Themen
- Türkeiausschaffung nach 40 Jahren in der Schweiz
- Libyen: 61 Menschen ertrunken, Überlebende zurückgeschleppt
- EU-Asylreform: «EU decides to give zero f*** about human rights.»
- Frankreich: Ultrarechter Stempel auf das neuen Asyl- und Ausländergesetz
- Skandalisierung auf parlamentarischer Ebene: Asylpraxis afghanischer Frauen und Mädchen soll rückgängig gemacht werden
- Die City Card Bern wird konkret
- Crowdfunding: Halbtax gegen Isolation
- Spendensammlung zur Unterstützung der Familie von Mike ben Peter
- Addbusting gegen die Basler Polizei
- NO WEF Winterquartier
- Tour de Lorraine: Solidarische Stadt!
Was ist neu?
Türkeiausschaffung nach 40 Jahren in der Schweiz
Eine Frau, die vor 40 Jahren aus der Türkei in die Schweiz kam, wird aufgrund ihres langjährigen Sozialhilfebezugs ausgeschafft. Der Fall zeigt die unmenschliche Logik des rassistischen Staates auf.
Am 27. November wurde die Beschwerde von A. vor dem Bundesgericht abgewiesen. Somit ist das Urteil des Verwaltungsgerichts Solothurn rechtskräftig. A. wird aus der Schweiz weggewiesen und muss innerhalb von 60 Tagen die Schweiz verlassen. Dies nachdem A. bereits 40 Jahre in der Schweiz lebt. Grund dafür ist laut Bundesgericht die «gescheiterte Integration und die dauerhafte und in erheblichen Mass bestehende Sozialhilfeabhängigkeit».
Das Verbrechen arm zu sein. Das Bundesgericht und das Verwaltungsgericht Solothurn beschreiben eine andauernde konkrete Gefahr einer Sozialhilfeabhängigkeit. Weiter heisst es, die bezogene Sozialhilfe ist ihr vorwerfbar und durch den Widerruf der Niederlassungsbewilligung ist eine zusätzliche künftige Belastung der öffentlichen Wohlfahrt zu vermeiden.
Um was es hier geht, ist die von A. bezogene Sozialhilfe. Sie beläuft sich im Zeitraum vom 16. März 2006 bis zum 15. August 2022 auf rund 351’546.00 CHF. Heruntergerechnet auf die 16 Jahre und fünf Monate beträgt ihr monatlicher Sozialhilfebezug 1’784.50 CHF. In erster Linie ist sie hiermit keine Schmarotzerin des Sozialstaats, wie es die Beschreibungen verlauten lassen, sondern eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, die in der Armut leben muss.
Die Formulierungen, die in den Urteilen verwendet werden, spiegeln das gesellschaftlich konstruierte Bild von Armut betroffener Menschen wieder. Armut wird als selbstverschuldet und unüberwindbar dargestellt. Wer arm ist, ist faul und wird für immer arm bleiben. So wird auch mit dem Begriff der «Sozialhilfeabhängigkeit» die Abhängigkeit von staatlichen Leistungen als Versagen der Menschen dargestellt, die es nicht schaffen, sich selbst zu versorgen und dem im Neoliberalismus propagierten Individualismus nicht entsprechen können. Dass die Sozialhilfe jedoch genau dafür da ist, allen Menschen Lebensgrundlagen zu sichern, wird hier völlig ausgeblendet. In den Augen des Bundesgerichts bleibt der Sozialhilfebezug vorwerfbar.
Die Basis für das Urteil liegt in einer Gesetzesänderung, die im Jahr 2019 in Kraft trat. Zuvor durfte Personen, die sich länger als fünfzehn Jahre in der Schweiz aufhielten, nicht wegen der Sozialhilfe die Niederlassungsbewilligung entzogen werden. Heute bleiben auch diese Personen permanent ausschaffbar. Die rassistische Hetze und Propaganda der SVP trug massgebend zu dieser Änderung bei.
Auch wenn überall Grüne richten, herrscht nirgendwo Gerechtigkeit. In dem Fall von A., der am 27. November 2023 vor Bundesgericht behandelt wurde, richteten Bundesrichterin Aubry Girardin, Bundesrichter Stephan Hartmann und nebenamtliche Bundesrichterin Tanja Petrik-Haltiner. Sowohl Aubry Girardin, wie auch Stephan Hartmann gehören der Grünen Partei an, Tanja Petrik-Haltiner der SP.
