Medienspiegel 28. Mai 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++DEUTSCHLAND
Erst stirbt das Recht, dann der Mensch: 30 Jahre nach Grundgesetzänderung & Solingen
Am 26. Mai 1993 beschneidet der Bundestag das Asylrecht im Grundgesetz. Nur drei Tage später brennt in Solingen das Haus von Familie Genç. Beide Ereignisse können nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Ein Kommentar von Heiko Kauffmann, Mitgründer und viele Jahre lang Sprecher von PRO ASYL.
https://www.proasyl.de/news/erst-stirbt-das-recht-dann-der-mensch-30-jahre-nach-grundgesetzaenderung-solingen/


+++MITTELMEER
Ärzte ohne Grenzen retten fast 600 Migranten von Boot im Mittelmeer
Die Organisation Ärzte ohne Grenzen hat im Mittelmeer 599 Migranten gerettet. Die Rettungsaktion dauerte drei Stunden.
https://www.nau.ch/news/europa/arzte-ohne-grenzen-retten-fast-600-migranten-von-boot-im-mittelmeer-66504678
-> https://www.spiegel.de/ausland/italien-behoerden-lassen-599-aus-seenot-gerettete-migranten-nur-in-40-stunden-entfernten-hafen-a-9fe84516-bc5f-4e69-9d1a-27fda921dd62
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-05/aertzte-ohne-grenzen-rettung-migranten-mittelmeer


+++FREIRÄUME
derbund.ch 28.05.2023 (13.00 Uhr)

Besetzte Lagerhalle in Köniz: Gegenwärtig steht keine Räumung bevor

Weder die Polizei noch die Könizer Gemeindebehörden sehen einen unmittelbaren Handelsbedarf, solange kein Räumungsantrag vorliegt.

Dölf Barben

Die Besetzung der Lagerhalle beim Bahnhof Köniz dürfte zumindest bis in die kommende Woche hinein dauern. Eine Räumung steht jedenfalls nicht unmittelbar bevor. Bei der Medienstelle der Kantonspolizei Bern hiess es am Sonntagmittag, es liege zurzeit «weder ein Straf- noch ein Räumungsantrag vor».

Aus Sicht der Könizer Gemeindebehörden scheint die Besetzung kein Notfall zu sein. Hans-Peter Kohler, stellvertretender Vorsteher der Direktion Sicherheit und Liegenschaften, sagte auf Anfrage, die Gemeinderatsmitglieder hätten sich bisher dazu nicht ausgetauscht und dementsprechend noch keine Haltung entwickelt. Kohler betonte, die betreffende Liegenschaft an der Sägestrasse 67 gehöre einer Privatperson. Es sei an ihr zu entscheiden, ob die Besetzung geduldet werde oder nicht.

Die Lagerhalle an der Sägestrasse 67 war in der Nacht auf Samstag von einer Gruppe namens centraleviva besetzt worden. Die Gruppe will in den leerstehende Räumen einen Kulturort schaffen. Das veröffentlichte Programm sieht Aktivitäten bis weit in die nächste Woche hinein vor.

Die Kantonspolizei war bereits am Samstagmorgen vor Ort gewesen und hatte Kontakt aufgenommen mit den Besetzern. Sie steht auch in Kontakt mit den Eigentümern der Lagerhalle. Die Medienstelle der Polizei bestätigte am Sonntag einen entsprechenden Bericht des Newsportals Bärn Today. Wer die Privatperson ist, der die Liegenschaft gehört, teilte die Medienstelle nicht mit.

