Medienspiegel 19. April 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++ITALIEN
Pressefreiheit in Italien: Behandelt wie die Mafia
Die sizilianische Staatsanwaltschaft beschuldigt NGOs, mit libyschen Schleppern zusammengearbeitet zu haben – und hat Journalist*innen abgehört.
https://taz.de/Pressefreiheit-in-Italien/!5762100/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Stadtspaziergang gegen Aufwertung und Kapital
Um die systematische Aufwertung der Stadt zu kritisieren, haben sich am 17. April 200 Personen in Winterthur zu einem Stadtspaziergang getroffen. Selbstbestimmt und laut haben wir uns durch die Altstadt über den Vorplatz des Bahnhofs nach Töss bewegt.
https://barrikade.info/article/4414


+++JUSTIZ
bernerzeitung.ch 19.04.2021

Konflikt mit Kantonsarztamt: Staatsanwaltschaft darf in die Quarantäneliste schauen

Das Obergericht stellt sich in einem Behördenkonflikt hinter die Staatsanwaltschaft. Diese erhält vor einer Hausdurchsuchung Corona-Informationen.

Hans Ulrich Schaad

Die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsdelikte wollte wegen der Corona-Pandemie auf Nummer sicher gehen. Vor einer Hausdurchsuchung bei einem Verdächtigen wollte sie vom Kantonsarztamt (Kaza) wissen, ob der Beschuldigte oder jene Erwachsenen, die im gleichen Haushalt leben, sich allenfalls in Isolation oder Quarantäne befinden würden. Und falls ja, bis zu welchem Zeitpunkt diese Anordnung gelte. Doch das Kantonsarztamt verweigerte noch gleichentags telefonisch die Herausgabe der Informationen.

Dieser Vorfall ereignete sich vor knapp drei Monaten, und die Hausdurchsuchung wurde mittlerweile durchgeführt. Ende März musste sich trotzdem noch die Beschwerdekammer des Obergerichts damit beschäftigen. Denn die Staatsanwaltschaft gelangte an diese Instanz, um den Konflikt «zwischen den Behörden des gleichen Kantons» zu regeln. Auch mit Blick auf weitere ähnliche Verfahren.

Behörden müssen helfen

Die Staatsanwaltschaft stellte sich auf den Standpunkt, dass gemäss der Strafprozessordnung Behörden zur umfassenden Rechtshilfe verpflichtet seien. Eine Einschränkung gebe es nur, falls überwiegende öffentliche oder private Interessen vorliegen würden. Durch die Herausgabe der verlangten Informationen würde die Privatsphäre aber nur geringfügig tangiert. Das öffentliche Interesse an einer wirksamen Strafuntersuchung sei höher zu gewichten.

Das Epidemiengesetz sei entscheidend, argumentierte auf der anderen Seite das Kantonsarztamt. Laut diesem dürfe es die Daten nur an jene Behörden weitergeben, die sich mit der Krankheitskontrolle respektive -überwachung beschäftigen. Die Staatsanwaltschaft habe keine Aufgabe in diesem Bereich. Und die eingeforderten Angaben würden nichts zum strafrechtlichen Sachverhalt beitragen. Im strittigen Fall geht es um Urkundenfälschung und betrügerischen Missbrauch einer Datenverarbeitungsanlage.

Das Anliegen sei zweifellos berechtigt, führte das Kaza weiter aus. Aber der potenziellen Gefahr einer Covid-19-Ansteckung könne dadurch Rechnung getragen werden, indem bei der Hausdurchsuchung die geltenden Schutzmassnahmen beachtet würden.

Eine Grundsatzfrage

Obwohl der konkrete Fall längst erledigt ist, ging das Obergericht darauf ein. Denn die aufgeworfene Frage könne sich bei Fortdauer der Pandemie immer wieder stellen. Sie habe eine allgemeine Tragweite. Weil die Akteneinsicht jeweils unmittelbar vor einer Zwangsmassnahme erfolgen müsse, könne eine gerichtliche Überprüfung jedes Einzelfalls nicht rechtzeitig erfolgen. Deshalb sei eine grundsätzliche Beantwortung im öffentlichen Interesse.

