Medienspiegel 4. September 2022

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+++LUZERN¨
Besuch an der Goldküste Luzerns: Zu reich für ukrainische Geflüchtete?
In Meggen LU soll eine Containersiedlung für ukrainische Frauen und Kinder entstehen. Doch manche Anwohner fürchten sich vor den Schutzsuchenden.
https://www.blick.ch/schweiz/zentralschweiz/luzern/besuch-an-der-goldkueste-luzerns-zu-reich-fuer-ukrainische-gefluechtete-id17846287.html


+++SCHWEIZ
NZZ am Sonntag 04.09.2022

Darf man Kinder einsperren?

Der Bund will illegale Migranten an der Grenze festhalten können – darunter auch Kinder.

Ladina Triaca

Es ist Sommer 2016. Jede Woche kommen rund 1500 Migranten im Tessin an. Für viele heisst es schon an der Grenze: zurück nach Italien. Denn sie sind illegal eingereist und wollen in der Schweiz kein Asylgesuch stellen. Jene, die erst spätabends eintreffen, werden nach Rancate bei Mendrisio gefahren und dort in einer Fabrikhalle untergebracht. In der Regel für eine Nacht. Dann heisst es auch für sie: zurück nach Italien.

Die Fabrikhalle in Rancate war für die Behörden praktisch, aber nicht unproblematisch. Denn es fehlte ihnen eine gesetzliche Grundlage, um die Menschen dort festzuhalten. Das soll sich in einer nächsten Flüchtlingskrise nicht wiederholen. Der Bundesrat plant deshalb eine Gesetzesänderung.

Er will, dass Ausländerinnen und Ausländer künftig bis zu drei Tage in kantonalen Ausreisezentren an der Grenze festgehalten werden können, bevor sie an die Behörden eines Nachbarlandes übergeben werden. Zudem soll der Bund die Ausreisezentren finanziell unterstützen können. Darum hatten die Tessiner gebeten.

Die Gesetzesvorlage kommt in der Herbstsession in den Nationalrat. Dort ist sie praktisch unbestritten – bis auf einen Punkt. Es geht um die Frage: Sollen auch Kinder unter 15 Jahren in den Ausreisezentren festgehalten werden dürfen?

Auf keinen Fall, finden Politikerinnen aus dem Mitte-links-Lager und die Schweizerische Flüchtlingshilfe. SP-Nationalrätin Samira Marti sagt: «Es sollte selbstverständlich sein, dass wir keine Kinder einsperren. Das ist einer modernen Gesellschaft unwürdig.» Die Schweiz würde damit laut Marti gegen die Uno-Kinderrechtskonvention verstossen, die das Land 1997 ratifiziert hat. Die Konvention schreibt vor, dass Kindern nur «als letztes Mittel» die Freiheit entzogen werden darf. «Und in diesem Fall gibt es definitiv andere Mittel, als die Kinder einzusperren.»

Die Mitte ist gespalten

Samira Marti will deshalb ins Gesetz schreiben, dass Kinder unter 15 Jahren nicht kurzfristig festgehalten werden dürfen. So ist das heute bereits bei der Ausschaffungshaft geregelt. Ihr Antrag wurde in der zuständigen Parlamentskommission knapp abgelehnt. Dafür stimmten Politikerinnen von SP, Grünen, GLP, EVP und Mitte. Es dürfte also auch im Nationalrat eng werden.

Gespalten ist die Mitte-Partei. Nationalrätin Marianne Binder sagt, sie sei nicht grundsätzlich dagegen, Menschen in Ausreisezentren festzuhalten. «Aber auch wenn ‹festhalten› netter tönt, bedeutet es einsperren. Und Kinder einzusperren, widerstrebt mir halt instinktiv.»

Anders sieht es ihr Parteikollege und Kommissionspräsident Marco Romano. Der Tessiner hat den Flüchtlingsandrang an der Südgrenze vor sechs Jahren miterlebt. Er sagt: «Die Linken führen hier eine rein theoretische Diskussion.» Im Tessin sei es um die Frage gegangen, wo die Menschen übernachten sollten, wenn sie spätabends über die Grenze kamen: «Am Bahnhof, wie im italienischen Como, oder mit einem Dach über dem Kopf wie bei uns in Rancate.» In Rancate hatten die Behörden damals 150 Betten in eine Fabrikhalle gestellt. Familien mit Kindern erhielten ein eigenes Abteil. Tageslicht drang kaum in die Halle. Raus durften die Menschen nicht.

Es sei illusorisch, die Kinder künftig an einem anderen Ort unterbringen zu wollen, sagt Romano. «Sie können nicht um zehn Uhr abends dem Grenzwächter sagen: Suchen Sie bitte noch ein Hotel für diese Familie. Und morgens um sechs Uhr sollen sie dann bitte wieder auf der Matte stehen, damit wir sie den italienischen Behörden übergeben können. Das ist doch absurd!»

Etwas distanzierter blickt der Zürcher FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt auf die Frage, ob man Kinder festhalten darf. Er argumentiert, in der Praxis komme dies heute kaum vor. «Ich sehe deshalb keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf.» Für jene wenigen Fälle, in denen Kinder festgehalten würden, gäbe es vielleicht auch in Zukunft gute Gründe: «Ich vertraue da auf unsere Behörden.»

Acht Fälle in acht Jahren

Bereits heute ist die sogenannte kurzfristige Festhaltung gesetzlich geregelt, wenn sie beispielsweise dazu dient, die Identität oder die Staatsangehörigkeit einer ausländischen Person festzustellen. In den vergangenen acht Jahren wurden laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) acht Kinder kurzfristig festgehalten, die jünger waren als 15 Jahre. Zwei Haftanordnungen gab es 2019, sechs im Jahr 2015. Gegen Minderjährige zwischen 15 und 17 Jahren wurden im selben Zeitraum deutlich mehr, nämlich 77 Haftanordnungen verfügt.