Auch die aussergewöhnlich linke Zusammensetzung von Bundesrichter*innen, führt zu keinem gerechten Urteil im Falle von A.. Nicht überraschend wird hier unabhängig der Partei-Zugehörigkeit der Rechtsstaat mit seinen rassistischen Logiken geschützt. Statt ein menschliches, solidarisches und gerechtes Urteil zu fällen, bleiben sie der Logik des Staates treu und werfen mit armutsfeindlichen und rassistischen Argumenten um sich.
So brachte A. nur kurze Zeit nach dem vorinstanzlichen Entscheid des Verwaltungsgerichts Solothurn vom 8. Mai 2023 neue Tatsachen vor. Dem Bundesgericht lag zum Zeitpunkt des Entscheids ein Arbeitsvertrag vom 31. Mai 2023 vor. Ab dem 1. Juli 2023 konnte A. in einem 80% Pensum und einem monatlichen Bruttolohn von 2’800 CHF bei der C. GmbH arbeiten. Das Bundesgericht stuft diese Tatsachen jedoch als unzulässiges Novum ein.
Derweil hebt das Bundesgericht hervor, dass A. über keine berufliche Ausbildung verfügt, seit ihrer Ankunft in der Schweiz nie erwerbstätig war und damit die wirtschaftliche Integration als klar gescheitert angesehen werden muss. Auch schreiben sie lieber, dass die im Verlauf des verwaltungsrechtlichen Verfahrens getätigten Bewerbungsversuche (sogar) im Niedriglohnsektor scheiterten, als auf den vorliegenden Arbeitsvertrag einzugehen.
Ein Fehler im System. A. kann über eine lange Zeit ihres Lebens die ihr vorgeschriebene Rolle im rassistischen und kapitalistischen Gesellschaftssystem nicht einnehmen. So sollte sie als billige Arbeitskraft dienen, die dem Staat ermöglicht sein primäres Interesse der Profiterhöhung zu realisieren. Diese wird durch eine erhöhte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt und eine konstant hohe Zahl an Arbeitslosen möglich gemacht, die jederzeit bereit sind für weniger Geld zu arbeiten. Damit dieses erhöhte Arbeitskräfteangebot existieren und anhalten kann, müssen Arbeitskräfte durch Formen der Migration importiert werden. Ohne die Erfüllung der Arbeitsausbeutung, gelten Migrant*innen nur als finanzielle Belastung für den Staat. So gilt im Falle von Sozialhilfebezug; «finanzielle Unabhängigkeit» erlangen oder ausgeschafft werden.
Doch A. ist nicht lohnarbeitsfähig. Ihr behandelnder Psychiater geht in psychischer Hinsicht seit Februar 2013 unverändert von einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit aus. Seit Jahren kämpft sie für einen IV-Bezug. Nach mehreren erfolglosen IV-Anmeldungen startete sie ein fünftes IV-Verfahren betreffend rezidivierender depressiver Störung und generalisierter Angststörung. Zum Zeitpunkt des Entscheids des Verwaltungsgerichts Solothurn war dieses noch hängig.
Das Bundesgericht stützt sich jedoch lieber auf einen Hausarztbericht vom 29. September 2021, der besagt, dass trotz andauernder und zusätzlich beginnender somatischer Beschwerden von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit für vier bis sechs Stunden täglich auszugehen ist. Weiter erwähnte der Hausarzt im Bericht, dass u.a. die kulturelle (türkische) Einstellung sie daran hindere, eingegliedert zu werden.
Mutmassend und entmenschlichend. A. ist 59-jährig und seit 40 Jahren in der Schweiz. Seit dem Tod ihrer Eltern pflegt sie keine persönlichen Kontakte in der Türkei. Selbst das Bundesgericht sieht ein, dass die wirtschaftlichen Perspektiven in der Türkei nicht einfach sein werden, da sie über keinerlei Berufsbildung und Arbeitserfahrungen verfügt. Legitimiert wird der Gerichtsentscheid jedoch damit, dass A. auch in der Schweiz wirtschaftlich nicht Fuss fassen konnte, bereits öfter ferienhalber in die Türkei zurückgekehrt ist und in der hiesigen Gesellschaft und Kultur nicht nennenswert verwurzelt ist. Auch gehen sie davon aus, dass wenn sie zum aktuellen Zeitpunkt weder sprachlich noch wirtschaftlich integriert ist, auch in Zukunft nicht sein wird. Eine Ausschaffung in die Türkei scheint für das Bundesgericht hiermit legitim. Die Beziehungen zu ihren drei Kindern in der Schweiz könne sie ja über regelmässige Ferienbesuche und elektronische Kommunikationsmittel aufrechterhalten.