Was hat nun Vorrang, das Epidemiengesetz oder die Strafprozessordnung? Die Beschwerdekammer macht in ihrem Entscheid deutlich, dass das Epidemiengesetz die Auskunftspflicht im Zusammenhang mit anderen Gesetzen nicht ausser Kraft setze. Das heisst: Die Behörde ist verpflichtet, bei einer Aufforderung die entsprechenden Akten herauszugeben.

Keine Detailinformationen

Im konkreten Fall spiele eine Quarantäne oder Isolation für die Beurteilung des Beschuldigten keine Rolle. Hingegen die Informationen dazu, damit die Hausdurchsuchung geordnet durchgeführt und das Strafverfahren wirksam realisiert werden könne. Denn sollte sich die Person in Quarantäne oder Isolation befinden, würde eine Hausdurchsuchung erheblich beeinträchtigt. Oder sie müsste im Einzelfall gar abgebrochen werden. Das würde der Person etwa ermöglichen, Beweismaterial verschwinden zu lassen, schreibt das Obergericht in seinem Entscheid.

Durch die Herausgabe der Informationen würden die Persönlichkeitsrechte nur geringfügig verletzt. Denn die Staatsanwaltschaft verlange einzig die Angabe, ob jemand in Quarantäne oder Isolation sei und wie lange die Massnahme dauere, und sonst keine weiteren Details.

Das Obergericht lässt auch das Argument des Kantonsarztamtes nicht gelten, dass sich die Polizistinnen und Polizisten ja schützen könnten. Denn das widerspreche dem Sinn und Zweck der Quarantäne oder Isolation, wonach Betroffene keinen Kontakt zu anderen Personen haben sollten.
(https://www.bernerzeitung.ch/staatsanwaltschaft-darf-in-die-quarantaeneliste-schauen-283539921411)


+++KNAST
100 neue Aufseher:innen für das Gefängnis Zürich West – Schweiz Aktuell
Das neue Untersuchungsgefängnis Zürich West rekrutiert 100 neue Betreuer:innen und Aufseher:innen. Die meisten sind Quereinsteiger und wagen den Sprung in eine unbekannte Welt.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/100-neue-aufseherinnen-fuer-das-gefaengnis-zuerich-west?urn=urn:srf:video:8ea3ffe0-f022-4df1-874c-051598cf462e


+++POLIZEI AG
Aargauer Polizeidirektor stellt sich der Kritik
Die Aargauer Kantonspolizei steht in der Kritik: Sie nehme Verdächtige ohne ausreichenden Grund fest. Der zuständige Regierungsrat Dieter Egli äussert sich zu den Vorwürfen. Die Vorfälle würden extern untersucht und der Dienstbefehl angepasst.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/aargauer-polizeidirektor-stellt-sich-der-kritik?id=11970308


Polizisten verhaften Brandstifter und unschuldigen Kollegen an der Tankstelle: Haben sie zu hart zugepackt?
Nach einem Einsatz der Sondereinheit Argus läuft ein Strafverfahren gegen mehrere Polizisten. Ein junger Mann, der vorläufig festgenommen wurde, wirft ihnen Körperverletzung, Amtsmissbrauch und Sachbeschädigung vor. Die Polizei argumentiert, sie habe wegen der Gefahr von Waffen oder Sprengstoff so vorgehen müssen.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/einsatz-polizisten-verhaften-brandstifter-und-unschuldigen-kollegen-an-der-tankstelle-haben-sie-zu-hart-zugepackt-ld.2127118