Der Bund spricht deshalb bei der kurzfristigen Festhaltung von Kindern – ähnlich wie FDP-Nationalrat Silberschmidt – von absoluten Ausnahmen. In der Praxis werde im Normalfall nur bei einer Person der Familie eine Festhaltung angeordnet, der Rest der Familie werde separat untergebracht. Die bestehende Regelung zur kurzfristigen Festhaltung habe sich bewährt.

Bei der SVP hält man es gar für zwingend, dass ausländische Kinder an der Grenze festgehalten werden. Nationalrätin Martina Bircher befürchtet andernfalls Missbrauchsfälle: «Die Erfahrung zeigt, dass unter 15-Jährige untertauchen, um so die Rückschaffung der gesamten Familie zu umgehen.» Mit solchen «Tricksereien» werde der Rechtsstaat vorgeführt, sagt sie.

Dieses Jahr reisten deutlich mehr Menschen illegal in die Schweiz ein als in den Vorjahren – darunter viele afghanische Flüchtlinge, die über die Ostgrenze ins Land kamen. Im Tessin hat sich die Lage hingegen beruhigt. Die Fabrikhalle in Rancate wird seit zwei Jahren nicht mehr als Ausreisezentrum genutzt.



Migration

8 – Acht Kinder wurden laut dem Staatssekretariat für Migration in den vergangenen acht Jahren kurzfristig festgehalten.

1500 – So viele Menschen reisten im Sommer 2016 jede Woche über die Südgrenze in die Schweiz ein – viele illegal.

5926 – So viele Menschen wurden insgesamt im temporären Ausreisezentrum in Rancate im Tessin festgehalten.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/darf-man-kinder-einsperren-ld.1701069)



NZZ am Sonntag 04.09.2022

Verkehrte Welt in der Asylpolitik

Gastfamilien seien ein Modell für die Zukunft, findet die SP. Die SVP will die Flüchtlinge lieber staatlich unterbringen.

Ladina Triaca

Eine Regel gilt in der Politik fast immer: Die Linke will mehr Staat, die Rechte weniger. Doch in der Migrationspolitik herrscht gerade verkehrte Welt. Die SP will die privaten Gastfamilien stärker fördern, die SVP ruft nach dem Staat.

Aber der Reihe nach: Gestern Samstag hat die SP-Bundeshausfraktion ein neues Asylpapier verabschiedet. Darin nennt sie die aus ihrer Sicht wichtigsten Erkenntnisse aus dem Ukraine-Krieg. Ein Fazit: Die Gastfamilien seien ein Erfolgsmodell.

SP-Nationalrätin Samira Marti sagt: «Die Familien funktionieren als Integrationsbooster. Geflüchtete kommen dank ihnen viel schneller in der Gesellschaft an, als wenn sie in einer staatlichen Kollektivunterkunft hinter den Bahngeleisen abgestellt werden.» Laut einer Erhebung der Sozialdirektorenkonferenz sind rund 60 Prozent der Ukrainerinnen in der Schweiz privat untergebracht.

Die SP will auch nach dem Ukraine-Krieg auf die Familien setzen. «Viele Schweizerinnen und Schweizer würden auch Geflüchtete aus anderen Ländern solidarisch bei sich zu Hause aufnehmen», sagt Marti. Die Familien müssten dafür aber finanziell besser und schweizweit einheitlich entschädigt werden. Heute erhalten sie in manchen Kantonen zwischen 100 und 270 Franken pro Monat, andere sehen keine festen Beiträge vor.

Marti will wegen der staatlichen Beiträge nicht von einer «Privatisierung» der Flüchtlingshilfe sprechen. Die Behörden müssten die Privaten auch in Zukunft eng begleiten, so wie das andere Staaten schon länger machten.

Keine Zukunft in der privaten Unterbringung sieht die SVP. Nationalrätin Martina Bircher sagt: «Wir müssen schnellstmöglich von diesem Modell wegkommen.» Die Gastfamilien würden einen wichtigen Grundsatz des Asylwesens aushebeln: die proportionale Verteilung der Flüchtlinge auf die Bevölkerung.

Sie sehe die negativen Folgen an ihrem Wohnort in Aarburg. «Wegen der Privaten, die – nebst der bereits bestehenden Asylunterkunft – Menschen aufgenommen haben, beherbergen wir nun dreimal so viele Flüchtlinge, wie wir müssten!»

Bircher befürchtet zudem, dass die private Unterbringung falsche Ansprüche bei den Flüchtlingen weckt. Die Rückkehr zu Kollektivunterkünften sei so schwierig. Das Credo der SVP aber laute: «Flüchtlinge sollen in staatlichen Kollektivunterkünften untergebracht werden.»

Dazwischen positioniert sich FDP-Migrationschef Andri Silberschmidt. Er sagt: «Ich finde die Solidarität der Gastfamilien super, aber der Staat kann sich in Zukunft nicht darauf verlassen.» Die Aufnahmebereitschaft sei bei einer ukrainischen Familie gross. Wie es in anderen Fällen aussehe, wisse man nicht.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/verkehrte-welt-in-der-asylpolitik-ld.1701084)



Sonntagszeitung 04.09.2022

Kantone kontrollieren unterschiedlichUkrainer beziehen Sozialhilfe – auch nach ihrer Rückkehr

Rund 1000 Geflüchtete mit Status S haben die Schweiz wieder verlassen. Nicht alle melden sich ordentlich ab – ein Problem für die Sozialbehörden.