Für immer arm und ausschaffbar. In dem Fall von A. hätte angesichts ihres langjährigen Sozialhilfebezugs keine sofortige Wegweisung erfolgen müssen. Laut einem Bundesgerichtsurteil vom 30. Juli 2011 (2C_283/2011) ist insbesondere bei einem langfristigen Aufenthalt eher zu verlangen, dass die Person verwarnt wird, bevor ihr die Niederlassungsbewilligung entzogen wird. Auch wäre die Rückstufung der Aufenthaltsbewilligung möglich gewesen.
Das Bundesgericht beharrt darauf, dass auch wenn eine schriftliche Verwarnung vorliegend wäre sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an der Sache nichts geändert hätte.
Das A. trotz bestätigter Lohnarbeitsunfähigkeit kurz nach dem ersten Urteil einen Arbeitsvertrag vorlegt, beweist wohl das Gegenteil. Es hätte sich etwas an der Sache geändert.
https://gerichtsentscheide.so.ch/cgi-bin/nph-omniscgi.exe?OmnisPlatform=WINDOWS&WebServerUrl=&WebServerScript=/cgi-bin/nph-omniscgi.exe&OmnisLibrary=JURISWEB&OmnisClass=rtFindinfoWebHtmlService&OmnisServer=7001&Parametername=WEB&Schema=JGWEB&Source=&Aufruf=getMarkupDocument&cSprache=DE&nF30_KEY=165126&W10_KEY=7446017&nTrefferzeile=1&Template=/simple/search_result_document.html
https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?lang=de&type=highlight_simple_query&page=1&from_date=01.10.2023&to_date=25.12.2023&sort=relevance&insertion_date=&top_subcollection_aza=all&query_words=Verwaltungsgericht+Solothurn+T%FCrkei&rank=1&azaclir=aza&highlight_docid=aza%3A%2F%2F27-11-2023-2C_338-2023&number_of_ranks=650
https://www.woz.ch/2004/sozialhilfe-und-migration/das-ist-ein-feldzug
https://1ft.io/proxy?q=https%3A%2F%2Fwww.solothurnerzeitung.ch%2Fsolothurn%2Fkanton-solothurn%2Fbundesgericht-integration-gescheitert-selbst-wenn-ihre-kinder-und-enkelkinder-hier-leben-wird-die-frau-nach-40-jahren-aus-der-schweiz-ausgeschafft-ld.2558308%3Freduced%3Dtrue
Libyen: 61 Menschen ertrunken, Überlebende zurückgeschleppt
Bei einem Bootsunglück vor der Küste Libyens sind Mitte Dezember mindestens 61 Menschen ums Leben gekommen. Behördenversagen, unterlassene Hilfeistung, Kooperation mit der sog. libyschen Küstenwache und damit die Anerkennung und Unterstützung der libyschen ‚detention centers‘: tödlicher Alltag auf dem Mittelmeer.
Unsere Gedanken sind mit allen Angehörigen.
86 Menschen waren vom libyschen Küstenort Suwara losgefahren. Am 14. Dezember gerieten sie in Seenot und kontaktierten die NGO Alarm Phone. Diese kontaktierte sofort die italienischen, maltesischen und libyschen Behörden, sowie das einzige Schiff der zivilen Flotte, welches momentan im Einsatz ist: die SEA-EYE 4.
Italienische und maltesische Behörden reagierten nicht. Die sog. libysche Küstenwache erfragte schliesslich beim siebten Anruf durch Alarm Phone die GPS-Koordinaten des Bootes.
Einige Stunden später und auf Nachfrage von Alarm Phone liessen sie jedoch verlauten, die Wellen seien zu hoch, um eine Rettungsmission vorzunehmen. Obwohl Alarm Phone Informationen hatte, dass die sog. libysche Küstenwache auf See unterwegs war und mindestens drei Boote zurück nach Libyen geschleppt hatte.
Die SEA-EYE 4 machte sich auf den Weg. Aufgrund neuer Gesetze von den italienischen Behörden hatte sie jedoch weit im Norden Italiens ausschiffen müssen, so dass sie das Geschehen erst am nächsten Morgen erreichen würden.
Erneut kontaktierte Alarm Phone die italienischen Behörden, welche mitteilten, sie könnten in libyschen Gewässern nicht eingreifen und welche schliesslich gegen 21h das Plattformversorgungsschiff VOS TRITON informierten, das sich in der Nähe befand.
Was genau sich daraufhin abspielte, werden wir wohl nie erfahren. Mitten in der Nacht erreichte die VOS TRITON den Standort des Bootes in Seenot. Alarm Phone hatte um 17h den ersten Anruf erhalten und um 18h den Kontakt mit den Menschen an Bord verloren. Am nächsten Tag erfährt Alarm Phone, dass die VOS TRITON auf dem Weg nach Libyen ist. Nur 25 Menschen haben sie an Bord.
