Medienspiegel 3. August 2023

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+++BERN
Kanton Bern macht Zivilschutzanlagen bereit
Die bestehenden Kollektivunterkünfte könnten schon in ein paar Wochen nicht mehr reichen. Der Kanton Bern rechnet damit, dass er bereits im September mehr Platz benötigt. Nun werden Zivilschutzanlagen hochgefahren.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/kanton-bern-macht-zivilschutzanlagen-bereit?id=12430859
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/212336/
-> https://www.neo1.ch/artikel/kanton-bereitet-notunterkuenfte-fuer-asyl-und-schutzsuchende-vor



nzz.ch 03.08.2023

120 Asylsuchende sollen ins abgelegene Dörfchen Wolfisberg ziehen. Die Bevölkerung wehrt sich. Ist das rassistisch?

Wie der «Alpenblick» zum Gasthaus des Anstosses wurde.

Irène Troxler (Text), Karin Hofer (Bilder)

Am 23. August wird Wolfisberg nicht mehr das gleiche Dorf sein wie heute. Diese Befürchtung hat ein Grossteil der Einwohner. Der Kanton Bern hat entschieden, dass in das ehemalige Gasthaus Alpenblick 120 Asylsuchende einziehen werden. Die Bevölkerungszahl des Dorfs am Jurasüdhang wird von 180 auf 300 hochschnellen.

Heute fährt der Zug nur bis Niederbipp. Wer nach Wolfisberg hochwill, braucht ein eigenes, möglichst motorisiertes Fahrzeug. Die Strasse ist eng und windet sich durch Kuhweiden und Obstbaumhaine den Jurasüdhang hinauf. Wer hier oben auf 670 Metern über Meer wohnt, sucht die Ruhe der Natur.

Man duzt sich im Dorf

Er sei auch schon steckengeblieben, erzählt Rudolf Reber. Eine Kurve sei im Winter kritisch. Schaffe man es nicht auf Anhieb, dann bleibe einem nichts anderes übrig, als den Rückwärtsgang einzulegen, das Auto unten abzustellen und zu Fuss die drei Kilometer zum Dorf hochzugehen. Fast scheint es, als wären die Wolfisberger froh, dass ihre Welt nicht so leicht erreichbar ist.

Reber ist ein Ur-Wolfisberger. Er spielt in der Blaskapelle der Musikgesellschaft, war 35 Jahre in der Feuerwehr und ist seit 2021 Mitglied des Gemeinderats. Zu sagen, er kenne im Dorf jeden und jede, wäre untertrieben. Man duzt sich in Wolfisberg. «Wenn jemand zuzieht, dauert es einen Moment, aber früher oder später ergibt sich das hier oben», sagt er. Rund 180 Personen wohnen im Dorf, von dem man einen Ausblick weit über das Mittelland hat.

Rebers gemütliches Berndeutsch wird schneller, wenn man ihn auf das geplante Asylzentrum anspricht. In den Medien sei Wolfisberg als ausländerfeindlich abgestempelt worden, ärgert er sich. Doch darum gehe es gar nicht. Hätte der Kanton 40 oder 50 Asylsuchende im «Alpenblick» einquartieren wollen, hätte man darüber reden können. Aber 120? Und wie der Kanton mit der Gemeinde umspringe, gehe gar nicht.

Seit der Ankündigung herrscht Aufregung im Dorf. Vom Besitzer des «Alpenblicks» sind die Wolfisberger bitter enttäuscht. Fünfzehn Jahre lang waren sie ihrer einzigen Dorfbeiz treu, feierten dort runde Geburtstage und tranken nach Vereinsanlässen ihr Bier. Sie tolerierten auch das wilde Parkieren von Spaziergängern. Doch nun hat der Wirt seine Liegenschaft hinter ihrem Rücken an den Kanton Bern verkauft. Er habe genau gewusst, was der Kanton damit vorhabe, heisst es im Dorf.

«Wie wollen Sie hier oben so viele fremde Menschen integrieren?», fragt Reber. Es gibt keine Arbeitsstellen in Wolfisberg, nur vier Bauernhöfe. Es hat auch keinen Dorfladen, und der Busbetrieb wurde aus Kostengründen eingestellt. Aber der Kanton habe klargemacht, dass er hier Menschen unterbringen wolle, die in der Schweiz bleiben dürften und integriert werden müssten. «Wie sollen sie ihre Lebensmittel einkaufen?», fragt sich Reber.

Viele Fragen, keine Antworten

«Ich weiss nicht, ob ich in Zukunft morgens noch mit gutem Gewissen zur Arbeit gehen kann», sagt ein anderer Wolfisberger. Andi Hintermann lebt seit 15 Jahren im Dorf und hat zwei Kinder im Alter von 10 und 12 Jahren. «Was werden diese Menschen hier oben den ganzen Tag machen?», fragt er. Tagsüber seien jeweils nur 50 bis 60 Personen im Dorf, vor allem alte Leute und Mütter mit Kindern. Nun sollen 120 Asylsuchende dazukommen. Ein krasses Missverhältnis sei das. Nach zwei Informationsveranstaltungen über die Asylunterkunft Ende Juni seien die Whatsapp-Chats heissgelaufen. «Die Leute konnten das nicht glauben.»

An diesen Veranstaltungen mussten sich die Kantonsbehörden viele kritische Fragen anhören. Aber die Antworten, die sich bekamen, befriedigen die Wolfisberger nicht. Sie wissen nicht, ob junge Männer kommen oder Familien. Man werde das eine Woche im Voraus bekanntgeben, habe der Amtsleiter gesagt. Wie die Flüchtlinge betreut werden, können sie im Dorf nur mutmassen. Bekannt ist einzig, dass die Firma ORS für die Führung der Asylunterkunft zuständig ist. Doch scheint ihr das Personal zu fehlen. ORS hat in der Schweiz zurzeit über 60 Stellen ausgeschrieben. Das haben die Wolfisberger im Internet nachgeschaut.

Die Informationsveranstaltungen – eine in Wolfisberg und eine in Niederbipp, dem anderen, grösseren Teil der 2020 fusionierten Gemeinde – gaben noch aus einem anderen Grund zu reden. Es kamen auch Personen, die fremdenfeindliche Parolen in den Saal riefen: Freiheitstrychler und angeblich auch Mitglieder der Jungen Tat, einer rechtsextremen Gruppierung. In den Berichten der Lokalmedien war dies das grosse Thema.

Daraufhin meldete sich in Niederbipp eine «Bürger:innengruppe» zu Wort, die den Verantwortlichen vorwarf, diesen «hetzerischen Gruppen» eine Plattform geboten zu haben. Daniel Gnägi aus Niederbipp hat das Schreiben verfasst, und 23 Personen haben unterzeichnet. Er habe sich wie im falschen Film gefühlt an dem Anlass in Niederbipp, sagt Gnägi. Die Menschen, die da kommen sollen, seien vorverurteilt worden, von Vergewaltigungen sei die Rede gewesen. Den Verantwortlichen wirft er vor, dass sie sich von diesen Äusserungen nicht distanziert hätten. Gnägi ist in der SP und war früher selbst Gemeinderat von Niederbipp – vor der Gemeindefusion. Er glaubt, mit gutem Willen könne Wolfisberg das Zusammenleben mit 120 Asylsuchenden bewältigen. In Niederbipp habe es vor einigen Jahren gut geklappt.

Die Freiheitstrychler hätten die Versammlung missbraucht, sagen andere. Ihre extremen Ansichten teile hier niemand. Wolfisberg fühlt sich missverstanden.

Sibylle Schönmann ist Präsidentin der Einwohnergemeinde, zu der sich Niederbipp und Wolfisberg zusammengeschlossen haben. «Die Medien haben sich auf den Auftritt der Trychler gestürzt», sagt sie. «Aber ich habe diese Leute nicht eingeladen.» Die Gemeinde Niederbipp habe in den Jahren 2016/17 freiwillig eine Asylunterkunft mit 100 Plätzen im alten Spital betrieben. Schönmann bestätigt, was auch Gnägi sagt: Damals gab es keine Probleme. Niederbipp sei aber auch ein viel grösseres Dorf als Wolfisberg. Dort gebe es Läden, Schulen, Arbeitsplätze und einen Bahnanschluss. Ausserdem habe der Kanton damals versichert, beim nächsten Mal seien andere Gemeinden dran.

Kanton kommuniziert per Whatsapp

Vom neuen Projekt im «Alpenblick» hat Schönmann per Whatsapp erfahren. «Wie muss ich das verstehen?», habe sie den Amtsvorsteher des Kantons am Telefon gefragt. «Wollen Sie uns zum Projekt konsultieren?» Aber da sei alles schon entschieden gewesen. Eine Asylunterkunft für weniger als 100 Personen komme nicht infrage, habe der Amtsleiter ihr beschieden. Mit dieser Kommunikation hat sie Mühe.

Auf Anfrage gibt sich der Kanton Bern wortkarg. «Wir schätzen die Liegenschaft in Wolfisberg als geeignet für die Unterbringung von bis zu 120 Personen ein und möchten sie mit dieser Kapazität ab September nutzen», schreibt der Sprecher der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion. Man habe nun aber eine baupolizeiliche Verfügung der Gemeinde erhalten. Deswegen müsse man noch zuwarten, bis die nötigen Abklärungen der Baubehörde erfolgt seien. Während des Verfahrens wolle man das Projekt nicht kommentieren.

Dem Ur-Wolfisberger Rudolf Reber war es wichtig, bei dem Projekt einen Fuss in die Tür zu bekommen. «Wir wollten wissen, was verändert wird an den Gebäuden.» Jeder müsse ein Baugesuch einreichen, wenn er sein Haus umnutze und umbaue. Das gelte auch für den Kanton. So entstand die Idee einer baupolizeilichen Verfügung, die den Kanton verpflichtet, ein offizielles Baugesuch einzureichen, wenn er am Grundriss oder an der Fassade etwas ändern will.

«Unsere Pflichten sind klar», sagt Reber. Wenn Familien kommen, müssen die Kinder in Niederbipp in die Schulklassen integriert werden. Dort gehen seit vier Jahren alle Wolfisberger Kinder zur Schule. Die Gemeinde hat einen Schulbus organisiert, der sie hinbringt. Sie werde einen zweiten benötigen, meint Reber. Es sind auch finanzielle Fragen, die die Gemeinde beschäftigen.

Reber ist im alten Schulhaus aufgewachsen. Heute wohnt er in einem Doppeleinfamilienhaus. Nach dem Tod der Eltern hat er eine Hälfte an eine deutsche Familie verkauft, die sich nun einbürgern lassen will. «Wir sind nicht fremdenfeindlich», sagt er. Es sei bloss eine Frage des Masses. Gut 30 Kinder leben im Dorf. «Es darf nicht sein, dass sie sich nicht mehr auf den Spielplatz getrauen.»