Cyrill Pinto

Mit der Ukrainerin zu kommunizieren, war für die Gastfamilie schwierig. Die junge Frau, die über eine Vermittlung in der Stadt Zürich Unterschlupf fand, sprach weder Deutsch noch Englisch, die Gastfamilie nicht Ukrainisch. «Eines machte sie aber immer klar», so ihre Gastgeberin, «sie wollte so schnell wie möglich wieder zurück in ihre Heimat.» Trotzdem meldete sich die Frau bei den Behörden an und erhielt schon bald den Status S zugesprochen. Damit die in der Stadt Zürich zuständige Asylorganisation (AOZ) ihr die Unterstützung überweisen konnte, eröffnete sie zwei Konten: einmal bei der UBS und einmal bei der Zürcher Kantonalbank.

Das Verhältnis zu ihr wurde immer schwieriger, weshalb sie ins Auffangzentrum beim Triemli-Spital zog. «Bis Mitte Juli waren wir noch mit ihr in Kontakt, danach brach er ab», berichtet sie. Kontaktversuche über ihre Schweizer Handynummer blieben seither erfolglos. Bloss die Post von der Bank und von der AOZ trifft immer noch regelmässig bei der Gastfamilie ein.

SEM: Auszahlung am besten bar und in kurzen Abständen

Die Vermutung liegt nahe, dass sie zurück in der Ukraine ist und über ihr E-Banking weiterhin Zugang zu den Konten in der Schweiz hat.

Gemäss Staatssekretariat für Migration (SEM) empfiehlt man zuständigen Behörden, durch den Auszahlungsrhythmus und die Art der Auszahlung sicherzustellen, dass Sozialhilfe nicht Personen gewährt wird, die nicht mehr in der Schweiz anwesend sind. «Je kürzer der Auszahlungsrhythmus und je flächendeckender die Auszahlung in Form von Bargeld, umso engmaschiger erfolgt die Anwesenheitsprüfung», erklärt SEM-Mediensprecher Lukas Rieder das Kontrollsystem.

Doch für die Umsetzung sind die Kantone zuständig. In Zürich zahlt die Asylorganisation (AOZ) das Unterstützungsgeld auf Konten aus. Ob die Personen noch im Land sind, prüft sie laut eigenen Angaben anhand der Einhaltung von Terminen bei der Sozialberatung oder in Deutschkursen. Auch Auffälligkeiten in der Fallführung oder Hinweisen von Dritten gehe man nach, heisst es dort. «Personen, die wirtschaftliche Hilfe beziehen, sind verpflichtet, Veränderungen der AOZ zu melden. Über diese Pflicht werden sie beim ersten Bezug der Hilfe schriftlich und mündlich informiert», hält die AOZ fest. Die überwiegende Mehrheit halte sich daran, doch «manchmal erhalten wir diese Informationen leider erst nachträglich».

Sollten Personen dauerhaft in die Ukraine zurückgekehrt sein, erfolge durch die AOZ eine entsprechende Meldung an Kanton und Bund – und zu Unrecht bezogene Unterstützungsleistungen würden zurückgefordert, schreibt die AOZ.

Ukrainer mit Status S, die von der Sozialhilfe unterstützt werden und wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind, kennt man auch im Kanton Bern. Auch solche, die sich nicht bei den Behörden abgemeldet haben. «Ja, solche Fälle gab es im Kanton Bern auch», bestätigt Patricia Gehri von der kantonalen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion. Bei der Behörde führt man dies auf die grosse Mobilität der Ukrainer zurück – und auf die sehr breit verteilte Unterbringung bei Gastfamilien oder in Wohnungen. Doch anders als im Kanton Zürich wird die Auszahlung der Gelder durch regelmässige Präsenzkontrollen in den Unterkünften überprüft. Bei Personen in Gastfamilien erfolge die Kontrolle im Rahmen der monatlichen Auszahlung, «die entweder bar erfolgt oder zumindest per Unterschrift bestätigt werden muss», wie Gehri erklärt.

Status S in zwei Fällen widerrufen

Trotzdem setzen viele Behörden darauf, dass sich Ukrainerinnen, die wieder in ihr Land zurückkehren, freiwillig bei den Schweizer Behörden abmelden. Grundsätzlich erlischt der Schutzstatus, wenn die Personen ihren Wohnsitz wieder in die Ukraine verlegen oder sich mehr als 15 Tage pro Quartal dort aufhalten, wie es beim SEM heisst.

Seit Ausbruch des Krieges geschah dies bei 996 Personen, wie aus der aktuellen Asylstatistik hervorgeht. Nur in zwei Fällen wurde der Schutz widerrufen – aus welchen Gründen, geht daraus nicht hervor.
(https://www.tagesanzeiger.ch/ukrainer-beziehen-sozialhilfe-auch-nach-ihrer-rueckkehr-865555207804)


+++LIECHTENSTEIN
«Gratis» Studieren für Geflüchtete
Über 60’000 Ukrainer und Ukrainerinnen hat die Schweiz aufgenommen, darunter auch viele Studierende. Aber Studieren in Kriegszeiten ist kompliziert. Darum erlassen Fachhochschulen und Unis in der Region die Semestergebühren für Geflüchtete und unterstützen sie teilweise auch finanziell. So können sie ihre Ausbildung trotz der schwierigen Situation weitermachen.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/gratis-studieren-fuer-gefluechtete-147811908


+++ÄRMELKANAL
Fast 190 Migranten aus dem Ärmelkanal gerettet
Die Französische Polizei hat in weniger als 24 Stunden fast 190 Migranten aus dem Ärmelkanal geborgen. Die Menschen wurden bei mehreren Einsätzen am Samstag aus einfachen Booten geholt, mit denen sie von Nordfrankreich aus nach England wollten.
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/fast-190-migranten-aus-dem-aermelkanal-gerettet,TGRuFSf


