Medienspiegel 6. August 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++DEUTSCHLAND
Schleswig-Holstein: Lesbische Tunesierin mitten in der Nacht aus Klinik abgeschoben
Weil sie als Lesbe verfolgt wurde, flüchtete eine Tunesierin nach Europa. Als sie von ihrer drohenden Abschiebung erfuhr, unternahm sie einen Suizidversuch und kam in eine Klinik in Rickling. Dort wurde sie nun nachts von der Polizei abgeholt.
https://www.queer.de/detail.php?article_id=46548
-> https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Rickling-Abschiebung-aus-Klinik-nach-Suizidversuch-sorgt-fuer-Kritik,abschiebung978.html


+++GROSSBRITANNIEN
Facebook und Tiktok: London hofft in Kampf gegen Schmuggler auf Internet-Konzerne
Grossbritanniens konservative Regierung will mit Internet-Plattformen wie Facebook, Instagram und TikTok zusammenarbeiten, um Flüchtlinge von der Fahrt mit kleinen Booten über den Ärmelkanal abzuhalten.
https://www.blick.ch/politik/facebook-und-tiktok-london-hofft-in-kampf-gegen-schmuggler-auf-internet-konzerne-id18813618.html


+++MITTELMEER
Zwei Migrantenboote kentern vor Lampedusa – mehrere Tote befürchtet
Vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa sind am Wochenende zwei Migrantenboote gekentert und haben möglicherweise viele Todesopfer gefordert.
https://www.watson.ch/international/italien/902422049-zwei-migrantenboote-kentern-vor-lampedusa-mehrere-tote-befuerchtet
-> https://www.nau.ch/news/europa/zwei-schiffbruche-vor-lampedusa-mit-rund-30-vermissten-migranten-66566236
-> https://www.spiegel.de/ausland/fluechtlingsboote-vor-lampedusa-rund-30-menschen-werden-im-mittelmeer-vermisst-darunter-auch-kinder-a-4bf06c27-1d24-4d21-a1b6-b6ee9e9da76e
-> https://www.srf.ch/news/international/bootsunglueck-nahe-italien-mindestens-30-migranten-bei-lampedusa-vermisst
-> https://taz.de/Schiffbrueche-vor-Lampedusa/!5952536/
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-08/lampedusa-gefluechtete-bootsunglueck-italien
-> https://www.srf.ch/news/international/bootsunglueck-nahe-italien-polizeichef-zu-lampedusa-es-ist-ein-gemetzel-in-diesem-meer


Pullfaktor auf dem Mittelmeer ist widerlegt
Studie: Seenotrettung setzt keine Anreize für Migration. Am Wochenende verunglückten zahlreiche Geflüchtete
Die These des »Pull-Effekts« durch Seenotrettung im Mittelmeer ist wissenschaftlich unhaltbar. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175314.seenotrettung-pullfaktor-auf-dem-mittelmeer-ist-widerlegt.html
-> https://www.telepolis.de/features/Studie-Seenotrettung-foerdert-keine-Migration-9235781.html


+++GASSE
Sonntagszeitung 06.08.2023

Nach Urteil schlagen Staatsanwälte Alarm: Nun darf die Polizei Koksern das Pulver nicht mehr wegnehmen

Ein Entscheid des Bundesgerichts zu Cannabis hat laut Experten auch Folgen beim Vorgehen gegen harte Drogen. Bei den Justizbehörden ist nun Feuer im Dach.

Mischa Aebi

Weisses Pulver schnupfen gilt gerade wieder als schick. In Schweizer Städten finden sich im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hohe Konzentrationen an Kokainrückständen im Abwasser. Der Stoff ist leicht erhältlich, der Konsum nahm zu. Wegen keiner anderen illegalen Droge müssen so viele in Therapie.

Ab sofort werden es Kokser und Junkies noch einfacher haben.