«Wenn Sie 120 Leute in den ‹Alpenblick› stecken, sechs Personen in jedes Hotelzimmer, und weitere Betten in allen Restaurantsälen aufstellen, gibt das Probleme», sagt Andi Hintermann. «Das wäre auch so, wenn Schweizer kämen.» Er präsidiert einen Dorfverein, der regelmässig Anlässe organisiert: einen Neujahrsapéro, das Sommerfest, Adventsfenster, ein Spielplatzfest. «Der Zusammenhalt im Dorf ist uns wichtig», sagt er.

Mit einer baupolizeilichen Verfügung kann die Gemeinde die Asylunterkunft nicht verhindern. Auch nicht mit der Petition, für die die besorgten Einwohner über 3000 Unterschriften gesammelt und dem Regierungsrat Pierre Alain Schnegg persönlich übergeben haben. Das wissen die Wolfisberger. Kürzlich standen schon erste Transporter einer Baufirma vor dem «Alpenblick».

Irgendwie wird sich Wolfisberg arrangieren müssen mit den vielen Asylsuchenden, die nun kommen werden.
(https://www.nzz.ch/schweiz/120-asylsuchende-sollen-ins-abgelegene-doerfchen-wolfisberg-ziehen-die-bevoelkerung-wehrt-sich-ist-das-rassistisch-ld.1749137)



derbund.ch 03.08.2023

Geflüchtet aus dem Jemen: Mohammed der «Bünzli»

Vor sieben Jahren lebte er im Asylzentrum, heute setzt er sich für andere Geflüchtete ein. Die Geschichte eines Jemeniten, der sich in die Schweiz verliebt hat.

Pia Scheidegger

Eigentlich war Mohammed Ghaleb auf dem Weg nach Deutschland, als er mit dem Zug durch die Schweiz fuhr, aus dem Fenster schaute und die grünen Wiesen und Berge sah. Sie erinnerten ihn an die Heidi-Filme, die er als Kind zu Hause im Jemen geschaut hatte. Er entschied sich in diesem Moment, hier Asyl zu suchen statt im Nachbarland.

Im Sommer 2016 kam Ghaleb im Asylzentrum in Schafhausen im Emmental an. Ein Angestellter zeigte ihm sein Bett in einem Zimmer, das er mit 25 anderen Menschen teilen sollte. Der damals 26-Jährige erkundigte sich beim Angestellten sofort nach anderen Wohnmöglichkeiten. «Der Mann von der Heilsarmee hat mich schockiert angeschaut und gesagt, ich sei doch grad erst angekommen», erinnert sich Ghaleb.

Während er erzählt, macht er sich einen Tee. Der Samowar steht auf einem Tresen, auf dem in grossen Buchstaben das Wort «Kariim» prangt. Unter diesem Namen betreibt ein Verein an der Kornhausgasse in Burgdorf einen interkulturellen Treffpunkt für geflüchtete Menschen. Das arabische Wort bedeutet grosszügig und gastfreundlich.

Mohammed Ghaleb ist Mitbegründer und Vizepräsident von Kariim. Denn sobald er nach seiner Ankunft in der Schweiz sich selbst geholfen hatte, wollte er andere in ähnlichen Situationen unterstützen.

Vom Helfer zum Geflüchteten

Doch von vorne. Insgesamt verbrachte Ghaleb drei Monate im Asylzentrum. «Das war eine schwierige Zeit für mich», sagt er. Bis dahin lebte der Jemenit ein autonomes Leben, hatte immer ein eigenes Zimmer und ein Auto. In seinem Heimatland arbeitete er während und nach seinem Studium für NGOs, die Geflüchteten aus Somalia, Eritrea oder Äthiopien helfen. Plötzlich war er nun selber auf der Flucht – und auf andere angewiesen.

Trotzdem hat er seine neue Lebenssituation im Asylzentrum akzeptiert, vor allem aus einem pragmatischen Grund: «Ich wusste, wenn ich mich gestresst hätte, wäre ich früher oder später depressiv geworden.» Und das wollte er auf keinen Fall. Also suchte Ghaleb nach einer Möglichkeit, um aus Schafhausen wegzukommen.

Nach drei Monaten im Asylzentrum fragte Mitarbeiter Michael Mettler ihn, ob er umziehen wolle. Er nahm das Angebot sofort an und lebte ein Jahr mit Mettler, seiner Frau und ihren beiden Kindern. Dann ging die Familie auf eine Weltreise. Der Geflüchtete wollte nicht zurück ins Asylzentrum, also halfen Mettlers ihm, eine Wohngemeinschaft zu finden. In Rüegsauschachen wurden sie fündig.

Produktives Warten

In seinem ersten Jahr in der Schweiz erwartete Ghaleb jeden Tag seinen Asylentscheid. Er ging am Morgen als Erstes zum Briefkasten, sogar sonntags, obwohl er wusste, dass keine Post kommen würde. «Viele Geflüchtete verlieren während der Wartezeit ihre Hoffnung und Motivation, sie fragen sich, warum sie ihre Energie in ein Leben investieren sollen, das sie vielleicht wieder verlieren», sagt Ghaleb. Das wollte er vermeiden, deshalb änderte er seine Strategie – und fing an, sich ein Netzwerk aufzubauen.

Während er auf seinen Asylentscheid wartete, lernte Ghaleb Deutsch, integrierte sich in seine Nachbarschaft in Rüegsauschachen und fing an, einen Job zu suchen. Durch die Hilfe seiner Nachbarin fand er eine Lehrstelle als ICT-Fachmann am Gymnasium Lerbermatt in Köniz.

Im Jemen hatte Ghaleb bereits einen Bachelor in Business Administration abgeschlossen, hier absolvierte er zusätzlich einen IT-Kurs. «Ich wusste, ich bin gut ausgebildet. Nur mein Name und meine Sprachkenntnisse machten es nicht einfach, eine Stelle zu finden.» Die Chance, die er vom Gymnasium Lerbermatt erhielt, nennt Ghaleb deshalb mehrmals «ein Wunder».

Ausbruch aus dem Alltag

Seither hat der Jemenit nicht nur erfolgreich seine Lehre abgeschlossen, sondern auch zusammen mit seiner Nachbarin Sarah von Gunten den Verein Kariim gegründet. Seit fünf Jahren organisieren die beiden mit einem fünfköpfigen Team und Freiwilligen jeden Sommer ein Ferienlager für geflüchtete Menschen, die in der Schweiz leben und nicht genug Geld haben, um aus ihrem Alltag auszubrechen und etwas zu unternehmen.

Während einer Woche besucht der Verein mit rund 40 Teilnehmenden die Schweiz, sie gehen wandern, baden oder auch mal eine Schoggifabrik besuchen. Mittlerweile ist das Angebot so beliebt, dass es für Interessierte eine Warteliste hat.

Zusätzlich hat der Verein Kariim im Frühling dieses Jahres den interkulturellen Treffpunkt in Burgdorf eröffnet. Ghaleb sitzt an einem der vielen Holztische im grossen Raum, in dem sich Geflüchtete jeweils am Freitagnachmittag treffen können. Die Sonne scheint durch die Fenster, überall stehen Pflanzen. «Hier wollen wir Menschen in Sachen Asylverfahren beraten, aber auch mit ihnen spielen, kochen oder einfach reden», sagt Ghaleb.

Er selbst hat seinen positiven Asylentscheid nach drei Jahren und neun Monaten erhalten. Mittlerweile habe er sich damit abgefunden, dass in der Schweiz politische Prozesse etwas länger dauern würden. «Dafür sind die Entscheidungen meist gut überlegt», sagt Ghaleb. Er schätzt sowohl das politische System der Schweiz als auch die persönliche Struktur, die viele Schweizerinnen und Schweizer im Alltag haben.

Jeden Tag grüsst Ghaleb seine Nachbarn mit einem «Morge», auch wenn sie nicht immer zurückgrüssen. Er macht Leute darauf aufmerksam, wenn sie etwas Verbotenes tun, wie zum Beispiel in einer Nichtraucherzone rauchen. Er vermisst die Schweiz, wenn er mal im Ausland ist. «Meine Freunde nennen mich manchmal einen Bünzli», sagt Mohammed Ghaleb und lacht.

Er vermisst jedoch auch seine Heimat, seine Familie, die noch im Jemen lebt. Deshalb ist er auch hier in der Schweiz Mitglied einer jemenitischen Community, die sich einmal pro Woche trifft. «Dort kann ich mich entspannen, wir verstehen uns, ohne viel sagen zu müssen», sagt Ghaleb.

Der Traum der eigenen NGO

Seit Anfang August leitet Ghaleb die Informatikdienste am Gymnasium Lerbermatt. Die Stelle wurde ihm bereits vor seinem Lehrabschluss angeboten. In einem 90-Prozent-Pensum ist er dort tätig, die restlichen 10 Prozent arbeitet er für Kariim. Was macht er, wenn er nach all seinen Tätigkeiten mal Freizeit hat? «Beten, schlafen oder Freunde treffen», sagt Ghaleb. Alleinsein, das sei nichts für ihn.

Eines Tages würde er gerne eine eigene NGO gründen, sagt Ghaleb, während er durch das Treppenhaus des Hauses führt, das nun von Kariim genutzt wird. Es soll eine Organisation werden, die nicht Symptome wie Hunger bekämpft, sondern Probleme wie Armut an der Wurzel nachhaltig angeht. «Das wäre mein Traum.»

Die Wände im Treppenhaus sind voller Graffiti, sie seien von einer vorherigen Zwischennutzung, sagt Ghaleb. Ganz der Bünzli, entschuldigt er sich dafür.
(https://www.derbund.ch/mohammed-der-buenzli-654521880960)


+++ZÜRICH
tagesanzeiger.ch 03.08.2023

Asylsituation im Kanton Zürich: «Früher habe ich jeden einzelnen Asylbewerber noch persönlich gekannt, heute ist das nicht mehr möglich»

Michelle Högger ist im Bezirk Affoltern für 600 Geflüchtete zuständig. Während die SVP von einem «Asylchaos» spricht, herrscht in der täglichen Arbeit in den Gemeinden Pragmatismus vor.

David Sarasin

Ein flaches, einstöckiges Einfamilienhaus aus den Sechzigern am Rand der Landgemeinde Hedingen. Wo einst ein exzentrischer Unternehmer seine Designträume verwirklichte, sind vor einigen Wochen acht junge Afghanen eingezogen. Der grosse Raum, der damals als Kunstgalerie fungierte, dient nun als Warenlager für den Sozialdienst. «Hier gibts Stauraum, und die Anfahrt mit den LKW ist gut», sagt Michelle Högger, Leiterin des Asyl- und Migrationswesens beim Sozialdienst im Bezirk Affoltern.

