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+++LUZERN
Weitere Asylsuchende erwartet: Kanton Luzern bereitet Notunterkünfte für Herbst vor
Die Unterbringung von Asylsuchenden ist und bleibt für den Kanton Luzern eine Herausforderung. Die sich jedoch noch verschärfen könnte: Bis Ende Jahr erwartet der Kanton 950 weitere Zuweisungen des Bundes.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/kanton-luzern-bereitet-notunterkuenfte-fuer-den-herbst-vor-2568424/
+++THURGAU
blick.ch 05.08.2023
Schweiz schafft burundische Grossfamilie nach Kroatien aus – Pfarrer Edwin Stier aus Kreuzlingen TG fährt hinterher: «Töpfe der Kirche sind prallvoll – helfen ist Pflicht»
Pfarrer Edwin Stier aus Kreuzlingen TG fährt 1000 Kilometer nach Kroatien, um einer geflüchteten Familie aus Burundi zu helfen. Eine Reise ins Ungewisse.
Rebecca Wyss
Die Müdigkeit drückt auf seine Augen, es ist kurz nach neun Uhr abends, und seit vierzehn Stunden ist er schon mit seinem Citroën unterwegs, für ihn nur: «Zitrönchen». Und ja, ein Stück Fleisch, ein Bierchen und ein Bett, das wär jetzt schön. Doch Edwin Stier, sechzig Jahre alt, ist auf einer Mission.
Er parkiert das Auto neben dem umzäunten Asylzentrum, kämmt sich den grauen Haarkranz um die Glatze, knöpft sein blaues Hemd zu und steckt seinen Kollar, den weissen Priesterkragen, an. «So könnte es klappen», sagt er und lächelt, er weiss um die Wirkung seines Aufzugs.
Edwin Stier ist katholischer Pfarrer des Pastoralraums Kreuzlingen im Thurgau, eine Grosskirchgemeinde mit rund 10’000 Gläubigen. Sonst predigt er, tauft und verheiratet.
Jetzt steht er in Kutina, einem kroatischen Städtchen voller vom Wind abgewetzter Nationalflaggen. Lila (15), Beecky (13), Edna (12), Samuel (10), Joshua (8), die Zwillinge Ben Israel (6) und Ben Moïse (6) sowie Mutter Olive Banyiyezako (39) und Vater Eric Ntibarufata (46) warten auf ihn. Eine Familie aus Burundi, Ostafrika, Geflüchtete.
Sie stehen in Trainerhosen beim Eingang des Asylzentrums, als Pfarrer Stier auf das Backsteinhaus zu marschiert. Er setzt ein Lächeln auf, gibt den verdutzten Wächtern mit Bürstenschnittfrisuren die Hand und stellt sich vor. Als gläubiger Katholik, wie es die meisten Kroaten sind, jagt man keinen Priester davon. Er darf zur Familie.
Die Buben schlingen sofort ihre Ärmchen um ihn. Er segnet sie mit einem Kreuzchen auf der Stirn. Nun haben sie eine Antwort auf ihre bohrende Frage, wo «le père» ist, und wann er sie holen kommt. Die Eltern stehen mit zusammengesunkenen Oberkörpern da, Mutter Olive sagt leise: «Sie sind gekommen, mon père.»
Am Anfang dieser Reise steht dieses Versprechen. Pfarrer Stier hat es ihnen gegeben. Und sich selbst. Am 19. Juli 2023.
Eine Ausschaffung mit Folgen
Es ist der Tag, an dem Kantonspolizisten die neunköpfige Familie in aller Herrgottsfrühe im Asylzentrum im Thurgauer Hefenhofen aus den Betten holen. Unangekündigt. Als sie die Mutter vor den Augen der Kleinen mit Handschellen fesseln, alle in Transporter verfrachten und sie mit einem Sonderflug nach Kroatien ausschaffen. Pfarrer Stier ist an jenem Morgen dabei, Vater Eric hat ihn angerufen.
Die Bilder von der Ausschaffung bekommt der Pfarrer später nicht mehr aus dem Kopf. Er habe nicht den Mut gehabt, sich gegen das Nein der Beamten durchzusetzen und einfach mitzufahren. Er habe sie allein gelassen. «Ich schäme mich.»
Noch am selben Tag lädt er mich als Journalistin ein, ihn zu begleiten. Ich solle mir selbst einen Eindruck verschaffen. Kurz darauf sitzen wir frühmorgens im Citroën mit einem Rosenkranz auf der Konsole und dem Kofferraum voller Chips für die Kinder. Pfarrer Stier wäre jetzt eigentlich auf dem Weg nach Padua, seinem Lieblingsort in Italien, weil dort Antonius (1195–1231) wirkte – Schutzheiliger der Kinder und Frauen. Er wäre jetzt im Urlaub, doch, sagt er: «Ich könnte es nicht geniessen.»
Er tätschelt das Lenkrad, «mein C4le», sagt er, der so selbstverständlich überall ein «le» dranhängt – «Gschöpfle», «Mädle», «Bebele» – wie wir bei uns ein «li». Als selbsternannter «Autospinner» mit «Auto Bild»-Abo würde er mehr zu seinem Wagen erzählen, fiele ihm nicht plötzlich ein Mercedesfahrer mit einem Huper ins Wort. Hupen reizt das schwäbische Gemüt. Pfarrer Stier schmettert dem «Kärle» ein «jawohl, ich hab dich lieb» entgegen. So hält er es im Leben: Kommt ihm einer dumm, spricht er für ihn einen Segen, hofft, dass jener den gleichen Frust nicht zu Hause an seiner Frau auslässt.
Pfarrer Stier denkt mit dem Herzen. Er handelt aus dem Bauch heraus. So lässt sich diese Aktion erklären. Was sein Plan ist, ist schwer zu durchblicken. Klar ist nur: Er will jetzt da runter. Schnell. Will schauen, ob es ihnen gut geht. Allen voran: den Kindern. Um sie hat er am meisten Angst.
Vor einem halben Jahr flüchtete die Familie über den Balkan in die Schweiz. Sie waren allein, sprachen kaum, assen wenig. Suchten dort Geborgenheit, wo sie sie in Burundi immer spürten: in der Kirche.
Jeden Sonntag sassen sie in Pfarrer Stiers Gottesdienst. Sieben schwarze Kinder in einer Kirchenbank im Thurgau, das fällt auf. Pfarrer Stier sprach sie an.
Damit fing alles an. Schnell kümmerte sich ein kleines Team von Kirchgemeindemitgliedern um die Familie. Frauen, teils über achtzig, kochten für sie, kauften den Buben Trottinette, Rucksäcke für die Schule.
Als die Familie im Frühling den Wegweisungsentscheid erhielt und klar war, dass sie gehen musste, war für die Frauen und Pfarrer Stier klar: Wir lassen das nicht zu. Sie schrieben Briefe, schreiben sie bis heute, an Amnesty International, an Asylorganisationen, an die Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider – zwei Mal!
Ständig rufen die Frauen nun Pfarrer Stier an. Sie schlafen kaum, sind in Sorge. Sie haben nicht mit der Ausschaffung gerechnet. Fragen, was er vorhat. Irgendwann nach der slowenischen Grenze sagt er im Auto: «Vielleicht muss ich sie auch einfach dort rausholen.»
Ein alter Bekannter mit einem Transporter würde ihm helfen, würde sie mit ihm notfalls illegal aus Kroatien rausschaffen, ein Anruf reicht. Pfarrer Stier weiss: Darauf steht Gefängnis. Sich für Menschen in Not in Schwierigkeiten bringen – es wäre nicht das erste Mal.
Zu Hause werden sie verfolgt
Um welche Not handelt es sich bei der burundischen Familie? Was bewegt die Eltern von sieben Kindern dazu, alles aufzugeben und sich den Gefahren einer Flucht auszuliefern?
Tag zwei nach Pfarrer Stiers Ankunft in Kroatien. Schon am frühen Morgen schreibt ihm eine Frau in einer Lebenskrise aus der Schweiz, die in seine Gebete aufgenommen werden möchte. Mehrmals am Tag tut er das. Mit dem Morgenpsalm frühmorgens, dem Laudes, fängt es an. Es ist mehr als ein Ritual. So pflege er seine Beziehung zu Gott, sagt er. «Wenn man das als Priester nicht tut, wird man schräg.» Man verliert die Kraft, für andere da zu sein. Und das braucht er nun.
