Medienspiegel 18. März 2024

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++THURGAU
tagblatt.ch 18.03.2024

«Kreuzlingen ist kein Hotspot für Asylkriminalität»: Das sagt Stadtpräsident Thomas Niederberger zur Sicherheit in Kreuzlingen

Das Kreuzlinger Asylwesen machte jüngst mehrfach Schlagzeilen. Der Kreuzlinger Exekutive wurde vorgeworfen, die Situation zu verharmlosen. Stadtpräsident Thomas Niederberger erklärt im Interview, mit welchen Mitteln Kreuzlingen für die Sicherheit seiner Bürger sorgt – und was das mit einer neuen Normalität zu tun hat.

Tobias Hug und Janine Bollhalder

Wie ruhig und sicher ist es in Kreuzlingen mit den Asylsuchenden aus dem Bundesasylzentrum (BAZ) wirklich?

Thomas Niederberger: Ich glaube nach wie vor, dass wir in Kreuzlingen eine gute Situation haben. Auch kann ich sagen, dass das BAZ, zusammen mit allen Sicherheitsdienstleistern und Fachstellen, gut funktioniert. Dennoch muss man klar festhalten, dass sich hier in den letzten Monaten Delikte wie Einschleich- oder Einbruchdiebstählen gehäuft haben. Das bedauern wir als Stadt extrem. Wir versuchen, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass das möglichst nicht passiert und die Menschen sich hier sicher fühlen können.

Solche Delikte kann die Kantonspolizei seit einigen Monaten vor allem jungen Asylbewerbern aus den Maghrebstaaten zuordnen. Ist Kreuzlingen als Grenzstadt mit BAZ ein Hotspot für solche Delikte?

Wir tauschen uns diesbezüglich regelmässig mit der Kantonspolizei aus. Diese sagt klar, dass Kreuzlingen im kantonalen Vergleich kein Hotspot ist. Etliche Gemeinden und Städte im Kanton haben hohe Fallzahlen von solchen Delikten. Die Einzelfälle in Kreuzlingen beunruhigen uns durchaus. Ich bin aber überzeugt, dass das grundsätzliche Sicherheitsgefühl der Kreuzlingerinnen und Kreuzlinger positiv ist.

Welche Rückmeldungen aus der Bevölkerung erhalten Sie?

Ich erhalte punkto Sicherheit und Kriminalität sehr wenig Rückmeldungen. Daran rüttelt auch die Berichterstattung in den Medien kaum. Häufig sind es Vorfälle, die jemand nur vom Hörensagen kennt und weitererzählt.

Haben Sie privat schon solche Vorfälle erlebt?

Meinem Sohn wurde kürzlich Geld aus dem unverschlossenen Auto gestohlen. Das war aber nicht in Kreuzlingen. Dennoch ein typischer Fall, wie man ihn in den letzten Monaten oft gelesen hat.

Bedeutet «typisch» eine neue Normalität?

Ich persönlich schliesse das Auto und die Haustür immer ab. Viele sprechen davon, dass das früher nicht nötig gewesen sei. Diese Zeiten sind vorbei. Das ist wirklich eine neue Normalität, welche Eigenverantwortung und Umsichtigkeit unsererseits voraussetzt. Auch das hohe Sicherheitsdispositiv in Kreuzlingen wird so bleiben.

Mit welchen Sicherheitskräften ist die Stadt Kreuzlingen im Austausch?

Im BAZ sind die Mitarbeiter der Securitas zuständig. Im weiteren Umfeld patrouilliert die VüCH, welche wie die Securitas vom Staatssekretariat für Migration (SEM) angestellt ist. Als drittes ist der städtische A.T.S. Sicherheitsdienst in der Stadt unterwegs. Wir treffen uns regelmässig mit den Sicherheitsleuten, dem SEM sowie der Kantonspolizei und besprechen Problempunkte. Das ist ein guter und niederschwelliger Austausch. Wenn sich in einem Bereich der Stadt eine erhöhte Sicherheitsnachfrage abzeichnet, können die Dienstleister ihre Routen sofort anpassen. Da das BAZ nahe der deutschen Grenze liegt, sind wir, beziehungsweise Polizei und Grenzbehörden, auch mit den deutschen Grenzbeamten im Austausch.

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von diesen Stellen?

Wir haben die klare Rückmeldung der Behörden, dass diese die Situation gut im Griff haben. Wenn sich hier ein gravierendes Sicherheitsproblem oder sogenannte Hotspots abzeichnen würden, käme die Kantonspolizei sofort auf uns zu. Diese Notwendigkeit bestand in den letzten Monaten nicht. Fälle wie das leerstehende Haus, welches von kriminellen Asylsuchenden als «Schaltzentrale» benutzt wurde, sind zwar medial wirksam, aus Sicht der Kantonspolizei aber nicht aussergewöhnlich.

Wie geht es Ihnen als Stadtpräsident, wenn Sie als Kontrast zu dieser vermeintlichen Entwarnung von den fast täglichen Sicherheitseinsätzen im BAZ oder den negativen Erlebnissen mancher Kreuzlinger Verkäufer oder Einwohner lesen?

Das geht nicht spurlos an mir vorbei. Für mich als Stadtpräsident sowie für den Stadtrat ist es enorm wichtig, die Sicherheit der Bürger hoch zu gewichten. Jeder solche Fall beunruhigt uns. Ich kann versichern, dass durch unsere drei Sicherheitsfirmen sowie durch die Kantonspolizei das Möglichste gemacht wird, damit solche Fälle nicht passieren.

Kann Kreuzlingen das Problem alleine lösen?

Ich denke, dass hier nebst unseren Bemühungen auch die Bundespolitik gefordert ist. Ich nehme erfreut zur Kenntnis, dass man auf Bundesebene ein schärferes Vorgehen gegen Wiederholungstäter aus dem Asylbereich anstrebt. Für die Kantonspolizei ist es beispielsweise schwierig, wenn Asylsuchende für ihre Delikte gesetzlich kaum belangt werden können. Es braucht Mittel, diese Personen auch auf Gemeindeebene möglichst schnell aus dem Verkehr zu ziehen, um die Kantonspolizei zu entlasten.

Gibt es seitens Kreuzlingen weitere Präventionsmassnahmen für ein sicheres Miteinander?

Gerne verweise ich auf die grosse Präventions- und Betreuungsarbeit im BAZ selbst. Dort gibt es verschiedene Betreuungsangebote, um den Asylsuchenden eine Struktur und einen geordneten Tagesablauf zu ermöglichen. Beispielsweise gibt es Beschäftigungsangebote, wie Sportprogramme, Koch- oder Musikkurse. Seitens Kreuzlingen gibt es die Möglichkeit von freiwilligen Arbeitseinsätzen in der Stadt, wie etwa «fötzeln» oder Mithilfe bei der Forstwirtschaft. Auch die Arbeitsgruppe für Asylsuchende Thurgau (Agathu) engagiert sich für die Geflüchteten.

Was denken Sie, wirken all diese Massnahmen auch bei Asylsuchenden, die im Ausreisezentrum Kreuzlingen nichts mehr zu verlieren haben?

Hier kann ich Entwarnung geben. Auch seit der Veränderung des BAZ vom Empfangs- zum Ausreisezentrum gibt es keine Anhaltspunkte, dass sich die Sicherheit in Kreuzlingen oder die Stimmung der Bevölkerung verschlechtert hätten. Ich finde, dass die Verantwortlichen unser Bundesasylzentrum im Griff haben und einen guten Job machen. All diese Massnahmen sind aus meiner Sicht essenziell für ein möglichst konfliktfreies Miteinander und die Integration der Asylsuchenden in Kreuzlingen. Die Zusammenarbeit zwischen den Sicherheits- und Fachstellen ist beispielhaft. Perfekt wird es nie sein, in solch einer Welt leben wir nicht. Aber zu einer Verschlimmerung kann es eigentlich nicht kommen, dafür ist der Austausch zwischen den Verantwortlichen zu gut.

Ist Kreuzlingen finanziell auf sein BAZ angewiesen?

Es ist hier eine andere Situation als beispielsweise in Steckborn. Dort gehört die Infrastruktur der Stadt und das SEM mietet diese. Die Anlage in Kreuzlingen samt Boden gehört bereits dem Bund.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/weinfelden-kreuzlingen/interview-kreuzlingen-ist-kein-hotspot-fuer-asylkriminalitaet-das-sagt-stadtpraesident-thomas-niederberger-zur-sicherheit-in-kreuzlingen-ld.2594130)


+++EUROPA
Ägypten: Sie hätten so gern die Kontrolle
Die EU zahlt Milliarden an Ägypten und hofft, so Migranten aufzuhalten. Das Abkommen zeigt das Dilemma der europäischen Migrationspolitik.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-03/aegypten-migrationsabkommen-eu-abdel-fattah-al-sissi



nzz.ch 18.03.2024

Neues Migrationsabkommen: Die EU zahlt über 7 Milliarden Euro an das ägyptische Regime

Der Machthaber Abdelfatah al-Sisi soll der EU Migranten fernhalten. Mit dem Milliardenpaket kauft man sich den guten Willen in Kairo – doch Skepsis ist geboten.

Daniel Steinvorth, Brüssel

Die Europäische Union hat ein neues Migrationsabkommen abgeschlossen. Dieses Mal mit Ägypten, dem bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt. Dafür flog die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Sonntag in Begleitung der Regierungschefs von Italien, Griechenland, Österreich, Belgien und Zypern nach Kairo.

Allein schon die Grösse dieser Delegation durfte als Hinweis verstanden werden, wie wichtig Brüssel die sogenannte «strategische und umfassende Partnerschaft» mit dem Regime von Präsident Abdelfatah al-Sisi ist. Es geht um die Stärkung der bilateralen Beziehungen, um makroökonomische Stabilität, um Zusammenarbeit in den Bereichen erneuerbare Energie, Handel und Sicherheit sowie, vor allen Dingen, um «Migrationssteuerung».

Patrouillen in der Wüste

Der Begriff bedeutet nichts anderes als das Abfangen von Flüchtlingsbooten und das Abriegeln der libyschen Grenze. Zwar stechen derzeit vergleichsweise selten Migranten von der ägyptischen Küste Richtung Europa in See. Es gibt aber weiterhin grosse Bewegungen auf der zentralen Mittelmeerroute via Libyen. Und Sisi pflegt gute Beziehungen mit dem Warlord Khalifa Haftar, der im Osten Libyens den Ton angibt.