Das Besetzer-Kollektiv schreibt in seinem Communiqué, es handle sich um die ehemalige Lagerhalle der Firma Vatter Samen; sie gehöre einer Erbin der Familie Vatter. Ob dies zutrifft, geht auch aus den verschiedenen Unterlagen der Gemeinde nicht hervor, die Mitte 2021 veröffentlicht worden waren. Damals hatte das Könizer Stimmvolk eine Vorlage zu den Liegenschaften Sägestrasse 65 bis 69 deutlich gutgeheissen. Die Gemeinde hatte einen Kredit zur Abstimmung gebracht, damit sie die Baurechte und Mietverhältnisse an diesem für sie strategisch wichtigen Ort übernehmen kann. Ziel ist es, dort längerfristig Wohnraum entstehen zu lassen.
(https://www.derbund.ch/gegenwaertig-steht-keine-raeumung-bevor-695112906559)
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/hausbesetzung-in-koeniz-151748905



derbund.ch 28.05.2023 (20:00 Uhr)

Besetzte Lagerhalle in Köniz: Befristete Zwischennutzung ist denkbar

Die jungen Leute in der besetzten Halle in Köniz haben friedliche Pfingsten erlebt. Die Behörden schauen der nächsten Woche «entspannt» entgegen.

Dölf Barben

Die Besetzung der alten Lagerhalle beim Bahnhof Köniz an der Sägestrasse 67 ist übers Wochenende ruhig verlaufen. Die Kantonspolizei stand bereits am Samstagmorgen mit den Besetzerinnen und Besetzern in Kontakt, dem Kollektiv «Centraleviva», ebenso mit der Grundeigentümerin. Die Liegenschaft gehört einer Erbin der Familie Vatter. Bis um 1990 geschäftete auf diesem Areal das Unternehmen Vatter Samen.

Die Besetzung dürfte somit zumindest bis in die kommende Woche hinein dauern. Eine Räumung steht nicht unmittelbar bevor. Bei der Medienstelle der Kantonspolizei Bern hiess es, es liege zurzeit «weder ein Straf- noch ein Räumungsantrag vor».

Gewisse Fragezeichen

Ebenso gehen die Könizer Behörden die Sache «entspannt» an. So sagte es Gemeinderat Thomas Brönnimann (glp), Vorsteher der Direktion Sicherheit, Immobilien und Zivilschutz, am Sonntagabend. Es gebe keinen Grund zur Eile. Das Kollektiv sei sehr friedlich und vor allem auch bemüht, der Sicherheit die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Zudem stehe die Lagerhalle im Moment auch tatsächlich leer und das Anliegen – Freiräume für Jugendliche – sei verständlich. Er habe für Dienstag einen Gesprächstermin mit der Eigentümerin vereinbart.

Gewisse Fragezeichen gibt es für Brönnimann allerdings schon. Für die von der Gemeinde gemietete Lagerhalle seien bereits ein paar mögliche Nutzungen angedacht worden, sagt er. Es gebe viele Ideen, aber noch sei nichts spruchreif.

Eine befristete Zwischennutzung sei daher denkbar – zum Beispiel über diesen Sommer. Er wolle aber nichts vorwegnehmen und keine Mutmassungen anstellen, sagt Brönnimann. Was aber sicher nicht funktionieren würde: Dort längerfristig ein Jugendzentrum einzurichten. Allein von den Brandschutzvorschriften her wäre das sehr anspruchsvoll. Solange dort ein paar Jugendliche Yoga betreiben oder Jassen, sei es kein Problem. Sobald aber Konzerte mit viel Publikum geplant würden, werde es von der Sicherheit her kompliziert. «Sie unterschätzen diese Probleme vermutlich», sagt er. Die Gemeinde könne aber nicht Zwischennutzungen bewilligen, die in Konflikt stehen mit der Zonenkonformität, dem Polizeireglement oder den Interessen der Nachbarschaft.