An einem Donnerstagmorgen schreitet sie durchs grosszügige Wohnzimmer des Hauses und begrüsst einen jungen afghanischen Mann, der gerade aus dem Schlafzimmer kommt. Sie schütteln sich die Hände. «Eingerichtet ist das Haus nun wie aus dem Brockenhaus», sagt sie in leicht entschuldigendem Ton. Vieles von dem Mobiliar stamme aus der Bevölkerung, manchmal treffe ein dringend benötigtes Stück noch in letzter Minute ein. «So funktioniert das häufig auf dem Land, bis jetzt geht es gut auf.» Diese Art von Pragmatismus scheint beim Treffen mit Högger immer wieder durch.

Vielleicht geht das auch gar nicht anders. Högger ist verantwortlich für den nach den Städten Zürich und Winterthur drittgrössten Asylraum im Kanton Zürich. Dies, weil sich im Bezirk Affoltern nicht jede Gemeinde einzeln um die Asylbewerber kümmert, sondern das Asylwesen im 42’000-Einwohner-Bezirk mit seinen elf Gemeinden zentral vom Hauptort Affoltern am Albis aus organisiert ist. Oder anders gesagt: Jedes Papier in dieser Angelegenheit, jeder Antrag und jedes Formular, geht bei Michelle Högger und ihrem Team über den Tisch.

Das sieht man in ihrem Büro im dritten Stock eines schmucklosen Baus im Industriequartier von Affoltern. Auf allen Oberflächen im Raum stapeln sich Papiere, Platz für zusätzliche Stapel gibt es keinen. Sogar auf dem Boden liegen Formulare. «Es sieht etwas chaotisch aus, aber ich weiss genau, wo ich was finde», sagt Högger. So funktioniere ihr System. Und dieses habe sie im Griff. Weil dieses System aber bald an seine Grenzen stosse, muss ihre Abteilung zwei zusätzliche Leute einstellen.

Gemeinden bekunden Mühe, Geflüchtete unterzubringen

Die in diesem Büro sich türmende Arbeit widerspiegelt das Bild, das derzeit in den meisten Zürcher Gemeinden vorherrscht. Der Zürcher Präsident der Gemeindepräsidien, Jörg Kündig (FDP), sagt auf Anfrage: «Die Situation ist insgesamt angespannt, viele Gemeinden suchen nach Unterbringungen für Geflüchtete.» Wie dringend die Wohnungsknappheit ist, zeigte jüngst auch eine Umfrage der NZZ, wonach 80 Prozent der Gemeinden Mühe haben, Wohnraum für diese Menschen zu finden.

Am meisten trifft das auf kleine Gemeinden mit weniger als 10’000 Einwohnern zu. Umso mehr, seit der Kanton die Aufnahmequote für Asylbewerber per 1. Juni von 0,9 auf 1,3 angehoben hat. Auf 1000 Einwohner kommen jetzt 13 Asylbewerberinnen und -bewerber. «Derzeit bewegt sich die erreichte Quote zwar noch bei 1,2 Prozent, aber es geht darum, auf diese Erhöhung vorbereitet zu sein», sagt Kündig.

Ein sehr düsteres Bild der Situation in der Schweiz zeichnete die SVP an ihrem Sonderparteitag in Küssnacht SZ Anfang Juli. Am Rednerpult standen dort nicht nur die landesweit bekannten Figuren, sondern mit Ursula Junker auch eine relativ unbekannte SVP-Kantonsrätin aus der Gemeinde Mettmenstetten, Bezirk Affoltern. Sie ist eine Bekannte von Högger.

Der Wohnungsmarkt in der Region sei ausgetrocknet, sagte Junker in ihrer Rede vor versammelter SVP-Elite. Es kämen zu viele und die falschen Flüchtlinge, der Drogenhandel werde zunehmen, raunte sie. Den Gemeinden werde derzeit zu viel zugemutet. Bund und Kanton hätten die Lage nicht im Griff. Als Beispiel diente Junker der Bezirk Affoltern, ihre Informationen hatte sie teilweise aus Gesprächen mit Högger, wie diese sagt. Nach der Rede Junkers fasste der Moderator zusammen: «Ein eindrücklicher Bericht aus dem Sozialwesen, das diesen Namen schon lange nicht mehr verdient.»

Der alarmistische Ton von Junkers Rede, der bei anderen Rednern an diesem Tag noch einmal deutlich schärfer klang, widerspricht dem Pragmatismus und der täglichen Arbeit von Höggers Team, die sich beim Besuch im Säuliamt zeigten.

Mit den Leuten vor Ort zu sprechen, hilft

Klar ist: Die Situation hat sich seit dem Ausbruch des Krieges im Frühling 2022 auch im Bezirk Affoltern zugespitzt. Seit dem Jahr 2022 ist die Zahl von Asylsuchenden in den elf Gemeinden, die der Sozialdienst im Bezirk unter einem Dach betreut, von 150 auf 600 Personen angestiegen. Höggers Team ist von drei Personen auf zwölf angewachsen. «Früher habe ich jeden einzelnen Asylbewerber noch persönlich gekannt, heute ist das nicht mehr möglich», sagt sie. Kürzlich musste der Bezirk zwei Kollektivunterkünfte eröffnen, in einer Zivilschutzanlage und einer Militärunterkunft.

Das führt in den Gemeinden zu Diskussionen. So zum Beispiel an einem Tag der offenen Tür in der Zivilschutzanlage Obfelden vor wenigen Wochen, an dem viele Anwohnerinnen und Anwohner im Gespräch mit Högger ihre Sorgen formuliert hätten. «Viele waren besorgt, weil derzeit vor allem junge Männer in die Region kommen», sagt Högger. Sie weiss zwar, dass Kollektivunterkünfte unpopulär sind. Doch aus Erfahrung sagt sie: «Wenn wir die Massnahmen vor Ort den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern erklären können, nehmen sie diese an.»

«Die SVP bringt das Thema wenigstens auf den Tisch»

Besonders in einem «so konservativen Milieu» wie im Bezirk Affoltern seien diese Gespräche zentral. «So ist das nun mal auf dem Land», wiederholt Högger, «wir sprechen hier miteinander.» Diesem Miteinander sei zu verdanken gewesen, dass Bonstetten im Jahr 2016 per Handschlag von einem Tag auf den anderen 120 zusätzliche Geflüchtete aus Syrien aufgenommen habe. Negative Reaktionen aus der Bevölkerung seien damals ausgeblieben.

Högger, die sich selbst als «links, aber nicht ideologisch» bezeichnet, kritisiert Junker und die SVP nicht generell. «Ich unterstütze vieles von der SVP nicht, aber dass sie das Thema überhaupt auf den Tisch bringt, finde ich gut», sagt sie. Auch Högger kritisiert den Kanton, weil manchmal Geflüchtete von den kantonalen Einrichtungen in die Gemeinden kommen würden, ohne je einen Deutschkurs besucht zu haben. Auch seien deren Geschichten oft zu knapp dokumentiert.

Doch ein so düsteres Bild zu zeichnen, wie das die Rednerinnen und Redner am SVP-Parteitag machten, das bringe ihr nichts. Stattdessen beschwere sie sich jeweils direkt bei der Sicherheitsdirektion des Kantons. «Die Reaktionen darauf waren bisher sehr entgegenkommend», sagt sie.  Und so bleibt Högger, trotz einiger Probleme und der generell angespannten Lage, optimistisch. Mehr noch: «Die Leute arbeiten zwar viel, aber sie arbeiten sehr gerne bei uns», sagt sie.

Dies bestätigt auch Hanspeter Leuenberger, der im Einfamilienhaus in Hedingen für das Warenlager zuständig ist. Fluktuation gebe es in der Abteilung praktisch keine, sagt er. Dies, obwohl man sich seit einer Weile schon im Krisenmodus befinde: Die laufende Woche plant das Team jeweils erst am Montagmorgen, früher sei dies nicht möglich. Wer weiss, ob kurz vor der Inbetriebnahme einer Einrichtung noch ein neues Möbel reinkommt? Ferien beziehen die Angestellten des Sozialdienstes derzeit nur eine Woche am Stück.

Es laufe deshalb so gut, weil die meisten im Bezirk am gleichen Strick ziehen würden, sagt Högger. Auch die SVP-Kantonsrätin Ursula Junker habe viel dazu beigetragen, dass die Zahnräder im Affoltemer Asylwesen derzeit ineinandergreifen würden. «Dank ihren Aufrufen ist schon einiges an Mobiliar für die Asyleinrichtungen zusammengekommen», sagt Högger.

Zugute kommt dem mehrere Gemeinden umfassenden System im Bezirk Affoltern auch, dass es flexibel ist. Hat eine Gemeinde mehr Mühe, die Quote zu erfüllen, und einer anderen fehlt der Platz, können Personen problemlos umplatziert werden. «In der Zivilschutzanlage in Obfelden sind derzeit Geflüchtete aus drei verschiedenen Gemeinden untergebracht», sagt Högger. Dank der zentralen Struktur bündle sich im Asylwesen zudem viel Fachkompetenz. Das sei in anderen Gemeinden, in denen teilweise ehrenamtlich gearbeitet werde, nicht immer der Fall. «Das föderalistische Modell stösst in der aktuellen Krisenzeit an seine Grenzen», sagt sie.

Gemeinden könnten künftig zusammenarbeiten

Das spüren derzeit auch die Gemeinden. Eine Zusammenarbeit über die Grenzen hinaus könnte sich in Zukunft als Lösung erweisen. Der Präsident der Zürcher Gemeindepräsidien, Jörg Kündig, sagt, dass Lösungen über die Grenzen hinaus derzeit Thema seien. «Wichtig ist, dass aufgrund dieser überkommunalen Zusammenarbeit weder die Gemeinden, die ihr Soll übererfüllen, noch jene, die zu knappen Platz haben, vom Kanton abgestraft werden», sagt er. Sonst würden pragmatische Lösungsansätze verunmöglicht. Ein Beispiel für diese Zusammenarbeit ist etwa Lufingen, das Asylbewerbende in der Nachbargemeinde Embrach untergebracht hat.