+++POLIZEI TG
Kantonspolizei Thurgau duldet keine rassistischen Vorfälle
Die Kantonspolizei Thurgau sei sensibilisiert im Umgang mit dem Thema «Racial Profiling». Wer sich von der Polizei diskriminiert fühlt, könne jederzeit bei der Polizei oder direkt bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstatten. Das antwortet die Thurgauer Regierung auf eine Interpellation im Grossen Rat.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/frauenfeld/grosser-rat-kantonspolizei-thurgau-duldet-keine-rassistischen-vorfaelle-ld.2126612


+++RASSISMUS
antira-Wochenschau: Frontex veranstaltet Fotowettbewerb, Stadt Bern streicht Motivationsgelder, Widerstand von Hamburg bis Teneriffa
https://antira.org/2021/04/18/frontex-veranstaltet-fotowettbewerb-stadt-bern-streicht-motivationsgelder-widerstand-von-hamburg-bis-teneriffa/


„Aber du hast halt einfach solche Augen“
Antiasiatischer Rassismus ist nicht erst seit Ausbruch der Pandemie ein Thema – auch in der Schweiz nicht. Ein Gastbeitrag des Vereins Diversum dazu, was es bedeutet, mit antiasiatischem Rassismus, Vorurteilen und scheinbar gut gemeinten Bemerkungen aufzuwachsen und zu leben.
https://daslamm.ch/aber-du-hast-halt-einfach-solche-augen/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Corona-Maßnahmen: Sie leben vom Ich-Bezug
Carla Wicki und Nicolas A. Rimoldi fordern, dass der Bund die Corona-Maßnahmen sofort aufhebt. Wie ticken die Köpfe hinter der Bewegung Mass-Voll?
https://www.zeit.de/2021/16/corona-massnahmen-mass-voll-bewegung-carla-wicki-nicolas-a-rimoldi/komplettansicht


Bauer laufen seit Corona-Kundgebung die Kunden davon
Die Altdorfer Bauernfamilie Herger empfing Corona-Skeptiker der unbewilligten Demo vor einer Woche bei sich. Seither leidet der Hof unter Besucherschwund. Nun ruft eine Facebook-Seite auf, die Familie zu unterstützen.
https://www.20min.ch/story/bauer-laufen-seit-corona-kundgebung-die-kunden-davon-863392319681


Verschwörungstheoretikerin lässt Tochter (8) entführen – und wird in Schweizer Fabrik verhaftet
Die Westschweizer Polizei hat eine Französin verhaftet, die ihre eigene Tochter entführt hatte – mit Hilfe von Verschwörungsaktivisten.
https://www.tagblatt.ch/international/glimpflich-ausgegangen-verschwoerungstheoretikerin-laesst-tochter-8-entfuehren-und-wird-in-schweizer-fabrik-verhaftet-ld.2126633


+++MEDIEN
Edition megafon
Unter dem Namen «edition megafon» hat das Kollektiv hinter der «Zeitung aus der Reitschule» kürzlich zwei Publikationen veröffentlicht: Ein Buch mit Texten und Illustrationen zum Thema Nacht und eine gezeichnete Reportage über den Wagenplatz «Anstadt» im Gaswerkareal. Journal B hat sich mit zwei Mitgliedern getroffen und mit ihnen über die Bedeutung des neugegründeten Verlags und die beiden Werke gesprochen.
http://www.journal-b.ch/de/082013/kultur/3881/Edition-megafon.htm


+++HISTORY
nzz.ch 19.04.2021

Wie sich vor 30 Jahren eine der grössten offenen Drogenszenen Europas vor dem Bundeshaus sammelte

Im Frühling 1991 spielen sich vor dem Parlamentsgebäude unfassbare Szenen ab. Auch das Ausland berichtet über die offene Drogenszene in Bern – ein Blick zurück.