+++RUANDA
Geflüchtete: «In Ruanda bleiben? Auf keinen Fall»
Es war einer der letzten schlagzeilenträchtigen Pläne von Boris Johnson: Die britische Regierung gab im Juni bekannt, illegal in Grossbritannien gestrandete Geflüchtete nach Ruanda abschieben zu wollen. In letzte Minute stoppte ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte einen solchen Ausschaffungsflug. Jetzt steht in London ein Gerichtsentscheid dazu an. In Ruanda wäre man bereit für die Asylsuchenden. Im Land leben bereits jetzt 120’000 Flüchtlinge in fünf Camps. Eine davon ist Reyimo Tal Chebsi. Doch glücklich ist die aus Äthiopien geflüchtete nicht. Sie will nicht in Ruanda bleiben, sondern in den Westen.
https://www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/gefluechtete-in-ruanda-bleiben-auf-keinen-fall?urn=urn:srf:video:9ecd8dd3-b5a8-42c8-8ad3-1e356de0d9fe&aspectRatio=4_5


+++HISTORY
Miniatur oder Monument
Hexenmahnmal in Luzern löst emotionale Debatte aus
In Luzern wurden Hunderte Frauen – und einige Männer – brutalst gefoltert, gedemütigt und schliesslich zu Tode gequält. Die Hexenverfolgung ist ein düsterer Teil unserer Geschichte. Eine, die im öffentlichen Raum der Stadt bisher keinen Platz hat. Das soll jedoch nicht so bleiben.
https://www.zentralplus.ch/geschichte/hexenmahnmal-in-luzern-loest-emotionale-debatte-aus-2440067/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Daniel Trappitsch kandidiert in Buchs als Stadtpräsident: «Die Machtzentren sind belegt mit Narzissten, Psychopathen und Soziopathen – die müssen weg»
Der Kandidat für das Buchser Stadtpräsidium hat sich am Donnerstag in der Lokremise vorgestellt. Unterstützt wurde er von der Bewegung Aufrecht St.Gallen.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/werdenberg/buchs-daniel-trappitsch-kandidiert-in-buchs-als-stadtpraesident-die-machtzentren-sind-belegt-mit-narzissten-psychopathen-und-soziopathen-die-muessen-weg-ld.2337650


+++DREADLOCKSMANIA/WINNETOUWHINING
Sonntagszeitung 04.09.2022

Streit um kulturelle Aneignung: Junge SVP will Winnetou zurück ins SRF bringen

Die Partei lanciert eine Petition und erklärt den Kampf gegen den «Woke-Wahnsinn» zu ihrem Schwerpunktthema.

Adrian Schmid

Die Junge SVP plant die Rettung von Winnetou. In einer Petition fordert die Partei vom Schweizer Fernsehen SRF, dass es die Filmklassiker wieder lizenziert und auf allen Kanälen ausstrahlt. «Ich sehe beim besten Willen keinen Grund, warum die Winnetou-Filme eine negative Wirkung haben sollten», sagt David Trachsel, Präsident der Jungen SVP. «Ich finde sie schön und toll.»

Um Winnetou ist zuletzt eine Rassismusdebatte entbrannt. In Deutschland hat der Verlag Ravensburger aufgrund negativer Rückmeldungen Kinderbücher zurückgezogen. Zudem gab die ARD bekannt, die Winnetou-Filme aus dem Programm gestrichen zu haben. SRF  besitzt derzeit keine Lizenz – und zeigt Winnetou demnach nicht.

«Layla», Dreadlocks und UBS

Mit der Aktion schaltet sich die Junge SVP zum wiederholten Mal in die Debatte um kulturelle Aneignung ein. Sie setzte sich zuletzt auch für den Puffmutter-Song «Layla» ein, kritisierte Gendervorschriften der UBS oder zeigte die Betreiber der Brasserie Lorraine in Bern an, weil diese ein Konzert abgebrochen hatten. Mehrere Besucher fühlten sich unwohl, weil weisse Musiker Dreadlocks trugen.

«Wir müssen diesen Woke-Wahnsinn stoppen», sagt Trachsel. Es dürfe nicht sein, dass eine Minderheit diktieren könne, was man noch dürfe und was nicht. Trachsel sieht die kulturelle Freiheit bedroht. Deshalb setzte man bei diesem Thema nun einen Schwerpunkt. «Viele nerven sich, nicht nur die Junge SVP.» Mit der Winnetou-Petition wolle man allen eine Gelegenheit geben, ihren Unmut zum Ausdruck zu bringen.
(https://www.derbund.ch/junge-svp-will-winnetou-zurueck-ins-srf-bringen-467983841839
-> Stop Woke-Petiition: https://stopwoke.ch/rette-winnetou/



solothurnerzeitung.ch 03.09.2022

Oltner Musiker Collie Herb: «Kulturelle Aneignung darf auf keinen Fall lächerlich gemacht werden – Dreadlocks sind aber nicht das Problem»

Am 10. September betritt der Oltner Musiker Collie Herb mit seinem von Reggae beeinflussten Sound die Bühne in der Galicia Bar Olten und ist überzeugt, dass sich alle wohlfühlen werden.

Denise Donatsch

Collie Herb mag seine Musik nicht in eine Schublade stecken lassen. Zwar wird sein Sound massgeblich von Reggae, Dancehall und Hip-Hop beeinflusst, er bezeichnet seine Musik jedoch als Schmelztiegel verschiedenster globaler Musikströmungen – und singt in Mundart.

Dennoch hat sich der Oltner Musiker, der in einschlägigen Kreisen weit über die Kantonsgrenze hinaus Bekanntheit geniesst, wohl unauslöschbar als Freigeist mit Dreadlocks und Reggae-Sound in den Köpfen seiner Fans eingebrannt – obwohl er sich vor vier Jahren von seiner Haarpracht getrennt hat.