Denn wer Kokain, Heroin oder Crack auf sich trägt, braucht sich künftig nicht mehr vor der Polizei zu verstecken. Der Konsum bleibt zwar illegal. Doch die Beamten dürfen die Drogen bei Kontrollen nicht mehr beschlagnahmen, wenn die Betroffenen sagen, dass sie den Stoff für den Eigenkonsum mit sich führen. Davon Profitieren dürften auch Strassendealer.

Zu der Lockerung kommt es wegen eines Urteils des Bundesgerichts von letzter Woche. Darin geht es eigentlich um Cannabis. Die Richter urteilten im Fall eines Mannes, dass die Polizisten ihm das Gras zurückgeben müssen, das sie ihm bei einer Kontrolle weggenommen hatten.

Das Gericht stellte klar, dass Gras, Hasch und andere Cannabisprodukte, soweit der Stoff dem Eigenbedarf dient, nicht beschlagnahmt und nicht vernichtet werden dürfen, weil der Besitz gemäss Betäubungsmittelgesetz straffrei sei. Die Staatsanwaltschaft hätte laut den Bundesrichtern gar nicht erst ein Strafverfahren einleiten dürfen.

Experten: «Urteil gilt auch für harte Drogen»

Nun zeigt sich, dass das Urteil nicht nur für Gras und Hasch gilt. Peter Albrecht, emeritierter Rechtsprofessor für Betäubungsmittelrecht, sagt: «Es ist klar, das Urteil gilt auch für harte Drogen.» Der Grund: Die vom Bundesgericht neu ausgelegte Gesetzespassage bezieht sich nicht nur auf Cannabis, sondern eben auf alle illegalen Suchtmittel.

Das bedeute, «dass Polizei und Staatsanwaltschaft künftig kleine Mengen Heroin oder Kokain oder Crack nicht mehr wegnehmen dürfen», wenn der Betroffene sagt, dass er den Stoff selber konsumieren wolle, so Albrecht. Zum gleichen Schluss kommt der auf Betäubungsmittelrecht spezialisierte Anwalt Stefan Schlegel. Die beiden Juristen sind vom Bundesgericht anerkannte Experten. Die Richter stützen sich im Cannabis-Urteil auf deren wissenschaftlichen Arbeiten.

Staatsanwälte wollen schnell handeln

Seit dem Verdikt des höchsten Gerichts ist Feuer im Dach bei Staatsanwaltschaften. Sie werden ihre langjährige Rechtspraxis auch bei harten Drogen über den Haufen werfen müssen. Beatrice Giger von der Staatsanwaltschaft St. Gallen sagt: «Die im Urteil aufgeworfene Thematik ist zentral.» Es brauche deshalb so «bald wie möglich eine national einheitliche Interpretation des Entscheids und gestützt darauf eine einheitliche Praxis».

Deshalb haben die St. Galler nach der Publikation des Urteils die «Initiative ergriffen» und die Problematik bei der Schweizerischen Staatsanwaltskonferenz (SSK) eingebracht. Die Ostschweizer erwarten laut Giger, dass die Konferenz bezüglich einer neuen Rechtspraxis ein «national einheitliches Vorgehen entwirft». Die SSK hat sich der Sache bereits angenommen.

Auch für die Zürcher Staatsanwaltschaft ist klar, dass sich das neue Cannabis-Urteil auf den Umgang mit harten Drogen auswirken wird. In Zürich will man den Entscheid analysieren und zusammen mit der Polizei «die Erkenntnisse im Rechtsalltag in die Wege leiten». Auch die Zürcher sind mit dem Problem von sich aus an die SSK gelangt und plädieren für eine nationale Lösung.

Darf man 25 Konsumeinheiten Kokain behalten?

Eine Frage muss den Justizbehörden jetzt Kopfzerbrechen bereiten: Wie viel Gramm einer Droge darf eine Person mit sich tragen, ohne dass die Polizei den Stoff bei einer Kontrolle beschlagnahmen darf? Nur bei Gras und Hasch ist der Fall klar. Im Gesetz steht, dass der Besitz von bis zu 10 Gramm Cannabis straffrei ist. Das ist Stoff für rund 20 Joints.