Für Michelle Högger ist diese Art von Zusammenarbeit Alltag. Die auf dem Land aufgewachsene Bernerin kann sich nicht vorstellen, in einer anderen Gegend im Kanton zu arbeiten. «Schon gar nicht möchte ich in der Stadt Zürich arbeiten», sagt sie gegen Ende halb ernst. Nicht weil das System dort nicht funktioniere, sondern weil die Angestellten weniger im Kontakt mit den Schutzsuchenden und den Leuten in den Gemeinden seien.
(https://www.tagesanzeiger.ch/frueher-habe-ich-jeden-einzelnen-asylbewerber-noch-persoenlich-gekannt-heute-ist-das-nicht-mehr-moeglich-620938776155)


+++DEUTSCHLAND
Faeser: Mehr Abschiebungen, bitte!
Nancy Faeser will erzwungene Ausreisen erleichtern. Die Grüne Fraktion sieht das Vorhaben kritisch
Das Bundesinnenministerium plant schärfere Regelungen für Abschiebungen und will die Rechte von Asylsuchenden einschränken. Im Frühjahr hatten die Länder härtere Maßnahmen gefordert.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175251.asylpolitik-faeser-mehr-abschiebungen-bitte.html


+++ÄRMELKANAL
BKA ermittelt am Ärmelkanal
Deutsche Behörden verhindern Schleusungen aus der EU
In gemeinsamen Razzien beschlagnahmen europäische Polizeien Rettungswesten und erschweren damit Überfahrten von Geflüchteten nach Großbritannien. Auch die Bundespolizei beteiligt sich daran.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175250.europaeische-polizeiaktion-bka-ermittelt-am-aermelkanal.html


+++GRIECHENLAND
Griechenland: Initiative für Flüchtlingskinder – Echo der Zeit
In den meist abgelegenen griechischen Flüchtlingscamps sind auch tausende minderjährige Flüchtlinge untergebracht. Damit einige dieser Kinder und Jugendlichen zumindest für ein paar Tage eine unbeschwerte Zeit erleben können, haben Bewohnerinnen und Bewohner der kleinen Kykladen-Insel Sifnos eine ganz besondere Initiative ins Leben gerufen.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/griechenland-initiative-fuer-fluechtlingskinder?partId=12431294


Griechenland Das Schiffsunglück in Pylos muss dringend menschenrechtskonform untersucht werden
Starke Abweichungen in den Berichten von Überlebenden und den griechischen Behörden hinsichtlich der Umstände des tödlichen Schiffsunglücks von Pylos unterstreichen die dringende Notwendigkeit einer wirksamen, unabhängigen und unparteiischen Untersuchung des Vorfalls.
https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/griechenland/dok/2023/das-schiffsunglueck-in-pylos-muss-dringend-menschenrechtskonform-untersucht-werden


+++MITTELMEER
Flucht übers Mittelmeer: Seenotrettung kein „Pull-Faktor“
Eine Studie zeigt, dass Gewalt und Krisen, nicht Rettungsmissionen, zu mehr Bootsgeflüchteten führen. Sea-Eye fordert ein Ende der Abschottung.
https://taz.de/Flucht-uebers-Mittelmeer/!5952245/


+++EUROPA
Der europäische Trend in der Asylpolitik: Verantwortung auslagern
Die Kooperation europäischer Staaten mit sogenannten Drittstaaten wird im Migrationsbereich immer relevanter. Die Europäische Union und die Schengen-assoziierten Staaten nehmen gerne Geld in die Hand, um andere Länder ausserhalb Europas für die Aufnahme von Menschen und die Durchführung von Asylverfahren zu bezahlen. Drittstaaten sollen die Migration zudem im europäischen Sinn steuern. Schutzsuchende Menschen und ihre Rechte bleiben dabei auf der Strecke.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/standpunkt/der-europaeische-trend-in-der-asylpolitik-verantwortung-auslagern


+++TUNESIEN
derbund.ch 03.08.2023

Flüchtlingsdrama in Tunesien: Verdurstet in der Wüste

Fati Dosso und ihre sechsjährige Tochter Marie sind tot – verdurstet im libysch-tunesischen Grenzgebiet, ausgesetzt von Tunesiern. Kann ihr Schicksal den Umgang mit Migranten in Nordafrika verändern?

Mirco Keilberth aus Sfax

Als Mbengue Nyimbilo Crepin das Foto einer in der Wüste verdursteten Frau und ihres Kindes sah, war er sich sicher, dass es sich dabei um seine Frau Fati Dosso und ihre gemeinsame sechsjährige Tochter Marie handeln musste. «Sie liegen in derselben Position, in der sie zu Hause auch immer im Bett eingeschlafen sind», sagte er diese Woche mitreisenden Migranten unter Tränen, wie diese in einem Telefongespräch mit unserer Redaktion berichten. Sie hatten das Bild der beiden auf einer libyschen Facebook-Seite entdeckt.

Zusammen mit Fati und Marie war der von seinen Freunden Pato genannte Kameruner vor drei Jahren aus Westafrika aufgebrochen. Es sollte eine Reise in ein besseres Leben sein. Eine Zukunft sahen sie zumindest für ihre Tochter weder in dem von bürgerkriegsartiger Gewalt geplagten englischsprachigen Teil Kameruns noch in Fatis Heimat Elfenbeinküste.

So landeten sie in Tunesien, in der Hafenstadt Sfax. Dort sollen Nachbarn am 16. Juli die Familie aus ihrer Wohnung gezerrt haben. Die Migranten seien für die Wirtschaftskrise und steigende Kriminalität verantwortlich, hätten die Tunesier gebrüllt, während sie die Familie in einen überfüllten Reisebus geprügelt und später zusammen mit 30 anderen Migranten an der 400 Kilometer entfernten Grenze zu Libyen ausgesetzt haben sollen.

Ausgesetzt bei Temperaturen von über 50 Grad

Dort irrte die Gruppe von Migranten aus Subsahara-Afrika tagelang orientierungslos durch die wüstenartige Landschaft. Trotz der Rekordtemperaturen von über 50 Grad haben tunesische Behörden in den ersten Tagen der «Kampagne gegen illegale Migration» nach Angaben von tunesischen Menschenrechtsaktivisten mehr als 1200 Migranten ohne jede Hilfe an den Landesgrenzen ausgesetzt. Gemäss der Hilfsorganisation Roter Halbmond werden immer mehr Migranten auf diese Weise deportiert.

Viele der offenbar zufällig Ausgewählten waren bei den Angriffen verletzt worden. So auch Pato. Er konnte wegen der von Stockschlägen verursachten Prellungen nicht lange mit der Gruppe mithalten. Doch eine Pause wäre vor allem für die kleine Marie tödlich gewesen. Sie mussten die normalerweise so gefürchteten libyschen Milizen so schnell wie möglich erreichen, um Wasser trinken zu können.

In einem Telefongespräch mit unserer Redaktion berichtet der 36-jährige Kameruner von den letzten gemeinsamen Momenten mit Fati und Marie. «Ich flehte meine Frau an, mit Marie weiterzugehen. Das Überleben der beiden hing davon ab. Wir sind dann noch mindestens eine Stunde gelaufen, bevor ich das Bewusstsein verlor. Meine Frau und meine Tochter begannen zu weinen. Ich bat sie wieder, mich zurückzulassen. Sie mussten die anderen vor uns wieder einholen.» Während Fati und Marie schliesslich weinend weitergingen, schloss Pato mit seinem Leben ab. «Ich hatte nicht einmal mehr Kraft, um zu atmen», erzählt er.

Mitten in der Nacht fanden drei ebenfalls in Richtung Libyen flüchtende Sudanesen den ohnmächtigen Mann im Sand. Sie hatten ausreichend Wasser dabei und stützten ihn während des gemeinsamen Weitermarsches. Am nächsten Morgen erreichten sie einen einsamen libyschen Grenzposten. Die Uniformierten versorgten sie mit Wasser, Sanitäter des Roten Halbmondes verbanden ihre Verletzungen. Das ist Patos Version der Geschichte, die sich nur teilweise überprüfen lässt.

Pato sagt, er und seine sudanesischen Retter seien zu einem Sammelpunkt gebracht worden, den auch andere Migranten aus dem Bus erreicht hatten. Von Fati und Marie fehlte jedoch jede Spur. «Ich wusste zwar, dass es die beiden nach Libyen geschafft haben konnten. Aber offenbar hatte meine ursprüngliche Gruppe in der Nacht viele Menschen zurücklassen müssen. Als sie mir dann die Fotos zeigten, erkannte ich ihre Kleidung und ihre Körperhaltung», sagt Pato am Telefon. «Aber ich weiss nicht, wo sie gefunden wurden.»

Fünfmal versuchten sie, nach Europa zu gelangen

Fati und Pato hatten sich 2016 als Flüchtlinge in Libyen kennen gelernt, wie er erzählt. Sie hätten über viele Monate Arbeit und eine Unterkunft in Tripolis gehabt. Doch ihre ständige Angst vor Entführung durch Milizen oder Erpresserbanden liess die Fahrt in einem Schlauchboot zur italienischen Insel Lampedusa wie ein kalkulierbares Risiko erscheinen. Fünfmal versuchten die Eltern der im März 2017 geborenen Marie, von den Stränden Westlibyens per Boot nach Europa zu gelangen. Dreimal stoppten sie Patrouillen der libyschen Küstenwache, zweimal versagte der Motor. Sie überlebten mit viel Glück – wurden aber wegen illegaler Migration inhaftiert.

Die Lage in den staatlich verwalteten Gefängnissen für Migranten und auf den Strassen Libyens sei 2021 für Dunkelhäutige immer unerträglicher geworden, beklagte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch im Oktober 2022. Bei Razzien im Herbst trieben die von Premierminister Abdulhamid Dabaiba bezahlten Milizen Tausende Migranten auf die Strasse. Fati arbeitete bis dahin als Putzfrau, Pato verdiente als Handwerker genug, um die Mietwohnung und Schulbücher für Marie zu finanzieren. Nun seien sie zusammen mit 2000 anderen Migranten in einer stickigen Lagerhalle untergebracht worden, sagt Pato.

Die unmenschlichen hygienischen Zustände hätten zu einer Massenflucht der Inhaftierten geführt. Zusammen mit Hunderten anderen Migranten schliefen sie vor dem Hauptquartier des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen, des UNHCR. Doch die UNO-Mitarbeiter hätten sie weitgehend ignoriert, denn «sie wollten es sich wohl nicht mit den Milizen verscherzen», glaubt Pato. Ein Zurück in die Arbeitslosigkeit in der Heimat kam nicht infrage. Das Paar entschied sich für die Flucht in die tunesische Hafenstadt Sfax. Nach einem ruhigen Jahr begannen tunesische Nationalisten mit der Vertreibung vieler Migranten nach Libyen.