Junge Leute aus Region Bern

Am Sonntagnachmittag befanden sich um die zwanzig Personen in der Lagerhalle. Das Kollektiv, das die Besetzung vorbereitet und in der Nacht auf Samstag durchgeführt hat, besteht aus «rund 30 jungen Menschen, die etwas auf die Beine stellen wollen». Dies sagt eine Frau, die vor Ort bereit ist, Auskunft zu geben. Sie will anonym bleiben, weil das Eindringen in die Liegenschaft eine potenziell strafbare Aktion sei und sie negative Konsequenzen vermeiden möchte. Die Besetzerinnen und Besetzer seien Menschen aus der Region Bern; sie selbst sei in Köniz aufgewachsen.

Die wichtigste Frage für das Kollektiv «Centraleviva» ist die, ob die Besetzung von der Eigentümerin geduldet wird. Man stehe mit dieser Privatperson im persönlichen Kontakt, sagt die Sprecherin. Und: «Wir sind sehr positiv eingestellt in Bezug auf den Ausgang dieser Gespräche.»

Seit Samstagmorgen hätten mehrere Parlamentarierinnen und Parlamentarier der Gemeinde Köniz vorbeigeschaut. Auch Vertreterinnen und Vertreter der Jugendarbeit Köniz seien erschienen. Den Besucherinnen und Besuchern habe man eine Einführung gegeben und die Ziele dargelegt. «Die Reaktionen waren positiv», sagt die Sprecherin.

Angebote für alle

Die Besetzung sei langfristig angelegt. Die Lagerhalle, die bereits ein paar Jahre leer steht und von der Gemeinde gemietet wird, wird vermutlich noch mehrere Jahre nicht genutzt. «Wir möchten mit Centraleviva so lange wie möglich hier bleiben», sagt die Sprecherin. Geplant sind Angebote, die alle Menschen ansprechen. «Jedes Alter soll sich bei uns wohlfühlen», heisst es hinten auf dem kleinen Büchlein, in dem die Gruppe sich selbst und ihre «Utopie» vorstellt.

Ein wichtiger Punkt für das Kollektiv ist die Sicherheit. Der Keller und die oberen Geschosse des Gebäudes sind abgesperrt worden, ebenso Orte, wo Kinder herunterfallen könnten. An den Wänden hängen Plakate mit Anweisungen. Das Rauchen ist verboten. «Wir wissen, dass die Böden tragfähig sind – hier ist man sicher», sagt die Sprecherin.

Das Kollektiv hat bereits für diese und die folgenden Tage ein Programm aufgestellt. Am Sonntag nach dem Mittag war ein Modellierkus angesagt. Tatsächlich ist kurz nach 13 Uhr eine ansehnliche Runde junger Leute damit beschäftigt, mit Ton zu arbeiten. Gleichzeitig bereitet eine Person des Kollektivs am anderen Ende des Raums die Bühne für das abendliche Konzert vor. An anderer Stelle sind Teppiche ausgelegt. Spielsachen und Bücher liegen bereit. «Das ist unsere Kinderecke», sagt die Sprecherin.

Wohnraum an diesem Ort

Vor zwei Jahren haben die Stimmberechtigten von Köniz einen Kredit befürwortet, der es der Gemeinde erlaubte, bei den Liegenschaften Sägestrasse 65 bis 69 die Baurechte und Mietverhältnisse zu übernehmen. Dabei handelte es sich um einen strategischen Schritt. In zehn Jahren werden die Baurechts- und Mietverträge auslaufen; dann möchte die Gemeinde die Liegenschaften ganz übernehmen. In diesem sehr zentral gelegenen Gebiet möchte sie neuen, verdichteten Wohnraum schaffen.

Die Liegenschaften an der Sägestrasse haben eine lange Geschichte. In den 1930er-Jahren suchte die Firma Vatter Samen für ihr Engros-Lager und den Versuchsgarten ein ideal besonntes und von der Bise geschütztes Stück Land. Sie fand es gleich gegenüber dem Bahnhof Köniz. Es ist das Areal, das nun – völlig überbaut – bis 2033 an die Gemeinde Köniz übergehen soll.