Das Abkommen mit Ägypten ist also grundsätzlich sinnvoll und fügt sich ein in eine Reihe ähnlicher Vereinbarungen, die die EU mit Ländern an seiner Peripherie unterzeichnet hat, etwa mit Tunesien und Mauretanien. Auch in diesem Fall verspricht Präsident Sisi den Europäern, ihnen die irregulären Zuwanderer vom Hals zu halten. Im Gegenzug erhält der starke Mann in Kairo grosszügige Wirtschaftshilfen in Höhe von insgesamt 7,4 Milliarden Euro, die bis 2027 an das nordafrikanische Land fliessen sollen.

Bei dieser Summe handelt es sich um fünf Milliarden Euro, die als Makrofinanzhilfen in Darlehen ausbezahlt werden sowie um 600 Millionen Euro an Zuschüssen. 1,8 Milliarden Euro sind vorgesehen für gemeinsame Investitionen in den Bereichen Ernährungssicherheit, grüne Technologien und Digitalisierung. Weitere 200 Millionen Euro gibt es schliesslich für «migrationsspezifische Projekte», das heisst für Grenzschutz und Rückführungsmassnahmen.

In Brüssel heisst es, dass eine Milliarde Euro sofort ausbezahlt werden könnte. Der Rest des Geldes sei gekoppelt an Reformschritte unter Aufsicht des Internationalen Währungsfonds. Für das chronisch verschuldete Land kommt die Finanzspritze wie gerufen. Ägypten braucht alleine in diesem Jahr 40 Milliarden Dollar, um seine riesigen Auslandsschulden zu bedienen. Wegen des Krieges im Gazastreifen sind viele Touristen ausgeblieben. Durch die Terrorangriffe der Huthi im Roten Meer sind zudem die Einnahmen aus dem Suez-Kanal eingebrochen.

Dabei ist die EU keineswegs der einzige Machtblock, der sich in Kairo guten Willen einkauft. Für 35 Milliarden Euro haben erst kürzlich die Vereinigten Arabischen Emirate einen Küstenabschnitt am Mittelmeer erworben, wo ein Luxusresort entstehen soll. Auch China verspricht Milliardeninvestitionen, Russland baut ein Atomkraftwerk im Land.

Wichtiger regionaler Akteur

Vorbereitet wurde das Abkommen schon im vergangenen Jahr. Durch den Gaza-Konflikt ist die geopolitische Bedeutung Ägyptens, das sich traditionell als Vermittler zwischen Israel und der Hamas versteht, noch einmal gewachsen. Die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, die eine treibende Kraft des Abkommens war, lobte am Sonntag die Bemühungen Kairos, zusammen mit Katar und den USA den Krieg zu beenden.

Die Europäer fürchten, dass sich der Migrationsdruck noch einmal drastisch erhöht, wenn Israel seine Militärschläge auf die Grenzstadt Rafah im südlichen Gazastreifen ausweitet. Schon heute beherbergt Ägypten zahlreiche Flüchtlinge, vor allem aus Sudan.

Vorbei sind mit dem neuen Abkommen die Zeiten, in denen die EU Ägypten wegen seiner Menschenrechtsverletzungen an den Pranger stellte. Zwar versicherte auch von der Leyen in Kairo, dass ein Ziel der Vereinbarung sei, «gemeinsam an unserem Engagement zur Förderung von Demokratie und Menschenrechten zu arbeiten». In Wahrheit hat sich die EU aber längst mit der Autokratie am Nil arrangiert.

Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch beeilten sich denn auch, das Abkommen als Verrat an den europäischen Werten zu bezeichnen. Aus den Reihen der Grünen im EU-Parlament hiess es, der Deal sei «moralisch verwerflich und inhaltlich naiv», während der Vorsitzende der christlichdemokratischen EVP-Fraktion, Manfred Weber, die Partnerschaft mit Ägypten als «richtig und wichtig» bezeichnete, um Migrationsströme einzudämmen.

Obwohl unter den Mitgliedstaaten die Erkenntnis überwiegt, dass an einer Zusammenarbeit mit Sisi kein Weg vorbeiführt, ist Skepsis geboten, wie das Beispiel Tunesien zeigt: Trotz einem vergleichbar grosszügigen Hilfspaket bleibt die Regierung von Kais Saied als Partner unzuverlässig. Der Migrationsdruck über Tunesien hat nur unwesentlich nachgelassen. Und noch einen Punkt gilt es zu beachten: An der Migration seiner eigenen Staatsbürger nach Europa hat Ägypten durchaus ein Interesse, denn die Diaspora überweist Jahr für Jahr Devisen in Milliardenhöhe in die Heimat.
(https://www.nzz.ch/international/eu-schliesst-migrationsabkommen-mit-aegypten-ld.1822579)


+++FREIRÄUME
Wie geht’s weiter? – Einwohnerrätin kritisiert Krienser Umgang mit Wagenburg
Die Bewohner der Wagenburg beim Hinterschlund haben ein Baugesuch eingereicht – und damit den Zorn der Jungen SVP auf sich gezogen. Eine Krienser Einwohnerrätin fordert Antworten, wie es mit den Wagen weitergeht.
https://www.zentralplus.ch/politik/einwohnerraetin-hinterfragt-umgang-von-kriens-mit-wagenburg-2629055/


“🥳 Heute Morgen wurde das schöne Haus an der Ringstrasse 45 besetzt! 🥳 Die Besitzer wollen ihr Haus umbedingt leer stehen lassen. Absurd, zumal sie nur den Boden benötigen, wo sie ihren🤮 Riesenklotz hinkotzen wollen.
Solche Hausbesitzer können wir uns nicht mehr leisten!”
(https://twitter.com/zureich_rip/status/1769724153341309395)
-> Räumung: https://twitter.com/zureich_rip/status/1769843730855415923
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/besetzer-quartieren-sich-in-liegenschaft-an-ringstrasse-in-oerlikon-ein-156578395


+++DROGENPOLITIK
Kontrollierte Cannabis-Abgabe: Jetzt wird auch im Kanton Zürich reguliert gekifft
7500 Personen in 34 Zürcher Gemeinden sollen ab Mai im Rahmen einer Studie geregelt Cannabis kaufen und konsumieren können. Es ist eine Ergänzung zur bereits laufenden Forschung in der Stadt Zürich.
https://www.tagesanzeiger.ch/kontrollierte-cannabis-abgabe-jetzt-wird-auch-im-kanton-gekifft-201103359369
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/zvv-tickets-sind-neu-auch-telefonisch-erhaeltlich?id=12557927 (ab 05:06)
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/kiffen-fuer-die-wissenschaft-im-grossen-stil?partId=12557939
-> https://www.watson.ch/schweiz/zuerich/605182765-kanton-zuerich-groesste-schweizer-cannabis-studie
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/neue-dinosaurier-und-eine-riesenschildkroete-im-museum?id=12558053 (ab 08:45)
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/kiffen-zu-forschungszwecken-groesste-cannabis-studie-156579686
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/im-kanton-zuerich-startet-groesste-schweizer-cannabis-studie-00234751/
-> https://www.nau.ch/news/forschung/im-kanton-zurich-startet-grosste-schweizer-cannabis-studie-66728968
-> https://www.landbote.ch/cannabis-versuch-im-kanton-zuerich-ab-mai-wird-beim-hb-winterthur-cannabis-verkauft-146564324345


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Solidarität mit Daniela Klette und allen anderen Untergetauchten!
Am 14. März 2024 haben wir die graue Betonmauer des Bässlergut-Gefängnis in Basel mit einer Solidaritäs-Botschaft für Daniela Klette verziert.
https://barrikade.info/article/6355


+++SPORT
Ausschreitungen am Aargauer Derby: Jetzt bezieht der FC Aarau Stellung
Am vergangenen Wochenende kam es am Aargauer Derby zwischen Aarau und Baden zu wüsten Szenen. Bei Auseinandersetzungen zwischen Fangruppierungen flogen Böller in den Zuschauerbereich und nach dem Spiel auch auf Polizeiautos. Nun meldet sich der FC Aarau zu Wort.
https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/ausschreitungen-am-aargauer-derby-jetzt-bezieht-der-fc-aarau-stellung-156580405?autoplay=true&mainAssetId=Asset%3A156567365



nzz.ch 18.03.2024

Die Fussballgemeinde meint, dass gesperrte Fankurven das Gewaltrisiko verschärft haben – und ruft nach der Polizei

Nach den personalisierten Tickets lehnen die Schweizer Fussballklubs jetzt auch die Schliessung von Stadionsektoren ab. Sie setzen auf den Dialog mit den Fans und fordern die Staatsgewalt zu härterem Vorgehen auf.

Peter B. Birrer, Stephan Ramming

Überall in Schweizer Fussballstadien entrollen die Fankurven Transparente: «Fans, Verein und Liga geschlossen gegen das Kaskadenmodell», steht da. Auf Deutsch, auf Französisch. Und darunter: «Auf Kollektivstrafen folgen kollektive Antworten.» So zu sehen am Wochenende im Spiel zwischen dem FC Luzern und dem Servette FC (2:2), in Zürich, in Basel.

In Luzern läuft im Publikum mit 11 800 Personen alles in gewohntem Rahmen ab. Die Servette-Fans verzichten auf Fackeln und Feuerwerk, das sie unlängst am Cup-Spiel in Delsberg vor den Augen der Verbandsspitze im Übermass gezündet haben, als wäre gleichzeitig Silvester und 1. August. So unterschiedlich können Momentaufnahmen in Schweizer Stadien sein.

Während die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) am seit Monaten verhandelten Kaskadenmodell festhält, wird dieses von den Fans abgelehnt. Das ist nicht neu. Neu ist, dass sich auch die Liga und die 22 Profiklubs dagegenstellen. Wobei: Vor allem die Super League stellt sich quer, in der davon weniger betroffenen Challenge League wird das Veto abgenickt.

Wie unerwartet die Fussballgewalt hereinbrechen kann, zeigen die Ausschreitungen am Challenge-League-Spiel am Samstag zwischen Aarau und Baden (2:0). Über 7000 Personen sind zugegen, es kommt ausserhalb des Brügglifelds zu Sachbeschädigungen und zu einem Polizeieinsatz. Im Stadion verzögert sich der Spielbeginn wegen starken Pyro-Rauchs um mehrere Minuten.