Die Sabotage von allen beteiligten Behörden zeigte Wirkung: 61 Menschen sind ertrunken, 25 Menschen werden in die horrenden Bedingungen von Libyens ‚Auffanglagern‘ zurückgeschleppt.
Es ist nicht das erste Mal, dass das Handelsschiff VOS TRITON geflüchtete Menschen auf See abfängt und zurück nach Libyen bringt. Dies ist völkerrechtswidrig, es handelt sich um eine „Aussetzung“ von Schutzsuchenden. Denn seit Jahren werden die Zustände welchen geflüchtete Menschen in Libyen ausgesetzt sind, dokumentiert: moderne Versklavung und Folter sind nur einige der Methoden, die eingesetzt werden. Doch weder ein Gerichtshof, noch eine Reederei werden anscheinend Anklage erheben. Lieber werden neue Gesetze erfunden, um es zivilen Seenotretter*innen zu erschweren, Menschenleben zu retten. Die VOS TRITON ist nicht ausgestattet, um eine komplexe Rettungsmission durchzuführen, doch wenn sie die Menschen nach Libyen zurückschleppt ist das kein Problem. Wenn die Menschen jedoch von zivilen Seenotrettungsschiffen nach Europa gebracht werden sollen, gelten auf einmal strenge Auflagen. Die Arbeit von zivilen Seenotrettungsschiffen wird kriminalisiert. Doch wenn ein Handelsschiff im Auftrag der Regierung Völkerrecht bricht, dann wird auf einmal weggeschaut. Die Doppelmoral ist offensichtlich und abstossend.
Wo ein politischer Wille ist, ist auch ein Weg. Doch dieser Wille wurde schon vor Jahren, gemeinsam mit der Achtung von Menschenrechten und jeglicher Form von Empathie, begraben.
Den Medien war das Bootsunglück eine kurze Notiz wert. Es wird zwar erwähnt, dass das Mittelmeer die tödlichste Fluchtroute sei. Aber man könnte meinen, es handle sich um einen tragischen Zufall. Wenn man dann schliesslich auf die Seite von Alarm Phone kommt und eine detaillierte Auflistung der Ereignisse liest, wird einem die Struktur dahinter bewusst und dass diese Strukturen grausames System haben. Vielleicht sollten Journalist*innen ihre Quellen auf das Alarm Phone erweitern und nicht nur brav International Organisation for Migration (IOM)-Tweets zitieren.
https://alarmphone.org/en/2023/12/17/people-are-losing-their-life-here-shipwreck-off-libya/
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178578.pushbacks-nach-libyen-gesetzlosigkeit-im-mittelmeer.html
https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-12/mittelmeer-libyen-flucht-boot-migranten-tote
https://www.spiegel.de/ausland/fluechtlinge-offenbar-mehr-als-60-tote-bei-bootsunglueck-vor-libyens-kueste-a-83ab274e-1329-4d0a-9328-baaa5558fe84
https://www.srf.ch/news/international/vor-der-kueste-libyens-ueber-60-menschen-bei-bootsunglueck-ertrunken
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178575.zentrales-mittelmeer-libyen-mehr-als-tote-bei-bootsunglueck.html
https://www.sueddeutsche.de/projekte/artikel/politik/mittelmeer-migranten-tot-tunesien-libyen-italien-e276112/?reduced=true
EU-Asylreform: «EU decides to give zero f*** about human rights.»
Am 20. Dezember endete die Triolog Verhandlungen zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS). In praktisch allen Punkten hatte sich der Rat durchgesetzt. Das Parlament konnte in den Verhandlungen nur minimale Verbesserungen erreichen.
Für eine genauere Auseinandersetzung mit den Verhandlungsergebnisse empfehlen wir die Analyse von Bernd Kasparek: https://www.medico.de/blog/das-ende-des-schutzes-19332. Die wichtigsten Punkte kurz zusammengefasst von antira.org:
An den europäischen Aussengrenzen sollen Grenzverfahren eingeführt werden. Dazu sollen an den Grenzen Einrichtungen gebaut werden, in denen bis zu 30’000 Menschen inhaftiert werden können. Von den Grenzverfahren werden vor allem Personen betroffen sein, deren Nationalität eine Gesamtanerkennungsquote von unter 20 Prozent in der EU hat. Zusätzlich soll das Grenzverfahren für Personen verpflichtend sein, die durch einen sogenannten sicheren Drittstaat eingereist sind.