Erst Mitte der 1960er-Jahre änderte das Areal sein Gesicht. Vatter Samen entschied, die Verwaltung von Bern nach Köniz zu verlegen. Dafür stellte das Unternehmen auf dem Versuchsgarten eine neue Firmenzentrale auf. Das Gebäude mit der markanten roten Backsteinfassade ist direkt mit der alten Lagerhalle verbunden. Den Versuchsgarten zügelte das Unternehmen ebenfalls in dieser Zeit nach Allmendingen. Und baute ihn zum Gartencenter auf der grünen Wiese aus.
(https://www.derbund.ch/gegenwaertig-steht-keine-raeumung-bevor-695112906559)



Häuserbesetzer in Winterthur: Wem gehört die Stadt?
In Winterthur wird gebaut, die Stefanini-Stiftung saniert, die Mieten steigen seit langem. Über Pfingsten organisierte ein Zusammenschluss von Bewohnenden besetzter und selbstverwalteter Häuser ein Treffen, um darüber zu diskutieren, wie eine Stadtaufwertung, von der alle profitieren, aussehen könnte.
https://www.landbote.ch/wem-gehoert-die-stadt-698151145404
-> Aufruf: https://barrikade.info/article/5867
-> Webseite: https://wohnraumverteidigen.noblogs.org/


+++GASSE
5. Todestag von Pfarrer Ernst Sieber
Fünf Jahre ist es nun her, seit Pfarrer Ernst Sieber verstorben ist. Er galt als Vorreiter im Zürcher Sozialwesen. Er half in den 80ern den Drogenabhängigen auf dem Zürcher Platzspitz und kreierte den «Pfuusbus» für die Obdachlosen. Zu seinem Gedenktag hat sich das Grossmünster komplett gefüllt.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/5-todestag-von-pfarrer-ernst-sieber-00213279/


+++RASSISMUS
Strukturelles Problem – Rassismus in der Schweiz: Für Schwarze Menschen allgegenwärtig
Für Schwarze Menschen ist Rassismus allgegenwärtig: Mal mehr, mal weniger, aber immer da. Für viele weisse Schweizerinnen und Schweizer ist das schwer nachvollziehbar. Sie denken, weil die Schweiz keine eigenen Kolonien hatte, habe die Schweiz auch nichts mit Rassismus zu tun.
https://www.srf.ch/sendungen/dok/strukturelles-problem-rassismus-in-der-schweiz-fuer-schwarze-menschen-allgegenwaertig


Konfrontation mit Rassismus – Warum es uns schwerfällt, über Rassismus zu sprechen
Die Gespräche werden oft emotional und hitzig geführt. Schon allein das Wort «Rassismus» ist ein Trigger. Wie spricht man über ein Problem, bei dem das Gespräch selbst ein Problem ist?
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/konfrontation-mit-rassismus-warum-es-uns-schwerfaellt-ueber-rassismus-zu-sprechen


+++RECHTSPOPULISMUS
Abstimmung zum Klimagesetz: SVP führt Eiertanz um den Klimawandel auf
Offiziell bestreitet die Partei nicht mehr, dass der Klimawandel durch Menschen verursacht wurde. Doch Zweifler und Skeptiker laufen im Abstimmungskampf zu Hochform auf.
https://www.derbund.ch/svp-fuehrt-eiertanz-um-den-klimawandel-auf-700077936269


+++RECHTSPOPULISMUS
Debatte um Gender-Tag in Stäfa: SVP-Chiesa gibt Glarner den Segen
SVP-Chef Chiesa sieht die Schulkinder in Stäfa ZH als Opfer einer Gender-Ideologie. Die Drohungen gegen die Schule verurteilt er zwar, doch die Schuld dafür sieht er bei dieser selbst.
https://www.blick.ch/politik/debatte-um-gender-tag-in-staefa-svp-chiesa-gibt-glarner-den-segen-id18617162.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
Baden-Württemberg: Wo “Reichsbürger” ihre Hochburg haben
Auch bei den jüngsten Festnahme von drei “Reichsbürgern” kamen zwei aus Baden-Württemberg. Warum hat gerade das Bundesland im Süden Deutschlands ein “Reichsbürger”-Problem?
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/reichsbuerger-baden-wuerttemberg-100.html