2023 trug der Fussball das Kaskadenmodell mit

Die neue Dynamik spitzte sich in der letzten Woche zu, als der Schweizer Fussball aus einem Projekt ausscherte, das er 2023 mitgetragen hatte. Das Kaskadenmodell sieht je nach Schwere von Gewalttaten Massnahmen vor – wie etwa die Sperren von Stadionsektoren. Solche verfügten die Behörden in den letzten Monaten nach Vorfällen mehrfach.

Dies und mangelhafte Kommunikation zog in Fussballkreisen schnell Bedenken nach sich. Zudem zeigte sich, dass die Massnahme Probleme verlagert. Ausgeschlossene Fans besorgten sich Billette für andere Stadionbereiche. In einem Communiqué schreibt die Fanarbeit der grössten Schweizer Klubs: «Spieltage mit Kollektivmassnahmen haben zu einer Verschlechterung der allgemeinen Sicherheitslage auf der Anreise und im Stadion geführt, dies bei Mehraufwand aller Beteiligten und gänzlicher Planungsunsicherheit.»

Die Klubs und die Liga stossen in dieselbe Richtung: keine Kausalhaftung, keine Kollektivstrafen. Wie die Fanarbeit setzen sie auf den Dialog, die sogenannten Stadionallianzen und auf die situative Lagebeurteilung diverser Akteure.

Wie St. Gallen eine brenzlige Situation entschärfte

Wenn sich Matthias Hüppi, der Präsident des FC St. Gallen, «in fast jedem Referat» zur Gewaltproblematik erklären muss, redet er auch über positive Erfahrungen, «die leider zu wenig Erwähnung finden». Als der FC Zürich Ende 2023 mit seinem wachsenden Anhang in St. Gallen spielte, wurde es bei einem Eingang brenzlig. 1900 Gästefans standen bereits im vollen Gastsektor, draussen warteten aber noch deren 200 auf den Einlass. Es gelang, diese Personen in den sogenannten Pufferzonen am Rand des Sektors unterzubringen.

Reden, nicht sperren. Schon seit Jahren wird geredet. Mit mässigem Erfolg. Der YB-CEO Wanja Greuel bringt für jene Leute Verständnis auf, die sich ob des Clashs zwischen Behörden und dem Fussball enervieren. Doch er sagt: «Die Sektorensperre erhöht das Risiko und in gewissen Fankreisen die Frustration – und sie verschiebt das Problem in andere Sektoren.»

Zudem stellen sich rechtliche Fragen. Im Zuge der Ausschreitungen nach dem Match gegen Basel Ende 2023 beim Bahnhof in Altstetten schloss die Zürcher Bewilligungsbehörde den FCZ-Fan-Sektor für das Spiel gegen Lausanne-Sport. Das heisst: Weil es weit vom Stadion entfernt zwischen Gewalttätern und der Polizei zu Auseinandersetzungen kam, werden ein paar tausend Unbeteiligte bestraft.

Der FC Zürich lässt nun gerichtlich die Rechtmässigkeit der Sektorenschliessung prüfen. Es geht dabei nicht nur um Haftungs- und Kausalzusammenhänge und nicht nur darum, ob die Kollektivbestrafung rechtens ist, sondern auch um das Recht der Wirtschaftsfreiheit. Wahrscheinlich wird das Zürcher Verwaltungsgericht über die Fragen ein erstes Urteil fällen. Der gerichtliche Entscheid dazu könnte wegweisend sein.

Die Tatorte befinden sich oft ausserhalb des Stadions. Das lenkt den Fokus auf die Staatsgewalt. Die Haltung der Klubchefs: rigorose Einzeltäterverfolgung. «Rigoroses Eingreifen der Polizei, wie teilweise im Ausland», ist aus Klubkreisen zu hören. Christian Constantin, der Präsident des FC Sion, spricht von «Dringlichkeitsrecht».

Der FCZ-Präsident Ancillo Canepa schreibt in der letzten Matchzeitung: «Gewalttätige Einzelpersonen müssen im Rahmen der Einzeltäterverfolgung durch die zuständigen Behörden identifiziert und bestraft werden.» Dem Funktionär eines anderen Vereins leuchtet nicht ein, weshalb die Polizei oft nicht in der Lage sei, ausserhalb der Stadien ein paar Schläger zu isolieren und festzunehmen. Das hört sich gut an. Nur erweckt der Ruf nach der Polizei mitunter den Eindruck, als wollten sich die Klubs aus der Verantwortung stehlen. Und: Greifen die Sicherheitskräfte hart durch, laufen zuvorderst Fankreise mit der beliebten Begründung «Unverhältnismässigkeit» dagegen Sturm.

Die Stadt Zürich hält an Sektorensperren fest

Während die Fussballgemeinde das Kaskadenmodell ablehnt, hält die Staatsgewalt daran fest. Die Stadtzürcher Sicherheitsdirektorin Karin Rykart (Grüne) sagt: «Die Bewilligungsbehörden haben beschlossen, es auf die nächste Saison hin einzuführen. Bis dahin werde ich bei Vorfällen mit Gewalt gestützt auf das Hooligan-Konkordat situativ prüfen, ob Massnahmen getroffen werden.»

Rykart hebt die schweizweite Vereinheitlichung des Modells hervor und die Transparenz – «auch gegenüber den Klubs. Wir erhoffen uns eine präventive Wirkung gegen Gewalt und Ausschreitungen. Es ist ein klares Signal. Die Gewalttäter sollen dazu bewegt werden, ihr Verhalten zu ändern.»

Dialog? Sektorensperre? Repressivere Polizei? Die Komplexität der Gewalt meist junger und meist männlicher Fans bringt Überforderung und Ohnmacht mit sich. «Die Behörden haben die Macht. Sie können verordnen, was sie wollen», sagt Constantin. Hüppi überlegt sich derweil, wie in St. Gallen mit dem geschlossenen Gastsektor im Spiel vom 1. April gegen Luzern umzugehen ist. Und Canepa wartet auf einen Gerichtsentscheid. Die Hoffnung auf Besserung stirbt zuletzt.
(https://www.nzz.ch/sport/fussball/fussballgewalt-die-schweizer-klubs-rufen-nach-der-polizei-ld.1822537)


+++KNAST
aargauerzeitung.ch 18.03.2024

«Ein ausbruchssicheres Gefängnis gibt es nicht» – Direktor Marcel Ruf über den Alltag in der JVA Lenzburg

Marcel Ruf ist seit dem Jahre 2004 Direktor der JVA Lenzburg. Im Interview erklärt er, warum kein Gefängnis ausbruchsicher ist, wie technische Errungenschaften künftig die Beamten unterstützen könnten und wie sich der Alltag in der JVA gestaltet.

Dominic Kobelt und Sandra Ardizzone (Fotos)

Bevor wir Marcel Ruf treffen, müssen wir durch eine Sicherheitsschleuse, das Handy abgegeben und die ID in einen Besucherausweis umtauschen. «Was haben Sie verbrochen?», fragt der Mann hinter der Glasscheibe. «Nichts, bei dem ich erwischt worden wäre», antworte ich und lege die ID in die Drehschublade. Der Mann lacht, macht auf seiner Liste einen Haken und meldet dem Gefängnisdirektor den Besuch. Wir passieren den Metalldetektoren, Ruf öffnet mit seinem Schlüssel eine massive Metalltüre, es geht die Treppe runter und unterirdisch durch einen Arm des «Fünfsterns». Unterwegs treffen wir einen Gefangenen. «Guten Tag, Herr Ruf.» Es folgt ein kurzes Gespräch, dann muss der Insasse weiter, er wird bei der Arbeit erwartet.

Herr Ruf, bis vor wenigen Tagen wurde das Theater «Amüs Busch» in der JVA Lenzburg aufgeführt. Insassen haben mitgespielt, Texte geschrieben und auswendig gelernt – aber auch Sie haben Zeit in das Projekt investiert. Was ist dessen Nutzen?

Marcel Ruf: Nun, eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung ist ein Teil des gesetzlichen Auftrags, den wir haben. Neben Sport, Basteln oder Malen ist das auch Theaterspielen. Es ist eine Beschäftigung, die Körper und Geist fördert.

Inwiefern?

Es stärkt die sozialen Kompetenzen, die Rücksichtnahme, Kritikfähigkeit, die Teambildung und das Selbstbewusstsein. Die Gefangenen müssen zusammen das Stück erarbeiten, auf der Bühne reagieren, wenn einer einen Hänger hat, und es braucht Disziplin, die Texte in der Freizeit alleine auswendig zu lernen. Die Resozialisierung ist ein wichtiger Aspekt, 95 Prozent der Gefangenen werden irgendwann wieder entlassen.

Darf jeder mitspielen, der mitspielen möchte?

Es gibt Voraussetzungen: Es dürfen keine psychischen Erkrankungen vorliegen. Für das aktuelle Stück musste man Deutsch können und fähig sein, Texte auswendig zu lernen. Und der Insasse muss noch inhaftiert sein, wenn die Aufführungen stattfinden, auch wenn das jetzt banal tönt. Dann gibt es ein Casting, bei dem die Projektleiterin entscheidet, wer für eine Rolle geeignet ist.

Sie begleiten dieses Projekt und opfern dafür auch Ihre Freizeit. Bei der Vorführung war den Schauspielern aber auch anzusehen, dass sie dies zu schätzen wissen. Wie ist das Verhältnis zwischen Ihnen als JVA-Direktor und den Insassen?

Wenn ich durch die JVA laufe, werde ich in der Regel freundlich gegrüsst, einzelne sind mürrisch, einige sagen auch gar nichts. Es gibt auch Insassen, die vielleicht Symptome einer psychischen Krankheit aufweisen. Ich versuche den Umgang so normal wie möglich zu gestalten, mit der professionellen Mischung aus Nähe und Distanz.

Müssten psychisch kranke Menschen nicht in einer Psychiatrie sein?

Nicht immer. Dazu braucht es eine vom Gericht verordnete Massnahme. Oder es ist jemand so krank, dass er für sich oder andere eine Gefahr darstellt, das ist aber manchmal schwierig festzustellen – da arbeiten wir eng mit der PDAG zusammen.

Wenn jemand suizidgefährdet ist, dann kümmern sich Fachleute um ihn. Trotzdem hat sich der Lucie-Mörder vergangenes Jahr in der JVA das Leben genommen. Wie lassen sich Selbstmorde verhindern?