Ob eine Person ins Grenzverfahren oder ins reguläre Asylverfahren kommt, soll in Zukunft innerhalb von sieben Tagen im sog. Screening-Prozess entschieden werden. Dieses findet unter der Fiktion der Nicht-Einreise statt. Obwohl sich eine Person auf dem Territorium befindet, wird also rechtlich davon ausgegangen, dass eine Einreise noch nicht stattgefunden hat. Für diesen Prozess, bei dem es auch in Zukunft oft zu Pushbacks kommen dürfte, hatte das Parlament einen robusten Monitoring-Mechanismus gefordert, konnte sich aber nicht durchsetzen.
So die Funktionsweise im Normalfall des GEAS. Teil der Reform ist aber auch eine Krisenverordnung, die in Fällen von «Krise» oder «Instrumentalisierung» eine weitere Herabsetzung der ohnehin geringen Rechte für Menschen auf der Flucht möglich macht.
Ein letzter zentraler Punkt ist das Konzept der «flexiblen Solidarität»: Mitgliedstaaten können selbst entscheiden, ob sie flüchtende Menschen aufnehmen wollen oder lieber in einen Fond für Grenzsicherungsmassnahmen einzahlen möchten.
«Today is truly a historic day» sagte die Präsidentin des Europäischen Parlaments nach Abschluss der Verhandlungen. Oder in anderen Worten vom Border Violence Monitoring Network: «Today is a „historic“ day for the crumbling of the right to asylum. This Migration Pact means more externalisation, more detention, more returns & wide derogations from Human Rights!»
https://twitter.com/Border_Violence
https://www.medico.de/blog/das-ende-des-schutzes-19332
Frankreich: Ultrarechter Stempel auf das neuen Asyl- und Ausländergesetz
In Frankreich besiegelte das Parlament eine tiefgreifende Verschärfung des Asyl- und Ausländergesetzes. Der Rassemblement National (RN) feiert einen Sieg. Die Macron-Regierung spricht von „Ausgewogenheit“: Angesicht der zu vielen Migrant*innen gäbe es in Frankreich zu viele Probleme. Die Verschärfungen würden einen Ausgleich schaffen.
Der RN war lange gegen den Gesetzentwurf, da dieser zu lasch sei. Erst als die bürgerliche Mitte in verschiedenen Bereichen den Inländer*innenvorrang verankerte, schwenkte der RN um. Der Inländer*innenvorrang ist eine historische Forderung der Ultrarechten. Die verschärfende Gesetzesreform integriert allerdings zahlreiche alte Vorschläge der Ultrarechten. Anders als in der Schweiz stiess der rassistische Inländervorrang in Frankreich auf mehr Kritik. Nun ist dieses Prinzip auch in Frankreich in der Mitte des Parlaments verankert. Hierzu Marine Le Pen auf X: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Abgeordneten der Mehrheit, allen voran der Präsident der Republik, uns morgen vorwerfen können, dass wir den Inländer*innenvorrang verteidigen, da sie die Idee integrierten, damit sie angewandt werden kann. Sie wenden es minimal an, aber im Prinzip wird dieses Konzept bestätigt“
Einige Beispiele für den Inländer*innenvorrang oder besser gesagt für den institutionellen Rassismus:
- Minimale Gesundheit: In Frankreich haben alle, die sich seit mindestens drei Monaten in Frankreich aufhalten und von weniger als 810 Euro pro Monat leben, Anspruch auf eine minimale Gesundheitsversorgung. Neu wird dieses Recht rassistisch eingeschränkt. Unter der minimalen Gesundheitsleistung wird eine noch eingeschränktere medizinische Nothilfe für gewisse Migrant*innen geschaffen.
- Sprache: Sprache lernt, wer sich willkommen fühlt und einen Sinn darin erkennt. Für eine Aufenthaltsbewilligung à 2 bis 4 Jahre mussten sich Personen bisher zu einem Sprachkurs verpflichten. Neu müssen diese Personen für den Ausweis à 2 bis 4 Jahre ein A2 Niveau vorlegen. Für das Aufenthaltsrecht à 10 Jahre braucht es neu ein Niveau B1 und für den französischen Pass ein B2. Wie in der Schweiz entsteht dadurch ein grosses Geschäft, da die Prüfungen für das Diplom zwischen 90 Euro und 140 Euro kosten. Wer die Tests nicht schafft, verliert das Bleiberecht. Von Französ*innen wird kein Sprachniveau verlangt.