Bis vor zwei Jahren lebte die Familie in Burundi in Frieden. Die Mutter arbeitete auf der Bank, der Vater bei einem Telekommunikationsunternehmen. Sie besassen ein Haus und ein Auto. Mittelstand. Dann gerieten sie ins Visier der Behörden. Die Umstände sind so kompliziert wie der Konflikt, der eine Blutspur durch das Land zieht. Amnesty International weiss: Der Hutu-Präsident Évariste Ndayishimiye lässt vermeintliche Oppositionelle, vor allem Tutsis, verhaften, foltern und töten. Allein 258’272 Menschen sind deshalb 2022 aus Burundi in die Nachbarländer geflüchtet.
Die Eltern Eric und Olive haben Tutsi-Verwandte, gelten als Tutsis. Etliche Male durchsuchte die Polizei ihr Haus, sagen sie. Irgendwann kam ein Fahndungsbefehl wegen Gefährdung der Staatssicherheit gegen den Vater, der der Redaktion vorliegt. Im Juni 2022 begann die Flucht.
In Kroatien, ein paar Monate später, nahmen die Beamten ihre Fingerabdrücke. Es gilt damit als Erstaufnahmestaat und ist zuständig für das Asylverfahren. So will es das Dublin-Abkommen. Doch Kroatien unternahm damals nichts, schickte sie bloss fort. Wegen «Dublin» hat die Schweiz ihren Asylantrag abgelehnt und sie nun hierher zurückgeschafft, ohne die Fluchtgründe zu prüfen.
Pfarrer Stier fährt sie nun gestaffelt zu einem Restaurant in Kutina. Sie sollen etwas Richtiges essen. Die Buben essen einen Burger und zeichnen. Die Eltern rühren ihre Pizza kaum an. Die Ausschaffung, die Eindrücke, alles ist noch frisch.
Die Mutter erzählt, wie die Beamten sie und ihre älteste Tochter gefesselt haben. Davon, dass sie nicht mitgehen wollten. Dass sie keine Hose habe anziehen dürfen. Dass sie aus Angst während der Fahrt an den Flughafen habe erbrechen müssen. Von den Tränen und Schreien ihrer Buben.
Der Vater schämt sich, weil er an jenem Morgen vor ihnen zusammengebrochen ist, er sagt: «Ich habe als Vater versagt.» Und verstummt, als ihm einer der Buben eine Zeichnung in die Hand drückt: ein Flugzeug, mehrere Kastenwagen und grosse Köpfe, die neun kleine Köpfe mit Ärmchen und Beinchen in Betten bedrängen.
Wie rechtfertigen die Behörden das Vorgehen in diesem Fall?
Der Sprecher des Migrationsamts Thurgau schreibt auf Anfrage: Handfesseln seien bei unkooperativem Verhalten der Ausreisepflichtigen die Regel. Das diene auch dem Eigenschutz der Einsatzkräfte. Und: Die Mutter habe sich geweigert, eine der im Hausrat zur Verfügung stehende Hose anzuziehen.
Der Sprecher des Staatssekretariats für Migration schreibt, er könne wegen des Daten- und Persönlichkeitsschutzes keine Aussagen zum Einzelfall machen.
Er versorgt sie mit dem Nötigsten
Pfarrer Stier tut das, was er immer macht, wenn Menschen in schwierigen Situationen stecken: Er hört zu. Spendet Trost. Betet. Strahlt Ruhe aus. Doch in ihm drin rumort es. Die Wächter der Asylunterkunft, die Behörden – keiner sagt etwas. Niemand weiss, wie es für die Familie weitergeht. Die Ungewissheit treibt ihn um. Treibt ihn an.
Nach dem Essen fährt er mit Olive, Eric und den Kindern zum Supermarkt. Sie haben kein Geld, brauchen Zahnbürsten, ihre liegen noch in der Schweiz. Die Buben streunen durch die Gänge, inspizieren jedes Spielzeugauto, jede Action-Figur, rühren aber nichts davon an. Die Mutter legt von den Äpfeln, Orangen und vom Saft immer nur zwei Stück in den Einkaufswagen. Sie traut sich nicht, richtig zuzulangen. Pfarrer Stier schüttelt den Kopf, packt Ware nach und sagt: «Ich komme mir so gönnerhaft vor. Aber die brauchen die Sachen. Fertig.»
Später am Abend gönnt er sich selbst ein gutes Nachtessen. Pfarrer Stier liebt saftige Steaks, mit viel Rohschinken gefüllte Sandwiches, Gummibärchen. Manchmal ein bisschen zu sehr. Das Hemd spannt jetzt mehr als sonst über seinem Bauch. Pfarrer Stier ist ein Stress-Esser. Hochzeiten, Taufen, Kommunionsfeiern, Gottesdienste – sie geben ihm den Takt vor. Und der schlägt schnell. Während die anderen am siebten Tag ruhen, steht er bis zu vier Mal auf der Kanzel. So will er es haben, sagt er. «Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.» Er hat sich dafür entschieden: für ein Leben im Dienste Gottes und für die Menschen. Und dafür bringt er sich auch schon mal in Schwierigkeiten.
Als er noch Pfarrer in Süddeutschland war, gab er während zehn Jahren insgesamt 100’000 Euro für Bedürftige aus. Rund 70 Familien half er zügig, pragmatisch, unbürokratisch. Der Haken: Er verbuchte es nicht anständig. Keiner wusste davon. Die Kirchgemeinde hatte keine Freude. Doch, und das stellte eine Untersuchung fest: Er hatte sich nicht selbst bereichert. Die Sache ging gut aus. Darauf angesprochen lächelt er und sagt: «Die Töpfe der Kirche sind prallvoll, zu helfen ist unsere Pflicht.»
Die folgenden Tage in Kroatien sind zäh. Die Mutter und die älteste Tochter wollen ihre Sachen packen und weglaufen. In Deutschland, glauben sie, hätte die Familie bessere Chancen. Pfarrer Stier redet ihnen ins Gewissen: Wartet ab. Habet Vertrauen. Denkt an die Kinder!
Die Ohnmacht macht ihn rastlos. Er fährt zwischen Hotel und Asylunterkunft hin und her. Hängt dauernd am Telefon. Holt Rat bei der Caritas vor Ort. Am Ende steht er in der Hauptstadt Zagreb bei den Jesuiten in der Stube, der Orden kümmert sich um Geflüchtete. Das ist ein Wendepunkt. Pfarrer Stier erfährt, dass in einem alten Hotel in Zagreb eine kleine Gemeinschaft von Geflüchteten aus Burundi lebt. Die Eltern arbeiten, die Kinder gehen zur Schule. Ihre Rechte sind gewahrt. Und Eric, Olive und die Kinder sind nicht allein.
Ein letztes Mal setzt er sich in sein «Zitrönchen» und fährt zu Vater Eric. Bekniet ihn, in Kroatien zu bleiben. Er soll Frau und Tochter überzeugen. Und er stellt für ihn den Kontakt zu den Jesuiten her. Er spürt: Die Familie ist in guten Händen. Er kann loslassen. Fürs Erste. Müde fährt er doch noch ans Meer. «In ein g’scheites Hotel, da schlaf ich zehn Stunden durch», sagt er. Und widmet sich dem Buch, auf das er sich so freue wie andere auf ein Fussballspiel: «Fratelli tutti». Papst Franziskus’ Aufruf zur Geschwisterlichkeit über alle Grenzen hinweg als neue Weltordnung.
