheorien, schreibt die jüdische queer_feministische Autorin Debora Antmann, mögen für manche Menschen absolut lächerlich klingen. Für viele seien sie aber auch eine einfache Anschlussmöglichkeit, um eine Zielscheibe für ihr Leid und ihre Angst zu haben. Die Dauerhaftigkeit der Macht, die Verschwörungstheorien haben, zeigt sich zum Beispiel im antisemitischen Pamphlet «Die Protokolle der Weisen von Zion». Dieses gehört immer noch zu den weitverbreitesten Dokumenten des modernen Antisemitismus, obwohl es bereits in den 1920er Jahren als Fälschung enttarnt wurde. Doch noch 2020 hat die PNOS den Text abgedruckt. Diese unglaubliche Tatsache und der Bericht der EKR und der SIG zeigen, dass für Jüd*innen die Schweiz nicht immer ein sicherer Ort ist. Sie bewegen sich in einer Welt, die «gojnormativ» (nicht-jüdisch (gojische) dominiert) ist und fallen trotzdem oft aus linken Antidiskriminierungsdiskursen, weil sie als Teil der weissen Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen werden. Debora Antmann schreibt, dass es in der linken Bewegung ein Bewusstsein dafür braucht, dass «die Auseinandersetzung mit Antisemitismus uns alle angeht». Die Aufgabe von linken Communities besteht gerade zu heutigen Zeiten darin, Antisemitismus zu bekämpfen und sich auch in Bezug auf diesen zu reflektieren und zu bilden.

Eine Lektüreempfehlung an dieser Stelle ist das Buch «Gojnormativität» von Judith Coffey und Vivien Laumann. Es thematisiert jüdische Positionen und deren Fehlen in vielen intersektionalen Ansätzen. Verantwortungsübernahme kann auch darin bestehen, beobachtete antisemitische Vorfälle beim SIG zu melden: swissjews.ch/vorfallmelden.

https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/202705/
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/210333/die-protokolle-der-weisen-von-zion/

Was ist aufgefallen?

Was steckt wohl hinter dem FDP Migrationspapier?

«Hart, aber fair» betitelt die FDP ihr neuestes neokoloniales Migrationspapier zynisch. In den kommenden Jahren wolle die Partei erstens alles daran setzen, die europäische Personenfreizügigkeit zu erhalten. Und zweitens den allermeisten nicht-europäischen Arbeitskräften das Recht auf Bewegungsfreiheit verweigern. Nicht-europäische Arbeitsmigrant*innen sollen mit bekannten Mitteln bekämpft werden: Entrechtung, Repression und Gewalt, sowie finanzielle Sanktionen.

Logo zum neuen FDP-Positionspapier.

Das FDP-Migrationspapier ist voll mit Forderungen nach mehr Ungleichbehandlung von Menschen, welche nicht aus dem Schengenraum stammen. Damit greift die FDP auf eine lange Tradition des sogenannten Liberalismus zurück. Bereits in der Aufklärung sagten liberale Stimmen: „Menschenrechte ja“ und schlossen gleichzeitig Menschen aus dem Globalen Süden, aber auch Frauen von diesen Rechten aus. Heute sagt die FDP: „Ja zur Personenfreizügigkeit!“ und mauert weiter an der Festung Europa.

Die FDP sieht zwar Gründe, warum Nicht-Europäer*innen migrieren: „Klimawandel, wachsendes Gefälle NordSüd, entfachte Bürgerkriege in Afrika oder Naher/Mittlerer Osten und erhöhte soziale Spannung aufgrund des Wohlstands,“ einwandern dürfen nicht-europäischen Personen aber ausschliesslich, wenn es ihnen (1) gelingt, vom rassistischen SEM Asyl zu erhalten oder, wenn sie (2) von der Wirtschaft – im Falle von Fachkräftemangel – ausdrücklich gerufen werden.