Wenn jemand psychisch gesund ist und sich bei vollem Bewusstsein dazu entschliesst, sein Leben zu beenden, kann man das nicht verhindern. Der Einzelne sagt auch niemandem, dass er sich umbringen will. Vorher gab es elf Jahre lang keinen Suizid, das ist eine sehr lange Zeit. Dafür gab es beispielsweise im Jahr 2006 zwei Suizide kurz hintereinander.

Was war passiert?

Es waren zwei Gefangene, die beide einen ähnlichen Schicksalsschlag erlitten hatten: Ihre Frauen hatten ihnen Briefe geschrieben, in denen sie erklärten, dass sie sich trennen wollten. Beide Männer nahmen sich innert zwei Monaten das Leben, obwohl sie nur noch wenige Monate abzusitzen hatten. Möglicherweise hat der erste Suizid auch dazu geführt, dass der zweite Insasse in seinem Entschluss bestärkt wurde. Da fragt man sich schon, ob man etwas übersehen hat – aber es hat niemand etwas gemerkt, auch die anderen Gefangenen nicht.

Verändert ein Gefängnisaufenthalt jeden Menschen?

Es hängt davon ab, wie lange die Freiheitsstrafe dauert, und wie alt jemand ist. Ein junger Gefangener braucht manchmal seine Zeit, bis er realisiert, dass er die besten Jahre seines Lebens verloren hat oder zum Beispiel sein Kind nicht aufwachsen sieht. Jemand, der schon fest im Leben steht, hat andere Sorgen und Probleme. Ich würde sagen, es verändert alle, aber nicht im gleichen Masse und in der gleichen Art. Ein gutes Beispiel sind da auch Mitglieder der organisierten Kriminalität.

Das müssen Sie genauer erläutern.

Beispielsweise die Mitglieder der kriminellen Organisation Pink Panther. Diese begehen europaweit Raubdelikte auf Juweliere, sie sind hoch professionell organisiert, viele der Mitglieder waren früher in der jugoslawischen Armee. Ein Pink Panther funktioniert im Gefängnis hervorragend, ist pünktlich, freundlich, hat nie einen Verstoss. Aber wehe, es bietet sich eine Gelegenheit zur Flucht.

Gibt es ein ausbruchsicheres Gefängnis?

Nein, das wird es nie geben, solange man die gesetzlichen Vorgaben einhält. Bleiben wir bei den Pink Panther: Im Juli 2013 durchbrachen Komplizen mit einem Lastwagen das Eingangstor zum Gefängnis in Orbe VD. Mit Kalaschnikows hielten sie das Wachpersonal in Schach, während zwei Häftlinge über den Sicherheitszaun kletterten. Auf so einen Angriff kann man sich nur bedingt vorbereiten. Oder stellen Sie sich vor, ein Mitarbeiter würde einem Gefangen helfen, es gäbe eine Geiselnahme oder ein Helikopter würde auf dem Gefängnisareal landen – es sind einige Szenarien denkbar, die wir nicht in jedem Fall verhindern können. Schwieriger ist es dagegen, unterzutauchen.

Haben Sie ein Beispiel?

Es gab einen Mann, der musste zu einer Gerichtsverhandlung, und war sich sicher, dass er danach ins Gefängnis muss. Also ist er untergetaucht und wurde in Abwesenheit verurteilt. Er hat sich sieben Monate im Heimatland bei seiner Frau im Keller versteckt, bis die Nachbarn ihn entdeckt und realisiert haben, dass er bei Interpol ausgeschrieben war. Er wurde dann verhaftet und bei uns inhaftiert. Wegen der Flucht musste er die ganze Strafe absitzen, nicht nur zwei Drittel, wie das bei guter Führung oft der Fall ist. Und die sieben Monate im Keller wurden ihm natürlich nicht angerechnet.

Haben Sie schon einen Gefängnisausbruch erlebt?

Ja, das war im Jahr 2006 die letzte Flucht aus der JVA Lenzburg. Ein Insasse hatte sich unter einem Lastwagen versteckt und ist mit diesem aus der Anstalt gelangt. Heute wäre das nicht mehr möglich, weil es seither einen Herzschlagdetektor gibt, mit dem wir die Fahrzeuge scannen.

Gibt es Innovationen, die künftig einen Ausbruch aus dem Gefängnis noch schwieriger gestalten könnten?

Kürzlich wurde uns von einer Firma ein Roboter-Wachhund vorgestellt. Er kann fast überall patrouillieren, ermüdet nicht und hat Kameras und verschiedene Sensoren. Dank künstlicher Intelligenz kann er entdecken, wenn sich etwas Ungewöhnliches abspielt. Wenn ein Häftling aus dem Fenster ruft, kann er zuordnen, aus welcher Zelle das Geräusch kam, oder erkennen, wenn irgendwo eine Bewegung ist, wo eigentlich keine sein sollte. Doch die Frage ist auch, ob sich die Anschaffungskosten lohnen.

Momentan bewachen noch Menschen die Gefangenen. Auch Brian Keller, einer der bekanntesten Häftlinge der Schweiz, war hier. Er hat Justizvollzugsbeamte angespuckt und angegriffen.

Zu einzelnen Gefangenen kann ich keine Auskunft geben.

Wie wird vermieden, dass es zu Auseinandersetzungen zwischen Angestellten und Insassen kommt?

Ganz generell lässt sich sagen, dass solche Vorfälle bei uns sehr selten sind. In der Regel ist es ausserdem so, dass die anderen Gefangenen dem Mitarbeiter helfen. Eindrücklich war ein Vorfall vor ein paar Jahren. Der Spaziergang war gerade zu Ende, die Gefangenen mussten wieder auf ihre Zellen. Beim Vorbeilaufen hat dann einer von ihnen dem Beamten unvermittelt die Faust gegen den Kopf geschlagen. Dieser konnte gerade noch den Alarmknopf drücken. Als Hilfe eintraf, hatten die anderen Gefangenen mit dem Mitarbeiter zusammen den Angreifer schon zu Boden gerungen und fixiert.

Welche Möglichkeiten haben Sie, Gefangene zu sanktionieren?

Es gibt Disziplinarstrafen und Disziplinarmassnahmen. Ich gebe Ihnen ein paar Beispiele: Bei einer tätlichen Auseinandersetzung gibt es fünf Tage Arrest. Den muss man in einer Arrestzelle verbringen, ohne Fernsehen und Radio, und haben nur eine Stunde auf dem Spazierhof. Wenn jemand zwei Badetücher nimmt, – erlaubt ist nur eines – hat er zwei Wochen keine Freizeit mehr. Wer beim Verlassen der Zelle zur Arbeit das Licht brennen lässt, muss fünf Franken Busse bezahlen.

Woher haben die Gefangenen Geld?

In der Schweiz gibt es im Strafvollzug eine Arbeitspflicht. Wir haben 17 Gewerbebetriebe, etwa eine Bäckerei, eine Schlosserei oder eine Schreinerei. Über einen Teil des Geldes können sie selbst verfügen. Sie müssen damit aber auch Dinge wie Shampoo, Zahnbürste oder das Fernsehen bezahlen – gratis ist hier fast nichts.

Bäckerei und Joghurterie sollen erneuert werden. Der Aargauische Gewerbeverband sorgt sich, das Gefängnis könnte die Privatwirtschaft konkurrenzieren.

Wir haben in den letzten 50 Jahren mit all unseren Gewerbebetrieben nie das lokale Gewerbe konkurrenziert und entsprechend auch keine derartigen Rückmeldungen erhalten. Dies wird auch mit der aktuellen Erweiterung von Joghurterie und Bäckerei so bleiben, denn die Konkurrenzsituation haben wir im Rahmen der Gewerbeanalyse geprüft. Der «5*»-Laden stellt keine Konkurrenzsituation zu den Grossverteilern dar. Als klassischer Quartierladen mit sehr eingeschränktem Sortiment liegt er auch nicht in der Nähe des lokalen Gewerbes. Gerade den Sortimentsteil «Brote», der auch nach der Erneuerung den kleinsten Teil am Gesamterlös ausmachen wird, werden wir nicht signifikant erweitern und er hat keine Ausstrahlung über das Quartier hinaus. Dieser Bereich rundet das Sortiment des Verkaufsladens lediglich ab und dient einzig der Versorgung des Quartiers oder als Mitnahmeartikel.

Die Gefangenen müssen also arbeiten. Hören Sie oft den Vorwurf des «Kuschel-Vollzugs»?

Von manchen kommt der Vorwurf des Kuschel-Vollzugs, andere sagen, es sei hier noch wie im Mittelalter, weil die Zellen nur acht Quadratmeter gross sind.

Was entgegnen Sie, wenn jemand sagt, man müsse die Gefangenen härter bestrafen?

Ich frage ihn, wie er das machen würde. Wir müssen den gerichtlich angeordneten einen Freiheitsentzug umsetzen. Weder sind wir der verlängerte Arm des Gerichts im Sinne einer zusätzlichen Strafe neben dem Freiheitsentzug, noch haben wir einen «kuscheligen» Vollzug anzubieten. Vielmehr haben wir einen gesetzeskonformen Justizvollzug zu garantieren, nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Fernsehen und Radio, ist das nicht Luxus?

Das Gesetz schreibt vor, dass sich die Gefangenen über das Leben draussen orientieren können müssen, das ist nur so möglich. Das Radio zog 1957 in die JVA Lenzburg ein und die Fernseher 1980. In meinen Ferien hatte ich mehrere Gefängnisse in Vietnam besucht – selbst da hing ein Fernseher an der Wand. Die Fernsehgebühren müssen die Gefangenen aus ihrem Arbeitsentgelt selbst bezahlen und die Geräte werden durch eine private Stiftung finanziert, die das Geld über private Spenden erhält. Es werden somit keine Steuergelder benötigt.

Der Mörder von Lucie hatte bei seiner Einvernahme gesagt, dass er die Tat begangen hat, um wieder ins Gefängnis zu kommen. Er hat sich also offenbar wohlgefühlt.

Ohne auf den Einzelfall einzugehen, halte ich solche Aussagen vor Gericht für eine Schutzbehauptung und für wenig glaubwürdig – dafür muss man nämlich kein schweres Delikt begehen. Es gab in den 24 Jahren, in denen ich hier arbeite, noch nie einen Gefangenen, der mir gesagt hat, er sei gerne hier. Nur einmal gab es einen Elsässer, um die 70 Jahre alt, der Opferstöcke geplündert hat. Er war obdachlos und hat immer im Herbst geschaut, dass er erwischt wird, so konnte er den Winter im Gefängnis verbringen. Abwechslungsweise in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und Österreich.