(https://www.blick.ch/schweiz/schweiz-schafft-burundische-grossfamilie-nach-kroatien-aus-pfarrer-edwin-stier-aus-kreuzlingen-tg-faehrt-hinterher-toepfe-der-kirche-sind-prallvoll-helfen-ist-pflicht-id18809844.html)
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Demos und Drohungen: So heftig wird das erste Geothermie-Kraftwerk der Schweiz bekämpft
Im Herbst entsteht beim Tiefengeothermie-Projekt in Haute-Sorne der Bohrplatz – allem Widerstand zum Trotz. Eine erneute Kundgebung ist bereits angekündigt. Auch illegale Aktionen mehren sich.
https://ajour.ch/de/story/133632/demos-und-drohungen-so-heftig-wird-das-erste-geothermiekraftwerk-der-schweiz-bek%C3%A4mpft
Klimacamp auf der Voltamatte: Experimentierfeld für eine klimaresistente Welt
Bis zum 13. August findet auf der Voltamatte das «No Borders Klimacamp» mit einem anspruchsvollen und vielfältigen Programm statt. Was wollen die Aktivisten erreichen?
https://www.bazonline.ch/experimentierfeld-fuer-eine-klimaresistente-welt-604681317908
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tagblatt.ch 05.08.2023
Critical Mass St.Gallen am Scheideweg: Die Bewegung kämpft zwischen Repression und Teilnehmerschwund um ihren Einfluss
Weil die Velodemo in Zürich nicht bewilligt war, verzeigte die Stadtpolizei Ende Juli mehr als 50 Personen. Die Presseberichte aus der Limmatstadt verleihen der zuletzt fast in der Versenkung verschwundenen Bewegung neuen Schub – sorgen aber auch für Aufregung.
Sandro Büchler
Aus der ganzen Schweiz richteten sich Ende Juli die Augen vieler Velofahrerinnen und Velofahrer nach Zürich. Dort fand am Abend eine Critical Mass statt. Es ist ein loses Zusammenkommen von Zweiradbegeisterten, die bei einer geselligen Ausfahrt als «kritische Masse» die Zahl von Velofahrenden im gesamten Strassenverkehr sichtbar machen wollen.
Hinter der Bewegung, die ihre Anfang 1992 in San Francisco nahm, steht kein Verein, kein Veranstalter und auch kein Pamphlet. Auch als Kundgebung oder Demo galt die Versammlung von Velofahrerinnen und Velofahrer bis anhin nicht. Einziger Nenner: Man trifft sich jeweils am letzten Freitag des Monats zum gemütlichen, gemeinsamen Pedalen.
In der Stadt Zürich wurde die Bewegung in den vergangenen Monaten und Jahren immer grösser. Grösser wurde auch der Ärger. Denn weit über 2000 Teilnehmende und ein Velocorso, der sich langsam über mehrere Kilometer durch die Innenstadt schlängelte und den Feierabendverkehr zum Erliegen brachte, zog den Zorn von Autofahrerinnen, Tramfahrern und Chauffeuren auf sich.
Die Stadtpolizei liess die Velobewegung bislang gewähren, trotz teils minutenlang blockierten Strassen, viel Gehupe und entnervten Automobilisten, die androhten, zur Selbstjustiz zu greifen und die Velofahrenden von der Strasse zu zerren. Die Diskussionen um die jüngst immer häufiger auftretenden Klimakleber lassen grüssen.
Zürcher Stadtpolizei verzeigt 52 Personen
Das Ziel, die Masse von Velofahrerinnen und Velofahrern in den Fokus zu rücken, hat Critical Mass in Zürich erreicht. Doch in der Limmatstadt gab vor Kurzem das Statthalteramt einer Aufsichtsbeschwerde des Zürcher FDP-Präsidenten Përparim Avdili recht, in welcher die bisherige, tolerante Praxis von Stadt und Polizei in Frage gestellt wurde.
Mit der stattgegebenen Beschwerde wurde die Veloausfahrt als bewilligungspflichtig taxiert. Da es sich gemäss Gesetz um eine Demonstration handle, wurde auch die Stadtpolizei de facto dazu verpflichtet, zu handeln – und die Blockade nötigenfalls aufzulösen.
Ganz so weit gingen die Einsatzkräfte Ende Juli nicht. Da jedoch für die Zweiradkundgebung keine Bewilligung einging, griff die Zürcher Stadtpolizei durch. Sie verzeigte 52 Personen, die an der unbewilligten Demonstration teilgenommen hatten. Zudem wurde die Velokolonne von Patrouillenfahrzeugen begleitet und die Velofahrerinnen und Velofahrer gefilmt. «Für weitere Abklärungen», wie es danach hiess.
Polizeisprecher sagt: «Bewilligung ist Sache der Veranstalterin»
Die Kontroverse um die Zürcher Velodemo führt auch in St.Gallen zu Diskussionen. Hier fand im Ende Juli 2020 die erste Critical Mass statt. Rund 120 Personen folgten dem Online-Aufruf einer zusammengewürfelten Gruppierung. Während damals rechtliche Fragen punkto Pandemie und Abständen im Zentrum standen und deshalb die Polizei das Tun beobachtete, steht heute die gleiche Frage wie in Zürich im Raum: Braucht auch die Critical Mass auch in St.Gallen künftig eine Bewilligung? Daraus folgt die Frage: Wenn niemand als Veranstalter auftritt und die Ausfahrt somit illegal wäre, wäre seitens Polizei mit Repressalien zu rechnen?
Roman Kohler, Mediensprecher der St.Galler Stadtpolizei, sagt: «Die Teilnahme an einer nicht bewilligten Demonstration sowie Übertretungen in Bezug auf das Strassenverkehrsgesetz können wie in Zürich mit Anzeige oder Busse geahndet werden.» Die Stadtpolizei berücksichtige die Entwicklung in Zürich. «Diese hat durchaus auch Einfluss auf die Beurteilung der Bewilligungspflicht einer Critical Mass in St.Gallen», so Kohler.
Er sagt weiter: «Wenn wir Kenntnis einer Veranstaltung haben und es unklar ist, ob eine Bewilligung nötig ist, sind wir jeweils bemüht, im Vorfeld eine verantwortliche Person ausfindig zu machen, damit die Bewilligungspflicht geprüft werden kann.» Es sei aber grundsätzlich Sache der Veranstalterin, sich rechtzeitig um eine Bewilligung zu bemühen.
Zuletzt ist nur noch eine Handvoll unterwegs
Bisher kam es gemäss dem Sprecher der Stadtpolizei bei Critical Masses in St.Gallen zu keinen nennenswerten Vorfällen. Dies wohl auch deshalb, weil in St.Gallen relativ wenig Personen – Kohler schätzt zwischen 50 und 80 – an den Ausfahrten teilgenommen hätten.
In St.Gallen hatte die Critical-Mass-Bewegung zuletzt einen schweren Stand. Zwar trafen sich einige Hartgesottene auch in den Wintermonaten am jeweils letzten Freitag auf dem Gallusplatz zur gemeinsamen Ausfahrt. Doch den Zulauf aus den Anfängen von vor drei Jahren erreichte die Bewegung nicht mehr. Auf Instagram datiert der letzte Aufruf zu einer Critical Mass vom April.
Doch eingeschlafen ist die Bewegung in St.Gallen nicht. Im Gegenteil. Das in Zürich Vorgefallene hat zu einer regen Diskussion unter den regelmässigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Critical Mass in St.Gallen geführt. Drei von ihnen haben auf die Fragen des «Tagblatts» geantwortet. Ihren Namen wollen sie nicht in der Zeitung lesen. Sie betonen, sie seien keinesfalls Organisatoren, sondern Teilnehmende, die auch schon an der Critical Mass mitgefahren seien.
Es stimme, dass zuletzt gerade in den Sommermonaten oder bei schlechtem Wetter teils nur noch eine Handvoll Menschen an der Critical Mass in St.Gallen teilgenommen hätten. Zwischen 10 und 30 Personen, schätzt das Trio. «Wenn ein Dutzend Velofahrerinnen und Velofahrer durch die Stadt fährt, wirkt das auf den ersten Blick nicht wie eine Critical Mass.»
Was geschieht am 25. August?
Das Vorgehen der Polizei in Zürich wollen die drei nicht kommentieren. Eine Person sagt: «Der ursprüngliche Gedanke einer friedlichen Demo für mehr und sichere Velowege stand bei der Critical Mass Zürich – meiner Ansicht nach – nicht immer im Vordergrund.» Da es sich um eine nicht organisierte Bewegung handle, empfinde sie es aber als schwierig, einzelnen Teilnehmenden zu sanktionieren.