Pauschal brandmarken die Liberalen nicht-europäische Migrant*innen als „wachsenden Druck“, „irregulär“, „unvorhersehbar“, „überfordernd“, „belastend“. Gegen diesen „Migrationsdruck“, den „permanenten Anstieg der Anzahl an vorläufig aufgenommenen Flüchtlingen“ oder den „Anstieg der Zahl von Staaten, die abgewiesene Asylbewerber nicht zurücknehmen“ will die Partei noch gewaltvoller vorgehen und fordert:

– Mehr Dublin-Abschiebungen: Auch in Staaten wie Griechenland, Kroatien oder Ungarn, wo sogar das SEM aus Menschenrechtsgründen auf Dublin-Abschiebungen verzichtet, indem es das sogenannte „Selbsteintrittsrecht“ der Schweiz nutzt und Asylgesuche behandelt. Dieses Selbsteintrittsrecht will die FDP angreifen.

– Abschiebung von vorläufig Aufgenommenen (Ausweis F): Die FDP fordert die „absolute und konsequente Beschränkung der Flüchtlingsaufnahme auf Menschen, die effektiv eine Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Gesetzgebung und der Flüchtlingskonvention aufweisen“. Davon ausgeschlossen sind ca. 50’000 Menschen mit vorläufiger humanitärer Aufnahme (Ausweis F). Sie alle haben einen negativen Asylentscheid. Aufgrund von humanitären Gründen und dem „Non-Refoulement“-Gebot der UNO werden sie vom SEM geduldet. Sie alle will die FDP abschieben.

– „Begrenzung des Familiennachzugs“: Wer nicht als Familie flüchtet oder migriert, kann bei der Ankunft in der Schweiz beantragen, Kinder oder Ehepartner*innen „nachzuziehen“. Dieses Menschenrecht auf Familienleben ist bereits extrem eingeschränkt. Der FDP reicht dies nicht, weil es sonst zur „Überlastung der Sozialsysteme“ komme. Eine Behauptung mit menschenfeindlichen Folgen.

– Kein Asyl nach Aufenthalt in einem „Safe Country“: Die FDP verlangt, dass die Behörden die „Anzahl der «Safe Countries» und die Anpassung der Kriterien für die Definition eines Safe Country regelmässig überprüft“ und verschärft. Dies ist ein nötiger Schritt, um Menschen, die z.B. über die Balkanroute nach Europa reisten, in einen der durchreisten Staaten abzuschieben, da es dort „save“ sei.

– Mehr Abschiebedeals: „Die FDP fordert eine enge Zusammenarbeit mit der EU, speziell wo es für die Schweiz nützlich ist. Das beinhaltet auch, die Zusammenarbeit mit Frontex zu verstärken (z.B. Nutzung der organisierten Rückflüge) und Sanktionen für nicht-kooperative Herkunftsländer konsequent zu vollziehen (bspw. Visasanktionen oder Kürzung der «Entwicklungshilfen»)“.

– Sanktionen für menschlichere Kantone: Nicht alle Kantone setzen das Abschieberegime gleich rassistisch um. Das stört die FDP: „Kantone, die Wegweisungsentscheide nicht vollziehen wollen, sollen die vollen finanziellen Konsequenzen tragen“. Der Bund solle diesen weniger oder kein Geld mehr zukommen lassen.

Die Umsetzung dieser Forderungen wäre nicht nur menschenfeindlich, sondern auch illegal und verstösse gegen höheres Recht. Trotzdem stimmten an der FDP-Delegiertenversammlung alle für diese Forderungen, was auch Karin Keller-Sutter, FDP-Bundesrätin, erfreute. Die Forderungen seien im Interesse der Schweiz und sogar „im Interesse der Betroffenen“: „Sie sollen wissen, woran sie sind“.

https://www.fdp.ch/fileadmin/documents/fdp.ch/pdf/DE/Positionen/Positionspapiere/Migration/20220625_FAC_Migration_d.pdf
https://www.fdp.ch/aktuell/medienmitteilungen/medienmitteilung-detail/news/europa-sicherheit-und-migration-klare-und-vorausschauende-positionierung-der-fdp

Container, Zelte, Bunker: Unwürdige Unterbringung von Geflüchteten aus der Ukraine
Auch ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn in der Ukraine tut sich die Schweiz schwer mit ausreichenden Unterbringungsmöglichkeiten. Hunderte Menschen sollen jetzt in Container- oder Zeltsiedlungen untergebracht werden. Als Dauerlösung sind diese inakzeptabel.
 