Kommen wir noch auf ein anderes Thema zu sprechen: Drogen. Ist die JVA Lenzburg drogenfrei?

In jedem Gefängnis gibt es Drogen. Wir versuchen, dies so gut wie möglich zu unterbinden und machen regelmässig Kontrollen und nehmen Urinproben ab. Auf diese Weise können wir die Drogenthematik so gering wie möglich halten, aber wie gesagt nicht vollständig unterbinden.

Wie gelangen die Drogen in die JVA?

In der Regel über den Besuch, der im geschlossenen Vollzug ohne Trennscheibe stattfindet. Die deutschen Kollegen haben grosse Probleme mit fingierter Anwaltspost. Komplizen haben Briefpapier in flüssige Drogen getaucht, getrocknet und diese dann als Briefe mehrerer Anwaltsbüros getarnt. Anwaltspost darf durch die JVA nicht geöffnet werden. Das Papier konnte der Empfänger dann in kleine Stücke zerreissen und weiterverkaufen. Bei uns kam es aber auch schon vor, dass Stoff unter einer Briefmarke versteckt war, den wir dann entdeckt haben.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Können Sie abschalten, wenn Sie zu Hause sind?

Meine Frau würde sagen: Nein. Und ich muss ihr zustimmen. Ich habe oft eine 7-Tage-Woche. Ich hätte mir, als ich damals begonnen habe, nicht vorstellen können, dass ich den Job so lange mache. Aber er gefällt mir auch nach vielen Jahren noch sehr gut.

Ist die JVA Lenzburg Ihr Gefängnis?

Ich würde sagen: Es ist unser Gefängnis, das von mir und meinen Mitarbeitenden.



Zur Person

Direktor der JVA Lenzburg

Marcel Ruf ist verheiratet, wohnhaft in Oftringen und seit dem Jahre 2004 Direktor der JVA Lenzburg – erst der siebte in der 160-jährigen Geschichte. Davor war der 58-Jährige im Bereich der Energie- und Verfahrenstechnik tätig. In der JVA Lenzburg sind 363 Haftplätze verfügbar, davon 221 im geschlossenen Vollzug. Die restlichen 142 Plätze stehen für Untersuchungshaft, Halbgefangenschaft sowie Kurzstrafen für Jugendliche, Frauen und Männer zur Verfügung. Die Gefangenen werden von rund 280 Mitarbeitenden überwacht, betreut und begleitet.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/montagsinterview-ein-ausbruchssicheres-gefaengnis-gibt-es-nicht-direktor-marcel-ruf-ueber-den-alltag-in-der-jva-lenzburg-ld.2591570)


+++FRAUEN/QUEER
ajour.ch 18.03.2024

Feministischer Streik in Biel: Ein neues Kollektiv will den Kampf wieder aufnehmen

Mit neuer Kraft gegen das Patriarchat: Ein neues Kollektiv will den feministischen Streik in Biel mit einer Demonstration und Ständen am 14. Juni weiterführen.

Hannah Frei

Moema Schultz, was wollen Sie mit dem feministischen Streik in Biel erreichen?

Moema Schultz: Wenn man die Forderungen von 2019 anschaut, etwa die nach Lohngleichheit oder allgemein die Gleichstellung aller Geschlechter, hat sich praktisch nichts geändert – auch nicht auf Stadtebene. Da muss sich endlich etwas bewegen. Denn die Situation hat sich in manchen Bereichen sogar verschlechtert, bedenkt man den Rechtsrutsch bei den letzten Wahlen.

Was haben Sie konkret von der Stadt Biel gefordert?

Unter anderem eine Fachstelle für Gleichstellung. Der Gemeinderat antwortete, er sehe keine Notwendigkeit für eine solche Fachstelle, weil es bereits eine kantonale gebe. Das sehen wir anders. Es kann nicht sein, dass Menschen dafür nach Bern reisen müssen.

Das letzte Frauenstreik-Kollektiv hat sich vor rund einem Jahr aufgelöst, weil die Mitglieder es leid waren, an vielen Fronten zu kämpfen und «sich zu verheizen», wie sie damals schrieben. Mögen Sie noch kämpfen?

Wir müssen, und zwar in Biel. Für die Stadt und die Menschen, die hier leben. Wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren. Das letzte Kollektiv hat sich bestimmt auch wegen mangelnder Ressourcen aufgelöst, nicht wegen mangelndem Interesse. Für Aktivismus braucht es einen langen Atem. Da macht es auch Sinn, nicht nur ein Organisationskomitee für einen Tag zusammenzustellen, wie das etwa im letzten Jahr der Fall war, sondern etwas Langfristiges.

Was stellen Sie sich vor?

Es soll ein Kollektiv oder ein Verein entstehen, der neben den Aktionen am Tag des feministischen Streiks, dem 14. Juni, weitere durchführt, etwa in der Woche gegen Gewalt an Frauen. Wie dieses Kollektiv aussehen soll und an welchen Tagen was stattfinden soll, möchten wir in der nächsten Sitzung am 14. April klären.

Demnach gibt es bereits genug Interessierte, die mitmachen?

In den letzten Wochen haben wir einen Aufruf gestartet, viele haben sich gemeldet. An der vergangenen Sitzung waren es etwa 20 bis 25 Menschen. Frauen und Männer, solche, die sich für feministische Anliegen einsetzen. Wenn es so weitergeht, werden wir ein gutes Kollektiv auf die Beine stellen können.
(https://ajour.ch/de/story/499712/feministischer-streik-in-biel-ein-neues-kollektiv-will-den-kampf-wieder-aufnehmen)


+++RASSISMUS
Mit Videos gegen Rassismus in den Köpfen
Während der Aktionswoche gegen Rassismus in Basel-Stadt werden diese Woche Rassismus und Antisemitismus gegen Jüdinnen und Juden, aber auch gegen Muslime thematisiert. Angesprochen sind Jugendliche, die Videos produzieren sollen, mit dem Ziel, Vorurteile abzubauen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/mit-videos-gegen-rassismus-in-den-koepfen?id=12557765
-> https://www.bazonline.ch/projekt-fuer-toleranz-in-basel-juedische-und-muslimische-jugendliche-sollen-zusammen-filmen-264990645258


Filme und Workshops: Biel macht bei der Aktionswoche gegen Rassismus mit
Rund um den internationalen Tag gegen Rassismus findet jährlich eine Aktionswoche statt. In Biel gibt es zahlreiche Veranstaltungen zum Thema. Eine Übersicht.
https://ajour.ch/de/story/499641/filme-und-workshops-biel-macht-bei-der-aktionswoche-gegen-rassismus-mit


14. Aktionswoche gegen Rassismus: «Schauen wir gemeinsam hin!»
Zwischen dem 16. und 23. März 2024 finden im Rahmen der 14. Aktionswoche gegen Rassismus der Stadt Bern über 40 Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Akteur:innen statt. Die diesjährige Aktionswoche steht unter dem Motto: «Rassismus – Schauen wir gemeinsam hin!»
https://www.neo1.ch/artikel/14-aktionswoche-gegen-rassismus-schauen-wir-gemeinsam-hin


Antisemitismus an Schulen – Schweiz Aktuell
Antisemitische Vorfälle hätten an Schweizer Schulen ein «nie da gewesenes Ausmass» erreicht, sagen jüdische Familien. In Bern steht die Stadt in der Kritik.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/antisemitismus-an-schulen?urn=urn:srf:video:0859d88b-a08f-421d-9f61-fd735d06ccfc


+++RECHTSEXTREMISMUS
Tegerfelden AG: «Junge Tat» trickste Raumbesitzer aus
Am Wochenende fand im Kanton Aargau ein Treffen der «Jungen Tat» statt. Die Raumbesitzer erklären, dass sie bei der Anmeldung übers Ohr gehauen wurden.
https://www.20min.ch/story/tegerfelden-ag-junge-tat-trickste-raumbesitzer-aus-103066495?version=1710746751050&utm_source=twitter&utm_medium=social
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-03/rechtsextreme-treffen-martin-sellner-identitaere-aargau
-> https://weltwoche.ch/daily/veranstaltung-verhindert-und-von-der-polizei-abgefuehrt-das-gastspiel-des-oesterreichischen-rechtsaktivisten-martin-sellner-im-aargau-war-von-kurzer-dauer-selbst-elon-musk-aeussert-sich-zu-den-ereig/
-> https://www.derbund.ch/verhaftung-in-tegerfelden-aargauer-vermieterin-wurde-offenbar-von-rechtsextremisten-hereingelegt-871397212496
-> https://twitter.com/marko_kovic/status/1769770356342964443


Nach der Festnahme von Sellner: Mario Fehr übt Kritik am Bund
Die Aargauer Kantonspolizei hat am Samstagabend den bekannten österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner abgeführt. Der Zürcher Regierungsrat Mario Fehr kritisiert nun das Vorgehen.
https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft-politik/379096640-festnahme-von-martin-sellner-mario-fehr-kritisiert-vorgehen
-> https://www.tagesanzeiger.ch/wegweisung-von-martin-sellner-mario-fehr-kritisiert-bund-738708626861
-> https://www.telem1.ch/aktuell/kritik-an-wegweisung-des-rechtsextremen-martin-sellner-aus-dem-aargau-156579778


Kapo verhindert Anlass der Gruppierung Junge Tat in Tegerfelden
In Tegerfelden hat die Kantonspolizei am Wochenende ein Referat des österreichischen Rechtsextremen Martin Sellner verhindert. Nun gibt es Vorwürfe, damit sei die Meinungsäusserungsfreiheit beschnitten worden. Die Polizei winkt ab, es sei um den Schutz der öffentlichen Sicherheit gegangen.  (ab 01:12)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/kapo-verhindert-anlass-der-gruppierung-junge-tat-in-tegerfelden?id=12558020


Einsatz wegen Martin Sellner – So schätzt ein Rechtsexperte die Polizeiaktion in Tegerfelden ein
Am Samstag sorgte eine Veranstaltung von Rechtsextremen für Aufsehen im Kanton Aargau. Eine rechtliche Einordnung.
https://www.srf.ch/news/schweiz/einsatz-wegen-martin-sellner-so-schaetzt-ein-rechtsexperte-die-polizeiaktion-in-tegerfelden-ein
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/nach-festnahme-von-rechtsextremisten-streit-um-meinungsfreiheit-entbrannt-156578248?autoplay=true&mainAssetId=Asset%3A156579901