Marc Tribelhorn

Täglich das gleiche Theater. Der Reinigungsdienst kehrt frühmorgens die altehrwürdigen Sandsteinarkaden beim Bundeshaus, doch nur Stunden später ist das Grauen zurück. Abfall, Erbrochenes, Blut, Injektionsnadeln. Über hundert verwahrloste Gestalten vegetieren hier vor sich hin, ausgezehrt, mit derangiertem Blick und schleppender Stimme, auf der Suche nach dem nächsten «Knall». Wo normalerweise Touristen flanieren, kochen nun Süchtige mit Löffel und Feuerzeug ihr Heroin auf, das sie mit der Spritze aufziehen und sich in die Venen drücken. Die Überdosis lauert bei jedem Schuss. Und die Dealer, die gleich danebenstehen, liefern jederzeit Nachschub: «Sugar, Coci?» Regelmässig schauen Sozialarbeiter und Sanitäter vorbei, während die Polizei die Junkies abends wieder vertreibt.

Im Frühling 1991 hat sich die offene Drogenszene in Bern im Zentrum der Macht festgesetzt, direkt vor den Fenstern des Regierungspalastes, unter den Augen der Parlamentarier, Bundesräte und Beamten. An einer der Toplagen der Stadt, wo der Blick so schön über Aare und Alpen schweift. Das Elend macht nicht nur in der Schweiz Schlagzeilen, sondern auch im Ausland: Nach dem berüchtigten «Needle Park» auf dem Zürcher Platzspitz wird nun auch die Bundesstadt zum unrühmlichen Thema. Der amerikanische TV-Sender CNN berichtet über die «Drogensubkultur im Schatten des Schweizer Parlamentsgebäudes»; die «Washington Post» erwähnt das «Freiluft-Drögelen» auf der Bundesterrasse als Symptom einer Identitätskrise. Und das ausgerechnet 1991, wo doch gefeiert werden soll: 800 Jahre Gründung der Stadt Bern, 700 Jahre Entstehung der Eidgenossenschaft.

«Mehr als beunruhigt»

Die Schweiz hat seit längerem ein Problem mit harten Drogen und offenen Szenen. Die Politik findet keine Antwort. Die Süchtigen werden meist noch immer als Kriminelle und nicht als Kranke gesehen. Die Prämisse «Abstinenz oder Repression» allein bringt wenig Linderung. Die Statistiken kennen nur eine Richtung: mehr Fixer, mehr beschlagnahmtes Heroin und Kokain, mehr Dealer, mehr Tote. Im Jahr 1990 wird der traurige Rekordwert von 280 Drogenopfern erreicht. Der Bundesanwalt Willy Padrutt verlangt «eine noch konsequentere Gegenwehr».

In Bern bedeutet das vor allem polizeiliche Vertreibung, obwohl die Stadtväter in der Drogenpolitik auch schon progressive Wege gewählt haben, etwa 1986 mit der Einrichtung des ersten offiziellen Fixerstüblis der Schweiz. Doch die Geschichte der offenen Drogenszene in der Stadt Bern ist eine der Duldung und Auflösung: zunächst auf der Münsterplattform, später auf der Kleinen Schanze, wo sie Ende der 1980er Jahre zu einer der grössten in Europa anwächst und eine «enorme Sogwirkung» entwickelt, wie der Polizeivorsteher klagt. Beschaffungskriminalität, Prostitution, HIV und Hepatitis sind ständige Begleiter der Szene. Im November 1990 wird auch die «Drogenschanze» von der Polizei geräumt. Da ein Konzept fehlt, verschwinden die Süchtigen indes nicht einfach aus dem Stadtbild, sondern sammeln sich halt einfach 200 Meter weiter östlich – auf der Bundesterrasse.