Mit der aktuellen Debatte über kulturelle Aneignung hatte die damalige Entscheidung, sich dieser markanten äusserlichen Veränderung zu unterziehen, allerdings nichts zu tun. Damals war dies auch noch kaum ein Thema. «Ich wollte nach all den Jahren einfach einmal eine Veränderung, eine neue Lebenserfahrung machen.»

Ihm war denn auch schnell klar, dass er mit kurzen Haaren bei Menschen eine gänzlich andere Reaktion erzeugte: «Mit Dreadlocks wird man oftmals als sehr locker und zugänglich eingeschätzt.»

Er sei mit den unterschiedlichsten Menschen darum schnell ins Gespräch gekommen. Auf der anderen Seite habe es aber auch Situationen im Zug gegeben, wo man ihn offensichtlich gemieden habe und er ein ganzes Abteil für sich allein hatte. Ausserdem sei stets ganz automatisch angenommen worden, dass er Weed – also Cannabis – bei sich trage.

Dies habe sich seit dem Haarschnitt radikal geändert. «Manche Bekannte, die ich vor kürzerem kennen gelernt habe, meinten auch, dass sie sich kaum so leicht mit mir angefreundet hätten, hätte ich noch meine alte Frisur.»

Kulturelle Aneignung muss ernst genommen werden

Seit seiner Teenagerzeit setzte sich Herb intensiv mit der jamaikanischen Kultur auseinander und tauchte tief in sie ein. Schnell verliebte er sich in die Reggae-Musik und liess sich schliesslich Dreadlocks wachsen.

Innerhalb seiner musikalischen Laufbahn traf der mittlerweile 36-Jährige auf Menschen aus der ganzen Welt, unter anderem auf Bob Marleys Sohn Damian Marley, für den er 2018 als Vorgruppe auftreten durfte. Auch arbeitet Herb regelmässig mit Künstlern aus Jamaika und afrikanischen Ländern zusammen. Während all dieser Erfahrungen fiel Herb eines auf: «Keiner dieser Musikerinnen und Musiker hatten je ein Problem mit meiner Frisur.»

Für Herb steht dennoch fest, dass man die kulturelle Aneignung nicht auf die leichte Schulter nehmen darf. «Als weisser Schweizer Mann bin ich klar extrem privilegiert, das muss man einfach sehen.»

Und natürlich gebe es problematische kulturelle Aneignungen, insbesondere dann, wenn Konzerne oder Firmen mit fremden Kulturgütern das grosse Geld verdienen und den Urhebern nichts davon abgeben. «Darauf sollte man das Augenmerk legen.» Dreadlocks tragen sei aber wirklich nicht das Problem, viel wichtiger wäre es, in dieser Debatte eine gesunde Mitte zu finden.

Kultur ist immer auch Fusion

Am 10. September steht nun Herbs nächstes Konzert in der Oltner Galicia Bar auf dem Programm. Mit ihm auf der Bühne steht die Band The Mighty Roots, mit welcher er bereits seit 2015 unterwegs ist. Den Background-Gesang wird die Oltner Jazzsängerin Elian Zeitel beisteuern.

Ob er sich davor fürchtet, dass sich jemand unwohl fühlen könnte? «Nein, nicht im Geringsten!» Die Galicia Bar sei ein Ort, wo alle willkommen sind. Aber natürlich könne sich immer jemand aus irgendeinem Grund unwohl fühlen, dann müsse man sich aber immer auch fragen, wie sehr man das gewichtet. «Ausserdem bin ich gerne für alle da, die nach dem Konzert mit mir sprechen wollen.»

Für Herb steht jedenfalls fest, dass Kultur immer auch Fusion ist. «Kultur ist immer auch übernehmen, neu zusammenfügen, das ist völlig normal.» Nur so könne sich Kultur auch weiterentwickeln und im besten Fall Brücken bauen. «Ich habe schon immer verschiedene Stilmittel aus anderen Kulturen für meine Musik übernommen, versuche jedoch, etwas Eigenes daraus zu machen.»

Singen würde er beispielsweise immer in Schweizerdeutsch. «Dennoch, auch wenn ich die Kulturgüter nicht 1:1 übernehme, zolle ich ihnen grossen Respekt, denn immerhin beschenken sie mich mit viel Inspiration.»
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/kulturelle-fusion-collie-herb-spielt-unter-anderem-reggae-und-findet-kulturelle-aneignung-darf-auf-keinen-fall-laecherlich-gemacht-werden-dreadlocks-sind-aber-nicht-das-problem-ld.2336584)



Sonntagszeitung 04.09.2022

Unterwegs mit der Band Lauwarm: Plötzlich berühmt, weil sie Rastas tragen und Reggae spielen

Sie machten international Schlagzeilen, weil ihr Konzert abgebrochen wurde – wegen kultureller Aneignung, wie es heisst. Dann trat die Band Lauwarm beim «Weltwoche»-Sommerfest auf. Wir begleiteten die Gruppe zu ihrem nächsten Konzert.

Andreas Tobler, Rolf Neeser (Fotos)

Kurz nach der Abfahrt bekommt es Dominik Plumettaz mit der Angst zu tun, dass er die Herdplatte angelassen hat. An diesem Nachmittag, an dem wir ihn zu einem Auftritt nach Biel begleiten. Zusammen mit seiner Band Lauwarm, die seit einigen Wochen in den internationalen Schlagzeilen ist, weil eines ihrer Konzerte in der Berner Brasserie Lorraine abgebrochen und ein zweites abgesagt wurde.

Einige Leute hätten sich «unwohl» gefühlt, weil die weissen Musiker Reggae spielen und zwei von ihnen Rastas tragen. Stichwort kulturelle Aneignung. Die Absage der Lauwarm-Konzerte sei Ausdruck einer wachsenden Intoleranz, die zu immer mehr Verboten führe, las man seither in unzähligen Kommentaren und Meinungsstücken.