: Sellner fordert Remigration: Darum ist der Begriff problematisch
Der rechte Österreicher Aktivist Martin Sellner wollte sein Buch über Remigration vorstellen, bevor er von der Kapo Aargau abgeführt wurde. Was es mit dem Begriff auf sich hat und wieso er problematisch ist.
https://www.20min.ch/story/rechtsextremismus-sellner-fordert-remigration-darum-ist-der-begriff-problematisch-103066921


«Exhibit A: Vor einer halben Stunde erschien bei 20 Minuten ein Artikel über Sellner. Ohne jede Not zeigt 20 Minuten dort ein Video einer Rede von Sellner. Das sind 53 Sekunden Neonazi-Propaganda. Warum sowas verbreiten? Was ist der journalistische Mehwert?»
MEHR: https://twitter.com/basil_schoeni/status/1769806721969492325


Brittany Sellner: So vertreibt Martin Sellners Frau Rechtsextremismus auf Social Media
Brittany Sellner ist seit 2017 die Ehefrau von Martin Sellner. Auf ihren Social-Media-Kanälen verpackt sie seine rechtsextremen Ansichten mit Schleife.
https://www.watson.ch/international/feminismus/621721528-brittany-sellner-sie-verbreitet-rechtsextremismus-auf-social-media



tagblatt.ch 18.03.2024

Elon Musk, der rechtsextreme Stargast aus Wien und das Netzwerk der «Jungen Tat» – die Hintergründe zum Vortrag, den die Polizei abgebrochen hat

Die Polizei bricht einen Vortrag zum Thema «Remigration» in einem kleinen Aargauer Dorf ab. Das lässt sogar Elon Musk aufhorchen. Was Sie über den Redner, das Thema und das Netzwerk der europäischen Identitären wissen müssen.

Christoph Bernet

Am Samstagabend beendete die Kantonspolizei Aargau einen Vortrag des rechtsextremen österreichischen Aktivisten Martin Sellner in Tegerfelden AG vorzeitig, zu dem die Gruppe «Junge Tat» eingeladen hatte. Man habe Sellner «zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und zur Verhinderung von Konfrontationen mit Personen der Gegenseite» angehalten und vom Kantonsgebiet weggewiesen, teilte die Polizei am Sonntag mit.

Der Vorfall sorgt weltweit für Schlagzeilen. Sogar Tesla-Gründer Elon Musk äusserte sich auf seiner Social-Media-Plattform X dazu. «Ist das legal?», antwortete Musk auf einen Beitrag Sellners. Dieser hatte von einem «Pushback» durch die Aargauer Kantonspolizei berichtet und nannte die Aktion eine «Schande für die Schweizer Demokratie».

Wer ist Sellner? Und wer steckt hinter der Jungen Tat?

Martin Sellner, 35, aus Wien ist der wichtigste Kopf der rechtsextremen identitären Bewegung in Europa. Bis Anfang 2023 war er Co-Vorsitzender der Identitären Bewegung Österreich (IBÖ). Die Junge Tat, im Herbst 2020 erstmals öffentlich in Erscheinung getreten, ist die aktuell erfolgreichste Bewegung im rechtsextremen Spektrum in der Deutschschweiz – wobei ihre Exponenten das Label ablehnen und sich selber als «rechts» bezeichnen.

Die Junge Tat orientiert sich stark an identitären Gruppierungen im europäischen Ausland. Dies war schon während der Coronapandemie zu beobachten. So setzten sich Aktivisten der Jungen Tat im Januar 2022 mit einem Spruchband in rot-weissen Farben an die Spitze einer Demonstration von Covid-Massnahmen-Kritikern in Bern. Mit praktisch gleich aussehenden Spruchbändern traten identitäre Aktivisten in diesem Zeitraum an Demos von Massnahmenkritikern in Wien oder Berlin auf.

Die führenden Köpfe der Jungen Tat, allen voran Manuel Corchia und Tobias Lingg, beide Anfang 20, pflegen einen engen und regelmässigen Austausch mit Sellner. Zuletzt begegnete man sich Ende Oktober 2023 in Brüssel bei einer Protestaktion für «Remigrationspolitik» wenige Tage nach einem islamistischen Anschlag mit zwei Todesopfern.

Die Angst vor dem grossen Austausch

Ende Juli 2023 waren Corchia, Lingg und andere Aktivisten der Jungen Tat an eine von Sellner organisierte Demonstration nach Wien gereist. Zentrale Forderung der Demonstration in Wien war ebenfalls die «Remigration». Diese ist das Schlagwort der Stunde im rechtsextremen politischen Spektrum Europas. Und sie war das Thema von Sellners Vortrag in Tegerfelden.

Einer breiteren Öffentlichkeit – nicht zuletzt in Deutschland – wurde der Begriff «Remigration» aufgrund der Berichterstattung über ein Treffen zwischen Martin Sellner und Mitgliedern der Alternative für Deutschland (AfD) bekannt. Anfang Januar enthüllte das Rechercheportal Correctiv, dass Sellner im November 2023 in einem Hotel in Potsdam vor ranghohen AfD-Vertretern über Remigration referiert hatte.

Sellner skizzierte dabei einen «Masterplan Remigration». Dieser sieht vor, dass nicht nur kriminelle Ausländerinnen und Ausländer massenhaft in ihre Herkunftsländer ausgeschafft werden müssten, sondern auch Asylbewerber. Ebenso gehörten Ausländer mit Bleiberecht und sogar «nicht assimilierte deutsche Staatsbürger» massenhaft ausgeschafft.

Für die Identitären ist Remigration die Antwort auf die von ihr verbreitete Theorie vom «grossen Bevölkerungsaustausch». Diese Theorie besagt, dass es eine Elite abgesehen hat, die autochthone Bevölkerung Europas durch Zuwanderung aus Afrika und dem Nahen Osten zunehmend zu ersetzen. Diese Zuwanderung unterläuft den von den Identitären propagierten «Ethnopluralismus», wonach verschiedene Völker jeweils getrennt in ihren eigenen Ländern leben sollten.

Diese Geisteshaltung geht auf Vordenker der Neuen Rechten wie Alain de Benoist zurück. Sie unterscheidet sich zwar von jener von «traditionellen» Neonazis, welche die weisse Rasse anderen gegenüber als per se überlegen betrachten. Allerdings knüpft der «Ethnopluralismus» der Identitären an die rassistische Apartheidsideologie an. Und die Rede von einer «Elite von Globalisten», die angeblich den Bevölkerungsaustausch vorantreibt, erinnert an alte antisemitische Vorurteile.

Hip, jung, sportlich

Was identitäre Gruppen wie die Junge Tat ebenfalls von Neonazis unterscheidet, ist ihre Ästhetik. Statt mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefeln kommen Identitäre in Sneakers, Jeans und T-Shirt daher.

Mit diesem modernen Stil versuchen die Identitären in der breiten Gesellschaft anschlussfähiger zu werden, als dies mit der Neonazi-Ästhetik der Neunzigerjahre möglich wäre.

Auch bei der Wahl ihrer Propagandamittel surfen die Junge Tat und ihre Exponenten auf dem Zeitgeist. Zu ihren wichtigsten Kanälen gehören X, Youtube, Telegram und Instagram. In den sozialen Medien inszeniert sich die Junge Tat mit professionell gemachten Videos als hippe, junge, sportliche Aktivisten. Betont wird auch das Gruppenleben, etwa durch gemeinsame Wanderungen und Kampfsporttrainings.

Die Social-Media-Präsenz dient der Rekrutierung neuer Mitglieder und verschafft eigenen Aktionen zu aktuellen Ereignissen Reichweite. So zündeten vermummte Mitglieder der Jungen Tat als Reaktion auf die Kündigung von 49 Mietern zugunsten von Asylsuchenden in Windisch AG Fackeln vor dem Aargauer Regierungsgebäude.

Sowohl Martin Sellner (Anbringen von Hakenkreuzklebern an einer Synagoge, 2006) als auch Manuel Chorchia und Tobias Lingg («Sieg Heil»-Rufe in einer Online-Vorlesung, 2020) sind in der Vergangenheit durch Aktionen mit eindeutig nationalsozialistischer Prägung aufgefallen. Sie bezeichnen dies heute als «jugendlicher Leichtsinn» (Corchia) beziehungsweise «pubertäre Phase» (Sellner).
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/martin-sellner-und-die-junge-tat-was-den-oesterreichischen-star-der-rechten-szene-mit-der-schweizer-identitaeren-gruppe-verbindet-ld.2595648)



aargauerzeitung.ch 18.03.2024

Martin Sellner im Aargau: Junge SVP solidarisiert sich, Dieter Egli erklärt den Polizeieinsatz

100 Personen trafen sich zu einem Anlass der rechtsextremen «Jungen Tat» im Weinbaumuseum in Tegerfelden. Doch die Kantonspolizei löste die Veranstaltung schon nach kurzer Zeit auf und wies den bekannten Populisten Martin Sellner weg. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten.

Dominic Kobelt

Am Samstag hätte der österreichische Rechtsextremist Martin Sellner in Tegerfelden einen Vortrag halten sollen. Im Weinbaumuseum trafen sich 100 Anhängerinnen und Anhänger der «Jungen Tat». Doch der Anlass wurde von der Kantonspolizei Aargau aufgelöst.

Die Kantonspolizei hielt Rücksprache mit den Vermietern des Kulturraums, diese hatten erst nicht erkannt, um was für eine Art Veranstaltung es sich handelte. Mit der Polizei vor Ort löste der Verein das Mietverhältnis sofort auf. Die Teilnehmenden verliessen das Lokal aber nicht. Erst als die Stromversorgung unterbrochen wurde, löste sich das Treffen auf.

«Junge Tat» äussert sich in einem Video ausführlich

Auf einem Video auf X (vormals Twitter) äussern sich zwei junge Männer, die offenbar zur «Jungen Tat» gehören. «Während des laufenden Vortrags hat man den Strom abgestellt, die Polizei ist in den Saal gestürmt und hat Martin abgeführt.» Diese Szene wurde auch festgehalten, im Video skandieren die Veranstaltungsteilnehmer laut «Pfui!» und «Schande!».