- Gesundheit und Bleiberecht: Schwer kranke Personen können in Frankreich bisher ihren Ausweis erneuern, wenn sie im Herkunftsstaat keine effektive Behandlung erhalten. Unter dem Begriff „effektiv“ wird nicht nur ein effektiv funktionierendes Gesundheitssystem verstanden, sondern auch ein effektiver Zugang. Auch die wirtschaftliche Situation der Person, die Distanz zu einem Spital oder allfällige Diskriminierungen der Person im jeweiligen Land werden mitberücksichtigt. Neu wurde das Wort „effektiv“ gestrichen. Es reicht aus, dass die Behandlung formal verfügbar ist. Die Verschlimmerung der Krankheit oder der Tod wird in Kauf genommen.
- Kinderknast: Bereits elf Mal wurde Frankreich vom europäischen Menschenrechtsgerichtshof (EGMR) verurteilt, weil illegalisierte Kinder durch die Anordnung von Administrativhaft „unmenschlich und erniedrigend“ behandelt wurden. Trotzdem ging das Einsperren von Kindern weiter. Neu sogar mit dem gesetzlichen Segen: Der Gesetzentwurf sieht vor, dass Kinder zwischen 16 und 18 Jahren weiterhin überall eingesperrt werden dürfen und sogar Kinder unter 16 Jahren können unter gewissen Umständen einsperrt werden. Beides illegal.
- Regularisierungen: Bisher konnten Sans-Papiers auf der Grundlage des sogenannten Valls-Rundbriefes regularisiert werden. Sie mussten dafür nachweisen, dass sie 8 bis 30 Monate als Sans-Papiers gearbeitet haben und sich insgesamt seit 3 bis 7 Jahren in Frankreich aufhielten. Entschieden wurde durch die lokale Präfektur. Neu müssen Sans-Papiers für die Regularisierung seit mindestens drei Jahren in Frankreich leben und in einem sogenannten angespannten Berufsfeld arbeiten. Zynischerweise haben die Behörden nicht Baugewerbe, Gastronomie, Haushalt, persönliche Betreuung usw. als „angespannt“ eingestuft, da es dort aufgrund der vielen Sans-Papiers keinen ausgeprägten Arbeitskräftemangel gäbe.
https://www.lacimade.org/analyse/projet-de-loi-asile-et-immigration-2023/
https://www.mediapart.fr/journal/politique/211223/le-vrai-probleme-ce-n-est-pas-l-immigration-c-est-emmanuel-macron
https://www.mediapart.fr/journal/politique/211223/loi-immigration-le-rn-savoure-sa-victoire-ideologique
Was geht ab beim Staat?
Skandalisierung auf parlamentarischer Ebene: Asylpraxis afghanischer Frauen und Mädchen soll rückgängig gemacht werden
Diesen Sommer hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) entschieden, dass afghanische Frauen und Mädchen aufgrund der systematischen Verfolgung in Afghanistan Anrecht auf Asyl haben. Sofort wurde der Entscheid von rechts skandalisiert. Doch die von der SVP-Fraktion erzwungene ausserordentliche Session war nach wenigen Minuten wieder vorbei. Der Entscheid wurde vertagt.
Vorgeschichte aus theoretischer Perspektive: In der Schweiz herrscht Gewaltenteilung. Die Gewaltenteilung ist ein tragendes Organisations- und Funktionsprinzip der Verfassung eines Rechtsstaats. Durch das Prinzip der Gewaltenteilung, welche das Grundprinzip der Demokratie ist, soll eine gegenseitige Kontrolle und Machtbegrenzung der Staatsorgane erreicht werden. Gewaltenteilung soll auf diese Weise die Konzentration von Macht bei einzelnen Personen oder Institutionen eindämmen. Eine Person darf gleichzeitig nur einer der drei Staatsgewalten – Legislative, Exekutive und Judikative – angehören.
Vorgeschichte in der Praxis: SVP Nationalratskandidat und Ex Vize Chefredaktor bei der Weltwoche, Philippe Gut, welcher auch Journalist und «Campaigner» (https://gutcommunications.ch/offer/politik-und-campaigning/) ist, meint auf eine Anfrage, wie er es denn so hält mit der Gewaltentrennung: «Da gibt es nichts zu trennen, denn ich setze mich in allen meinen sich ergänzenden Tätigkeiten möglichst schwungvoll und konsequent immer für dieselben Werte und Ziele ein: mehr Freiheit, weniger Bevormundung, relevante Missstände aufdecken, Erfolgsfaktoren der Schweiz stärken.» In einem Artikel mit dem Titel «Asyl für fast alle Afghanen» warnte er davon, dass bald eine Million Afghan:innen in die Schweiz kommen könnten.