Diese Menge darf die Polizei gemäss dem neuen Urteil den Kiffern nun auch nicht mehr wegnehmen. Zu allen anderen Drogen macht das Gesetz nur vage Angaben: Straffrei sei jene Menge, die dem Eigengebrauch diene, heisst es.

Rechtsexperten sagen, damit seien so viele Gramm einer Droge gemeint, wie ein Junkie oder ein Kokser in einer Woche konsumiere. Denn das sei der Wille des Parlaments gewesen, als es das Gesetz beschlossen hatte. Allerdings: Auch diese Präzisierung lässt erheblichen Spielraum offen.

Die Staatsanwaltschaft St. Gallen hat im Moment als Grenze zwei Gramm Kokain festgelegt. Das ist Stoff für rund 25 Konsumeinheiten respektive 25 Linien, wie Kokser sagen würden. Einige Kantone haben die Grenze höher angesetzt, andere tiefer, und etliche haben gar keine eindeutige Regelung.

Wird Schweiz zum Paradies für Kleindealer?

Relevant wird die Frage insbesondere wegen der Strassendealer. Denn häufig tragen Drogenhändler auf der Gasse nur relativ kleine Mengen auf sich. Sie können bei Polizeikontrollen nun behaupten, dass sie den Stoff bloss für den Eigengebrauch mitführten. In dem Fall muss die Polizei das so akzeptieren. Beschlagnahmt sie den Stoff trotzdem, riskiert sie später Sanktionen vom Gericht.

Lässt die Polizei den Dealer hingegen laufen, kann dieser die Drogen ein paar Minuten später seelenruhig verkaufen. Der Strassenpreis für zwei Gramm Kokain liegt aktuell übrigens bei etwa knapp 200 Franken.
(https://www.derbund.ch/nun-darf-die-polizei-koksern-das-pulver-nicht-mehr-wegnehmen-125665936938)
-> https://www.blick.ch/politik/bundesgerichtsentscheid-mit-folgen-polizei-darf-koks-nicht-mehr-beschlagnahmen-id18813876.html
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/die-polizei-darf-harte-drogen-nicht-mehr-beschlagnahmen-66566128


+++POLIZEI DE
Chroniken gegen Polizeigewalt
Initiativen beobachten und dokumentieren den Missbrauch des polizeilichen Gewaltmonopols
Die Polizei in Deutschland ist kaum kontrollierbar, umso wichtiger sind Initiativen von unten. Sie betreuen Archive, geben den Betroffenen einen Namen und erzählen deren Geschichte.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175319.mouhamed-drame-chroniken-gegen-polizeigewalt.html


Mouhamed Lamine Dramé: Rassistische Täter-Opfer-Umkehr
Vor einem Jahr wurde der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé von der Polizei erschossen
Vor einem Jahr wurde der 16-jährige Mouhamed Lamine Dramé von der Polizei erschossen. Boulevard und Polizei zeichneten früh ein falsches Bild von dem Jugendlichen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175318.polizeigewalt-mouhamed-lamine-drame-rassistische-taeter-opfer-umkehr.html


+++FRAUEN/QUEER
Sonntagskolumne: «Auffallend gründliche Überwachung» durch die Polizei?
Vor einer Woche hat die BernPride stattgefunden. Was für ein wunderbares Bild, wie sich der Umzug durch die alten, ehrwürdigen und mit Regenbogenfahnen geschmückten Gassen schlängelte. Schier endlos schien die bunte Parade. Angeführt wurde die Kundgebung von der Polizei – u.a. auch mit einem Kamerawagen. Überwachte die Polizei die queere Demonstration «auffallend gründlich», wie die Berner Zeitung am letzten Montag schrieb?
https://stinknormal.blog/2023/08/06/sonntagskolumne-auffallend-gruendliche-ueberwachung-durch-die-polizei/