Die Männer erklären, man habe schon Wochen im Voraus den Kontakt zur Polizei und zum Bundesamt für Polizei (Fedpol) gesucht, die Behörden hätten nicht reagiert. Nachdem «linke Journalisten» gegen den Austragungsort, Martin Sellner und die Veranstaltung an sich gehetzt hätten, hätten «linke Aktivisten» in Hagenbuch (ZH) randaliert und Plakate verteilt. Einer der Männer der «Jungen Tat» wohnt in Hagenbuch – offenbar hätte die Veranstaltung zuerst bei ihm zu Hause stattfinden sollen; zumindest war das in linken Kreisen vermutet worden. «Das ganze Dorf war voll mit illegalen Sprayereien und Plakaten», kritisiert der Sprecher.

Erst nach diesen Sachbeschädigungen habe sich die Kantonspolizei Zürich mit ihnen in Verbindung gesetzt. In einem Mitschnitt aus einem Telefongespräch ist zu hören, wie ein Mann erklärt, dass die Polizei lediglich umsetze, was politisch entschieden worden sei. Daraufhin äussert einer der Sprecher der «Jungen Tat», es sei «nicht das einzige schmutzige Mittel, das linke Politiker durch die Polizei an uns herangetragen» haben. Die Polizei bediene sich billiger Klischees und Lügen, etwa dass die «Junge Tat» rechtsextremistisch sei. Zudem habe man immer die richtigen Namen und auch das Vortragsthema kommuniziert.

Dieter Egli, Vorsteher des Aargauer Departements Volkswirtschaft und Inneres, bewertet das Vorgehen der Polizei als absolut korrekt: «Die Kantonspolizei musste in diesem Fall zwei Rechtsgüter gegeneinander abwägen – die Meinungsfreiheit und die Öffentliche Sicherheit. Und sie musste schnell entscheiden.» In diese Überlegungen wurde einbezogen, dass es im Zusammenhang mit Martin Sellner auch im Ausland schon vermehrt zu Demonstrationen und zu Gewaltausschreitungen gekommen sei. Auch die Junge Tat sei diesbezüglich eine Organisation «mit einer gewissen Vorgeschichte», wie Egli erklärt. Die Auflösung der Veranstaltung sei also kein politischer, sondern ein polizeitaktischer Entscheid gewesen.

Die Kantonspolizei Zürich hatte eine Einreisesperre für Martin Sellner beantragt. Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr kritisierte im «Tages-Anzeiger»: «Bedauerlicherweise hat der Bund darauf verzichtet, rechtzeitig eine Einreisesperre zu verhängen.» Auch Egli sagt, dass es für die Aargauer Behörden einfacher gewesen wäre, wenn das Bundesamt für Polizei ein Einreiseverbot ausgesprochen hätte. «Allerdings ist das eine recht weitgehende Massnahme, mit der man grundsätzlich vorsichtig umgehen muss.»

Die Fedpol bestätigt, dass es im Zusammenhang mit einer geplanten Veranstaltung in Kontakt mit den lokalen Behörden stand. Über weitere Details, also auch die Frage, ob ein Antrag auf ein Einreiseverbot vorgelegen hat, äussert sich die Behörde mit Verweis auf das Amtsgeheimnis nicht. «Einreiseverbote richten sich gegen Personen, die eine konkrete und aktuelle Bedrohung der inneren oder äusseren Sicherheit der Schweiz darstellen. Das geht über die blosse Äusserung kontroverser Ansichten hinaus», so die allgemein gehaltene Erklärung.

Junge SVP Aargau solidarisiert sich mit Sellner

In einem Post auf X äussert sich auch die Junge SVP Aargau zum Vorfall. Sie ruft zur Solidarität mit Martin Sellner auf und schreibt von einem «schwarzen Tag für unsere Demokratie und die Meinungsfreiheit». Man müsse mit Herr Sellner nicht in allen Punkten übereinstimmen oder anderweitig gut finden. «Jedoch sind wir als Patrioten dazu verpflichtet die Meinungsfreiheit gegen alle Ideologen zu beschützen, die unser Rechtssystem aushöhlen und unschuldige Bürger aufgrund von ‹Gedankenverbrechen› verhaften lassen.»

Der Präsident der Jungen SVP Aargau war am Montag für eine Nachfrage nicht erreichbar.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/martin-sellner-in-aarau-jsvp-solidarisiert-sich-dieter-egli-erklaert-ld.2595766)



nzz.ch 18.03.2024

Polizeieinsatz um Martin Sellner: Aargauer Polizei begründet Vorgehen auch mit seinen «Verbindungen zu gewaltbereiten Rechtsterroristen»

Eine Einreisesperre gegen den prominenten Österreicher gab es nicht.

Tobias Marti

Der österreichische Rechtsextremist und Buchautor Martin Sellner hätte am Samstagabend im aargauischen Tegerfelden einen Vortrag über «ethnische Wahl und Remigration» halten wollen, wurde aber von der Polizei mitgenommen. Eingeladen hatte ihn die rechtsextreme Gruppierung Junge Tat.

Die Aargauer Polizei begründete am Sonntag die Massnahme polizeitaktisch. Sellner sei «zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und der Verhinderung von Konfrontationen mit Personen der Gegenseite» angehalten und weggewiesen worden. Die Veranstaltung sei aufgelöst worden, nachdem die Organisatoren sie nicht selbst hätten beenden wollen. Gleichzeitig habe man eine Anreise politischer Gegner verhindern können, so die Polizei weiter.

Sellner und seine Kreise wittern hinter dem Einsatz politische Gründe, sie sehen gar die Rede- und Versammlungsfreiheit unterdrückt. Der Vorfall fand auch international einige Beachtung, weil der amerikanische Tech-Milliardär Elon Musk sich auf X mit der Frage einbrachte, ob der Einsatz überhaupt legal gewesen sei.

In den sozialen Netzwerken wurde zudem diskutiert, ob die Veranstaltung nicht vor politischen Gegnern hätte geschützt werden müssen. Corina Winkler, Sprecherin der Kantonspolizei Aargau, sagt am Montag zur NZZ, dies greife zu kurz, die Risikobeurteilung sei umfassender gewesen und habe Lageentwicklungen beinhaltet. «Man findet mittels Open-Source-Recherche durchaus eine Verbindung von dieser Person zu gewaltbereiten Rechtsterroristen.»

Man könne darum nicht sagen, dass im Umfeld der Veranstalter kein Gewaltbezug vorhanden gewesen sei, sagt die Sprecherin weiter. Zudem habe die Vermieterin des Lokals – das Weinmuseum Aargau – den Mietvertrag nach Vorliegen aller Informationen zurückgezogen.

Aufseiten des Bundes schweigt man am Montag dazu, ob gegen Sellner eine Einreisesperre vorgelegen hatte. Grundsätzlich kann die Bundespolizei Fedpol Einreisesperren zum Schutz der inneren oder äusseren Sicherheit verfügen. Das Fedpol teilt auf Anfrage mit, allein eine radikale oder extreme Gesinnung reiche nicht als Rechtfertigung präventiv-polizeilicher Massnahmen aus.

Zuvor hatte sich der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr in den Tamedia-Zeitungen geäussert: «Bedauerlicherweise hat der Bund darauf verzichtet, rechtzeitig eine Einreisesperre zu verhängen.» Die kantonalen Polizeikräfte hätten angesichts der steigenden Deliktzahlen Gescheiteres zu tun, als provokative Veranstaltungen von Rechtsextremen zu verhindern. Fehr: «Solche Veranstaltungen müssen vom Bund durch Einreisesperren im Keim erstickt werden.»

Corina Winkler von der Kantonspolizei Aargau bestätigt, dass man am Samstag im Rahmen der Personenkontrolle im Polizeifahndungssystem geprüft habe, ob eine Einreisesperre gegen Sellner vorliege. Dies war offensichtlich nicht der Fall.

Denn nachdem Sellner den Polizeiposten Baden wieder hatte verlassen dürfen, wurde er lediglich aus dem Kanton Aargau weggewiesen. Die Polizei eskortierte ihn bis in den Kanton Zürich. Hätte eine Einreisesperre vorgelegen, wäre Sellner an die Landes- und nicht nur an die Kantonsgrenze gebracht worden. Das nötige Personal wäre vorhanden gewesen, beim Einsatz in Tegerfelden war auch das Grenzwachtkorps vor Ort.

Hintergrund der Aufregung rund um Sellner ist die Veröffentlichung des Recherchenetzwerks Correctiv. Anfang Januar wurde bekannt, dass Sellner im November in Potsdam vor Unternehmern und Mitgliedern der AfD und der CDU über «Remigration» gesprochen hatte. Der Begriff steht für die Massenausschaffung von Ausländern – ein Konzept, über das der neurechte Aktivist bereits ausführlich publiziert hat.

Bern verhängte in der Vergangenheit immer wieder Einreisesperren. Die entscheidende Richtschnur dabei ist, ob von der betreffenden Person ein Sicherheitsrisiko für die Schweiz ausgeht. So gab es Sperren gegen Personen, die einen islamistischen Hintergrund hatten.

Auch die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit kann ein Grund sein. Ein Beispiel dafür sind Personen, von denen man annimmt, dass sie an einer Veranstaltung randalieren.

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) erklärte sich im Vorfeld für nicht zuständig. Personen, die sich ideologisch oder politisch radikalisierten, fielen erst dann in sein Aufgabengebiet, wenn ein konkreter Gewaltbezug feststellbar sei. Allein die Tatsache, dass jemand Neonazi oder Anarchist sei, genüge mithin nicht, damit der NDB mit Blick auf anstehende Ereignisse präventiv tätig werde.
(https://www.nzz.ch/zuerich/nach-polizeieinsatz-um-martin-sellner-aargauer-polizei-begruendet-vorgehen-mit-dessen-verbindungen-zu-gewaltbereiten-rechtsterroristen-ld.1822660)



derbund.ch 18.03.2024

Wegweisung von Martin Sellner: Rechtsextremist bei Schweizer Auftritt abgeführt – wann gibt es Einreisesperren?

Die Bundespolizei verhängt selten Einreisesperren gegen Gewaltextremisten. In Fällen wie jenem um Martin Sellner muss dann die Kantonspolizei einschreiten.