+++HISTORY
«Indianerszene» in Bronze: In Bern wirft ein weiteres Wandbild Fragen auf
Romantisiert das Wandbild vor dem Eingang des Schulhauses Steckgut den Völkermord an der nordamerikanischen indigenen Bevölkerung? Und – falls ja – gehört auch dieses Bild weg?
https://www.derbund.ch/in-bern-wirft-ein-weiteres-wandbild-fragen-auf-321814638859


Neues Museum Biel zeigt Sammlung von Clown Grock
Die Stadt Biel ist über ihr Neues Museum in den Besitz einer umfangreichen Sammlung des 1959 verstorbenen Clowns Grock gelangt. Das Museum will die Verbindungen des «Königs der Clowns» zum Nazi-Regime klären.
https://www.32today.ch/mittelland/solothurn-grenchen/neues-museum-biel-zeigt-sammlung-von-clown-grock-151741801



ajour.ch 28.05.2023

Orpund und Val de Travers – Liselotte Gerber war Verdingkind: «Wenn ich nicht pariert habe, hat sie mich abgeschlagen»

Etliche Seeländer Gemeinden erinnern an die zigtausenden Verdingkinder, die in der Schweiz fremdplatziert, misshandelt und allein gelassen wurden. Zwei Seeländer erzählen von ihrer Kindheit.

Liselotte Gerber steht auf dem Fussballfeld und heizt ihren Junioren vom FC Orpund ein. «Das Fussball-Blut stammt wohl von meinem Vater», sagt sie. Doch das weiss sie nur vom Hörensagen, «ich kenne meine Familie nicht gut, ich war Verdingkind».

Als Liselotte Gerber ein junges Mädchen war, wurde sie von den Schweizer Behörden aus ihrer Familie gerissen und in einer Pflegefamilie platziert. Heute blickt die 78-Jährige auf eine dunkle Kindheit zurück. Sie lebte wie ein Mensch zweiter Klasse: «zu Mittag gab es ein Glas Milch und ein hartes Stück Brot», erinnert sie sich: «Wenn ich nicht pariert habe, hat die Pflegemutter mich abgeschlagen.» Eine Kindheit voller Schläge und Erniedrigung.

Zwischen 1870 und 1980 haben die Schweizer Behörden über Hunderttausend Kinder aus ihren Familien gerissen und in Heimen und Pflegefamilien untergebracht. Dort wurden sie teilweise wie Sklaven gehalten, etliche wurden körperlich und seelisch missbraucht.

In 166 Gemeinden im Kanton Bern läuft derzeit eine Kampagne, die ein Schlaglicht auf das düstere Kapitel Schweizer Geschichte wirft. Auch etliche Seeländer Gemeinden machen mit, wie zum Beispiel die reformierte Kirche in Nods. «Ich hoffe, das ist ein guter Beitrag für den Heilungsprozess», sagt Mary-Claude Bayard, Gemeinderätin von Nods. In der Kirche hängen zahlreiche Fotos und Erfahrungsberichte ehemaliger Verdingkinder.

Der Blick zurück in eine düstere Geschichte
https://youtu.be/j9CZwQwW0qg

Auch Michel Cattin ist betroffen, er sitzt an seinem Esstisch und sieht sich alte Kinderfotos an, auf denen er lächelt. Doch das Bild trügt, seine Kindheit war meist freudlos. «Mein Vater war mir gegenüber gewalttätig. Der Besitzer der Wohnung hat das mitbekommen und eine Anzeige bei den Behörden gemacht. Deshalb musste ich ins Heim.»