+++RECHTSPOPULISMUS
Nein, »Anti Gender« ist nicht Anti-Establishment
Rechte Regierungen in ganz Europa leiten staatliche Gelder an reaktionäre Gruppen weiter – im Namen des Widerstands gegen die »Gender-Ideologie«. Ihr Kampf gegen »die Eliten« ist die reinste Mogelpackung, erklärt Elżbieta Korolczuk im JACOBIN-Interview.
https://jacobin.de/artikel/nein-anti-gender-ist-nicht-anti-establishment-polen-tschechien-rechtspopulismus-konservative-regierungen-lgbtq-frauenrechte-elzbieta-korolczuk/


+++HISTORY
Vom Umgang mit Karl Mays Erzählungen: Die Deutschen und ihr Winnetou
Ein Dutzend Freiluftbühnen zeigt jeden Sommer Karl-May-Geschichten. Geht das noch, in Zeiten von Debatten über Redfacing und kulturelle Aneignung?
https://taz.de/Vom-Umgang-mit-Karl-Mays-Erzaehlungen/!5944223/



KANDIDATINNEN FÜR DEN PRIX COURAGE 2023
Sie machten den Babyhandel aus Sri Lanka publik
Sarah Ineichen und Celin Fässler wurden als Babys aus Sri Lanka in die Schweiz gebracht. Mit der Suche nach ihren Wurzeln deckten sie einen riesigen Adoptionsskandal auf.
https://www.beobachter.ch/gesellschaft/sie-machten-den-babyhandel-aus-sri-lanka-publik-620777


Aufruhr an Zuger Maturafeier 1973: Wie eine Rede von Jo Lang für grossen Wirbel sorgte
Eine Rede, die zu reden gab: Vor 50 Jahren hielt Jo Lang in Zug eine Maturaansprache, die für viel Aufsehen sorgte. Dank der Intervention von Erziehungsdirektor Hans Hürlimann lief die Veranstaltung damals nicht aus dem Ruder.
https://www.zentralplus.ch/geschichte/wie-eine-rede-von-jo-lang-fuer-grossen-wirbel-sorgte-2568170/



NZZ am Sonntag 06.08.2023

Warum werden die Opfer der Sklaverei totgeschwiegen?

Die Benin-Bronzen aus Deutschland sowie der Schweiz landen bei den Nachfolgern der Sklavenhändler. Das europäische Konzept von Privateigentum verhindert eine gerechte Lösung.

Brigitta Hauser-Schäublin

Insgesamt 1130 Benin-Artefakte hat Deutschland im vergangenen Dezember als nationales Kulturgut Nigeria übereignet. Diesen März hat sie der damalige Staatspräsident Buhari kurz vor seinem Amtsende dem König von Benin geschenkt und als dessen Privateigentum deklariert.

Im vergangenen Monat gratulierte der Nachfolger, Präsident Tinubu, dem König zu seiner Rückgabekampagne und sicherte ihm Unterstützung beim Bau eines Privatmuseums zu. Damit bleibt unklar, ob die nigerianische Bevölkerung die von Deutschland an das «nigerianische Volk» übergebenen Werke je zu Gesicht bekommen wird.

Pikanterweise handelt es sich bei den Benin-Bronzen um das direkte Resultat des vom Königreich Benin betriebenen Sklavenhandels. Nun kehren sie also, in kostbare Kunstobjekte verwandelt und von ihrer blutigen Ursprungsgeschichte gereinigt, an den Ort ihrer Entstehung zurück und unterstehen der exklusiven Verfügungsgewalt der Nachfahren der ehemaligen Sklavenhändler.

Auch in der Schweiz befasst man sich mit Benin. Im Unterschied zu Deutschland hat die am Museum Rietberg angesiedelte Benin-Initiative Schweiz schon gar nicht vor, einen «Umweg» über den nigerianischen Staat zu machen. Die hier vorhandenen umstrittenen 53 Benin-Bronzen sollen direkt dem König (Oba) «zurückgegeben» werden.

Wer wird entschädigt?

Der Umgang mit Sklavenhaltern und ihren Nachfahren zeigt es: Geschichte wiederholt sich nicht, aber dieselben, in der sozioökonomischen Struktur verankerten Muster entfalten immer wieder von neuem ihre Wirkkraft. Nicht die Opfer, die Sklaven, erhalten Wiedergutmachung, sondern die enteigneten Sklavenhalter, damals wie heute.