Am 25. August soll nun in St.Gallen wieder eine Critical Mass stattfinden. Das Trio ist sich einig, dass die Presse aus Zürich helfe, die Bewegung wieder in Erinnerung zu rufen. «Interessierte sind herzlich eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen und sich der Masse anzuschliessen und mitzufahren.» Da es sich dabei, wie andernorts, um eine nicht organisierte Bewegung handle, will man keine Anpassungen machen und somit auch keine Bewilligung einholen. Es bleibt also abzuwarten, wie viele Velofahrerinnen und Velofahrer am Freitag in drei Wochen auf dem Gallusplatz zusammenkommen – und ob die Stadtpolizei ebenfalls ihre Aufwartung machen wird.
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Wie Critical Mass entstanden ist
Die Bewegung Critical Mass begann 1992 in San Francisco und breitete sich seither von dort auf dem ganzen Globus aus. Die weltweit grösste Critical Mass fand im Frühling 2008 in Budapest statt, rund 80’000 Teilnehmende fuhren mit ihren Velos durch die ungarische Hauptstadt.
In der Schweiz gibt es seit Ende der 1990er-Jahre Critical Masses, also mehr oder weniger spontane, grosse Verkehrsaufkommen von Velos. Die umfangreichsten Velofahrten finden in Zürich statt. Im Herbst 2019 fand in Frauenfeld die erste Critical Mass der Ostschweiz statt – St.Gallen folgte im Juli 2020. (sab)
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Kidical Mass finden regelmässig statt
Was in St.Gallen regelmässig stattfindet, sind «Kidical Mass». Es ist eine Abwandlung von Critical Mass, bei dem jedoch Kinder und ihre Eltern auf Fahrrädern für die Anliegen des Veloverkehrs demonstrieren. «Diese Anlässe finden mit Bewilligung und ohne Probleme statt», sagt Polizeisprecher Roman Kohler. Die nächste Kidical Mass findet Anfang September statt. (sab)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/velodemo-critical-mass-stgallen-ld.2495493)
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
JUSO Forderung – «Freedom Festival» soll erneut Bewilligung entzogen werden
In zwei Wochen soll das «Freedom Festival» in Volketswil ZH stattfinden. Am Anlass sollen Corona-Kritiker und Personen aus der rechten Szene teilnehmen. Deswegen will die JUSO Zürcher Oberland die Veranstaltung verhindern. In einem offenen Brief fordert sie die Gemeinde auf, die Bewilligung
https://www.toponline.ch/tele-top/detail/news/juso-forderung-freedom-festival-soll-erneut-bewilligung-entzogen-werden-00218144/
+++++HISTORY
solothurnerzeitung.ch 05.08.2023
Weggesperrt und zur Arbeit gezwungen: Bis in die 1950er-Jahre wurde ein Heim in Bettlach für junge Frauen zum Gefängnis
Es ist ein nur lückenhaft dokumentiertes, dunkles Kapitel Schweizer Geschichte. Bis in die 1970er-Jahre wurden junge Frauen aus fadenscheinigen Gründen und ohne Gerichtsverfahren in Fabrikheimen weggesperrt, wo sie Zwangsarbeit verrichten mussten. Auch in Bettlach, wo Dutzende Frauen für die Uhrenfabrik im Dorf arbeiten mussten.
Raphael Karpf
Es war zusammen mit der Uhrenfabrik und der Kirche eines der prägenden Gebäude im Dorf– zumindest zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es findet sich sogar auf verschiedenen Postkarten wieder. Und obwohl über die Jahrzehnte Tausende Fabrikarbeiterinnen dort lebten: Über das ehemalige Marienheim in Bettlach ist heute nur sehr wenig bekannt. Einzig die Wiese zwischen katholischer Kirche und Büelenschulhaus, die manchen im Dorf als Marienheim-Wiese bekannt ist, erinnert daran, was für ein Gebäude einst dort stand.
Doch das ist schon fast der einzige Hinweis, der übrig geblieben ist. Im Gemeindearchiv von Bettlach: keine Informationen. Im Archiv der Kirchgemeinde Bettlach: keine Informationen. Im Staatsarchiv: praktisch keine Informationen. Vielleicht ist es Zufall und die Geschichte des Heims ist extrem schlecht überliefert. Vielleicht auch nicht. Vielleicht sind manche froh, wird nicht mehr über das geredet, was an diesem Ort getan wurde.
Einzig im Archiv des Bistums Basel finden sich bruchstückhafte Informationen zum Heim. Vereinzelt Jahresrechnungen der katholischen Stiftung, der das Heim gehörte, vereinzelt Protokolle, noch seltener Briefwechsel, die kleine Einblicke geben. «Beobachter»-Journalist Yves Demuth hat daraus die Geschichte des Heims rekonstruiert und in seinem Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen» veröffentlicht.
Ohne Gerichtsverfahren weggesperrt
Es ist ein unrühmliches Kapitel Schweizer Geschichte. Eigentlich müsste man deutlicher werden: Es ist eine Schande. Bis in die 1970er-Jahre wurden Frauen, seltener auch Männer, aus fadenscheinigen Gründen und ohne Gerichtsverfahren in solchen Fabrikheimen weggesperrt, wo sie Zwangsarbeit leisten mussten. Es reichte bereits der Vorwurf einer unmoralischen Lebensweise, und die jungen Mädchen konnten ins Visier der Vormundschaftsbehörden geraten.
Dazu gehörte etwa ein Kinobesuch mit einem Mann oder auch nur ein einfacher Flirt. Auch die Herkunft konnte den jungen Frauen zum Verhängnis werden, namentlich bei jenischen Mädchen. Unter dem Vorwand einer «christlichen Nacherziehung» durch Arbeit wurden die Frauen zu billigen Arbeitskräften für die Industrie.
Und auch wenn die Heime weder Gitterstäbe noch Wachen hatten, waren sie doch Gefängnisse. «Die versorgten Teenagerinnen waren gefangen in einem System, das Widerstand hart bestrafte», schreibt Demuth. «Das beeinflusste ihr Verhalten.» Sie wussten: Wenn sie abhauen, werden sie von der Polizei eingefangen und wieder ins Heim gesteckt – oder an einen noch schlimmeren Ort gebracht.
Ein Heim auch in Bettlach
Solche Fabrikheime gab es mehrere in der Schweiz. Und eines der grösseren auch im Kanton, in Bettlach. Die Frauen dort mussten für die Uhrenindustrie arbeiten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Fabrik der Eduard Kummer Bettlach. Später, nach deren Niedergang und Übernahme, für die Ebauches SA, welche zum Konsortium der Asuag gehörte, einer der Vorgängerinnen der heutigen Swatch Group.
Gegründet wurde das Marienheim 1901 vom damaligen Dorfpfarrer Hermann Kyburz – mit finanzieller Unterstützung des Kantons. Es war der Versuch der katholischen Elite, konservative Moralvorstellungen aufrechtzuerhalten. Denn die erstarkende Uhrenindustrie in der Region zog viele unverheiratete Arbeiterinnen an.
In kirchlichen Kreisen befürchtete man einen «Sittenzerfall», die Frauen sollten im Heim zu einem «sittlich-religiösen und sparsamen Leben» angeleitet werden. So steht es im Handbuch der sozialen Arbeit der Schweiz geschrieben.
Wohnblock und Gefängnis in einem
Das Heim hatte anfangs 60 Plätze, und war beides: Unterkunft für Frauen, die freiwillig in der Uhrenfabrik im Dorf arbeiteten – sogar eine Kinderkrippe hatte es im Heim. Aber auch ein Ort, an dem Frauen administrativ versorgt wurden und Zwangsarbeit leisten mussten – zu Löhnen, zu denen niemand freiwillig gearbeitet hätte.
Oftmals wurde das wenige Geld direkt an die Heimleitungen ausbezahlt, welche damit die Kosten für die Unterbringung und «Nacherziehung» deckten. Wer aus diesem System der Unterdrückung entlassen wurde, hatte deshalb weder eine Ausbildung noch finanzielle Mittel vorzuweisen, um selber Fuss fassen zu können.
Ob bereits seit 1901 Frauen in Bettlach administrativ versorgt wurden und wie viele Frauen in den nächsten Jahrzehnten dieses Schicksal ereilte, lässt sich nicht rekonstruieren. Einzelne Dokumente im Bistumsarchiv belegen aber, dass es systematisch über Jahre getan wurde und mindestens Dutzende Frauen betroffen waren.