Dominik Plumettaz komponiert die Songs, schreibt die Texte. «Er ist ganz klar der kreative Kopf der Band», sagt Jesse Meyer, Produzent und Schlagzeuger von Lauwarm. Nur manchmal habe Plumettaz seinen Kopf nicht ganz beisammen. «Oder etwas zu voll», sagt Bassist Julian Mangold, nachdem wir zu Plumettaz’ Wohnung in der Länggasse gefahren sind, damit der Lauwarm-Frontmann prüfen kann, ob die Herdplatte aus ist (sie ist es). Alle im Auto lachen. Auch Plumettaz.

Die Debatte finden sie wichtig, aber ändern wollen sie nichts

Fünf Mitglieder hat Lauwarm insgesamt. Zur Band gehört ebenfalls Micha Friedli, ein gelernter Musikinstrumentenbauer, der seit drei Jahren auf einem Bauernhof arbeitet. Ihn werden wir ihn Biel treffen. Einer fehlt an diesem Abend: Philip «Phil» Jonientz, der auch unter dem Künstlernamen «Swissland» auftritt – und neben Bassist Julian Mangold der Zweite in der Band ist, der Rastas trägt. Jonientz organisiert in Biel ein Reggae-Festival, das am gleichen Abend stattfindet.

Die Bandmitglieder haben in den letzten Wochen mehrere Interviews gegeben. Die Debatte zur kulturellen Aneignung finden sie wichtig, haben sie gesagt, auch wenn sie es bedauern, dass sie sich anlässlich des Konzertabbruchs in Bern entzündet hat.

Bei ihrer Musik gehe es um Inspiration, nicht darum, fremde Kulturmerkmale zu kopieren, erklärte Plumettaz der «Schweizer Illustrierten». Sie selbst sähen daher keinen Grund, etwas bei ihrer Musik zu verändern. Auch die Dreadlocks wolle sich niemand abschneiden – weder Julian Mangold noch Phil Jonientz, der sich intensiv mit der Rastafari-Kultur beschäftigt hat. «Wenn man eine Kultur toll findet, sich damit auseinandersetzt, Positives daraus herausnimmt und weiterträgt, ist das für die Welt bereichernd», sagte Bandleader Plumettaz in einem Interview mit «20 Minuten».

Alice Weidel, Christoph Blocher – und eine Rede von Roger Köppel

Einige Anfragen für Auftritte seien nach dem Konzertabbruch in Bern reingekommen, aber nicht sehr viele, sagt Dominik Plumettaz. Die coolste Anfrage sei die des Züri-Fäschts gewesen. Aufhören sei in den letzten zwei Monaten nie ein Thema gewesen, sagt der Kopf der Band.

Die Musiker von Lauwarm wirken trotz der Aufregung um sie herum erstaunlich gelassen. Und dies, obwohl die Band seit letzter Woche wieder in den Schlagzeilen steht: Sie ist auf dem Sommerfest der «Weltwoche» aufgetreten.

Fast alle Schweizer Medien berichteten darüber. Über die Gäste, vor denen die Gruppe gespielt hat. Insgesamt 400 Personen «aus verschiedenen politischen Richtungen und Ländern» seien auf dem «Weltwoche»-Fest gewesen, betont die Band. Darunter die AfD-Mitglieder Alice Weidel und Alexander Gauland, Alt-Bundesrat Christoph Blocher, der SP-Ständerat Daniel Jositsch, der Corona-Skeptiker Daniel Stricker und die Stadtzürcher SVP-Präsidentin Camille Lothe, die auf Instagram ein Foto jenes Lauwarm-Auftritts mit den Worten «Fuck Political Correctness» versah.

Auch Roger Köppel nahm in einer Rede den Auftritt von Lauwarm zum Anlass für ein politisches Statement: Gegen die kulturelle Aneignung und für die «friedliche Koexistenz», wofür das Konzert der Band auf dem «Weltwoche»-Sommerfest ein Beispiel sei. Während seiner Rede wurde der SVP-Nationalrat und «Weltwoche»-Herausgeber von den Mitgliedern der Band flankiert, die er zuvor auf die Bühne gebeten und vorgestellt hatte.

Die Band lasse sich instrumentalisieren, hiess es danach in den sozialen Medien. Andere bemerkten sarkastisch, nun würde Lauwarm «erst recht gecancelled» von der «woken Mafia».

Köppel-Rede finden sie «in Ordnung»

«Lauwarm bei der ‹Weltwoche›. Überraschung? Geht so», schrieb ein «Blick»-Journalist auf Twitter. Er veröffentlichte Screenshots einiger Postings von Plumettaz’ Facebook-Seite, die zeigen sollen, dass dieser Verschwörungstheorien, Putin-Propaganda und Corona-Verharmlosung verbreite.

Sie hätten befürchtet, dass sie für ihren Auftritt bei der «Weltwoche» kritisiert würden, sagen die Bandmitglieder. Nicht gerechnet hatten sie mit der Heftigkeit der Zuschriften. In einigen davon wurden sie für die Opfer des Ukraine-Kriegs verantwortlich gemacht, weil Köppel mit Putin sympathisiere. Aber trotz des Vorwurfs, sie hätten sich instrumentalisieren lassen, steht die Band zu ihrem Auftritt beim Sommerfest: «Wir können nicht ausschliessen, dass Köppel uns für sich eingespannt hat», sagt Dominik Plumettaz, als wir in Biel angekommen sind. «Aber uns geht es um etwas ganz anderes», ergänzt Jesse Meyer, «wir haben keine Berührungsängste, wir sind offen, wir reden mit Menschen – egal, von welcher Seite, auch wenn wir deren Meinung nicht teilen. Und das Wichtigste: Wir machen Musik!»