Die EU zahlt der Regierung des tunesischen Präsidenten Kais Saied mehr als 100 Millionen Euro für die Bekämpfung der illegalen Migration. Europa will, dass Saied die Flüchtlingsboote stoppt, die von Sfax ablegen. Fast 52’000 der 84’000 Menschen, die nach UNO–Angaben seit Jahresbeginn per Schiff in Italien angekommen sind, sind in tunesischen Häfen losgefahren. Das im Juli unterzeichnete Abkommen der EU mit Tunesien soll in ähnlicher Form auch auf andere Länder der Region übertragen werden.

Kritiker machen EU mitverantwortlich für Flüchtlingstragödien

Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen werfen der EU vor, sich damit mitschuldig am Schicksal von Migranten wie Fati und Pato zu machen. Europa löse nicht das Flüchtlingsproblem, so der Vorwurf: Europa konzentriere sich nur darauf, die Sicherung seiner Aussengrenzen anderen Akteuren zu überlassen, statt sichere und legale Wege für die Zuwanderung zu schaffen.

Das Foto der beiden Toten – Mutter und Tochter, eng umschlungen im Wüstensand liegend – wird nun zum Symbol für diesen Vorwurf. Das Bild geistert seit Tagen durch die sozialen Netzwerke. Es ist zum Mahnmal für das geworden, was gerade auf den Migrationsrouten in Richtung Europa geschieht.

Fati habe nicht gewusst, auf was sie sich mit der Reise eingelassen habe, sagt eine in der Elfenbeinküste lebende Schwester von Dosso am Telefon. «Aber sie wollte das Leben ihrer Tochter nicht noch einmal aufs Spiel setzen und in Sfax bleiben und arbeiten.»

Die schärfste Kritik an den tödlichen Abschiebungen in die Wüste kommt derweil von ungewöhnlicher Seite. Einer der libyschen Offiziere, die Fati, Marie und über zehn weitere Verdurstete gefunden hatten, richtete sich vergangene Woche per Video an die Politiker in Brüssel und ihr neues Partnerland in Sachen Migration. «Bei 50 Grad schickt ihr Kinder und Frauen ohne Wasser in die Wüste. Tunesien, wo bist du? Schämt ihr euch gar nicht?»
(https://www.derbund.ch/verdurstet-in-der-wueste-953795200210)


+++GASSE
Auf Polizeipatrouille mit der Basler Polizei, die konsequent Bettlerinnen und Bettler wegweist. (ab 09:14)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/im-raum-liestal-haeufen-sich-meldungen-von-hautpilz-am-kopf?id=12431159
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/basler-polizei-konsequent-gegen-bettelnde?partId=12431138


Die Folgen der neuen Regel in Luzern: Jeder kann jetzt 9,9 Gramm Cannabis rumtragen – und behalten
Seit rund sechs Jahren ist der Besitz von Cannabis zum Eigenkonsum straffrei. Doch bisher nahm die Polizei auch Kleinmengen ab. Das ist jetzt vorbei, und die Frage kommt auf: Was bedeutet das für Luzern?
https://www.zentralplus.ch/gesundheit-fitness/jeder-kann-jetzt-99-gramm-cannabis-rumtragen-und-behalten-2567455/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Autobahnausfahrt blockiert – Klimakleber werden zur Kasse gebeten
Mehrere Aktivistinnen und Aktivisten blockierten im Oktober 2022 die Autobahnausfahrt Bern-Wankdorf. Dafür hat sie die Staatsanwaltschaft nun verurteilt.
https://www.20min.ch/story/autobahnausfahrt-blockiert-klimakleber-werden-zur-kasse-gebeten-803264658218
-> https://www.derbund.ch/klima-aktivisten-werden-nach-klebeaktion-gebuesst-534237789455
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/wankdorf-klimakleber-verurteilt-ein-aktivist-muss-zahlen-152806862
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/wankdorf-be-klima-aktivisten-fur-strassenblockade-verurteilt-66564117



nzz.ch 03.08.2023

Ein Gerücht macht die Teilnehmer der Critical Mass in Zürich nervös: Blühen ihnen härtere Strafen als gedacht?

Für einen Rechtsprofessor ist klar: Wer mit dem Velo Strassen blockiert, muss mit einem Prozess und bedingter Freiheitsstrafe rechnen.

Marius Huber

Auf die kollektive Feier des zivilen Ungehorsams folgt das individuelle Bangen wegen der Folgen: 52 Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Critical Mass vom letzten Freitag fragen sich, ob ihnen härtere Strafen blühen als zunächst gedacht. Es sind jene paar Dutzend, die von der Polizei gestoppt und kontrolliert worden sind, während die grosse Mehrheit ungeschoren davonkam.

Im Vorfeld herrschte der Konsens, dass bei einer Teilnahme an der Critical Mass schlimmstenfalls eine Rechnung von ein paar hundert Franken drohe. Auch die Stadtpolizei äusserte sich entsprechend.

Die Veranstaltung wurde zwar diesmal aufgrund eines Urteil des Statthalters erstmals als unbewilligte Demonstration gewertet, nicht mehr als «spontanes Verkehrsaufkommen». Doch die Teilnahme an einer solchen gilt bloss als Übertretung. Das ist die geringste aller Deliktarten, auf einer Ebene etwa mit Falschparkieren. Die Busse, die der Stadtrichter dafür verhängen kann, beträgt maximal 500 Franken.

Nun kursiert jedoch das Gerücht, dass die Stadtpolizei bei Kontrollen am Freitag ein schwereres Delikt ins Feld geführt habe: Nötigung im Strassenverkehr. Dieser Vorwurf sei gegen mehrere jener Teilnehmer erhoben worden, die entlang der Route den Verkehr blockiert hätten, heisst es auf den Kommunikationskanälen der Critical Mass.

Die dabei angewandte Taktik wird in der Szene als «Corking» bezeichnet und gehört zum festen Repertoire der internationalen Velo-Bewegung. Dabei werden querende Strassen wie mit einem Zapfen verkorkt: Einzelne Fahrradfahrer stellen sich quer vor die Autos, um die Masse der Teilnehmerinnen zu schützen, bis der Umzug vorbeigezogen ist.

Diese Vorhut der Critical Mass ist bei kritischen Situationen oft im Fokus. Am vergangenen Freitag etwa kam es zu einem wütenden Wortgefecht zwischen einem «Corker» und einem Autofahrer, der auf sein Vortrittsrecht pochte. An einer anderen Stelle liess ein ungeduldiger Motorradfahrer drohend den Motor aufheulen.

Die Zürcher Stadtpolizei dementiert das Gerücht. Wegen Nötigung sei am Freitag niemand verzeigt worden. Gleichwohl fände es der FDP-Gemeinderat Michael Schmid, ein Kritiker der Velo-Demo, richtig, wenn nun auch geklärt würde, ob die Verkehrsblockaden mehr seien als Kavaliersdelikte: «Ich habe mich zum Beispiel immer gefragt, warum sie nicht als schwere Verkehrsregelverletzung gewertet und geahndet werden.»

«Tatbestand der Nötigung ist zu hundert Prozent erfüllt»

Was den Tatbestand der Nötigung angeht, ist der Fall für den Rechtsprofessor Hans Giger, der den Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz verfasst hat, klar: «Er ist zu hundert Prozent erfüllt, weil andere Menschen gezwungen werden, ihr Verhalten anzupassen.» Werde dies nicht geahndet, sei dies ein Gesetzesbruch – das ist im Kern das gleiche Argument, das den Statthalter dazu bewogen hat, die Critical Mass für bewilligungspflichtig zu erklären.

Da Nötigung laut Giger anders als die Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration kein Bagatelldelikt ist, landet ein solcher Fall zwingend vor Gericht. Das Strafmass richte sich nach der Schwere der nachweisbaren Folgen. Selbst wenn nichts passiert sei, müsse man im Minimum mit zwei bis drei Monaten Gefängnis bedingt rechnen, sofern keine Milderungsgründe vorlägen.

Die Critical-Mass-Bewegung stellt sich darauf ein, dass der letzte Freitag teurer werden könnte als angenommen. Und dass die paar tausend Franken, die sie gesammelt hat, um Bussen und allfällige Anwaltskosten solidarisch zu bezahlen, nicht genügen. Sie befürchtet harte Urteile, die eine abschreckende Wirkung erzielen sollen. Um gegenzuhalten, sind Anlässe in Planung, an denen Geld gesammelt wird.

Auch wenn es nur beim Vorwurf der Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration bleiben sollte, ist vielen klar, dass die Polizei starkes Beweismaterial hat: Die zahlreichen Videoaufnahmen, die Beamte am Freitag gemacht haben, werden bei Einsprachen herbeigezogen. Wer im Pulk zu sehen ist, hat ein Problem. Wie die Polizei im Fall gestoppter Velofahrer argumentiert, die allein unterwegs waren, lässt sie offen.

Die entscheidende Frage: Was ist verhältnismässig?

Im Gegensatz zu linken Politikern ist der FDP-Mann Michael Schmid zufrieden mit der Art, wie die Polizei die erste Critical Mass unter neuen Vorzeichen handhabte. Sie habe ein Zeichen gesetzt, dass das Recht für alle gelte. So habe die Polizei – zusammen mit dem schlechten Wetter – dazu beigetragen, dass der Auflauf bescheiden geblieben sei und es keine grösseren Verkehrsstörungen gegeben habe.

Die Analyse des Einsatzes werde zeigen, ob künftig noch stärker interveniert werden müsse. Ein Thema, das sicher zu reden gibt: Die Stadtpolizei konzentrierte ihre Präsenz stark auf den Bürkliplatz und verlor dadurch den ausweichenden Umzug zeitweise aus den Augen. Zudem wurde sie nur eines Bruchteils aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer habhaft. Letzteres begründet sie damit, dass sie die Verhältnismässigkeit wahren müsse.

Aus dem gleichen Grund verzichtet die Polizei auch darauf, Velos von Demonstrationsteilnehmern vorübergehend einzuziehen. Etwas, wozu sie in anderen Situationen durchaus bereit ist, wie sich bei einem gefälschten Polizei-Velo gezeigt hat. Die beiden Fälle liessen sich nicht vergleichen, heisst es dazu auf Anfrage. Und dass am Freitag zwar Wagen mit Musikanlagen eingezogen wurden, nicht aber Fahrräder, begründet sie wie folgt: Die Wagen seien als Demonstrationsmaterial eingestuft worden und seien überdies ein Problem für die Verkehrssicherheit.

Auch Michael Schmid unterstützt den Grundsatz der Verhältnismässigkeit, den die grüne Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart für den Polizeieinsatz vorgab. Wobei er klarstellt: «Verhältnismässigkeit gilt in beide Richtungen.» Einfach nichts zu machen, wie in der Vergangenheit, sei falsch gewesen, das habe der Statthalter klargestellt. Gleichzeitig dürfe man jetzt auch nicht übers Ziel hinausschiessen.