In unmittelbarer Nähe der «nationalen Weihestätte» spitzt sich die Situation bald zu. Beamte, Parlamentarier und Passanten werden angepöbelt, fühlen sich belästigt und nicht mehr sicher, vor allem bei Anbruch der Nacht. Dem Aargauer SVP-Nationalrat Theo Fischer wird das Auto aufgebrochen und ausgeräumt. Der Unmut unter den eidgenössischen Räten ist gross. Im März 1991 will der FDP-Nationalrat François Loeb vom Bundesrat wissen, was dieser gegen die Drogenszene unternehme. Justizminister Arnold Koller antwortet, die Landesregierung sei «mehr als beunruhigt»: «Die öffentliche Sicherheit ist in diesem Bereich leider nicht mehr gewährleistet.» Er versichert, bei der Berner Stadtregierung wegen der «unhaltbaren» Zustände zu intervenieren.

Nur wenig später sucht eine Delegation aus Koller, Bundespräsident Flavio Cotti und Finanzminister Otto Stich das Gespräch. Sie klagen, dass «die Würde sowohl der Exekutive als auch der Legislative grob verletzt» werde. Auch würden die Süchtigen und das Gebell ihrer Hunde den Politbetrieb «ernsthaft stören». Die Stadtberner Exekutive verspricht Massnahmen, damit die offene Drogenszene beim Bundeshaus «entfernt werden kann». Am 16. April fährt das polizeiliche Räumungskommando auf und sperrt die Terrasse ab. Die FDP nennt es eine «dringende Notwendigkeit», die SVP ist grundsätzlich gegen jede offene Szene, die SP spricht von einer «zynischen Aktion», weil die Regierung zu wenig unternehme, um das Elend drogenpolitisch zu entschärfen.

Täglich 5000 Spritzen

Tatsächlich verlagert sich das Problem nur ein weiteres Mal. Die offene Drogenszene strandet nun im Kocherpark. Hauptsache, weg vom Bundeshaus!, mag die Devise der Berner Stadtoberen gewesen sein, die den Umzug dort hingesteuert haben, aber nicht transparent kommunizieren können. Denn die Anwohner des Kocherparks sind erzürnt angesichts der Zustände, die bald prekärer sind als je zuvor in Bern. Zu Spitzenzeiten sammeln sich dort bis zu 600 Süchtige, die im provisorisch installierten Spritzenkiosk 5000 saubere Injektionsnadeln beziehen – täglich. «Selbst in den nordafrikanischen Ländern» wisse man, dass die Parkanlage «zum eigentlichen Drogenselbstbedienungsladen» geworden sei, heisst es in einem Bericht des Schweizer Fernsehens.

Ein knappes Jahr schauen die Berner Behörden dem Treiben zu. Am 31. März 1992 – zwei Monate nach der Räumung des Platzspitzes in Zürich – schliessen sie den Kocherpark. Eine offene Drogenszene wird fortan nicht mehr toleriert und bildet sich in der Bundesstadt auch nur noch im Kleinen. Die Lokalpolitik hat aus den Fehlern gelernt, mehr Betreuungsangebote geschaffen sowie auswärtige Süchtige in ihre Herkunftsorte und -länder abgeschoben. Und allmählich greift auf nationaler Ebene die neue Vier-Säulen-Politik, die nicht mehr nur auf Prävention, Therapie und Repression setzt, sondern auch auf Schadensminderung, inklusive der ärztlich kontrollierten Abgabe von Heroin und Methadon.

Im Kocherpark und auf der Kleinen Schanze gräbt die Stadtgärtnerei das ganze Erdreich ab. Heute erinnert dort nichts mehr an die Berner «Needle Parks».
(https://www.nzz.ch/schweiz/offene-drogenszene-in-bern-fixen-im-schatten-des-bundeshauses-ld.1612309)


+++ANTITERRORSTAAT

Hätte das Anti-Terror-Gesetz den Bombenbastler früher erkannt?
Er wolle «alle Muslime töten», schrieb Miran S. (19). Der Ostschweizer wurde inhaftiert. Doch im Herbst entkam der junge Mann aus dem Zürcher Massnahmezentrum – hätte das neue Gesetz den entscheidenden Unterschied gemacht?
https://www.20min.ch/story/haette-das-anti-terror-gesetz-den-bombenbastler-frueher-erkannt-789770842353
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuercher-justiz-laesst-moechtegern-terroristen-aus-knast-entwischen-ostschweizer-plante-massaker-in-schweizer-moschee-id16469152.html



tagesanzeiger.ch 19.04.2021

Jugendlicher plante MassakerJustiz lässt mutmasslichen Terroristen entwischen

Ein verhinderter Nachahmer des Christchurch-Attentats ist auf der Flucht, während Justizministerin Karin Keller-Sutter mit seinem Fall für das Anti-Terror-Gesetzt wirbt.