Das sei ihre Message, die sie mit dem Auftritt bei der «Weltwoche» rüberbringen wollten. Im vergangenen Jahr seien sie bei einer Klimademo aufgetreten, in diesem eben auf dem «Weltwoche»-Sommerfest. Die Band glaubt daran, dass durch Begegnungen und Dialog der Spaltung in unserer Gesellschaft entgegengewirkt werden könne. Und dass erreicht werden könne, was Köppel mit dem Begriff «friedliche Koexistenz» beschrieb. So sieht das Produzent Meyer: Den Inhalt der Rede mit dem Aufhänger «friedliche Koexistenz» fand er persönlich in Ordnung, wenn es Köppel damit ernst meine.

Auch dafür will die Band diesen Tag in Biel nutzen: Um gemeinsam ein Statement zu schreiben, mit dem sie zu erklären versucht, warum sie auf dem Sommerfest der «Weltwoche» aufgetreten ist. Und was sagt Plumettaz zum Vorwurf des «Blick»-Journalisten, er verbreite Putin-Propaganda, Verschwörungstheorien und Corona-Verharmlosung? «Es gibt nichts, was einen Krieg rechtfertigt», erklärt der Lauwarm-Sänger. «Mir war es einfach wichtig, zu sagen, dass auch der Westen keine weisse Weste hat.» Es brauche immer zwei für einen Krieg.

«Brutal anstrengend», aber auch «lohnenswert»

Seit drei Wochen arbeitet der Sänger von Lauwarm als Lehrer und bringt ukrainischen Flüchtlingskindern Deutsch bei. «Es gibt nichts auf dieser Welt, was den Verbrecher Putin legitimiert», sagt er. Und in der Corona-Pandemie sei es ihm einfach wichtig gewesen festzuhalten, «dass man die Kinder und die Jugendlichen vergessen hatte, also die, die noch am längsten leben und durch die Massnahmen traumatisiert werden könnten».

Lauwarm gibt es seit gut einem Jahr in der heutigen Konstellation. Und gerade absolvieren die Musiker im Schnelldurchlauf einen Lehrgang, wie Öffentlichkeit und Medien funktionieren. Selbstverständlich würden sie dabei auch immer wieder sich selbst hinterfragen. Das sei «brutal anstrengend», sagt Jesse Meyer, «aber auch ein lohnenswerter Prozess».

Ein Problem sei nur, dass sie jetzt seit fast zwei Monaten in diesem Prozess der Selbstreflexion drin sind. Durchatmen sei dabei kaum möglich. Auch nicht in Biel, wo sie an diesem Abend auf dem Festival «Kultur im Container» auftreten. «Man hat mir geschrieben, ich solle das Konzert absagen», teilt die Festival-Organisatorin Meret Sandoz der Band mit, als sie Lauwarm in Biel begrüsst.

«FCK SVP» – von der Tendenz her alternativ

Seit dem «Weltwoche»-Auftritt habe Sandoz keine Gelegenheit gehabt, mit den Bandmitgliedern zu sprechen. Auch seien ihr zu wenige Informationen vorgelegen, um beurteilen zu können, was beim «Weltwoche»-Fest tatsächlich geschah, sagt sie. Das Konzert abzusagen, kam für die junge Festival-Organisatorin – sie ist 20 Jahre alt – nicht infrage: «Wir haben unsere Grundsätze. Dazu gehören Respekt und die Ablehnung von Rassismus. Und für uns ist klar, dass die Band respektvoll ist.»

Initiiert wurde das Bieler Festival als Maturaarbeit. Nun findet es zum zweiten Mal statt. Gedacht ist es als Plattform für junge Künstlerinnen und Künstler aus der Region, die sich erstmals auf einer Bühne präsentieren möchten. Das Publikum ist entsprechend: Um den grossen roten Schiffscontainer vor dem Bieler Bahnhof versammeln sich an diesem Abend viele junge Leute, die noch zur Schule gehen oder gerade das Gymi abgeschlossen haben.

Einer von ihnen trägt eine Trainerjacke mit der Aufschrift «FCK SVP», also «Fuck SVP». Das Publikum ist in der Tendenz alternativ. Wie die Band Lauwarm, die sich zwar ungern labeln lässt, aber ganz klar linke Positionen vertritt. Selbstverständlich ist sie für die Aufnahme von Flüchtlingen. Und ja, ökologische Anliegen sind ihr wichtig.

Worum genau ging es beim «Reggae-Puff in Bern»?

Alle im Publikum, mit denen wir sprechen, wissen um die Debatte der Konzertabbrüche. Auch wenn einigen Besucherinnen und Besuchern nicht bewusst war, dass dies nun besagte Band ist. Und auch sonst nicht immer ganz klar ist, worum es bei diesem «Reggae-Puff in Bern» genau ging, wie ein 62-Jähriger meint, der darin ein Symptom dafür sieht, dass man schon bald nichts mehr sagen dürfe.

Während die älteren Festival-Besucher, die wir fragen, wenig Verständnis für das in der Brasserie Lorraine Passierte und die Debatte um kulturelle Aneignung haben – ein 67-Jähriger aus Lyss findet den Konzertabbruch «absolut daneben», die Debatte «nicht nachvollziehbar» –, sehen Jüngere eher Bedarf für eine Diskussion: Sie habe sich länger überlegt, ob sie an diesem Abend das Konzert von Lauwarm besuchen solle, sagt eine 18-jährige Gymnasiastin. Es sei ein komplexes Thema, und sie habe sich gefragt, ob sie allenfalls etwas unterstütze, das sie eigentlich ablehne, wenn sie hingehe. Aber schliesslich habe sie sich dann doch dafür entschieden, sich den Auftritt anzusehen, weil sie sich noch zu wenig gut informiert fühle darüber, was genau in Bern geschah und wann kulturelle Aneignung problematisch sein könnte.