Das Demonstrationsrecht sei wichtig, sagt Schmid, und die Teilnahme an einer unbewilligten Kundgebung sei nun einmal kein schweres Vergehen. In der Stadt Zürich könnte sie in absehbarer Zeit sogar überhaupt keines mehr sein, denn die links-grüne Mehrheit im Gemeinderat hat Ende März entschieden, eine entsprechende Änderung der Polizeiverordnung ausarbeiten zu lassen.

Eine rasche Entkrampfung gäbe es wohl nur, wenn aus dem Kreis der Critical Mass um eine Bewilligung ersucht würde. Dafür gibt es aber höchstens sehr zaghafte Anzeichen, die Mehrheit bleibt dagegen. Unklar ist, ob eine grosse Rundfahrt im bisherigen Stil überhaupt bewilligungsfähig wäre – die Polizei entscheidet von Fall zu Fall.

Mehr wird man wissen, wenn in drei Wochen die nächste Critical Mass ansteht, dann vielleicht wieder bei schönem Spätsommerwetter. Der juristische Nebel dürfte sich bis dahin nicht gelichtet haben. Denn bis die Strafbefehle ausgestellt werden, dauert es in der Regel Monate.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-drohen-teilnehmern-der-critical-mass-haertere-strafen-ld.1749829)
-> https://www.nau.ch/ort/zurich/critical-mass-zurich-drohen-den-teilnehmern-nun-sogar-haftstrafen-66564140



«Da muss ich kotzen»: Juso-Politikerin zeigt Schweizer Fahne den Stinkefinger
Mathilde Mottet ist Gemeinderätin von Monthey im Kanton Wallis. Am Nationalfeiertag hat sie ein Selfie veröffentlicht, auf dem sie der Schweizer Fahne den Stinkefinger zeigt – und damit einen Shitstorm ausgelöst.
https://www.blick.ch/politik/da-muss-ich-kotzen-juso-politikerin-zeigt-schweizer-fahne-den-stinkefinger-id18806350.html


+++ANARCHY 2023
Anything goes
Buntscheckig, ohne erkennbares politisches Programm, aber gut organisiert. Zum Anarchistentreffen im Schweizer Saint-Imier
https://www.jungewelt.de/artikel/456061.reportage-anything-goes.html


+++SPORT
AKTIONSSPIELTAG GEGEN KOLLEKTIVSTRAFEN
Am kommenden Spieltag spielen der FC St. Gallen und der FC Luzern zum ersten Mal in dieser Saison gegeneinander. Aufgrund von Kollektivstrafen gegen Fans sollen alle Begegnungen der beiden Clubs in dieser Saison ohne Gästefans stattfinden. Aus Protest bleiben die Fankurven in allen Stadien der oberen zwei Ligen während den ersten 15 Minuten leer. Die Aktion ist ein gemeinsames Zeichen der Entschlossenheit in Richtung aller Hardliner bei den Behörden und in der Politik, die seit der Wiedereröffnung der Stadien nach der Pandemie ohne Not die Repressionsschraube anziehen.
https://www.ostkurve.be/leere-kurven-kollektive-antworten-auf-kollektivstrafen/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/sport/ostschweiz/fussball-kollektive-antworten-auf-kollektivstrafen-fankurven-der-obersten-zwei-ligen-kuendigen-protestaktion-an-so-auch-der-espenblock-ld.2494861
-> https://www.tagblatt.ch/sport/ostschweiz/fussball-kollektive-antworten-auf-kollektivstrafen-fankurven-der-obersten-zwei-ligen-kuendigen-protestaktion-an-so-auch-der-espenblock-ld.2494861
-> https://www.zentralplus.ch/sport/fc-luzern/fcl-fans-kuendigen-protestaktion-in-st-gallen-an-2567826/
-> https://www.pilatustoday.ch/sport/fcl/kontrolle-zu-bewahren-ist-erschwert-st-gallen-bereitet-sich-auf-hochrisikospiel-vor-152809065?autoplay=true&mainAssetId=Asset:152809072
-> https://www.pilatustoday.ch/zentralschweiz/luzern/fanszenen-wehren-sich-gemeinsam-gegen-kollektivstrafe-152810587
-> https://www.blick.ch/sport/fussball/superleague/grosse-protestaktion-fankurven-bleiben-fuer-die-ersten-15-minuten-leer-id18807216.html
-> https://www.pilatustoday.ch/zentralschweiz/luzern/fanszenen-wehren-sich-gemeinsam-gegen-kollektivstrafe-152810587



https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/ticker-videos-zeigen-praesenz-der-djurgarden-fans-polizei-warnt-vor-annaeherung-fangewalt-vor-luzerner-bar-am-mittwoch-ld.2494789
ABO https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/conference-league-qualifikation-djurgarden-in-luzern-ausschreitungen-und-drohungen-aber-auch-friedliche-fans-wie-der-legendaere-jonny-ld.2495016


+++REPRESSION DE
Linksunten Indymedia: Die Suche nach einer verbotenen Vereinigung
Erneut gehen die Behörden gegen Linksunten Indymedia vor. Die Polizei durchsuchte fünf Personen, die angeblich das Archiv der Seite betreiben würden. Juristen vermuten einen Zusammenhang mit dem Vorgehen gegen einen freien Radiosender und bezeichnen die Durchsuchung als verzweifelte Suche nach einer Vereinigung.
https://netzpolitik.org/2023/linksunten-indymedia-die-suche-nach-einer-verbotenen-vereinigung/
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175231.repression-freiburg-erneut-razzien-wegen-indymedia-linksunten.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/456164.gegen-die-pressefreiheit-der-feind-steht-links-unten.html
-> https://taz.de/Durchsuchungen-bei-Aktivistinnen/!5948234/


+++RECHTSPOPULISMUS
Überspitzt gesagt: Wer an der Pride mitläuft, wurde indoktriniert, finden die Ostschweizer Jungparteien der SVP
Die Jung-SVPler ringen um ihre Fassung: Die PHSG und der HSG-Verein Unigay laufen an der ersten St.Galler Pride, die am 12. August stattfindet, mit. Das sei nicht politisch neutral, finden die bürgerlichen Jungpolitiker. Das Pride-OK findet: Das ist Stimmungsmache auf Kosten von Minderheiten.
https://www.dieostschweiz.ch/artikel/ueberspitzt-gesagt-wer-an-der-pride-mitlaeuft-wurde-indoktriniert-finden-die-ostschweizer-jungparteien-der-svp-3OMEDWo
-> https://www.jsvp-sg.ch/up/files/Medienmitteilung-Pride-SG.pdf


Teilnahmeverbot für Hochschulen gefordert: Mass-Voll präsentiert Nationalratsliste für den Aargau – und muss nach SVP-Absage alleine in die Wahlen
Die Bewegung Mass-Voll, eine Gruppierung vorab aus Coronaskeptikern hat ihre Liste für den Kanton Aargau eingereicht. Nach der Absage von Nancy Holten fehlen ausser Spitzenkandidat Roland Bühlmann von den Freunden der Verfassung bekannte Namen.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/wahlen-2023-buehlmann-und-sechs-nobodys-mass-voll-praesentiert-ihre-nationalratsliste-fuer-den-aargau-ld.2494744
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/nutzen-und-schaden-von-listenverbindungen-bei-wahlen?partId=12431267
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/umstrittene-listenverbindung-mit-mass-voll-152814144
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/mass-voll-listenverbindung-mit-solothurn-152814309
-> https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/wahlkampf-svp-solothurn-geht-mit-mass-voll-ins-bett-listenverbindung-gibt-auch-im-baselbiet-zu-reden-ld.2494786


Zuwanderung & Asyl: SVP startet Wahlkampf – und will gar kriminelle Schweizer ausbürgern
Im August beginnt die heisse Phase des Wahlkampfes. Als erste Partei hat die SVP in Bern über ihre Kampagne orientiert. Einziges Thema: die Zuwanderung. Sogar Eingebürgerte geraten ins Visier.
https://www.20min.ch/story/svp-startet-wahlkampf-und-will-gar-kriminelle-schweizer-ausbuergern-320362913442?version=1691074519365
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/migrationspapier-svp-schweiz-152814179



nzz.ch 03.08.2023

Die SVP bezeichnet unerwünschte Ausländer als «Massenware» und rechnet das Wirtschaftswachstum klein

Mit aller Kraft macht die Volkspartei die Migration zum Thema im Wahlkampf, vorab mit ihrer Initiative gegen eine «10-Millionen-Schweiz». Ihren Gegnern wirft sie vor, die Schweiz «aufgegeben» zu haben.

Fabian Schäfer, Bern

Bei den Wahlen vor vier Jahren hat die SVP verloren, diesen Herbst will sie zumindest einen Teil der Verluste wieder wettmachen. Dazu setzt sie auf ihre Paradedisziplin, die Ausländerpolitik. Am Donnerstag hat die Parteispitze um den Präsidenten Marco Chiesa in Bern ein neues Positionspapier zum Thema präsentiert, in dem sie routiniert den grossen Bogen schlägt von der Asylpolitik über die Ausländerkriminalität bis zur Personenfreizügigkeit mit der EU.

Schon der Titel sagt alles: «Es kommen zu viele und die Falschen.» Die Wortwahl ist dramatisch («ungesteuerte Zuwanderung», «ungebremste Bevölkerungsexplosion»), die Analyse düster («Ghettoisierung», «soziale Spannungen», «Versagen der Integration»).

Obwohl nur ein relativ kleiner Teil des Bevölkerungswachstums der letzten Jahre auf Asylgesuche zurückzuführen ist, gibt die SVP dem Thema Asylpolitik grossen Raum. Sie verlangt insbesondere die Einrichtung von «Aufnahme- und Schutzzentren» in anderen Ländern, in welche sie die Verfahren auslagern will.

Zusätzlich will die Partei «Transitzonen» an den Schweizer Grenzen schaffen, um illegale Einreisen zu verhindern. Asylgesuche dürften nur noch in diesen flughafenähnlichen Bereichen gestellt werden. Nach dem Plan der SVP befänden sich die Asylsuchenden damit nicht auf Schweizer Boden und könnten bei einem negativen Entscheid sofort in das Land zurückgebracht werden, aus dem sie hätten einreisen wollen. Hinzu kommen weitere Forderungen: mehr und schnellere Rückschaffungen, Kürzung der Sozialhilfe und Einschränkung der Gesundheitsversorgung für Flüchtlinge, stärkere Fokussierung des Asylrechts auf politisch Verfolgte.

Die Sache mit dem BIP pro Kopf

Der grösste Teil der Zuwanderung geht indes auf die Personenfreizügigkeit (PFZ) mit der EU zurück. Diese ist nach wie vor in Kraft, sehr zum Ärger der SVP. Jenen, die es anders sehen, spricht die Partei den guten Willen ab: «Nur wer die Schweiz aufgegeben hat, verzichtet auf die eigenständige Steuerung der Migration.»