Blick in die Zeltstadt in Seewen.
Blick in die Zeltstadt in Seewen.
In der Stadt Basel soll eine Containersiedlung auf dem Erlenmattplatz ab dem kommenden Frühjahr 140 Wohnplätze zur Verfügung stellen. Bisher werden Menschen aus der Ukraine hauptsächlich in Wohnungen oder bei Gastfamilien untergebracht. Die aufnehmenden Familien erhalten eine finanzielle Nebenkostenunterstützung, die soeben aufgestockt wurde. Zukünftig soll auf Containerunterkünfte zurückgegriffen und damit vermieden werden, dass geflüchtete Menschen stattdessen in Zivilschutzanlagen untergebracht werden müssen.

Auch in Meggen sollen am Standort Gottlieben Container für die Unterbringung von 100 Menschen aus der Ukraine aufgestellt werden, da die Gemeinde bisher nicht genügend Unterbringungsplätze anbieten konnte und eine Ersatzabgabe zahlen musste. Gegen die Containersiedlung sind 14 Einsprachen eingegangen, unter anderem von der SVP. Der örtliche SVP-Kantonsrat Thomas Schärli hatet gegenüber den Medien: «Meggen ist ein spezielles Volk. Man will nicht, dass Menschen aus ärmeren Verhältnissen hierherkommen.» Selbst für die SVP schäbig, hier gleich gegen Migrant*innen und arme Menschen in einem Satz zu hetzen. Natürlich sei das nur ein Missverständnis: Eigentlich wollte er sagen, es könne ja schwierig für diese Menschen in beengten Containerunterkünften sein, den Platz und Reichtum ringsum zu sehen. Aber auch dafür gibt es einen Lösungsvorschlag: Die geflüchteten Personen aus der Ukraine sollen in unterirdischen Zivilschutzbunkern untergebracht werden. Unser Gegenvorschlag: SVP-Vertreter*innen und -sympathisant*innen raus aus Meggen, dann ist richtig viel Platz in den Villen für Menschen, die jetzt Wohnraum benötigen.
 
Auch in Schwyz ist man auf der Suche nach schnellen und günstigen Unterbringungsmöglichkeiten und setzt nun in Seewen auf eine Zeltstadt. In einer grossen Halle wurden Zelte zur Unterbringung von bis zu 140 Menschen aus der Ukraine aufgestellt. Damit will der Kanton die Gemeinden entlasten, deren Unterbringungsmöglichkeiten beinahe ausgeschöpft seien. Privatsphäre ist dort kaum zu finden. Stattdessen Festhallen-Flair im Gemeinschaftsraum und Pfadi-Atmosphäre in den spartanisch eingerichteten Zelten: Zwei Stockbetten, ein Tisch und ein Spind für jede Person.

Was braucht es für eine menschenwürdige Unterbringung? Genügt ein (Zelt-) Dach über dem Kopf, um Menschen ein Ankommen zu ermöglichen? Haben die Kantone und Gemeinden keine anderen Optionen? Im Umgang mit den Menschen aus der Ukraine wurde zwar schon mehr ermöglicht, als dies bei der Unterbringung von Geflüchteten sonst der Fall ist. Die privaten Unterbringungen wurden vielerorts unterstützt statt blockiert. Die Menschen werden weniger isoliert und über einige ihrer Bedürfnisse wird zumindest öffentlich diskutiert. So gab es beispielsweise zuvor nie eine Debatte darüber, ob Schiessübungen neben Geflüchtetenunterkünften retraumatisierend sein könnten. Dennoch dürfen wir uns sicher nicht an nun wieder sinkende Standards gewöhnen. Das gesamte gewaltvolle und isolierende Lagersystem in der Schweiz ist menschenverachtend. Und eine Ausweitung dieses Systems auf Container- und Zeltsiedlungen ist inakzeptabel, wenn diese zur Dauerlösung werden.
 
Griechenland: Media-Farce über Push-Backs in Evros-Region
Eine Gruppe von mehrheitlich syrischen Geflüchteten wurde letzten Monat über Wochen zwischen Griechenland und der Türkei vor- und zurückgeschoben. Niemand übernahm die Verantwortung. Als die Gruppe auf einer Insel im Evros festsass, beweisen beide Staaten erneut exemplarisch, dass die von ihnen praktizierte Politik über Leichen geht.
 