Das Geschäft brachte Geld ein. Nahm das Heim mit der Pension der «Haustöchter», wie sie genannt wurden, 1905 noch 4560 Franken ein, waren es 1907 bereits 8215 Franken und 1928 fast 30’000 Franken.
Bereits früh wurde das Gebäude erweitert
Bereits 1908 wurde ein Ausbau geplant: In einem Brief an den Kanzler des Bistums Basel bat Pfarrer Kyburz um finanzielle Unterstützung. Auf späteren Bildern ist zu sehen, wie das Heim deutlich vergrössert wurde.
Ebenfalls überliefert ist, dass es bereits früh zu Konflikten kam. Das Heim war im Besitz der Kirche (zuerst gehörte es dem römisch-katholischen Hilfsverein Lebern, ab 1943 der Dr. Hermann Kyburz-Stiftung) und wurde von den Ingenbohler Schwestern geführt, einer katholischen Ordensgemeinschaft.
1924 waren diese offenbar kurz vor dem Absprung. Auf jeden Fall intervenierte der Dekan des Kapitels Solothurn, indem er der Generaloberin des Ordens einen Brief schrieb. Er bat sie darin, die Schwestern im Heim zu belassen. Wenn nicht, sei die Existenz des Marienheims gefährdet.
Dabei erfülle es doch für das religiöse Leben der «mehrheitlich liberalen und sozialistischen Gemeinde Bettlach» eine wichtige Rolle: «Würde das Marienheim keine Arbeiterinnen herbeiziehen, so liesse die Fabrik solche kommen und diese würden in unserem Dorfe Wohnung nehmen und wären dann sich selber überlassen und bei den Verhältnissen in Bettlach überaus gefährdet», schrieb der Dekan.
Er schloss mit dem Hinweis, dass Pfarrer Kyburz «gegen sehr viele und grosse Schwierigkeiten in seiner Pastoration anzukämpfen» habe und es wahrhaft nicht nötig sei, ihm weitere Sorgen aufzubürden. Der Appell schien zu fruchten. Der Orden führte das Heim weitere 30 Jahre.
Von einem Heim ins nächste
Eine der – von der Pro Juventute – in Bettlach weggesperrten war Anita G. Sie erzählte ihre Geschichte dem Historiker Thomas Huonker – der sie in seiner Publikation «Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt: Jenische Lebensläufe» veröffentlichte.
1922 geboren, war Anitas «Verbrechen» ihre jenische Herkunft. Bis 25 wurde sie von der Pro Juventute unter Vormundschaft gestellt. Ihre Jugend war die reinste Odyssee. Sie wurde in Pflegefamilien gesteckt, in Heime für «Schwererziehbare», sogar in ein Kloster in Strassburg. Nirgends blieb sie lange, immer wieder wurde sie umplatziert oder aber sie haute von sich aus ab, wurde von der Polizei eingefangen und von der Pro Juventute ins nächste Heim verfrachtet.
Im Kanton Freiburg musste sie über zwei Jahre in einer Strafanstalt verbringen – ohne dass es eine Gerichtsverhandlung gegeben hätte.
1943, Anita war 21, arbeitete sie in einem Hotel. Sie lernte einen Gärtner kennen und wurde schwanger. Die beiden wollten heiraten – die Pro Juventute verbot es ihnen. Also brachte sie ihr Kind unehelich zur Welt. Nach der Geburt wurde es Anita gegen ihren Willen und hinter ihrem Rücken weggenommen. Als sie davon erfuhr, schlug sie den Kronleuchter des Hauses zusammen, in dem sie gerade am Putzen war.
Erneut kam sie ins Gefängnis – und anschliessend, 1946, ins Marienheim in Bettlach. Wie alle dort musste sie in der Uhrenfabrik arbeiten. Nach zwei Wochen sei sie krank geworden, erzählte sie Huonker. «Kunststück, in diesem Estrich oben fror ich, den ganzen Winter, und war doch anfällig dafür.»
Doch die Heimleiterin sagte ihr: «Geh du arbeiten, du simulierst nur.» Also ging sie. In der Fabrik wurde sie bewusstlos, es zog ihr die Haare in die Maschine. Sie erwachte im Sanitätszimmer, wo der Arzt über 40 Grad Fieber mass. Vier Tage und Nächte musste jemand an ihrem Bett wachen, bis sich ihr Gesundheitszustand endlich besserte.
Erst der Selbstmordversuch änderte etwas
Später flüchtete sie aus dem Marienheim und wurde natürlich von der Polizei aufgegriffen. Es folgten weitere Aufenthalte in Heimen und Gefängnissen, bis sie sich die Schlagadern aufschnitt. Anita überlebte.
Im Spital redete sie mit einem Psychiater – der überwies sie in eine Klinik im Kanton Tessin. Dort sagte ihr der Direktor der Klinik: «Jetzt gehst du ins Dorf. Für uns bist du ein freier Mensch. Du hast nie etwas verbrochen, du bist hier heimatberechtigt im Kanton Tessin. Hier kann dir niemand etwas antun.»
Erstmals in ihrem Leben war Anita frei. Doch sie vermisste ihre Familie. In Bettlach hatte sie per Zufall ihren Bruder getroffen – und so ging sie zurück in die Uhrenfabrik. Diesmal als freie Frau.
Doch noch immer liess sie die Pro Juventute nicht in Ruhe. Erneut wurde sie der Polizei gemeldet, wieder wurde sie in ein Heim gesteckt und, als sie sich wehrte, ins Gefängnis. Erneut ohne Gerichtsverhandlung, diesmal über ein Jahr lang.
Eine Freundin rettete sie schliesslich. Sie konnte sich einen Anwalt leisten, um gegen Pro Juventute vorzugehen. Erst dann wurde Anita in Ruhe gelassen. Inzwischen war es 1948, Anita war 26.
Die Tochter erst Jahrzehnte später getroffen
Nun machte sie sich auf die Suche nach ihrer Tochter. Sie erfuhr, dass sie mit ihrer Pflegefamilie in Chile lebte. Jahre später kam sie in die Schweiz zurück. Als Anita ihre Tochter erstmals wieder traf, war diese 36 und hatte inzwischen selbst Kinder.
Anderen jenischen Mädchen erging es im Marienheim ähnlich wie Anita: Sie wurden krank. Manche mussten in der Höhenklinik Allerheiligenberg bei Hägendorf therapiert werden.
Dass das Gebäude damals in einem schlechten Zustand war, war auch der katholischen Stiftung bekannt. Im Protokoll der Generalversammlung des Stiftungsrats vom 5. Oktober 1950 lässt sich nachlesen, wie über dringliche Bauvorhaben diskutiert wurde, unter anderem die Erneuerung der Heizung. In den nächsten Jahren wurde das Heim tatsächlich auch renoviert.
In der Diskussion damals wurde auch erwähnt, dass die Auswahl der Mädchen, die im Heim aufgenommen wurden, künftig sorgfältiger getroffen werden solle. Damit «die Zahl der vormundschaftlich betreuten prozentual nicht zu hoch wird, weil das Haus für solche heilpädagogische Betreuung nicht vorbereitet ist».
Ab 1950 keine Zwangseinweisungen mehr
Ob damit die Versorgung von Mädchen in Bettlach ein Ende fand, ist nicht ganz klar. Tatsächlich werden in den Chroniken der Ordensschwestern ab 1950 keine Zwangseinweisungen ins Marienheim mehr erwähnt.
Denn inzwischen war das passiert, was die Kirche lange zu verhindern versucht hatte: Der gesellschaftliche Wandel hatte die Kirche eingeholt. Die Asuag wollte im Heim zu Ausbildungszwecken Arbeiterinnen unterbringen. Ab 1951 kamen zahlreiche junge Frauen aus dem Wallis nach Bettlach, blieben für einige Monate und gingen zurück ins Wallis, um dort in einer Fabrik der Asuag zu arbeiten.
Das Leben im Marienheim wurde dadurch auf den Kopf gestellt. Die Hausordnung habe bei den Walliser Mädchen zu verschiedenen Beanstandungen Anlass gegeben, ist in einem Protokoll des Stiftungsrats 1951 nachzulesen. Die Walliser Mädchen liessen sich die strengen Regeln offenbar nicht gefallen.