Die SVP übt in ihrem Papier scharfe Kritik am Parlament, das trotz der knappen Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 weder Höchstzahlen noch Kontingente eingeführt hat. Sie vergisst aber zu erwähnen, dass ihre zweite Initiative, mit der sie explizit die Beendigung der PFZ verlangte, 2020 klar gescheitert ist.

Den neuen Angriff auf die Freizügigkeit hat die SVP just auf den Wahlkampf hin lanciert: die «Nachhaltigkeitsinitiative». Sie verlangt, dass die Einwohnerzahl frühestens ab 2050 auf mehr als 10 Millionen steigen darf – und auch dann nur im Umfang des Geburtenüberschusses, nicht aber durch Zuwanderung. Die Initiative wäre kaum folgenlos: Im mittleren Szenario der Bundesstatistiker erreicht die Schweiz die 10-Millionen-Grenze bereits 2040.

An ihrer Fundamentalkritik hält die SVP fest: In den zwanzig Jahren mit der PFZ sei die Schweizer Wirtschaft als Ganzes zwar gewachsen, pro Kopf aber sei das Land «kaum wohlhabender geworden». An anderer Stelle heisst es, der Einzelne habe «so gut wie nichts» vom Gesamtwachstum. «Es wird durch die ungehemmte Zuwanderung weggefressen.»

Die Zahlen sprechen eine andere Sprache, wie die Berichte aus dem Departement von SVP-Bundesrat Guy Parmelin zeigen. Laut dem Staatssekretariat für Wirtschaft ist das Bruttoinlandprodukt pro Kopf seit Einführung der PFZ auf hohem Niveau um 19 Prozent gewachsen. Die jährliche Zunahme betrug im Durchschnitt 0,8 Prozent pro Jahr. Damit bewegt sich der Wohlstandsgewinn auf einem ähnlichen Niveau wie in vergleichbaren Ländern wie Norwegen, Österreich, Dänemark, den Niederlanden oder Deutschland.

Wie gross wären die Kontingente?

Wirtschaftsvertreter betonen, wie wichtig die PFZ sei, um freie Stellen trotz Fachkräftemangel und Pensionierungswelle weiterhin besetzen zu können. Die SVP zieht diese Darstellung in Zweifel: Anstelle von Fachkräften kämen vor allem «Billigarbeiter und Familiennachzügler». Gleichzeitig hält sie daran fest, dass Schweizer Unternehmen «ausgewiesene ausländische Spezialisten unbürokratisch» anstellen können müssten.

Aus Sicht der Wirtschaft wurde just dies mit der Freizügigkeit erreicht, da Firmen ohne Rücksicht auf staatliche Kontingente und ohne lange Wartezeiten Personal rekrutieren können. Die SVP will wieder Kontingente einführen, lässt aber im Papier offen, wie gross diese aus ihrer Sicht sein sollten und wie sie den politischen Verteilkampf unter den Branchen regeln würde.

Maximal zwei Jahre Sozialhilfe

Restlos klar ist hingegen das übergeordnete Ziel: Nur wer seinen Lebensunterhalt dauerhaft selbst verdient, darf in die Schweiz kommen und hier bleiben. Wer aber nach einiger Zeit die Arbeit verliert oder aus anderen Gründen in Not gerät, soll das Land wieder verlassen. Ginge es nach der SVP, würden Ausländer generell ihre Aufenthaltsbewilligung verlieren, wenn sie mehr als zwei Jahre von der Sozialhilfe lebten. Zudem will die Partei den Nachzug der Familie einschränken.

Aus Sicht der SVP wäre die Schweiz auch mit solchen Regeln attraktiv genug, um weiterhin qualifizierte Zuzüger anzuziehen. Sie steckt die Ziele im Hinblick auf die Rekrutierung von Spezialisten hoch: «Wir wollen die Besten.» Unerwünschte, weniger gut ausgebildete Ausländer bezeichnet die Partei hingegen als «Massenware».
(https://www.nzz.ch/schweiz/die-svp-sieht-auslaender-als-ware-und-stellt-das-wirtschaftswachstum-schlechter-dar-als-es-ist-ld.1749912)


+++FUNDIS
Staatsverweigerer in Hölstein: Ärger im Baselbieter Esoterik-Paradies?
Auf dem Leuenberg in Hölstein vernetzt sich seit Monaten die rechts-esoterische Szene. Die bisherigen Leitfiguren sollen nun ersetzt werden.
https://www.bazonline.ch/aerger-im-baselbieter-esoterik-paradies-872889676718


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
tagblatt.ch 03.08.2023

Furcht vor zu viel Macht der WHO: «Die Auswirkungen der vorgeschlagenen Änderungen bedrohen den Föderalismus im Kern»

Die internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO sollen nach den Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie angepasst werden. Zwei Thurgauer SVP-Kantonsräte befürchten einen erheblichen Souveränitätsverlust und reagieren im Grossen Rat.

Hans Suter

Bei den Thurgauer SVP-Kantonsräten Oliver Martin und Hermann Lei schrillen die Alarmglocken, wenn es um Pandemievorschriften geht. Aktuell versetzen sie die Bestrebungen der Weltgesundheitsorganisation WHO in Alarmstimmung. Diese plant eine Anpassung der Internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) von 2005.

Aktuell liege ein Entwurf von Ende 2022 vor, der zahlreiche Änderungs- und Ergänzungsvorschläge beinhalte. Zudem liege ein Entwurf eines Pandemievertrags vom 2. Juni 2023 vor. «Die bisherigen Vertragsentwürfe lassen befürchten, dass für den verfassungsrechtlich gebotenen politischen Diskurs und für die unverfälschte Willensbildung der Stimmbürger am Ende keine Zeit mehr besteht.» Dies halten Martin und Lei in einer fünf Fragen umfassenden Einfachen Anfrage an den Thurgauer Regierungsrat fest. «Wir sind der Meinung, dass unsere Fragen von besonderem Interesse für die Bevölkerung unseres Kantons und auch für den Kanton selbst sind.»

«Gleiche Medikamente und gleiche Massnahmen für alle»

So wollen der Leimbacher Unternehmer Oliver Martin und der Frauenfelder Rechtsanwalt Hermann Lei vom Regierungsrat wissen, was dieser unternommen, beziehungsweise wie er sich in die Verhandlungen des Bundes eingebracht hat, «damit ein wirksamer Schutz der Grundrechte im Rahmen der IGV und nicht bloss im Rahmen des Pandemievertrags sichergestellt ist». Die beiden befürchten, dass die Grundrechte während Pandemien noch weniger Beachtung finden als dies bereits von 2020 bis 2022 der Fall gewesen sei. Dabei verweisen sie auf den IGV-Entwurf vom Dezember 2022. Darin sei ersichtlich, «dass Menschenwürde, Menschenrechte und Grundfreiheiten aus dem ursprünglichen Text von 2005 herausgestrichen sind». Sie sollen ersetzt werden durch das Prinzip «Equity» und «Inclusivity». Das könne nur so verstanden werden wie «gleiche Medikamente und gleiche Massnahmen für alle».

Zurückstufung der Grundrechte befürchtet

«Eine solche ausdrückliche Zurückstufung der Grundrechte während Pandemiezeiten widerspricht dem Grundrechtsschutz, wie er gemäss Bundes- und Kantonsverfassung garantiert ist», halten Martin und Lei in einer Fussnote fest. Und stellen die Frage: «Wie setzt sich der Regierungsrat dafür ein, dass ungerechtfertigte Pandemie- und Notrechtsregimes (hier eine missbräuchliche Selbstermächtigung durch die WHO) rasch wieder beendet werden können und diese den Kanton Thurgau nicht länger schädigen als unbedingt notwendig?» In einer weiteren Fussnote ergänzen sie, dass der Generalsekretär der WHO laut dem IGV-Entwurf von 2022 eine Pandemie noch früher und noch länger ausrufen könnte als bisher. Neu sollen zudem weitere Zwischenformen von Gesundheitsnotstandsphasen geschaffen werden, «was die Sachverhalte, die zu einem Gesundheitsnotstand führen können, ganz erheblich erweitert».

Oliver Martin will, dass die Bevölkerung informiert ist

Die angepassten Regelwerke würden für alle Mitgliedsländer der WHO gleichermassen gelten. Wird mit der Einfachen Anfrage im Thurgauer Grossen Rat nicht zu sehr der Teufel an die Wand gemalt? «Keineswegs», sagt Erstunterzeichner Oliver Martin. «Ich bin auch für internationale Zusammenarbeit. Aber es kann nicht sein, dass die WHO über unsere Souveränität bestimmt. Mich stört, dass die WHO allein bestimmt und sich alle danach richten müssen, ob es nun richtig oder falsch ist.» Mit seinen Fragen an den Regierungsrat will er bewirken, «dass die Bevölkerung informiert ist und weiss, was läuft». Die Schweiz sei ein demokratisches Land. Doch hier lese man nichts zum Thema und erfahre nichts.

Für Martin sind die angestrebten Befugnisse für die WHO und dessen Generalsekretär nicht stimmig. «Die WHO bekäme zu viel Macht über die Mitgliedstaaten», befürchtet er. Deutschland habe bereits unterschrieben, Opposition gebe es seines Wissens erst von afrikanischen Ländern. «Ich bin nicht gegen eine internationale Zusammenarbeit», betont der SVP-Kantonsrat. «Meiner Meinung nach sollen aber in erster Linie die Staaten entscheiden und die Sicht der WHO lediglich als Empfehlung einfliessen lassen.»



Die Haltung der Europäischen Kommission

Die Schweiz liegt im Herzen Europas. Wie denkt man dort über die Bestrebungen der WHO? «Die Erfahrungen der letzten Jahre, insbesondere seit der Covid-19-Pandemie, haben gezeigt, dass Gesundheit keine Grenzen hat», heisst es auf der Website der Europäischen Kommission. Die globale Gesundheit sei wieder zu einer Priorität geworden, mit neuen Herausforderungen und einem komplexen geopolitischen Kontext – aber auch mit neuen Chancen in Bereichen wie Forschung oder Digitalisierung. «Eine neue globale Gesundheitsstrategie ist erforderlich, um eine neue, kohärente, wirksame und zielgerichtete EU-Gesundheitspolitik zu schaffen, die diesen sich rasch wandelnden Umständen Rechnung trägt», heisst es weiter. «Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind beträchtlich. Im Bereich der globalen Gesundheit gibt es eine massive unerledigte Agenda, und die Fortschritte bei der Verwirklichung der Ziele für nachhaltige Entwicklung im Gesundheitsbereich haben sich in vielen Ländern sogar umgekehrt.» Gleichzeitig sei es von entscheidender Bedeutung, die globale Gesundheitssicherheit rasch und umfassend zu stärken, künftige Pandemien und andere Bedrohungen besser zu verhindern und die Resilienz zu erhöhen. (hs)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/pandemie-furcht-vor-zu-viel-macht-der-who-die-auswirkungen-der-vorgeschlagenen-aenderungen-bedrohen-den-foederalismus-im-kern-ld.2491689)


+++POLICE FRA
zeit.de 03.08.2023

Polizei in Frankreich: Wenn die Polizei das Sagen haben will

Keine Untersuchungshaft für Beamte, Vergünstigungen und Rente mit 54: Frankreichs Polizei will nach den Aufständen in den Vororten mehr denn je die Politik bestimmen.