 
Der geopolitische Machtkampf, bei dem wohl das erste Mal in der griechisch-türkischen Geschichte beide Parteien ihre territorialen Besitzansprüche zu Gunsten ihrer hasserfüllten Politik dementierten und bei dem mindestens vier Menschen gestorben sind, hat international für Schlagzeilen gesorgt. Der „Fall“, dessen Berichterstattung und die Aufarbeitung erzeugt Nachwirkungen, welche allesamt Auswüchse eines autoritären EU-Sicherheitsregimes darstellen. Im Scheinwerferlicht der Ereignisse fallen Schatten. Je mehr die griechische Regierung jedoch versucht, das vermeintlich Unsichtbare zu vertuschen, desto mehr verstrickt sie sich im Wirrwarr der Unwahrheiten und richtet den Scheinwerfer damit wieder auf sich Selbst. Eines der Symptome, welches als sicht- und erfahrbares Zeichen auf die innere Logik des europäischen Grenzregimes verweist, findet seinen Ausdruck auf medienrechtlicher Ebene des Symptom-Geflechts. Vor dem Hintergrund der griechischen Asylpolitik, von welcher die Menschen auf der Flucht immer am härtesten getroffen sind, wiederholen sich die kläglichen Verteidigungsversuche der griechischen Regierung, welche auf Kritik ordnungsgemäss mit Angriffswut reagiert.
Bei einer Anhörung im griechischen Parlament, bei welcher Premierminister Mitsotakis zu dem „Fall“  befragt wurde, stellte dieser spöttisch infrage, ob das Mädchen, welches auf der Insel gestorben ist, wirklich Maria heisse und äusserte dadurch indirekt Zweifel an ihrem Tod. Er griff dabei auf die Rhetorik rechtsextremer Hasskommentator*innen zurück, welche Verschwörungstheorien im Netz verbreiten. Diese erschaffen das Klima der vermeintlichen Bedrohung mit und liefern so der hasserfüllten Ideologie, welche rechtem Gedankengut zu Grunde liegt, die „Argumente“. Bezeichnenderweise versuchte der Premierminister in seiner Rede vor dem Parlament, das Abhören von 15’000 Telefonen aus Gründen der nationalen Sicherheit mit der „hybriden Bedrohung“ in Verbindung zu bringen, der sich das Land angeblich durch die Türkei ausgesetzt sieht. Während die Staatsanwaltschaft noch untersucht, greift Mitarakis mit Ankündigungen und Leaks in der regierungsnahen Presse dem Ergebnis vor und stellt die Schilderungen und die daraus hervorgehenden Vorwürfe der Opfer infrage. Doch die Täter-Opfer-Umkehr, welche von der griechischen Regierung mit allen Mitteln und auf allen der Meinungsbildung betreffenden Ebenen betrieben wird, bleibt nicht ohne (Re-)Aktionen.
 
Denn sowohl die Regierung, als auch die regierungsnahen Medien wurden durch einen ausführlichen Bericht des deutschen Magazins Spiegel widerlegt, in dem die Fakten über die kriminelle Gewalt seitens der griechischen und türkischen Behörden genaustens dokumentiert wurden. Dem Journalist (und Übersetzer) George Christides gelang es, sich Zutritt zu dem Aufnahme- und Identifizierungszentrum zu verschaffen, in welchem sich die Betroffenen zur Zeit aufhalten müssen. Er traf sich mit den Geflüchteten, wobei er auch mit den Eltern und Geschwistern der toten Maria gesprochen hat. Daraufhin betonte er in den sozialen Medien, dass die Existenz von Maria und ihrer Familie von anderen Geflüchteten, mit denen er sprach, bestätigt wurde. Er werde nicht auf diese grausame und abstossende Diskussion zurückkommen. Wenn die Regierung oder jemand anderes es für richtig halte, sollten sie dies tun und sie sollten dafür verurteilt werden. Daraufhin formierte sich ein Bündnis, welches sich aus der Regierung, regierungsnahen Medien und vernetzten rechten Individuen zusammensetzt. Eine Hetzkampagne brach aus. Christides wird als «deutscher Spion» beschimpft, der die nationale Sicherheit bedrohe.
 