1960 haben die Behörden ihn in einem Kinderheim im Kanton Waadt platziert, damit begann ein langer Leidensweg. Cattin musste über Jahre verbale, körperliche und sexuelle Gewalt über sich ergehen lassen. «Ich fühlte mich oft einsam und traurig», sagt Cattin. Um die Wunden der Vergangenheit zu heilen, schreibt er heute ein Buch über das, was er erlebt hat. «Es tat weh, das alles aufzurollen», doch die Konfrontation lindere den Schmerz.

Rund 2000 im Kanton wohnhafte Personen sollen von Fremdplatzierung betroffen gewesen sein. Mit der Kampagne «Zeichen der Erinnerung» will der Kanton Bern an die Untaten erinnern und dafür sorgen, dass sie nie wieder vorkommen.
(https://ajour.ch/de/story/89969/liselotte-gerber-war-verdingkind-wenn-ich-nicht-pariert-habe-hat-sie-mich-abgeschlagen)



ajour.ch 28.05.2023

Ehemalige Verdingbuben erzählen in der Kirche Schüpfen von Missbrauch und Gewalt

Hunderttausende dürften es gewesen sein, die in der Schweiz gegen ihren Willen verdingt wurden. Am Gottesdienst zum Palmsonntag in Schüpfen haben zwei Betroffene ihre Geschichte erzählt.

Jérôme Léchot

Heute vor rund zweitausend Jahren sei der Heilige Geist auf die Erde gekommen, 50 Tage nach Ostern, an einem christlichen Feiertag, der seither Pfingsten heisst. Aber was genau das bedeuten soll, der Heilige Geist auf Erden, ist nicht so leicht in Worte zu fassen.

Der Apostel Lukas hat diese Geschichte in etwa so erzählt: Vom Himmel her sei ein Brausen zu vernehmen gewesen, «wie ein heftiger Sturm, der das ganze Haus erfüllte, in dem die Menschen sassen.» Ein Feuer sei erschienen, das sich geteilt und auf alle Anwesenden niedergelassen habe. «Dann wurden alle vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden.»

Die diesjährige Pfingsfeier in Schüpfen war etwas schlichter gehalten als die Erzählung des Lukas. Aber was die zwei eingeladenen ehemaligen Verdingkinder am Gottesdienst erzählten, hatte auch etwas von einem Sturm, der auf die Anwesenden niederschlug. Und sie zwar nicht mit einer neuen Sprache, aber mit neuen Geschichten zurückliess, über die sie nach der Messe reden sollten.

Es waren nur zwei von unzähligen Geschichten von Kindern, die platziert und zu billigen Arbeitskräften verdingt wurden, bei der junge Frauen zur Abtreibung gezwungen wurden und Männer zur Sterilisation, wie die Schüpfener Pfarrerin Susanna Leuenberger den etwas anderen Pfingstgottesdienst eröffnete.

«Diese Menschen haben ihre Ohnmacht und ihre Demütigungen oft verschwiegen – aus Scham, oder weil es niemand interessiert hat», sagte sie. Heute solle das anders sein, und so hat sie zwei ehemalige Verdingkinder eingeladen, die etwas von diesem dunklen Sturm in die Kirche tragen sollten, der im Kanton Bern während Jahrhunderten gewütet hat.

Vormund an Kurt Gäggeler: «Du hast nichts zu sagen»

Kurt Gäggeler, einer der zwei eingeladenen Zeitzeugen, stand auf und suchte an der Kanzel erst einmal nach seiner Stimme. «Es ist für mich ungewohnt, hier oben zu stehen — normalerweise mussten wir zuhören und schweigen», konnte er schliesslich hervorbringen. Und dann erzählte er zuerst von seinen ersten drei Lebensjahren, auf die 17 als fremdplatziertes Kind folgen sollten.