Nach der Abschaffung der Sklaverei in den USA sowie in den französischen und britischen Kolonien in der Karibik waren es die Sklavenhalter, die riesige Entschädigungen für den «Verlust» ihrer Sklaven erhielten. Die Sklaven gingen leer aus. Ihr Lohn bestand aus «Freiheit». Man entliess sie ins wirtschaftliche und soziale Nichts. Die Plantagen und Sklaven waren Profit generierende Produktionsmittel und deshalb Privateigentum. Die Sklavenhalter, nicht die Sklaven, galten als Opfer.

Privateigentum an Produktionsmitteln – ergänzt durch das Prinzip der Gewinnmaximierung und der Steuerung der Wirtschaft über den Markt – ist ein zentraler Baustein einer kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die transatlantische Plantagenwirtschaft war seit dem 16. Jahrhundert eine treibende Kraft in deren Entwicklung. Nach der in Europa entstandenen kapitalistischen Logik ist Privateigentum unantastbar. Es untersteht dem Schutz des Staates.

Privateigentum wurde sogar – so will es die auf europäischem Hintergrund entstandene Menschenrechtserklärung – zu einem «Grundrecht» des Menschen. Privateigentum erfuhr, wie der Wirtschaftshistoriker Thomas Piketty in seinem Buch «Kapital und Ideologie» schreibt, eine Heiligsprechung. Er weist nach, dass diese Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung samt ihrem Credo als eine Folge der Aufklärung, der Französischen Revolution und der Abschaffung der Ständegesellschaft entstand.

Wem Eigentum weggenommen wird, hat Anspruch auf Entschädigung. Das war das Grundprinzip, das sowohl bei der kolonialen Plantagenwirtschaft zur Anwendung gelangte wie auch jetzt bei den Benin-Bronzen.

Haiti musste sich freikaufen

Der Sklavenaufstand in der französischen Kolonie Saint-Domingue im Jahr 1791 resultierte nach erbitterten Kämpfen 1804 in der Ausrufung des Staates Haiti. Erst 1825 gab Frankreich seine Kolonie «frei» – aber unter drakonischen Auflagen.

Freigeben bedeutete Freikaufen: Haiti wurde dazu verpflichtet, 150 Millionen Goldfrancs – das entspricht heute 40 Milliarden Euro – als Kompensation für die Enteignung der französischen Plantagenbesitzer zu bezahlen. Nach Piketty stellte dieser Betrag über 300 Prozent des haitianischen Nationaleinkommens von 1825 dar. Hinzu kamen jährliche Zinsen im Umfang von 15 Prozent des Sozialprodukts.

Haiti hat diese «Schulden», die das Land in den Ruin stürzten, bis 1950 abbezahlt, nicht zuletzt durch die fast vollständige Abholzung seiner Regenwälder für den Verkauf von Tropenholz. Investitionen in die Infrastruktur des Landes waren kaum möglich. Eine Rückzahlung hat Frankreich nie in Erwägung gezogen. Die von Präsident Macron gross angekündigte und auch in der Schweiz als Vorbild gefeierte postkoloniale Rückgabe von ein paar Skulpturen – also symbolischem Kapital – an die Republik Benin erscheint in diesem Zusammenhang als Augenwischerei. Soziale Gerechtigkeit sieht anders aus.

Auch Grossbritannien wandte bei der Abschaffung der Sklaverei – gemäss der Slavery Abolition Act von 1833 – das Prinzip des Schutzes des Privateigentums und damit der Entschädigung der Sklavenhalter an. Dabei wurden Bewertungstabellen mit dem Marktwert der Sklaven nach Alter, Geschlecht und Produktivität erstellt, um eine möglichst «gerechte» Entschädigung für die erlittene «Enteignung» der Plantagenbesitzer von ihren menschlichen Produktionsmitteln zu erzielen.