Sogar der Walliser Nationalrat Joseph Moulin intervenierte schliesslich. Die Stiftung knickte ein. Im selben Protokoll steht: «Der Stiftungsrat ist einhellig der Auffassung, dass das Haus als Pension und nicht als Bewahrungsheim für Bevormundete zu führen ist.» Eine neue Hausordnung wurde ausgearbeitet, die «etwas weitherziger gestaltet» wurde.
Ein Pfarrer will die Zeit zurückdrehen
Das wiederum passte nicht allen. Die Ordensschwestern hatten das Heim bereits 1955 verlassen – ab dann wurden Frauen aus der Region für die Heimleitung angestellt. 1956 kam es an der Generalversammlung der Stiftung beinahe zum Eklat. Der neue Dorfpfarrer Georg Schmid weigerte sich zuerst, das Amt als Präsident der Stiftung anzunehmen.
Mit Hinblick auf die Zustände im Marienheim könne er dieses Mandat nicht annehmen, ist im Protokoll der damaligen Sitzung nachzulesen. Im Heim fehle jede religiöse Betreuung, die Hausordnung, sofern sie überhaupt noch bestehe, werde nicht eingehalten, ja sogar die Industrie habe sich ein Mitspracherecht herausgenommen.
Dieselbe Industrie freilich, die das Heim inzwischen zu subventionieren begonnen hatte, weil der Betrieb defizitär geworden war. 1962 beispielsweise musste die Ebauches SA fast 20’000 Franken beisteuern.
Dorfpfarrer Schmid verlangte deshalb eine Rückkehr zu alten Zeiten: Eine neue Hausordnung solle erstellt und das Heim wieder unter die strengere Kontrolle der Stiftung gestellt werden.
Sittsamkeit predigen – und Kinder missbrauchen
Erst Jahrzehnte später zeigte sich, mit welcher Scheinheiligkeit einzelne Exponenten der Kirche damals vorgegangen waren. Mitglied des Stiftungsrats damals war auch Alfred Otto Amiet, der von 1937 bis 1964 Pfarrer in Trimbach war. Amiet stützte in der damaligen Debatte Schmid und forderte, dass mit aller Strenge vorgegangen werde.
Eine neue, strenge Hausordnung solle erstellt werden, deren strikte Einhaltung für die Frauen eine Bedingung für den Weiterverbleib im Heim werden solle. Derselbe Amiet, der nun in Bettlach die strenge Einhaltung der christlichen Werte predigte, missbrauchte zur selben Zeit in Trimbach über Jahrzehnte mehrere Kinder und Jugendliche sexuell. Manche seiner Opfer waren noch keine zehn Jahre alt.
Dorfpfarrer Schmid erklärte sich schliesslich bereit, das Präsidium doch zu übernehmen, als ihm der Stiftungsrat seine volle Unterstützung zusagte. Die Zeit zurückdrehen konnte freilich auch er nicht. 1965 hatte Schmid schliesslich genug. In einem fast vierseitigen Brief an den Kanzler des Bistums Basel machte er seinem ganzen Frust Luft.
Ein Brief voller Vorwürfe
Der Stiftungszweck sei seit Jahren nicht mehr erreichbar, das Heim sei zu einer rein weltlichen Angelegenheit geworden, wetterte er. «Es sind nicht nur keine Schwestern mehr da, man kann ebenso wenig von einem sozial-caritativen Heim reden.» Schmid ging noch weiter: «Die wenigen Mädchen, die drin wohnen, sind nicht nur zumeist andersgläubig, sondern lassen sich in keiner Weise mehr beeinflussen. Wir hatten schon Mädchen mit eigenem Auto drin. Die sittlichen Zustände sind teilweise erschreckend.»
Schmid hatte es inzwischen sogar verbieten lassen, dass sein Name in Zusammenhang mit dem Heim erwähnt wird. Alles sei im Marienheim schon vorgekommen, «von Selbstmordversuch und geheimer Geburt etc. bis zu unerträglichen polizeilichen Aktionen. Das Marienheim geniesst im Dorf ein bedenkliches Ansehen.»
Keinem Pfarrer könne mehr die Mitgliedschaft im Stiftungsrat zugemutet werden. Auch über die Ebauches liess sich Schmid in seinem Brief aus. Zwar gestand er ein, dass das Heim nur noch dank Subventionen der Uhrenfirma offen sei. Kürzlich seien die Subventionen aber gekürzt worden, zudem habe die Ebauches Lehrlinge ins Heim geschickt.
«Das Zusammenleben mit diesen Lehrlingen macht alles noch problematischer. Von diesen Lehrlingen scheint überhaupt keiner katholisch zu sein. Ich bekomme kaum einen Gruss, aber dafür genügend Reklamationen.»
Sein Fazit: «Ich weigere mich, das Heim so weiterzuführen.» Er schlug vor, die Stiftung aufzulösen und das Heim an die Ebauches SA zu verkaufen. Letzteres wurde wenig später auch gemacht.
Und die Kirche? Sie profitierte. Kostete das Marienheim die Kirche 1901 einige zehntausend Franken, wurde es nun für fast eine Million Franken verkauft. Mit diesem Geld bauten die Katholiken eine neue Kirche im Dorf: die heutige Kirche St.Klemenz.
Das Marienheim verschwindet
Lange überlebte das Marienheim den Besitzerwechsel nicht. Kurz darauf wurde das Gebäude abgerissen. Auf Luftaufnahmen von 1981 fehlt von ihm bereits jede Spur.
Wurden im Marienheim Bettlach ab den 1950er-Jahren keine Frauen mehr administrativ versorgt, dauerte es schweizweit nochmals mehrere Jahrzehnte, bis das Zwangsarbeitsverbot effektiv durchgesetzt wurde. Noch 1969 gab der damalige Bundespräsident Ludwig von Moos in einer Nationalratsdebatte zu, dass es trotz des Verbots von 1941 in der Schweiz Zwangsarbeit gibt.
Im selben Jahr konnte die Schweiz der europäischen Menschenrechtskonvention nur unter Vorbehalt beitreten. Der Hauptgrund: Für die administrative Versorgung gab es in vielen Kantonen noch immer keine gerichtliche Überprüfung.
Kurz zuvor hatte die Internationale Arbeitsorganisation der UNO die Schweiz in aller Deutlichkeit kritisiert. «Plötzlich fand sich die Schweiz in einer Gruppe von kommunistischen und autoritären Staaten wieder, die wegen Zwangsarbeit in der Kritik der Arbeitsorganisationen standen», schreibt «Beobachter»-Journalist Demuth in seinem Buch. Nun endlich schien der Weckruf anzukommen.
Trotzdem dauerte es nochmals ein ganzes Jahrzehnt, bis 1981 das revidierte Schweizer Zivilgesetzbuch in Kraft trat, welches der Zwangsarbeit endgültig ein Ende bereitete.
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Bücherhinweise
Yves Demuth: Schweizer Zwangsarbeiterinnen – Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit. Erschienen 2023 im Eigenverlag des Beobachters.
Thomas Huonker: Fahrendes Volk – verfolgt und verfemt: Jenische Lebensläufe. Erschienen in zweiter Auflage 1991 im Limmat Verlag.
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Zwangsarbeitsverbot änderte nichts
1941 wurde Zwangsarbeit in der Schweiz offiziell verboten. Damals trat das internationale Übereinkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit auch hier in Kraft. In der Praxis änderte sich freilich nur wenig.
Wie Journalist Demuth aufzeigte, liess das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» nach 1941 noch 23 Mal jenische Teenagerinnen in Bettlach wegsperren. Das «Hilfswerk» gehörte zu Pro Juventute und hat zwischen 1926 und 1973 rund 600 jenische Kinder aus ihren Familien gerissen und in Heimen und Pflegefamilien platziert. Dahinter steckte die rassistische Vorstellung, dass die Kinder durch ihre Familien gefährdet wären und später ihrerseits zu einer Gefahr für die Gesellschaft werden könnten.