Seine Mutter sei oft abwesend gewesen, sagt Gäggeler, habe sich um ihn nicht gekümmert, «und so ging ich in unserem Haus von Tür zu Tür klingen, um essen zu erbetteln, kriegte auch hier und dort etwas.»

Sein Leid sei ein altes, schon im 17. Jahrhundert gäb es erste Berichte dazu, sagt Gäggeler, in Jeremias Gotthelfs «der Bauernspiegel» sei es erstmals schwarz auf weiss beschrieben worden. Alleine im 19. und 20. Jahrhundert, so die einschlägigen Schätzungen, sind es wohl mehrere Hunderttausend gewesen, die sich in der Schweiz für Kinderarbeit verdingen mussten.

Gäggeler hätte gerne einmal ein «Es tut mir Leid» gehört für die 17 Jahre als Mündel. Aber das kam nie, nicht von den Behörden, die die Kinder platzierten, nicht von den Bauern, die sie ausnutzten, nicht von den Schulen, die wegschauten. Sogar die offizielle Entschuldigung der damaligen Justizministerin Simonetta Sommaruga kam, mindestens sprachlich gesehen, fordernd daher: «Ich bitte Sie im Namen der Landesregierung aufrichtig und von Herzen um Entschuldigung.»

Gefordert wurde von ihm, der bei seinen Pflegeeltern zwar Glück gehabt hat, vieles. Gegeben, ohne was zu fragen, aber wenig. «Der erste Mensch, der mich umarmt hat, ist meine jetzige Frau. Und sie tut es auch jetzt noch, fünfzig Jahre später.»

In der Schule, im Militär oder bei der Berufswahl hiess es immer wieder, hinter vorgehaltener Hand: Für ein Verdingkind geht das nicht.

Er wäre gerne Koch geworden. Vielleicht, weil sich ihm als kleines Kind eingebrannt habe: «Wenn niemand kocht, hat man Hunger.»

Sein Vormund sagte dazu bloss: «Du hast nichts zu sagen.»

Als der Vater starb, wären ihm, wie er im Nachhinein herausgefunden hat, 16 000 Franken zugestanden. Ausbezahlt wurden ihm 8 Franken und siebzig Rappen. «Die hab ich am gleichen Tag in einer Beiz verputzt», sagt er.

Der Bund habe sich letztlich mit seinem 25 000 Franken, auf die ehemalige Verdingkinder ein Anrecht haben, aus der Verantwortung gestohlen. «Das ist ein Schweigegeld», sagt Gäggeler.

Auch, damit weitergehende Entschädigungsforderungen vom Tisch sind. Der Bund könnte ja prekär lebenden ehemaligen Verdingkindern unkompliziert Geld geben, wenn sie beispielsweise zum Zahnarzt müssen, meint Gäggeler. Oder ihnen ein GA bezahlen, wenn sie eines brauchen würden.

«Die Behörden warten stattdessen einfach, bis der letzte von uns gestorben ist.» Und mit ihnen auch dieses unbequeme Thema vergessen geht.

 Beat Eymann kam zu einer bösen, jähzornigen Frau

Damit genau das nicht geschehe, ihre Geschichten nicht vergessen gehen, erzählt auch Beat Eymann landauf landab die seinige. Auch er ist der Einladung von Kirche und Gemeinde in Schüpfen gefolgt.

Sein Unheil fing schon vor der Geburt an. Sein Vater sei nicht Zuhause aufgewachsen; eine Lehre wurde ihm verwehrt, und so sei das Geld zeitlebens knapp gewesen. «Daraufhin haben seine Finger zu wachsen angefangen», sagt Eymann. Er meint: Sein Vater sei ein Langfinger, ein Dieb geworden. Mit 44 habe er 26 Vorstrafen auf dem Kerbholz gehabt.

Weil der Vater oft im Gefängnis und die Mutter arbeiten musste, kam er 1962, mit 6 Jahren, in den Buechiberg. «Zu einer jähzornigen, bösen, alten Frau, in dieser Reihenfolge.»