Thomas Knellwolf

Die Intervention der Aargauer Kantonspolizei vom Samstag in einem Weinbau-Museum erregt international Aufsehen. Der Nachrichtenagentur Reuters ist das Einschreiten gegen Rechtsradikale eine Meldung wert, dem US-Radionetzwerk Voice of America ebenfalls, und Medien in Deutschland und Österreich berichten sowieso. Denn dort ist nicht nur der umstrittene Multimilliardär Elon Musk bekannt, der die Legalität der Anhaltung Martin Sellners in der kleinen Aargauer Gemeinde Tegerfelden hinterfragte. Sondern auch Rechtsextremist Sellner.

Doch nicht nur aus Übersee-Perspektive wirkte das Verhalten verschiedener schweizerischer Sicherheitsbehörden paradox. Wieso durfte der Österreicher Sellner, ein Wortführer der rechtsextremen Identitären, in die Schweiz einreisen, obschon die Zürcher Kantonspolizei ein Einreiseverbot beantragt hatte? Und warum schritten schliesslich doch Aargauer Kantonspolizisten ein, als Sellner in einem Saal des Weinbau-Museums auftrat, den schweizerische Gesinnungsgenossen unter falschen Angaben gemietet hatten?

Zuletzt kaum Einreisesperren für Extremisten

Für Einreisesperren ist hauptsächlich das Bundesamt für Polizei (Fedpol) zuständig. Es kann solche Sperren zum Schutz der inneren und äusseren Sicherheit der Schweiz erlassen. Aber es tat dies zuletzt kaum mehr gegen Links- oder Rechtsextreme.

Zwar stieg die Zahl der Einreisesperren rasant an: von 22 (im Jahr 2015) auf 312 (2022). Davon betraf der Grossteil, 276, den Spionagebereich. Hier hat die Schweiz viele mutmassliche russische Agentinnen und Agenten gleich für den ganzen Schengen-Raum gesperrt.

Beim Gewaltextremismus, der auch Links- und Rechtsextremismus umfasst, kam es 2022 nur zu zwei Einreisesperren. In den beiden Jahren davor gab es gar keine.

Die allermeisten Rechts-, aber auch Linksextremen dürfen also in die Schweiz einreisen – ausser sie sind vom Staatssekretariat für Migration, das über ähnliche Möglichkeiten wie das Fedpol verfügt, oder von einem anderen Schengen-Staat gesperrt worden.

Der Toggenburger Schock

Früher hat die Schweiz von sich aus mehr Rechtsextreme nicht ins Land gelassen. Wie ein Schock gewirkt hatte 2016 ein Neonazi-Musikfestival im Toggenburg mit mehreren Tausend Besucherinnen und Besuchern, viele aus dem Ausland. In den Folgejahren verhängte das Fedpol vermehrt Einreisesperren wegen Gewaltextremismus. Doch mit der Zeit lag der Fokus der Bundespolizei wieder vermehrt auf Gefahren wie Terrorismus, organisierter Kriminalität, konkret der italienischen Mafia, und seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine illegalem Nachrichtendienst.

Über einzelne Verbote und die Begründung schweigt sich das Fedpol aus. Publik werden Details dazu meist, weil sich ein Betroffener öffentlich darüber empört, dass er nicht mehr in die Schweiz einreisen darf. Einzelne brüsten sich gar damit.

Auch Martin Sellner hat sich nun auf sozialen Medien als vermeintlich Gebannter inszeniert, obwohl vieles darauf hindeutet, dass es bei ihm gar keine Einreisesperre gab. Ein deutliches Indiz dafür ist die Kritik des Zürcher Sicherheitsdirektors Mario Fehr: «Solche Veranstaltungen müssen vom Bund durch Einreisesperren im Keim erstickt werden.»

Die Zürcher Kantonspolizei hatte sich beim Fedpol für eine Massnahme gegen Sellner starkgemacht. Doch die Bundespolizei schätzte die Lage anders ein. Sie schreibt ohne Bezug auf den konkreten Fall: «Der Schutz der Meinungsfreiheit ist ein fundamentales Prinzip unseres Rechtsstaates, das auch im Kontext der inneren und äusseren Sicherheit gilt. Meinungen, sofern sie nicht mit Aktivitäten verbunden sind, die eine konkrete Gefahr darstellen oder strafrechtlich relevant sind, begründen für sich allein keine Gefährdung der inneren oder äusseren Sicherheit und damit den Erlass eines Einreiseverbots.»

Gewalttätige Gegenaktion befürchtet

Trotzdem sah sich die Aargauer Kantonspolizei am Samstag zum Handeln veranlasst. Sie hielt den Anlass der rechten Jungen Tat, bei dem Sellner auftrat, für potenziell gefährlich. Zur «Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit» unterbrach sie die Veranstaltung und führte Sellner ab. Gegen den rechtsextremen Redner verhängten die Aargauer Behörden eine Wegweisung vom Kantonsgebiet bis zum 15. Mai.

Die Massnahme begründet die Kantonspolizei unter anderem mit Sellners Radikalität, die durch öffentliche Quellen belegt sei. Bereits als Jugendlicher hatte der heute 35-Jährige Hakenkreuze an eine Synagoge geklebt. Er stand auch in Kontakt mit jenem rechtsextremen Attentäter aus Neuseeland, der 2019 in zwei Moscheen 51 Menschen erschoss (wovon sich Sellner distanzierte).

Ihr Einschreiten begründet die Aargauer Kantonspolizei aber auch mit einer drohenden gewalttätigen Gegenaktion. Ihre Polizisten hatten am Samstag in Ennetbaden eine Reihe Verdächtiger gestoppt. Auch in Koblenz, nahe der deutschen Grenze, hatten sie am Bahnhof fünf Personen angehalten. Die Gruppe war mutmasslich unterwegs zum Weinbau-Museum, um den Auftritt Sellners zu stören. Die Angehaltenen, die dem linksextremen Lager zugerechnet werden, führten unter anderem Pfefferspray mit sich.

Zwischen der Jungen Tat und Linksradikalen ist es in den vergangenen Jahren immer wieder zu heftigen gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen.
(https://www.derbund.ch/schweiz-kaum-einreiseverbote-fuer-rechtsextreme-wie-sellner-636010042904)



Ominöses Treffen: Reichsbürger-Kongress in Gossau aufgedeckt
Am Wochenende sind in Gossau mehrere Staatsverweigerer zusammengekommen. Auch der selbsternannte «König von Deutschland» Peter Fitzek war dabei. Ein Reporter vom St.Galler Tagblatt konnte sich in das Treffen einschleusen und erzählt im TVO-Interview von seiner verdeckten Reportage.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/ominoeses-treffen-reichsbuerger-kongress-in-gossau-aufgedeckt-156579827



tagblatt.ch 18.03.2024

Der Eigentümer des «Hofstadls» äussert sich zum Reichsbürgerkongress in Gossau: «Differenzieren nicht, woher unsere Gäste kommen»

Am vergangenen Sonntag fand in Gossau ein Kongress der Reichsbürgerbewegung «Königreich Deutschland» statt. Die Stadt Gossau distanziert sich vom Anlass.

Davide De Martis

Am vergangenen Sonntag fand im «Hofstadl» in Gossau ein Treffen der Reichsbürgerbewegung «Königreich Deutschland» (KRD) statt. Rund 60 Personen besuchten den Anlass. Vor Ort war neben Luca (Name geändert), dem Schweizer Botschafter des KRD, auch Peter Fitzek, der selbsternannte «König».

Am Reichsbürgerkongress warben Fitzeks Anhänger um neue Mitglieder. Darunter auch für den Schweizer KRD-Ableger, der «Gmeinwohl Gmeind Schwiz», der seit vergangenem Jahr als eingetragener Verein im Fantasiestaat besteht. In den Vorträgen wurden staatsfeindliche Verschwörungstheorien verbreitet, obschon sich das KRD als «friedliebendes Pendant zum ‹destruktiven System›» sieht, wie die Teilnehmer am Anlass verkündeten.

Fitzek und seine Anhänger versuchen Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen, von ihren Inhalten zu überzeugen und sie für sich zu gewinnen. Das KRD bietet teure Seminare und Bücher an. Auch die Mitgliedschaft kostet. Insofern ist Fitzek auch ein knallharter Geschäftsmann.

«Anlass hat nichts mit Gossau zu tun»

Eine Reichsbürgerbewegung, die vom Deutschen Verfassungsschutz als extremistische «Selbstverwalter»-Gruppierung bezeichnet und auch beobachtet wird, wirbt im Gossauer «Hofstadl» um Mitglieder. Was sagt die Stadt Gossau dazu?

Sie distanziert sich vom Anlass. «Wir wussten selbst nichts davon und haben erst heute Morgen aus der Zeitung davon erfahren. Dieser Anlass hat nichts mit Gossau zu tun», sagt Urs Salzmann, Kommunikationsbeauftragter der Stadt. Der Anlass habe zwar im «Hofstadl» stattgefunden, die Stadt habe davon aber nichts wissen können. Der Standort wurde von den Veranstaltern den Teilnehmern erst nach einer Banküberweisung preisgegeben.

«Natürlich haben wir keine Freude daran, dass die Stadt Gossau mit Negativschlagzeilen in den Nachrichten steht. Lieber wären uns natürlich erfreulichere Gründe, wie unser Stadtjubiläum», sagt Salzmann weiter. Der «Hofstadl» sei in der Gastronomie tätig und verfüge über ein Gastwirtschaftspatent wie jedes andere Restaurant auch. Meldungspflichtig wäre der Anlass nur gewesen, wenn der Veranstaltungsort über keine solche Bewilligung verfügt hätte.

«Hofstadl»-Eigentümer habe Kongress-Inhalte nicht gekannt

Christoph Koch, Eigentümer des «Hofstadls», äussert sich ebenfalls zum Anlass. Er hält sich kurz: «Grundsätzlich differenzieren wir nicht, woher unsere Gäste kommen, solange sie sich an die Spielregeln halten.» Über die Inhalte, die am Reichsbürgerkongress vermittelt wurden, habe er nicht Bescheid gewusst. Weitere Fragen möchte er nicht beantworten.

Abgesehen davon, dass sich am Sonntag bereits vor Ort neue Mitglieder beim KRD eintrugen, kann das Wachstum des Fanatsiestaates auch im Telegram-Chat des KRD beobachtet werden. Seit Sonntagabend sind zehn neue Gruppenmitglieder dazugekommen.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/reichsbuerger-der-eigentuemer-des-hofstadls-aeussert-sich-zum-reichsbuergerkongress-in-gossau-differenzieren-nicht-woher-unsere-gaeste-kommen-ld.2595696)