Die Pro Juventute war nicht die einzige Organisation, die Kinder und Jugendliche auf diese Weise versorgte. Eine andere war das Seraphische Liebeswerk Solothurn. Auch das katholische «Hilfswerk» mit Sitz in Solothurn vermittelte Kinder oder Jugendliche an Heime. Ob auch an das Marienheim in Bettlach, ist nicht überliefert. Hingegen hat das Seraphische Liebeswerk jenische Jugendliche in die Marienheime im Toggenburg und im Glarnerland eingewiesen. (rka)
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/marienheim-bettlach-ld.2491483)
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tagblatt.ch 05.08.2023
Prügelnde Kantischüler und spätere Nationalsozialisten: Die St.Galler Anti-Alkohol-Bewegung nahm Ende des 19. Jahrhunderts radikale Züge an
Trinken galt mal als gesund. Dass es das heute nicht mehr tut, ist massgeblich der Schweizer Abstinenzbewegung zu verdanken. Im Laufe der Zeit wurde der Antialkoholismus zunehmend politisiert. Das führte zu bemerkenswerten Auswüchsen, die auch in St.Gallen auf fruchtbaren Boden stiessen.
Luca Hochreutener
In einer Zeit, in der Menschen täglich 16 Stunden arbeiteten und Arbeitnehmerrechte noch in den Sternen standen, suchte etwa der Spinnereiarbeiter nach einem Weg, dem harten Alltag zu entfliehen. Eine Lösung dafür bot die Flasche Kartoffelschnaps, die im 19. Jahrhundert in vielen Schweizer Haushalten zu finden war.
Ein Gläschen davon und das Gemüt erhellt sich. Noch ein Gläschen und die Unlust auf die Plackerei nimmt langsam ab. Noch viele weitere Gläschen und das Leben erscheint dem Arbeiter erträglich – zumindest kurzfristig. Diese vielen Gläschen bedeuten in der Schweiz für die Jahre 1880 bis 1884, als zum ersten Mal Daten erhoben wurden, einen Pro-Kopf-Alkoholkonsum von 14,3 Litern pro Jahr. Zum Vergleich: Aktuell liegt dieser bei zirka 7,5 Litern reinem Alkohol.
Schweizer Arbeiterschaft versank im Elend
Heute nutzen Menschen Alkohol als Mittel zur Entspannung oder als Spassmacher. Dass er auch in geringen Mengen gesundheitsschädigend ist, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen.
Massgeblich dazu beigetragen hat die Schweizer Abstinenzbewegung. Das vermeintliche Stärkungsmittel Schnaps entpuppte sich in der Hochphase der Industrialisierung als Laster. Der Schweizer Alkoholismus, der im Vergleich zu Nachbarländern besonders stark ausgeprägt war, führte zu einer wachsenden Verelendung der Unterschicht. So gewann die Anti-Alkohol-Bewegung im 19. Jahrhundert an grosser sozialer Bedeutung.
Den Impuls dazu gab der bereits erwähnte Kartoffelschnaps, auch genannt «Härdöpfeler». Wenngleich Alkohol schon längst einen festen Platz in der schweizerischen Kultur eingenommen hatte, wurde dessen Herstellung um 1815 technisch leichter und durch die Kartoffel als gut verfügbaren Rohstoff billiger. Überkonsum kam häufiger vor und immer mehr Menschen stellten die «Alkoholfrage»: Wie viel Alkohol ist zu viel und was kann man gegen Missbrauch tun? Das exzessive Trinkverhalten galt zunehmend als problematisch und Alkoholismus wurde als Krankheit wahrgenommen.
Zuerst nur religiöses Engagement
In St.Gallen gab es früh Versuche, vor allem von katholisch-konservativer Seite, die Menschen zum Meiden alkoholischer Getränke zu bewegen. Man predigte, sich zu mässigen, nicht zu viel zu trinken. Gegen Ende des Jahrhunderts nahm die Bewegung an Fahrt auf wurde in ihrem Antialkoholismus radikaler. Die ersten Abstinenzlervereine bildeten sich.
1888 gründete sich das St.Galler blaue Kreuz, dessen Mitglieder sich zur strengen Enthaltsamkeit von Alkohol verpflichteten. Im selben Jahr entstand im Kanton ein Ableger der Heilsarmee, die bis heute einen «alkoholfreien Lebensstil» befürwortet. Hinzu kamen 1894 die Katholische Abstinentenliga und 1899 der st.gallische Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke. Beide Vereine gehen auf den Bischof Augustinus Egger zurück, der seinerseits überzeugter Abstinenzler war. Auch die späteren Bischöfe Alois Scheiwiler und Joseph Meile setzten sich für die Bewegung ein.
Später eröffnete in der Nähe des Doms das alkoholfreie Restaurant am Gallusplatz, in dem Menschen für sehr wenig Geld eine Mahlzeit zu sich nehmen konnten. Solche Gaststätten entstanden in der ganzen Schweiz, weil die Arbeiter über Mittag auswärts essen mussten. Sie existierten neben den Fabrikkantinen. Auch wurden öfters rein vegetarische Speisen angeboten. Das bekannte und weltweit älteste Vegi-Restaurant Hiltl in Zürich eröffnete in der Zeit.
Das bisher beschriebene Engagement gegen den Alkoholmissbrauch hatte in erster Linie humanitäre oder religiöse Gründe. Doch parallel zu den genannten Gruppen bildeten sich in der Abstinenzbewegung politische Strömungen, die den Verzicht auf Alkohol in ihre Gesellschaftstheorien einwoben und instrumentalisierten.
Sozialisten sorgten sich um alkoholkranke Arbeiter
Auf linker Seite waren es die Sozialisten, die den Arbeitern den Alkoholkonsum auszureden versuchten. In alten sozialdemokratischen Zeitungen finden sich immer wieder entsprechende Aufforderungen. In der St.Galler «Volksstimme» etwa wurde regelmässig vor dem Alkoholkonsum gewarnt. Das Proletariat würde sich damit lediglich an seine Ketten gewöhnen, statt endlich die Kraft aufbringen zu können, selbige zu sprengen.
«Die sozialistischen Abstinenzler sahen den in der Arbeiterschaft weit verbreiteten hohen Alkoholkonsum als Folge der schlechten Lebensbedingungen und zugleich als Problem beim Versuch, die Arbeiterschaft gewerkschaftlich und politisch zu organisieren», sagt der Historiker Christian Koller von der Universität Zürich. Aus dieser Motivation heraus wurde im Jahr 1900 der sozialdemokratische, später sozialistische Abstinentenbund der Schweiz (SAB) gegründet. Dieser engagierte sich politisch gegen die Massenproduktion, Verkauf und Konsum alkoholischer Getränke.
Das Idealbild vieler Abstinenzler war laut Koller ein Verbot wie in den USA der 1920er-Jahre. Teiletappen erreichten sie 1908 bei der Annahme der Initiative für das Absinthverbot. «Unter dem Druck der Antialkoholbewegung unternahm der Bund auch von sich aus verschiedene Schritte zur Regulierung und Besteuerung des Handels mit Alkohol», sagt Koller. Wobei diese oft per Referendum angekämpft worden seien. Die Erfolge sind aber nicht dem SAB allein zuzuschreiben. Mehr als 1200 Mitglieder im Jahr 1914 hatte der Verein nie. Die Abstinenzbewegung war zu Höchstzeiten rund 60’000 Mitglieder stark. Der SAB existierte bis 2002.
Ein prominentes St.Galler Mitglied des SAB war Mathias Eggenberger (1905-1975), Nationalrat, Ständerat und Regierungsrat des Kantons St.Gallen. Der religiöse Sozialdemokrat setzte sich zeitlebens gegen den Alkoholismus in der Gesellschaft ein und veröffentlichte mehrere entsprechende Bücher, manche davon publiziert über die Buchdruckerei «Volksstimme».
Pseudowissenschaft trifft Alkoholismus
Statt mit Ideologie oder Glauben argumentierten andere Abstinenzler mit Wissenschaft für den Alkoholverzicht. Die Rede ist von den Vertretern der Eugenik und der Sozialhygiene.
Das Alkoholproblem, so Christian Koller, löste ab dem späten 19. Jahrhundert Befürchtungen einer gesellschaftlichen «Degeneration» aus. Mediziner wie Auguste Forel stellten die These auf, die Nachkommen von Trinkern hätten ein erhöhtes psychiatrisches Krankheitsrisiko. Der Alkoholismus erschien dadurch als genetische Gefahr für die Gesamtgesellschaft.