Die Regierung reagierte mit einem ihrer bekannten Angriffe auf Journalist*innen angesehener ausländischer Medien, die die Politik der Regierung in Frage stellen. In einer Erklärung versucht das Einwanderungsministerium, dem Spiegel eine ethische Lektion zu erteilen und kündigt an, rechtliche Schritte einzuleiten. Es behauptet, dass sich Christides als Mitglied einer Organisation Zugang zum Camp verschafft hat, dass aber zu ihrer Delegation „ein ausländischer Medienkorrespondent gehörte, der einen irreführenden Antrag auf Einreise als Übersetzer gestellt hat“. Und sie stellt fest, dass „die Regeln der journalistischen Ethik und der Vertraulichkeit, wie sie in den allgemeinen Regeln für den Betrieb der Unterbringungseinrichtungen festgelegt sind, in geringem Maße verletzt wurden“, und dass „der betreffende Journalist sich bewusst dafür entschieden hat, die griechischen Behörden zu verspotten“.
 
Durch eine Gesetzesänderung, welche im Schatten der objektiven Bedrohung der Corona-Pandemie im griechischen Parlament – in dem die rechts-konservative Partei Nea Demokratia die Mehrheit ausmacht – verabschiedet wurde, steht die Verbreitung von Falschinformationen („Fake News“) in Griechenland unter Strafe. Die Verbreitung von Falschinformationen, die “geeignet sind, die Öffentlichkeit zu beunruhigen, zu verängstigen oder das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Volkswirtschaft, die Verteidigungsfähigkeit des Landes, oder die öffentliche Gesundheit zu untergraben” steht damit unter Strafe. Verstösse werden mit mindestens drei Monaten Haft und einer Geldstrafe geahndet. Bei wiederholter Verbreitung “durch die Presse oder das Internet”, sind mindestens sechs Monate Gefängnis und eine Geldstrafe vorgesehen. Die Höchststrafe beträgt fünf Jahre Haft. Auch Herausgeber*innen oder Eigentümer*innen von Medienunternehmen sollen bestraft werden können.
 
Welcher Inhalt von wem in welchem Kontext als wahr oder falsch bewertet wird, steht dabei jedoch in kausaler Beziehung zur Motivation des Entscheidungsträgers. Diese steht wiederum in engster Verbindung mit dem zu erzielenden Zweck, von welchem die Bewertung zwangsläufig beeinflusst ist. Aus einer machtkritischen Perspektive betrachtet ist das Gesetz ein Paradebeispiel, wie sich die Bourgeoisie – welche im Besitz der Deutungshoheit ist – auf juristischer Ebene Macht verschafft. Mit Deutungshoheit bezeichnet man das von einer Person oder Institution beanspruchte Recht oder die Macht, etwas allein und mit allumfassender Gültigkeit deuten und damit (be-) werten zu können oder zu dürfen. Treffen im Diskurs über eine Definition verschiedene Aussagen aufeinander – wie es in einer kapitalistischen Gesellschaft wie der Unseren, in der es Unterdrückte und Unterdrückende gibt zweifellos der Fall ist – entscheidet die Deutungshoheit über deren endgültige Deutung. Die Voraussetzung für die Akzeptanz der Deutung impliziert eine den Entscheidungsträger*innen innewohnende Autorität.
 
Vor dem Hintergrund der Gesetzesänderung, welche eine Bedrohung für die  Meinungs- und Pressefreiheit darstellt, spielen sich im Zuge der Aufarbeitung des „Falls“ Szenen ab, in welchen die  Funktionär*innen des europäischen Grenzregimes sich an den Mitteln jenes autoritären türkischen Regimes bedienen, von welchem sie vehement behaupten, bedroht zu sein. Die europäischen Werte, welche durch die Migrationsbewegung anscheinend bedroht sind, offenbaren sich einmal mehr als Farce, indem der Opportunismus der Herrschenden ein derart hohes Level an Sarkasmus erreicht, welches bezeichnend ist für die Tatsache, dass die europäischen Werte zu jedem Zeitpunkt in der Geschichte lediglich dafür benutzt wurden um zu vertuschen, dass der Wohlstand der Herrschenden auf der Ausbeutung der von ihnen konstruierten „Anderen“ beruht.
 
 
 

Was geht ab beim Staat?