Publiziert wurde er – wen wundert’s – in der «Weltwoche», welche sich schon länger von journalistischen Standards wie der Gewaltenteilung zwischen Medien und Politik verabschiedet hat.
«Wir haben das Handwerk der politischen Kampagnenführung nicht in der Theorie gelernt, sondern in der Praxis erprobt», prahlt Gut, welcher sich unter dem Narrative «der Staat will dem einfachen Volk immer mehr vorschreiben und verbieten» als selbstlosen «Retter der Nation» gibt. Ach die FDP stimmte in die Skandalisierungskampagne mit ein und veröffentlichten eine Mitteilung, in welchem dem SEM «Heimlichtuerei» vorgeworfen wurde. Es habe die Praxisänderung ohne den Entscheid einer Parlamentskommission gefällt. Die Änderung sei umgehend rückgängig zu machen, sonst drohten wahlweise «irreguläre Sekundärmigration», ein «hohes Missbrauchspotential» oder ein «Terrorismus-Risiko».
Bereits im Januar 2023 hat die europäische Asylagentur EUAA (European Union Agency for Asylum) einen neuen Leitfaden erlassen, wonach «Frauen und Mädchen in Anbetracht der Politik der Taliban und der Umsetzung der Scharia im Allgemeinen von Verfolgung bedroht sind und daher Anspruch auf den Flüchtlingsstatus haben». Solche Praxisänderungen kann das SEM in eigener Verantwortung treffen und muss sie nicht publik machen. Der Vorwurf der
«Heimlichtuerei» trifft also nicht zu. Doch damit wollten sich die «besorgten» rechten Parteien nicht zufrieden geben und reichten die Motionen 23.4247 und 23.4241 (Detaillierte Ausführung in den Quellen) ein, welche die Aufhebung der aktuellen Praxis des SEM verlangen.
Doch die Forderung der SVP und der FDP, die Praxisänderung rückgängig zu machen, scheiterte sowohl im National- als auch im Ständerat und wurde zur Vorberatung zurück an die nach den Wahlen neu zusammengesetzte, vorberatende Kommission geschickt. Der Entscheidung wurde somit vertagt. «Ich halte das für einen Skandal», sagte SVP Nationalrat Rutz nach dem vertagten Entscheid des Nationalrates. «Es ist ein Skandal, dass der Bundesrat die Gesetzesüberschreitung des SEM nicht rückgängig gemacht hat. Dass aber das Parlament nicht darüber reden will, ist einigermassen fragwürdig.»
Einigermassen respektive massiv fragwürdig ist die Arroganz, mit welcher selbsterkorene «Freiheitskämpfer*innen» die Entscheide des SEM und des BVG (Bundesverfassungsgericht), welche auf aktuellen und detaillierten Analysen der Situation in Afghanistan beruhen, als «antidemokratische Heimlichtuerei» heraufbeschwören. Aus rechtsstaatlicher Sicht ist der einzige Skandal, mit welchem wir es in diesem konkreten Fall zu tun haben, dass das Parlament die Praxis des SEM diesbezüglich ändern soll. Diese stützt sich in diesem Fall auf das geltende Völkerrecht und wurde erst kürzlich durch das letztinstanzliche Gericht bestätigt. Sowohl in der Theorie als auch in der Praxis sollte das Parlament eine Politik verfolgen, welche mit dem Recht vereinbar ist. Dass das Recht immer mehr an die interessengeleitete, hetzerische, rechte Politik angepasst wird, ist ein weiteres Zeichen, dass der Rechtsstaat – und damit die demokratischen Werte welche von der SVP und der FDP ständig als zu verteidigen inszeniert werden – zumindest im Kontext der Asylpolitik mehr und mehr an Bedeutung verliert. Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht.
https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/asyl/afghanistan.html
https://www.woz.ch/2338/fdp-und-svp/gemeinsam-fuer-die-taliban/!RSCR4SXR8CT8
https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2023/asyl-fuer-afghanische-frauen-darf-nicht-infrage-
gestellt-werden
https://www.svp.ch/menschen/portrait/wahlen23-philipp-gut/
https://gut-communications.ch/wp-content/uploads/2023/09/WEW_37_008_EIL.pdf
Motionen:
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/amtliches-bulletin/amtliches-bulletin-die-verhandlungen?SubjectId=63094
https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20234241
Bild:
Was war eher gut?