Eine Analyse von Annika Joeres

Am vergangenen Wochenende sahen Urlauber und Bürgerinnen in der südfranzösischen Stadt Béziers ein ungewöhnliches Stadtbild. Die Männer und Frauen in blau-weißen Uniformen fehlten auf den Straßen. Alle örtlichem Beamten der Nationalpolizei hatten sich krankschreiben lassen. Sie protestierten damit gegen die Untersuchungshaft eines Kollegen, der Anfang Juli während der Unruhen in den Vorstädten einen unbeteiligten jungen Mann niedergeknüppelt haben soll. “Wenn sie morgens zur Arbeit gehen, wissen sie nicht mehr, ob sie abends in Untersuchungshaft sitzen”, rechtfertigte die Arbeitsniederlegung Bruno Mengibar, Generalsekretär der südfranzösischen Polizeigewerkschaft SGP-FO. Seine Forderung: Die Kollegen sollen – anders als alle anderen Bürgerinnen und Bürger – nicht mehr in U-Haft genommen werden dürfen.

Dabei zeigen Videoaufnahmen, wie brutal die nun in Untersuchungshaft sitzenden Polizisten an jenem Abend gegen den jungen Mann namens Hedi vorgingen: Laut einem Protokoll der Staatsanwaltschaft, das die Zeitung Le Monde zitiert, knüppelten sie auf ihn ein, traten ihn in den Oberkörper und ohrfeigten ihn, als er schon lange am Boden lag. Ein Fakt, den die Polizisten so lange leugneten, bis das Video von Überwachungskameras das Gegenteil bewies. Der junge Mann, so sagen es Gutachten, sei traumatisiert und langfristig körperlich und geistig eingeschränkt.

Das Machtspiel der Beamten in Béziers ist typisch für die französische Polizei. Seit den Aufständen von Jugendlichen Anfang Juli erklärt sich die Polizei zu Opfern der französischen Justiz. Eine Verdrehung, schließlich marodierten Tausende, meist junge Menschen, weil einer von ihnen von einem Polizisten erschossen wurde: Der 17-jährige Nahel verlor bei einer Straßenkontrolle sein Leben.

Nun aber wird nicht darüber diskutiert, wie die Polizei ihre Waffen nutzt und wie gewaltsame Konflikte zwischen den Beamten und Personen aus den oft verarmten Vorstädten befriedet werden können. Vielmehr haben die Polizeigewerkschaften die Debatte in eine andere Richtung gedreht: Sie seien im “Krieg” gegen die Vorstädter – also gegen Millionen Bürgerinnen und Bürger, die sie zudem als “Schädlinge” verunglimpften. Der oberste Chef der Polizeigewerkschaft forderte ebenfalls, dass kein Polizist mehr bei Ermittlungen nach mutmaßlichen Verstößen in Untersuchungshaft kommen soll. Die Antwort des französischen Innenministers Gérald Darmanin? Er habe “großes Verständnis” für den Unmut der Beamten und werde “über die Untersuchungshaft für Polizisten” nachdenken.

Nicht mit dem Rechtsstaat zu vereinbaren

Olivier Cahn, Polizeiexperte und Professor für Recht an der Universität Cergy Paris, macht sich deshalb große Sorgen um Frankreich. “Wir nähern uns in Frankreich einem Polizeistaat an”, sagt Cahn. Nicht mehr die Regierung stelle die Regeln für die Sicherheitsbeamten auf, sondern sie selbst. “Alle auch noch so abwegigen Wünsche der Polizei werden erfüllt”, kritisiert der Experte. Besonders fassungslos hat den Professor das besagte Zugeständnis des Innenministers gemacht, über die U-Haft nachdenken zu wollen. Dies würde für Polizisten ein anderes Justizsystem schaffen als für alle anderen Bürgerinnen und Bürger. “Das ist mit dem Rechtsstaat nicht zu vereinbaren. Jeder Bürger, jede Bürgerin ist vor dem Gesetz gleich – völlig unabhängig vom Beruf.” Zudem gefährde die ständige Kritik der Polizei an der Justiz die Gewaltenteilung. “Die Staatsanwaltschaft hatte offensichtlich genügend Beweise für eine illegale Gewaltanwendung  – diese Entscheidung muss auch die Polizeiführung akzeptieren”, fordert Cahn.

Der Professor aus Paris forscht zu verschiedenen Polizeigesetzen in der EU und kommt zu dem Schluss: In jedem Land versuchen Polizei und ihre Gewerkschaften die Beamten vor harten Strafen zu schützen – aber nur in Frankreich gebe die Regierung diesen Forderungen nach. “Sie fühlt sich nach den von Millionen Menschen unterstützten Protesten  – den Gelbwesten, den Demonstrationen gegen die Rentenreform, den Aufständen in den Vororten – abhängig vom Polizeiapparat. Sie glaubt, sie könne sich nur noch an der Macht halten, wenn die Polizisten die Straße ruhig halten”, erklärt Cahn.

Tatsächlich drohen Vertreter der Polizeigewerkschaften immer häufiger bei öffentlichen Auftritten und TV-Interviews damit, nicht mehr “zur Verfügung zu stehen” und bald nicht mehr für die Regierung “die Kohlen aus dem Feuer zu holen”. Rund fünf Prozent der Beamten sind, wie in Béziers, in den vergangenen Wochen per Krankschreibung in einen sogenannten stillen Streik getreten.

Polizei genießt mehr Vorteile als viele andere Berufsgruppen

Wie sich die Regierung um Macron bei der Gesetzgebung von der Polizei hineinreden lässt, war schon früher zu beobachten. Etwa beim sogenannten “Sicherheitsgesetz”, das die Regierung 2020 verabschieden wollte und das europaweite Kritik auf sich zog. Entworfen wurde es vom damaligen Abgeordneten der Regierungspartei um Macron, Jean-Michel Fauvergue. Er war zuvor Chef der polizeilichen Spezialeinsatztruppe RAID. Unter anderem sah der Gesetzesentwurf vor, das Filmen von Polizeieinsätzen grundsätzlich unter Strafe zu stellen. Erst das Verfassungsgericht kippte entscheidende Passagen des Gesetzes – eben weil sie mit dem Rechtsstaat unvereinbar waren.

Darüber hinaus genießt die französische Polizei schon jetzt so viele Vorteile wie kaum eine zweite Berufsgruppe im Land. Auch nach der umstrittenen Rentenreform von Emmanuel Macron werden Polizisten mit 54 Jahren in Rente gehen können – also zehn Jahre früher als der Rest der Bevölkerung. Zudem fahren sie auch außerhalb des Dienstes kostenlos mit der staatlichen französischen Bahn und haben 2017 erreicht, dass sie ihre Waffe nicht nur in akuten Notsituationen nutzen dürfen, sondern auch dann, wenn ein Individuum potenziell gefährlich werden könnte. Genau diese Regel könnte im Fall Nahel, an dessen Tod die jüngsten Proteste entbrannt sind, eine Rolle gespielt haben. Er saß unbewaffnet in einem Auto, als ihn der Polizist erschoss. Dieser begründete seine Tat damit, der Minderjährige hätte womöglich anschließend Passanten gefährdet. Allein im vergangenen Jahr sind in Frankreich bei Verkehrskontrollen 13 Autoinsassen getötet worden.

Macrons Unbeliebtheit macht Polizei mächtiger

Trotzdem stellt sich die Regierung ausnahmslos auf die Seite der Polizei. Immer wieder besuchte der Innenminister Gérald Darmanin zuletzt Polizeikommissariate und sicherte ihnen seine Unterstützung zu. Als jedoch Anfang Juli Polizisten den 22-Jährigen Hedi in Marseille mit einem Gummigeschoss am Kopf verletzten – besuchte der Innenminister den jungen Mann nicht. Auch fand Darmanin keine teilnahmsvollen Worte. In seiner einzigen Ansprache zu diesem Thema ließ er nur den Satz fallen, er versichere “jedem Menschen, der sich verletzt fühle” seine Unterstützung. Ein Ausdruck, der die Kopfverletzung von Hedi zu einer persönlichen Befindlichkeit degradiert. Dabei hatte der 22-Jährige in einem viel gesehenen Video berichtet, wie schwer er nach dem Kopfschuss körperlich beeinträchtigt ist. Chirurgen mussten ihn in ein künstliches Koma versetzen und einen Teil des Schädels entfernen. Er leidet unter heftiger Migräne, sieht auf einem Auge nur noch verschwommen und kann sich nur langsam fortbewegen und sprechen.

Die französische Regierung schafft es nicht, offen über Polizeigewalt zu sprechen. “Dieses Tabu ist ein Symptom für die absurde Unterwerfung der Politik. Sie traut sich nicht einmal, offensichtlich notwendige Kritik zu üben”, kritisiert Experte Cahn. Alle Welt habe auf Videos sehen können, wie die französische Polizei Menschen verprügelte und einige von ihnen hätten nachweisbar durch Gummigeschosse ihr Augenlicht, Hoden oder Hände verloren – trotzdem dürfe darüber nicht gesprochen werden. Der Forscher glaubt, dass die Polizei weiter an Macht gewinnt. Schließlich folgen im Herbst der Rugby-Weltcup mit Millionen Fans. Im kommenden Sommer finden in Paris die Olympischen Spiele statt. Schon jetzt würden Sicherheitskräfte dringend gesucht.

Aber eine Sache spielt laut Cahn der Polizei besonders in die Hände. Und zwar Macrons Unbeliebtheit. Die Frequenz der Proteste gegen seine Politik sei “einmalig hoch”. Gut möglich also, dass neben den sportlichen Veranstaltungen auch große Demonstrationen auf das Land zukommen. Und dabei dürfte Macron, wie bislang auch, mehr auf die Polizei als seine eigene Politik setzen.
(https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-07/frankreich-polizei-beamte-protest-strafen/komplettansicht)