Rückstufungen wegen sogenannten «Integrationsdefiziten»
Ein Bundesgerichtsurteil betreffend Rückstufungen wegen sogenannten „Integrationsdefiziten“ könnte positive Auswirkungen für Menschen mit C-Ausweis haben. Doch in der Praxis halten sich viele Migrationsämter nicht daran. Die Schweiz und ihr rassistisches Ausländer- und Integrationsgesetzt: Ein Beispiel

Vor 2019 konnten Menschen, die länger als 15 Jahre in der Schweiz gelebt haben und über den C-Ausweis verfügten, praktisch nicht weggewiesen werden. Dann kam die Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes. Seither kann rückgestuft werden, wer sog. «Integrationsdefizite» aufweist: Der C-Ausweis wird entzogen und in eine befristete Aufenthaltsbewilligung (B-Ausweis) umgewandelt.
 
Der Beobachter schreibt dazu: «Das hat grosse Nachteile. Der B-Ausweis ist meist nur ein Jahr gültig und muss dann erneuert werden. Wem es innert der gesetzten Frist nicht gelingt, den Grund für die Rückstufung aus der Welt zu schaffen, riskiert seine B-Bewilligung und muss womöglich das Land verlassen. Das kann zum Beispiel passieren, wenn man sozialhilfebedürftig wird. Denn neu zu den Integrationskriterien gehört, dass man wirtschaftlich und sprachlich integriert ist.»
 
Seit Anfang 2019 wurden 597 Personen von einer C- auf eine B-Bewilligung rückgestuft. Dabei kann diese Rückstufung alle treffen, auch Menschen, die hier in der Schweiz geboren wurden und das ganze Leben hier verbracht haben. Eine Zweiklassenjustiz, die rechte und bürgerliche Kräfte in der Schweiz seit Jahren vorantreiben: Wer als Person ohne Schweizer Pass strafrechtlich verurteilt wird oder Sozialhilfe benötigt, kann das Aufenthaltsrecht verlieren.
 
Gesetze wirken bekanntlich nicht nur bei ihrer Anwendung, sondern bereits vorher im Kopf. Zum Beispiel bei D., die mit einer B-Bewilligung in Luzern lebt. Sie erzählt: «Nach meiner Scheidung verlangte das Sozialamt von mir, dass ich arbeite. Ich habe 2 kleine Kinder, eine Ausbildung oder Weiterbildung zu machen war sehr schwierig. Ich arbeitete dann im Rahmen eines Beschäftigungsprogrammes in einem Hort. Aber auch da wurde immer weiter Druck gemacht. Das Amt für Migration (Amigra) sagte mir: Wenn du keine Stelle findest, kannst du nicht in der Schweiz weiterleben. Das Amigra schickte mir Briefe mit Fragen, wieso ich nicht arbeite. Ich muss dem Amigra regelmässig meine Bewerbungen schicken. Zweimal kam mein Ausweis zu spät, ich war sehr gestresst. Es ist ein grosser Stress und Druck, den das Amigra ausübt. Es ist Unterdrückung.»
 
Ein Gerichtsurteil vom Herbst 2021 könnte aber positive Auswirkungen für alle Menschen mit Niederlassungsbewilligung (C-Ausweis) haben, da eine Rückstufung rein rechtlich nun nicht mehr so einfach ist. Gemäss dem obersten Gericht braucht es dafür ein sog. «aktuelles Integrationsdefizit von einem gewissen Gewicht». Nach Einschätzungen eines Anwaltes werde es aber auch in Zukunft zu «unverhältnismässigen» Rückstufungen kommen, da sich viele Migrationsämter schwer tun, ihre herkömmliche Praxis anzupassen. Obwohl sie rechtlich dazu verpflichtet wären. Betroffene und solidarische Personen werden sich daher auch in Zukunft mit Beschwerden für ihre Rechte wehren müssen.

 

Wo gabs Widerstand?