Eine Frau, die in einer Sekte war und manchmal eine ganze Gruppe an Menschen zu sich einlud, die dann sangen, beteten, bis spät in die Nacht — und der kleine Beat Eymann musste todmüde aufbleiben, bis die letzten Gäste gegangen waren.

Eine Frau, die schlecht zu Fuss war, wie er erzählt, und deshalb stets einen Gehstock dabei hatte, mit dem sie das Kind prügelte.

Eine Frau, die in der Nacht schrie, der Beinkrämpfe wegen, die sie hatte. Und so musste der sechsjährige Beat Eymann ihre Beine mit Kampferöl einmassieren. Geschwollene, mit Wasser gefüllte Beine. «Dafür war ich noch gut genug.»

Ein Onkel, der einzige, der zu ihm schaute, schaffte es schliesslich, ihn nach drei Jahren im Buechiberg an einen anderen Ort zu bringen, auf einen Hof in Wikartswil. Wo es zuerst einmal besser war als bei der jähzornigen alten Frau.

Mit dem Grossvater und dem Pflegevater hatte er es gut, «der gab mir auch immer wieder einen Batzen, im Versteckten.»

Mit der Pflegemutter hingegen gar nicht. «Sie war gut zu Fuss, hatte also keinen Gehstock.» Und so schlug sie den Jungen mit dem Besen.

Mit dem Sohn noch weniger. «Ich war vielleicht elf, als es zu sexuellen Übergriffen kam». Aber damals fehlten ihm für das, was ihm widerfuhr, noch die Worte. Und so schwieg er.

Immerhin lief es dem kleinen Beat Eymann in der Schule. So gut, dass er es locker in die Sekundarschule geschafft hätte. Aber seine Mutter und seine Pflegeeltern hätten das nicht gewollt. Und so durfte er nicht. Als er später seine Lehre als Landmaschinenmechaniker anfing, musste er abbrechen. Weil seine Primarschulkenntnisse nicht ausreichten.

So ging er in eine Kartonfabrik arbeiten, mit 20, und konnte erstmals in seinem Leben ein eigenes Leben führen.

Auf dem Dorfplatz wird ihre Geschichte weitererzählt

Die Kirchgängerinnen und Kirchgänger blieben an diesem Sonntagmorgen etwas fassungslos zurück. Und sammeln sich nach und nach auf dem Dorfplatz, um zu verarbeiten, was sie eben gehört hatten, aber auch, um noch einmal mit den beiden Betroffenen zu sprechen. Im Schatten der Zeder, wo die Kirchgemeinde und die Gemeinde Schüpfen eine Plakat-Ausstellung eingerichtet hat. Auf der zu sehen ist, was den unzähligen verdingten Kindern an unsäglichem Unrecht widerfahren ist.

Etwa sexuelle Missbräuche, wie sie Beat Eymann widerfahren sind. Und über die er sich erst seit ein paar Jahren zu sprechen traut. «Ich habe meiner Frau erst vor fünf Jahren davon erzählen können.»

Auch Kurt Gäggeler hat erst vor wenigen Jahren, 2010, mit dem Erzählen über die schlimme Zeit angefangen. «Das hat ja früher niemanden interessiert», sagt er. Jedes Mal, wenn er das tue, nehme es ihn wieder mit, zurück in diese dunkle Zeit. Was ihm keineswegs leichtfalle. Aber er werde seine Geschichte immer und überall weitererzählen. «Damit nie wieder so etwas geschieht.»

Auf dem Dorfplatz in Schüpfen werden diese Geschichten vom Pfingstsonntag noch eine Weile nachhallen. Die Plakatausstellung dauert bis anfangs November.
(https://ajour.ch/de/story/83141/ehemalige-verdingbuben-erz%C3%A4hlen-in-der-kirche-sch%C3%BCpfen-von-missbrauch-und-gewalt)