Kurt Pelda, Leo Eiholzer, Thomas Knellwolf

In ihren weissen Gewändern und mit den gefalteten Händen sehen die Kinder ein bisschen wie Engel aus. Der Priester trägt einen gelben Talar. Zur Kommunion steckt er Miran S. (Name geändert) eine Hostie in den Mund. Hinter dem 9-Jährigen stehen die Eltern, stolz, ebenfalls mit gefalteten Händen. Es ist ein Sonntag im Mai 2011.

Acht Jahre später, im Sommer 2019, ist aus dem «Engel» von einst ein Jugendlicher voller Hass auf Muslime geworden. Auf Englisch kündigt Miran S. in den sozialen Medien an, dass er «all diese Muslime töten» werde. Der 17-Jährige lädt Ausschnitte aus dem Video jenes australischen Neonazis hoch, der im März 2019 in zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch 51 Muslime ermordete. Dazu schreibt er: «Irgendwann möchte ich das Gleiche in der Schweiz tun.» Im Chat lässt er auch durchblicken, dass es ganz bei ihm in der Nähe eine Moschee gebe.

Nicht ernst gemeint?

Welches Gotteshaus Ziel werden könnte, ist unklar. Die Moscheen, die am nächsten bei seinem Wohnort liegen, sind die muslimischen Gebetshäuser von St. Gallen.

Zu einem Anschlag kommt es nicht. Ein befreundeter Nachrichtendienst meldet den Schweizer Sicherheitsbehörden die Onlineaktivitäten von Miran S. Die Briten teilen mit, dass ihnen einige der Chatpartner des jungen Schweizers bekannt seien. Und die deutsche Polizei warnt davor, dass dieser auch in einem Forum präsent sei, das sich auf Sprengstoffe spezialisiere.

Der Ostschweizer mit den balkanischen Wurzeln schreibt in den sozialen Medien mehrmals Sätze wie: «Ich habe Vorläuferstoffe bestellt, ich kann Bomben basteln, ich habe Waffen.» Ist hier ein Sprüchemacher am Werk, der seine Drohungen gar nicht ernst meint, wie das nun die Familie von Miran S. behauptet?

Fakt ist, dass Miran S. in einem Onlineshop einer Drogerie 7,5 Kilogramm Aceton, 4 Kilogramm Wasserstoffperoxid und 5 Kilogramm Salzsäure bestellt. Die Drogerie wird misstrauisch, blockiert die Bestellung und meldet sie dem Bundesamt für Polizei (Fedpol).

Die Chemikalien, die sich Miran S. liefern lassen möchte, passen genau zu seinen angeblichen Plänen, den hochexplosiven Initialsprengstoff TATP herzustellen. Allerdings ist TATP unter anderem schlagempfindlich, sodass sich schon eine ganze Reihe Möchtegern-Attentäter des Islamischen Staats bei der Herstellung versehentlich in die Luft jagten.

Zweimal verhaftet

Miran S. hat eine Lehre im Bereich Elektronik angefangen, er hätte also vermutlich das Fachwissen, um auch einen elektrischen Zündmechanismus zu bauen. Die Kantonspolizei verhaftet ihn auf dem Weg zur Arbeit. Nach kurzer Zeit wird er aber freigelassen – und macht in seinen Chatgruppen einfach weiter, wie ein Insider erzählt. Die Gruppenmitglieder sind Deutsche, Niederländer und Briten, die sich aus dem Internet kennen. Sie berufen sich auf pseudochristliche, antimuslimische und rechtsextreme Wertvorstellungen, wie das Fedpol in seinem Jahresbericht schreibt.