20 Millionen Pfund Sterling flossen an rund 4000 Sklavenhalter. Dies, so Piketty, entspräche heute etwa einem Betrag von 120 Milliarden Euro, also rund 30 Millionen Euro, die der Staat an jeden dieser 4000 Sklavenhalter entrichtete. Dafür mussten die Staatsschulden massiv erhöht werden.

Das Abstottern dieser «Wiedergutmachung» dauerte bis 2015. Bezahlt haben diese letztlich die britischen Steuerzahler. Im Siedlerstaat USA führte die Diskussion über Abschaffung der Sklaverei und «Entschädigung» der Sklavenhalter 1861 zum Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südstaaten. Eine Wiedergutmachung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit, der Sklaverei, gab es nie.

Sklavenhandel und Menschenopfer in afrikanischen Königreichen

Dasselbe gilt auch für afrikanische Sklavenhalter-Gesellschaften. Die Nachfahren der von diesen Gesellschaften – Dahomey (heute Republik Benin), Ashanti (heute Ghana), Benin und dem Kalifat Sokoto (beide heute in Nigeria) – gejagten, versklavten und verkauften Menschen haben nie eine Entschädigung erhalten für das, was ihren Vorfahren angetan wurde.

Das gilt auch für die zur Ware degradierten Menschen, die schon in vorkolonialer Zeit von West- und Zentralafrika über die Transsahararoute in den Norden des Kontinents und an den indischen Ozean verschachert wurden.

In die Neue Welt wurden zwischen dem 16. und dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie der Afrika-Historiker Andreas Eckert schreibt, rund elf Millionen Sklaven deportiert. Ganze Landstriche wurden durch die «Sklavenproduktionsmaschinerie» mächtiger Königreiche entvölkert. Selbst in den heutigen afrikanischen Staaten wurden die Nachfahren der millionenfach in die USA, die Karibik und nach Brasilien verkauften Mitbürger nie als Opfer früherer Despoten anerkannt.

Keines der Königreiche, in denen auch die Tötung von Sklaven als Menschenopfer im Herrschaftskult institutionalisiert war, hat sich für die entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen bei den Nachfahren der Tausende von Ermordeten entschuldigt oder gar Entschädigung angeboten.

Nach der Unterwerfung Benins erklärten die Briten die Sklaven als frei. In grosser Zahl strömten die Freigelassenen in die von den Briten verwüstete Königsstadt Benin. Aus Furcht, wieder eingefangen und versklavt zu werden, verlangten viele von den Kolonialbeamten Zertifikate und bestanden darauf, dafür – sozusagen als Freikauf, analog zur Schuldknechtschaft, die es in Benin auch gab – Geld zu bezahlen.

Die Nachfahren der Sklaven wurden, so schreibt der nigerianische Historiker Philip Igbafe, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mit Verachtung behandelt. Das Thema, Opfer der damaligen Herrscher gewesen zu sein, ist bis heute mit Scham behaftet. Im Eliten-Diskurs des Gliedstaates Edo mit Hauptstadt Benin City kommen die Opfer gar nicht vor.

Auch die postkoloniale Provenienzforschung anerkennt nur die kolonial enteigneten Sklavenhändler als Opfer. Deren Opfer werden buchstäblich totgeschwiegen – auch von der deutschen Politik. Es mutet deshalb grotesk an, dass die «Wiedergutmachung» kolonialen Unrechts – die Enteignung der durch Sklavenhandel finanzierten Benin-Bronzen – darin besteht, den Nachfahren dieser Despoten, die am Anfang der Kette des Sklavenhandels standen, ihr Corpus Delicti «zurückzugeben».

Die Macht der Ahnen

Die Akzeptanz der Tatsache, dass die Benin-Bronzen aus deutschen Museen kein öffentliches Kulturgut sind, sondern neuerdings Privateigentum des Benin-Königs, zeigt zudem, wie sehr auch politische Akteurinnen das kapitalistische Eigentumsverständnis verinnerlicht haben. Dasselbe gilt für die Benin-Initiative Schweiz.