Verein Tesoro fordert Aufarbeitung des Saisonnierstatut
Um die dreissig Betroffene und Unterstützende haben im Herbst 2021 den Verein Tesoro gegründet. Dieser will eine Anerkennung der strukturellen Gewalt und des Leids erreichen, die hinter der Ausbeutung der Arbeiter*innen und der systematischen Verletzung ihrer Grundrechte stand. Ausserdem fordern sie eine tiefgehende Aufarbeitung. Diese ist bitter nötig, denn geändert hat sich in vielen Punkten leider bis heute nichts.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kamen viele Menschen vor allem aus Südeuropa zum Arbeiten in die Schweiz. Diese durften durch rassistische Gesetzesregelungen jedoch nur neun Monate am Stück bleiben. Sie konnten sich kein nachhaltiges Leben aufbauen, lebten häufig in Baracken, mussten ihre Familien, ihre Kinder zurücklassen. Oder die Kinder mussten versteckt leben, durften keinen Kontakt zu Gleichaltrigen haben, hatten keinen Zugang zu Schulbildung oder medizinischer Versorgung. Die offizielle Schweiz machte deutlich, dass die Menschen nur als Arbeitskräfte, nicht aber als Menschen in der Schweiz gewollt waren. Der Verein wirft der offiziellen Schweiz einen blinden Fleck vor. Sie solle Verantwortung übernehmen und nicht länger verdrängen, was von 1934 bis 2002 in der Schweiz unter dem Namen des Saisonnierstatuts passiert ist. Des Weiteren stellen sie die Frage, wer die Profiteur*innen dieser Politik waren. Tesoro fordert nun eine offizielle Entschuldigung und eine finanzielle Entschädigung. Die auseinandergerissenen Familien können nicht wieder zusammen gesetzt werden, die erlittenen Traumata nicht rückgängig gemacht werden.

Zudem fordern sie eine umfassende und überfällige historische und politische Aufarbeitung des Saisionnerstatuts und seiner Folgen, damit sich diese Verhältnisse nicht wiederholen. Denn leider hat sich kaum etwas geändert: Nach wie vor werden Menschen nur als Arbeitskräfte gewollt, nicht aber als ganze Menschen. Nach wie vor müssen Menschen um eine Aufhebung oder Zurückstufung ihrer Aufenthaltsgenehmigung fürchten, wenn sie in den Augen der Herrschenden nichts zum wirtschaftlichen System beitragen können und z.B. auf Sozialhilfe angewiesen sind. Nach wie vor ist der Familiennachzug für geflüchtete und migrierte Menschen äusserst schwierig. Asylsuchende können nicht bei ihren Verwandten leben oder werden im Asylsystem nicht einmal in den Kanton eingeteilt, in dem sie Verwandte haben. Nach wie vor leben ca. 100’000 Menschen ohne Papiere in der Schweiz, die ohne Absicherung, Altersvorsorge und zu einem geringen Lohn Arbeit leisten. Auch sie müssen sich verstecken und haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung und anderer grundlegender Infrastruktur. Nach wie vor werden Gesetzesentwürfe vorgelegt, die aus rassistischen Motiven für unterschiedliche Personenfreizügigkeit argumentieren (siehe Artikel zum FDP Migrationspapier). Teseros Vize-Präsident Egidio Stigliano sagt: «Was mit uns geschehen ist, darf sich nicht wiederholen.» Sorgen wir also dafür, dass sich nicht wiederholt, was bereits geschieht.

 

https://www.derbund.ch/die-schweiz-soll-das-leid-von-gastarbeiter-familien-anerkennen-152791304293
https://www.swissinfo.ch/ger/der-steinige-weg–saisonniers-zu-mitmenschen-zu-machen/47819148
https://www.tagesanzeiger.ch/die-schweiz-sollte-sich-bei-uns-entschuldigen-909428367452


„Chaoten? Sachbeschädigung?“ Aktivist*innen stehen für Grundrechte ein

Am Central in Zürich wurde eine Filiale der Helsana-Versicherung mit dem Tag „Fuck Pro Life“ versehen.

Flyer

Damit machen die Aktivist*innen auf den Deal aufmerksam, den die Versicherung mit dem chistlich-fundamentalistischen Verein Pro Life eingegangen ist. Dieser Deal gibt allen Vereinsmitgliedern zehn Prozent Rabatt auf Zusatzversicherungen. Solange du Vereinsmitglied bist, versicherst du jedoch, keine Abtreibungen vorzunehmen. Rabatte für Abtreibungsgegner*innen? „WTF Helsana“, wie in dem Bekenner*innen-Schreiben steht.