Miran S. wird ein zweites Mal verhaftet und nun länger weggesperrt. Gegen ihn läuft ein Strafverfahren der Jugendanwaltschaft, das bis heute nicht abgeschlossen ist. Die Sicherheitsbehörden des zuständigen Kantons und des Bundes sind involviert. Sie schätzen Miran S. als sehr gefährlich ein. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Sympathisch, charmant, mit Grips

Im Umfeld der Familie heisst es, dass Miran S. niemals Gewalt anwenden würde. Mit den Vorwürfen, die aus dem Fedpol-Bericht hervorgehen, konfrontiert, schreibt die Mutter per SMS zurück: «Kein Kommentar. Lassen Sie uns in Ruhe, mich und meine Familie.»

Seit langem lebt die Familie in einem Dorf in der Ostschweiz. Die Ruhe, der Frieden, ist für Auswärtige fast erdrückend. Jemand hat Bettlaken zum Trocknen aus dem Fenster gehängt, und aus ein paar Kaminen zieht Rauch in den blauen Himmel. Warum will man hier zum Terroristen werden? Warum kann sich hier so ein Hass auf Muslime entwickeln?

Alte Bauernhäuser wechseln sich ab mit neuen Eigentumswohnungen aus viel Holz und Glas. Ein grauer, wuchtiger Wohnblock fällt aus der Reihe. Die Farbe auf den Garagentoren ist verblasst, die Briefkästen zerkratzt. Auf den meisten Klingelschildern stehen ausländisch klingende Nachnamen, auch jener der Familie S.

Bekannte des mittlerweile jungen Erwachsenen erzählen Widersprüchliches. Für die einen ist er ein sympathischer, charmanter Typ mit Grips. Andere halten ihn für undurchsichtig. Er komme aus schwierigen Familienverhältnissen. Auffällig ist, wie viele der Befragten Angst haben, sich klar zu äussern.

Die halbe Wahrheit von Karin Keller-Sutter

Wortkarg geben sich auch die Bundesbehörden. Das Fedpol will sich aktuell zur Angelegenheit nicht äussern, obschon es den Fall in seinem Jahresbericht beschrieben hat; und obwohl Justizministerin Karin Keller-Sutter den verhinderten «Christchurch-Attentäter» als Beispiel erwähnt, als sie sich vor wenigen Tagen an einer Medienkonferenz für das geplante Anti-Terror-Gesetz ins Zeug legt. Die Bundesrätin benützt den Fall Miran S., um für polizeiliche Präventivmassnahmen, die sich auch gegen jugendliche Gefährder richten sollen, Werbung zu machen. Die Schweiz wird am 13. Juni über das Gesetz abstimmen.

Was Keller-Sutter verschweigt: Miran S. ist der Justiz entkommen. Er war nach seiner zweiten Verhaftung im Kantonalzürcher Massnahmenzentrum Uitikon inhaftiert. Die Justizanstalt für Jugendliche und junge Erwachsene zielt auf eine «deutliche Verminderung der Rückfallwahrscheinlichkeit und eine möglichst effiziente Deliktprävention», wie auf der Website des Massnahmenzentrums nachzulesen ist. Doch daraus wird im Fall des mutmasslichen Rechtsterroristen wohl nichts: Miran S. ist die Flucht von dort gelungen, vor einigen Monaten schon, wie zwei Quellen dieser Zeitung unabhängig voneinander bestätigen. Angeblich hat er sich in das Herkunftsland seiner Familie auf dem Balkan abgesetzt.
(https://www.derbund.ch/justiz-laesst-mutmasslichen-terroristen-entwischen-382819090843)