Die City Card Bern wird konkret
Die Stadt Bern hat zusammen mit „Wir alle sind Bern“ ein Konzept für die solidarische Citiy Card vorgestellt: „Die City Card ist ein Symbol für eine solidarische und weltoffene Stadt; ein Zeichen der Zugehörigkeit aller Berner*innen. Die City Card gibt oder erleichtert den Zugang zu städtischen Dienstleistungen wie Kinderbetreuungsangeboten und zu Vergünstigungen.“ (Stadt Bern).
Die Karte ermöglicht es Sans-Papiers der Stadt Bern der Polizeirepression zu entkommen. Interessierte können sich bei der Beratungsstelle für Sans-Papiers melden.
https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/die-city-card-der-stadt-bern-nimmt-gestalt-an?fbclid=IwAR2OWkxc3-YGbShabHrXC07U5LsJNKsfPiIXAkKiyM898CvsBQlftYOv2Rc_aem_AUUUKGVgv6EJKShpbFQjaBZw4KcXkevl8DKebQp4H1MrOJpn4PxiMB_COhOWn3WK3GI
https://rabe.ch/2023/12/19/die-city-card-bern-wird-digital/
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/seit-2017-ein-thema-jetzt-soll-die-city-card-der-stadt-bern-kommen-155793282
https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/die-city-card-der-stadt-bern-nimmt-gestalt-an
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/berner-city-card-soll-digital-sein?id=12507645
Was nun?
Crowdfunding: Halbtax gegen Isolation
Hilf mit, damit mindestens 300 abgewiesene Geflüchtete, Sans-Papiers oder asylsuchende Personen ein Halbtax kaufen können und setze ein solidarisches Zeichen gegen die rassistische Lager- und Isolationspolitik!
https://www.crowdify.net/de/projekt/halbtax-gegen-isolation
Spendensammlung zur Unterstützung der Familie von Mike ben Peter
Der Verein „Soutien pour la Famille de Mike“ startet eine Spendenkampagne zur Unterstützung der Familie von Mike Ben Peter, der 2018 in Lausanne von der Polizei getötet wurde.
https://renverse.co/infos-locales/article/l-association-soutien-pour-la-famille-de-mike-4293
Wo gabs Widerstand?
Addbusting gegen die Basler Polizei
In Basel zierten tolle Plakate der Kampagne «Ganz Basel hasst die Polizei» die Trams. Auf ersten Blick glichen sie der offiziellen Kampagne der Kantonspolizei Basel-Stadt. Doch beim näheren Hinsehen wird alles klar.
https://www.blick.ch/schweiz/basel/ganz-basel-hasst-die-polizei-das-steckt-hinter-mysterioesen-plakaten-in-den-draemli-id19262075.html
Was steht an?
NO WEF Winterquartier
Das NO-WEF-Winterquartier ist eine jährlich in Bern stattfindende politische Gegenveranstaltung zum World Economic Forum. Vom 4.1.-7.1. geben uns linksradikale Organisationen aus der ganzen Welt Einblicke in ihre Bewegungen, die die Welt tatsächlich ändern – ganz im Gegensatz zum WEF, wo uns Staatsoberhäupter und Kapitalist*innen vorgaukeln, sie nähmen sich unseren Problemen an.
https://nowef-winterquartier.ch/
Tour de Lorraine: Solidarische Stadt!
Die Tour de Lorraine ist ein Widerstandsfest, welches im Jahr 2001 aus dem Protest gegen neoliberale Ausbeutung, das WEF und für eine nachhaltige Zukunft entstand. Als eigenständiges Politfestival stellen wir den Aufbau von Alternativen ins Zentrum. Je nach Thema bildet sich das ehrenamtlich arbeitende Kollektiv neu und ermöglicht Workshops, Podien, Kulturveranstaltungen und vieles mehr. Wichtiger Bestandteil ist die lange Nacht der Konzerte. Ein Eintritt öffnet die Türen zu 17 Lokalen rund um die Lorraine und der Erlös der legendären Soliparty wird an emanzipatorische Projekte verteilt.
https://www.tourdelorraine.ch/tdl2024-solidarische-stadt/
Lesens -/Hörens -/Sehenswert
Globale Unterstützung für Geflüchtete kollabiert
Weltweit sind immer mehr Menschen auf der Flucht. Die gesprochenen Hilfsgelder reichen längst nicht mehr aus. Auch Ugandas international gelobte Politik für Geflüchtete droht zu scheitern. Gleichzeitig ist die Aussicht, in einem Drittland in Sicherheit zu gelangen, schlechter denn je.
https://daslamm.ch/globale-unterstuetzung-fuer-gefluechtete-kollabiert/
Repackaging Imperialism The EU – IOM border regime in the Balkans
https://www.tni.org/en/publication/repackaging-imperialism