FLINTAQ* (Frauen, Lesben, Inter, Nicht-Binär, Trans, Agender, Queer)-Hass und rechte Positionen gehen seit jeher Hand in Hand. Deswegen müssen antirassistische und rassismuskritische Kämpfe auch immer feministisch sein. In den letzten Jahren findet zunehmend eine Diskursverschiebung statt, da sich rechte Positionen immer weiter rechts veräussern. So werden noch vor kurzem unvorstellbare Dinge auf einmal normalisiert. Und wo sich eine Position verschiebt, da sind auch andere gefährdet.
Kaum wird z.B. Roe vs. Wade in den USA gekippt, stehen viele weitere Grundrechte auf dem Spiel. Wie die Aktivist*innen in ihrem Bekenner*innenschreiben gut in Worte fassen: Vo wege für’s Lebe, Abtreibung ist ein Grundrecht!!

https://www.blick.ch/politik/wegen-rabatt-fuer-abtreibungsgegner-chaoten-versprayen-helsana-buero-id17834515.html
https://www.20min.ch/story/wegen-zusammenarbeit-mit-pro-life-farbanschlag-auf-helsana-filiale-548354247319
https://barrikade.info/article/5364

Was steht an?

Antifaschistisches Festival «Un!te»
9. und 10. September 2022 | Kochareal, Zürich
https://unite.kochareal.ch/

Fest: Revolutionäres Zentrum Luzern
11. September 2022 | ab 16 Uhr | RäZeL, Horwerstrasse 14, Luzern

Seit über drei Jahren beleben verschiedene Gruppen und Personen das RäZeL – es ist an der Zeit, diesen wichtigen Ort in Luzern zu feiern.
https://barrikade.info/article/5369

Aktionstage enough!
16. bis 18. September 2022 | Parkplatz, Zürich
Aktionstage zu Migrationskämpfen und antirassistischem Widerstand.
https://aktionstage-enough.ch

Blockade: Kein Fussbreit dem „Marsch für’s Läbe“!
17. September 2022 | Oerlikon

https://barrikade.info/article/5356

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Autoritarismus : Von wegen Sonderfall
SVP-Vertreter:innen zeigen oft Sympathien für antidemokratische Regimes. Kein Wunder: Die Partei, die Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung predigt, ist durch und durch autoritär.
https://www.woz.ch/2235/autoritarismus/autoritarismus-von-wegen-sonderfall/%219E1MRMRM6225

«Die Polizei ist eine Art Fremdkörper in der Demokratie»
Die Polizei darf Gewalt ausüben, manchmal tötet sie sogar. Wer setzt ihr Grenzen? Strafrechts¬professor Tobias Singelnstein über die Erschiessung eines schwarzen Jugendlichen in Dortmund und darüber, wie eine ideale Polizei aussähe.
https://www.republik.ch/2022/08/30/die-polizei-ist-eine-art-fremdkoerper-in-der-demokratie

«Apropos» – der tägliche Podcast: Die unheimliche Parallelwelt der Frauenhasser im Netz
Andrew Tate verherrlicht Gewalt gegen Frauen. Damit wurde er zu einem Social-Media-Phänomen, bevor Tiktok und Co. ihn sperrten. Warum bringt Misogynie so viele Klicks?
https://www.derbund.ch/die-unheimliche-parallelwelt-der-frauenhasser-im-netz-882723476072

Ende von Berliner Modellprojekt: Politik und Polizei streiten über Taser
Seit der Jahrtausendwende sind deutsche Spezialeinheiten mit „Distanzelektroimpulsgeräten“ ausgestattet, immer mehr Länder erlauben sie nun im Streifendienst. Innerhalb von drei Jahren starben sechs Personen in Deutschland nach einem Beschuss. Der Einsatz dieser Waffe ist in Berlin umkämpft.
https://netzpolitik.org/2022/ende-von-berliner-modellprojekt-politik-und-polizei-streiten-ueber-taser/

Die Hände sind gebunden, doch die Finger haben Spiel
Zum Auftakt des zehntägigen Freiluftparlaments «Mobile» wurde am Freitagabend im St.Galler Frauenpavillon über die Situation von Sans-Papiers diskutiert. Eine ihrer Forderungen: mehr Fussballplätze.
https://www.saiten.ch/die-haende-sind-gebunden-doch-die-finger-haben-spiel/