Der Schweizer Auguste Forel war einer der wichtigsten Vertreter der Schweizer Abstinenzbewegung. 1889 eröffnete er in Ellikon eine Klinik für Alkoholkranke und erzielte mehrere Durchbrüche auf dem Gebiet. Er selbst lebte streng alkoholfrei und wollte andere inspirieren. Er gründete dazu den Schweizer Guttempler-Orden, der als IOGT (Independent Order of Good Templars) Schweiz bis heute als Verein existiert, Menschen bei Alkohol- und anderen Drogenproblemen unterstützt und unter anderem in St.Gallen Gesprächsrunden durchführt.
Forel inspirierte St.Galler Kantischüler
Der Umgang mit Forels Nachlass ist umstritten. Einerseits publizierte er mit «Die sexuelle Frage» ein aufklärerisches Werk, war internationalistisch eingestellt, trat sogar in die SP ein, war Pazifist.
Andererseits vertrat er eine rassistische Haltung, bezeichnete dunkelhäutige Menschen im Gegensatz zu weissen «Vollmenschen» als «minderwertig» und befürwortete Zwangssterilisationen an Kranken und Verbrechern, damit diese sich nicht vermehren können. Dazu gehörten auch Alkoholkranke. Durch diese «Züchtung» würde laut Sozialist Forel auch die soziale Frage gelöst. Es leuchtet ein, dass auch die Nationalsozialisten von einer abstinenten Lebensweise überzeugt waren. Zu den Opfern der nationalsozialistischen Krankenmorde gehörten entsprechend viele Alkoholabhängige.
«Das eugenische Gedankengut vermischte sich zwar auf der politischen Rechten mit pseudowissenschaftlichen rassistischen Ideen, war aber nicht auf diese Kreise beschränkt», sagt Christian Koller. So galten eugenische Ideen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitherum als wissenschaftlich gesichert und wurden laut Koller durchs ganze politische Spektrum hindurch sowie von zahlreichen Fachleuten aus Medizin, Psychiatrie und Biologie unterstützt.
Auguste Forel verstand es brillant, seine Ansichten und Theorien in Schriften zu formulieren. So kam es, dass eine Gruppe St.Galler Kantonsschüler sich mit seinen Ideen vertraut machte und eine Studentenverbindung gründete: die «Humanitas». Einer der Gründungsmitglieder und Korrespondent der Verbindung: der spätere Rassenhygieniker und Nazi-Arzt Ernst Rüdin.
An der Kantonsschule St.Gallen gab es zu der Zeit verschiedene Studentenverbindungen. Zum Beispiel die Industria, die sich «für die Pflege der Freundschaft und Förderung des Geisteslebens» einsetzte, oder die Rhetorica, die sich der Redekunst verschrieb. Doch widmete man sich auch anderen Aktivitäten, berichtet Christian Koller: «In den studentischen Kreisen waren damals die Verbindungen mit ihren Saufritualen sehr viel wichtiger als heute.»
Dies zeigt die Broschüre besagter Rhetorica für ihre Weihnachtsfeier. Nach dem inhaltlichen Programm traf man sich am Samstag zum gemeinsamen Frühschoppen und einem späteren «Katerbummel».
Vergleicht man das Rhetorica-Programm mit jenem der Humanitas, wird deutlich, wofür Letztere stand. Dort ist für den Sonntag nämlich ein «katerloser Bummel» vorgesehen.
Die Verbindung vertrat die radikale Abstinenz. An mehreren Hochschulen und Gymnasien entstanden ab der Jahrhundertwende solche Verbindungen, sagt Koller. Ausgelöst durch die Abstinenzbewegung und abstinenzlerische Professoren und Lehrer.
«Der Verein bekämpft vom gesundheitlichen, sittlichen und volkswirtschaftlichen Standpunkte aus den Alkoholismus als ein Faktor, der die jetzigen und die späteren Geschlechter in Bezug auf seelisches, gesundheitliches und materielles Wohlbefinden aufs Äusserste schädigt», lautet der zweite Artikel in den Statuten im Verbindungsbüchlein. In der beiliegenden Verbindungsgeschichte steht über die Gründer: «Nach einem letzten Zechgelage kurz vor Weihnachten, löste man sich für immer und ewig vom Alkoholgenuss.»
Die Verbindung legte fest, man wolle «durch Beispiel und Belehrung für seine Ideen unter der schweizerischen Jugend Propaganda machen». Doch offenbar war der Verein bereit, seine Überzeugungen mit rabiateren Methoden zu verbreiten. Nach 1903 habe die Gruppe infolge eines deutlichen Mitgliederzuwachses an der Kanti als «gefürchtete, führende Schlägertruppe» gegolten. Das Fechten wurde zu ihrem Hauptsport.
Es herrschten zudem eine strenge Rangordnung und klare Regeln beim Tragen der Farben, also der «Verbindungsuniform». Zum Beispiel, dass man im Bus stehen bleibt. Oder dass man Mitglieder anderer Verbindungen nicht grüsst. Eine Regel wurde extra unterstrichen: «Es pöbeln alle oder keiner!»
Später geriet die Verbindung durch das Erstarken der ebenfalls alkoholfreien Jugendorganisation «Wandervögel» unter Druck, sodass sie fast verdrängt worden wäre. In der Folge spaltete sich die Verbindung, kam wieder zusammen, trennte sich wieder, gründete sich erneut. Mit Unterbrüchen scheint die Verbindung bis in die 1950er-Jahre existiert zu haben, danach aber für immer verschwunden zu sein.
Die Politik nahm sich des Themas an
Die übrige Abstinenzbewegung erreichte kurz vor dem Ersten Weltkrieg ihren Höhepunkt. Zu der Zeit gehörten ihr 2,4 Prozent der erwachsenen Schweizerinnen und Schweizer an, wobei die Bewegung im Kanton St.Gallen nie so stark wurde wie im Rest der Schweiz. In den Zwischenkriegsjahren bildete die Entwicklung der Mitgliederzahlen eine weitere Aufwärtskurve, auch in St.Gallen.
Die steigende Beliebtheit des Bieres und nicht-alkoholischer Getränke, in der Ostschweiz war dies vor allem der Süssmost, und der stärkere Fokus der Politik auf das Thema liess die gesellschaftliche Bewegung aber an Bedeutung verlieren. Es waren nun die Behörden, die sich dem Problem Alkohol annahmen und mit staatlichen Kampagnen vom Alkoholkonsum abrieten. Fürsorgemassnahmen wurden verstärkt vom Staat übernommen. Damit sah die Abstinenzbewegung viele ihrer Forderungen erfüllt und beendete ihr politisches Engagement allmählich.
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Quellen
Die Informationen in diesem Artikel stützen sich auf Archivmaterial aus dem St.Galler Staatsarchiv und der Arbeit von Regula Zürcher «Süssmost, Tee und gute Worte: Grundzüge einer Geschichte der Antialkoholbewegung im Kanton St.Gallen» aus dem 151. Neujahrsblatt des Historischen Vereins St.Gallen.
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Was ist die Eugenik? Was ist die Sozialhygiene?
Die Eugenik verfolgt das Ziel, die Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik nach Erkenntnissen der Humangenetik auszurichten. Bei der positiven Eugenik sollen die «guten Erbanlagen» gefördert werden. Die negative Eugenik will die Verbreitung von «schlechtem Erbgut» verhindern. Dies geschah zum Beispiel mit der Sterilisation oder Tötung von «Schwachsinnigen» oder Alkoholkranken in Nazi-Deutschland.
Die Sozialhygiene beschäftigte sich mit den gesundheitlichen Auswirkungen der sozialen Umwelt eines Menschen. Sie entstand im 19. Jahrhundert als Reaktion auf die Industrialisierung.
Die beiden Bewegungen waren eng miteinander verknüpft und wurden von den Nationalsozialisten in ihre Rassentheorien integriert.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/abstinenz-pruegelnde-kantischueler-und-spaetere-nationalsozialisten-die-stgaller-anti-alkohol-bewegung-nahm-ende-des-19-jahrhunderts-radikalere-zuege-an-ld.2469964)