Dabei waren die Benin-Bronzen nie das Eigentum des Königs, über das er als vermeintlich «rechtmässiger» Eigentümer nach Belieben verfügen konnte, wie dies der europäische Eigentumsbegriff haben will. Sie waren keine Objekte und schon gar nicht Waren.

Die Gedenkköpfe repräsentierten mächtige Ahnen, auf deren Unterstützung der Oba zur Legitimation seiner Herrschaft angewiesen war. Mit ihnen kommunizierte er, in Kooperation mit Priestern und Chiefs, auch mittels (Menschen-)Opfern. Gemäss diesen Vorstellungen wurde er nach seinem Tod selbst zu einem Ahnen und damit zu einem der spirituellen Gebieter seines Nachfolgers.

In der Verkürzung der Benin-Bronzen auf hochpreisige Kunstobjekte, die angeblich einem Privateigentümer gehörten und deshalb diesem «zurückgegeben» werden müssen, zeigt sich die Wirkmacht desselben Musters, wie es auch bei der «Wiedergutmachung» der enteigneten Plantagenbesitzer zur Anwendung kam.

Kulturgüter wie die Benin-Bronzen sind jedoch ein Welterbe, denn sie verkörpern materiell und ideell die Geschichte der Globalisierung bis auf den heutigen Tag: Das Rohmaterial der frühen Bronzen in Form von Messing-Armreifen, Manillen, stammte aus dem Rheinland. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert verkaufte das Handelshaus der Fugger sie nach Portugal, von dort gelangten sie nach Westafrika; später waren es Manillen aus Birmingham und Bristol. Sie dienten als Währung im Tausch gegen Menschen, welche die Benin-Könige bei Angriffskriegen gegen benachbarte Gebiete jagten und versklavten.

Der Massenimport der begehrten Manillen bewirkte dank ausgezeichneten Handwerkern und Künstlern eine Blüte der Bronzekunst, vor allem der Reliefplatten und Skulpturen. Deren Meisterschaft, ebenso wie die Opfer der Kriegszüge, die ruchlosen Geschäftemachereien der afrikanischen und europäischen Sklavenhändler mit Menschen, der Transatlantik-Reedereien und der Sklavenhalter jenseits des Atlantiks: All das ist in die Bronzen eingeschrieben.

Mit dem Lebenslauf der Bronzen ging ein Bedeutungswandel einher: Als Verkörperung von Ahnen waren sie Herrschaftsinstrumente und Gegenstand der Verehrung. Durch die britische Unterwerfung Benins verloren sie ihren heiligen Charakter; sie wurden zur Kriegsbeute, zu Waren, die auf dem Kunstmarkt verkauft und zu Privateigentum wurden. Ein Grossteil gelangte als Kulturgut in öffentliche Museen weltweit, wo sie erst zu dem gemacht wurden, was sie heute sind: ein Weltkulturerbe ersten Ranges.

All jene, deren Handeln und Leiden in den Artefakten verankert sind, haben Rechte daran. Ihnen und denjenigen, die mit ihnen verbunden sind – uns allen! –, steht Miteigentum zu. Es wäre an der Zeit, den exklusiven Eigentumsbegriff für Kulturgüter zugunsten eines gemeinschaftlichen Eigentumsbegriffs aufzugeben. «Shared heritage» eben.

Brigitta Hauser-Schäublin ist Publizistin und Ethnologin. Die Baslerin lehrte von 1992 bis 2016 an der Universität Göttingen und forscht zu Ethnologie des Raums, Gender, kulturellem Erbe sowie kulturkritischen Fragen.



Umstrittene Benin-Bronzen

1130 Kunstwerke aus Benin hat Deutschland Nigeria übereignet. Die dortige Regierung übergab sie dem König von Benin.

53 mutmasslich geraubte Benin-Bronzen sind in Schweizer Museen. Die Benin-Initiative Schweiz prüft eine «Rückgabe» an den König von Benin.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/kultur/warum-werden-die-opfer-der-sklaverei-totgeschwiegen-ld.1749788)