Die Gefahr der Verkürzung

Die Band selbst trennt zwischen dem, was in den Medien geschrieben und diskutiert wird, und dem, was sie vor Ort und in ihrem Alltag erlebt. Mit dem Reporter eines Regionalfernsehsenders, der auf dem Konzertplatz in Biel vorbeischaut, will Lauwarm nicht sprechen. Zu gross sei die Gefahr der Verkürzung von Aussagen, die durch Schnitte entstehen könnte.

Ansonsten möchte die Band aber offenbleiben für Gespräche. Auch mit jenen, die in der Brasserie Lorraine den Konzertabbruch initiiert hatten. «Unbedingt» möchten sie mit ihnen sprechen, sagt Jesse Meyer. Das sei auch damals ihr Anliegen gewesen, als die Verantwortliche der Brasserie sie zwischen zwei Sets informierte: An der Theke hätten sich mehrere Leute unabhängig voneinander gemeldet, dass sie sich unwohl fühlten. «Wie wollen wir weitermachen?», wurde die Band damals gefragt. Lauwarm überliess die Entscheidung der Brasserie-Verantwortlichen. Bis heute wissen die Musiker nicht, wer die Leute waren, die sich wegen ihnen unwohl fühlten.

Sehr emotional, als wäre es ihr erstes Konzert

Und dann – kurz vor 21 Uhr – tritt Lauwarm in Biel auf: «Wir sind hier für Musik und Liebe, wir interessieren uns nicht für all den Müll rundherum», sagt der Moderator, der «immer sehr schöne Gefühle» hatte, wenn er die Band sah.

Er kündigt Lauwarm mit einem kurzen Slam-Beitrag an: «Das Heilige stirbt, sobald es einseitig wird – und deine Meinung krepiert. Pflege sie sorgfältig», heisst es da. Und: «Wer verstanden werden will, muss verstehen. Nur durch Hören hat sich so einiges schon geklärt. Doch unsere Identität steht uns im Weg.»

So weit die politische Message, der sich Lauwarm selbst während ihres Konzerts enthält. Es sei komisch, als wäre es ihr erster Auftritt, «sehr emotional» sei es für seine Band, sagt Plumettaz, als er sich an diesem Abend erstmals ans Publikum wendet.

Das Publikum rückt näher, es tanzt zu den Mundartsongs der Band. Darunter auch die 18-jährige Gymnasiastin, die noch unsicher war, ob sie das Konzert überhaupt besuchen solle.

Sie hätten «schon etwas Angst gehabt vor dem Auftritt», sagt Plumettaz einmal zwischen zwei Songs. Dafür gibt es in Biel keinen Grund: Das Publikum ist begeistert. Viele kennen offensichtlich die Lauwarm-Songs bereits, etwa «Höchi Tier», in dem ein Gegenüber adressiert wird, das Bescheid weiss, was «abgeht». Und warum es nicht zum Besten steht in der Welt – wegen der hohen Tiere, denen man «unters Röckli» sehen kann, wie es im Song heisst, die also durchschaubar sind.

«Geil, dass ihr hier seid, mässi», bedankt sich Plumettaz bei seinen Zuhörerinnen und Zuhörern. Das Repertoire der Gruppe ist überschaubar. Es wird ein kurzes Konzert. Dafür entschuldigt sich der Sänger beim Publikum. Und auch dafür, dass sie keine T-Shirts zu verkaufen hätten. Leider auch keine CDs, diese seien bei ihrem letzten Auftritt in Solothurn vergessen gegangen.

Nach dem Konzert begegnen wir Dominik Plumettaz noch einmal, der sichtlich erleichtert ist. Am Ende einer Woche, in der ihn einige für die Opfer des Ukraine-Kriegs mitverantwortlich machen wollten. Mitglieder der Band sprechen dann doch noch mit dem Regionalfernsehen. Und sie schreiben gemeinsam ein Statement zu ihrem Auftritt beim «Weltwoche»-Sommerfest. «Musik verbindet» lautet der Titel dieses Statements – und will aufrufen zu Rücksicht und Respekt.



«Musik verbindet»: Statement der Band Lauwarm zu ihrem Auftritt beim «Weltwoche»-Sommerfest

«Musik ist Emotion und regt zum Denken an. Musik ist Inspiration. Musik vermittelt und drückt aus. Musik ist Leidenschaft. Leidenschaft verbindet.

Ja, wir haben an einem rechtspolitischen Anlass gespielt, an welchem verschiedene Menschen, Meinungen und Ideologien anwesend waren.

Ja, wir haben an einem linkspolitischen Anlass gespielt, an welchem verschiedene Menschen, Meinungen und Ideologien anwesend waren.

Wenn du denkst, dass die Meinung der anderen falsch ist, dann hat die Musik auf der gegenüberliegenden Seite genau am richtigen Ort gespielt.

Wenn du denkst, dass deine Meinung richtig ist, dann höre der Musik gut zu, denn es könnte sich ja eventuell etwas verändern.

Wenn du es nicht verstehst, dann beginne den Text noch einmal von vorne.

Wir stehen ein für Frieden, Respekt und den wohlwollenden Umgang miteinander, auch wenn sich Meinungen unterscheiden.

An den vergangenen Konzerten erlebten wir Liebe, Wertschätzung und Zuneigung sowie Kompromisse, Rücksicht und Respekt von allen Seiten!!!

Wir fragen uns, wieso wir während der Auftritte immer wieder in direktem Kontakt mit Menschen diesen Werten begegnen, während im indirekten Kontakt über ein Medium alles anders scheint. Es beschäftigt uns.

Liebe Menschen, setzt euch hin. Knüpft Kontakte. Sprecht miteinander. Zeigt Respekt und Rücksicht.»
(https://www.derbund.ch/ploetzlich-beruehmt-weil-sie-rastas-tragen-170123548273)