Medienspiegel 21. April 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
Nutzung des Bundesasylzentrums Brugg wird verlängert
Die Asylbehörden in der Schweiz sind parallel zu den Folgen der anhaltenden Krise in der Ukraine auch mit einer hohen Zahl neuer Asylgesuche konfrontiert. Gemäss Asylprognosen wird in naher Zukunft keine Entspannung eintreten. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) ist deshalb weiterhin auf zusätzliche Unterbringungsplätze angewiesen. Die Armee hat sich bereit erklärt, dem SEM die Anlage in Brugg für weitere drei Jahre zur Verfügung zu stellen. Im Einvernehmen mit dem Kanton Aargau und der Stadt Brugg wird die Nutzung des Bundesasylzentrums (BAZ) Brugg mit bis zu 440 Plätzen bis Ende Juni 2026 verlängert.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-94474.html
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/brugg/bis-juni-2026-fahrzeughalle-in-der-stadt-brugg-dient-drei-weitere-jahre-als-asylzentrum-ld.2445580


+++MITTELMEER
Cristina Cattaneo will anonymen ertrunkenen Migranten ihre Identität zurückgeben
Seit zehn Jahren kämpft Dr. Cristina Cattaneo darum, die Menschen zu identifizieren, die bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen sind. Der Film «Pure Unknown», der jetzt am Dokumentarfilm-Festival Visions du Réel im Nyon gezeigt wird, erzählt davon.
https://www.watson.ch/international/interview/940941350-italienerin-will-ertrunkenen-migranten-ihre-identitaet-zurueckgeben


+++GASSE
Von Bern bis Freiburg: Mehr Menschen sind obdachlos
In Bern, Biel und Freiburg hat die Obdachlosigkeit zugenommen. Besonders auffällig ist dabei, das besonders Menschen aus dem Ausland ohne Dach über dem Kopf sind. Wir gehen auf Spurensuche und fragen: Was kann man gegen die Obdachlosigkeit tun? (ab 10:26)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/von-bern-bis-freiburg-mehr-menschen-sind-obdachlos?id=12374154
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/biel-muss-gegen-genf-seinen-vorsprung-abgeben?id=12373773


Strassenmagazin und mehr
25 Jahre Surprise: «Potenzial ist noch lange nicht ausgeschöpft»
Seit 25 Jahren gibt es den Verein «Surprise», der besonders durch das gleichnamige Strassenmagazin bekannt ist. Die Co-Geschäftsleiterin Jannice Vierkötter spricht darüber, dass man sich vom Ziel einer Schweiz ohne Armut weiter entfernt.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/25-jahre-surprise-potenzial-ist-noch-lange-nicht-ausgeschoepft-151104292


Gewalt an Bahnhöfen: Weshalb hält die Zuger Polizei die Zahlen geheim?
Die Gewalt an Bahnhöfen nimmt in vielen Schweizer Städten zu. Auch in den Nachbarkantonen Zugs. Nur: Wie sich das Bild in Zug präsentiert, ist nicht bekannt. Die SVP im Kantonsrat will nun Zahlen sehen.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/gesellschaft-gewalt-an-bahnhoefen-weshalb-haelt-die-zuger-polizei-die-zahlen-geheim-ld.2444948


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Haftbeschwerde von Jérémy* abgelehnt
Die Beschwerde gegen die U-Haft von Jérémy* wurde abgelehnt. Doch wir geben nicht auf!
Am Donnerstag, dem 13. April lehnte die chambre pénale de recours (Beschwerdekammer in Strafsachen) die Freilassung von Jérémy* ab und bestätigte seine Untersuchungshaft bis mindestens 15. Juni. Das Unterstützungskomitee für Jérémy* ist entsetzt über diese Entscheidung. Ein Monat in Champ-Dollon ist bereits ein Monat zu viel! Dass unser Freund und Genosse noch zwei weitere Monate dort bleiben soll, ist inakzeptabel!
https://barrikade.info/article/5887


+++KNAST
Détention administrative : Quand la justice transfère mais ne libère pas directement.
 Jeudi, à la suite d’un énième procès sur les conditions de détention à Favra, la justice genevoise a reconnu que la détention administrative dans cette prison était indigne pour deux détenus. Elle a demandé leur transfert vers une autre prison d’ici à mardi, et seulement si ce n’est pas possible, leur libération.
https://renverse.co/infos-locales/article/detention-administrative-quand-la-justice-transfere-mais-ne-libere-pas-3988


+++REPRESSION DE
Aktionen von Klimaaktivisten: Justizminister zieht historische Parallele zu Straßenkämpfen in Zwanzigerjahren
Die »Letzte Generation« plant, Berlin ab Montag lahmzulegen. Bundesjustizminister Buschmann zieht einen Vergleich zu »straßenschlachtartigen Zuständen« vor hundert Jahren.
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/klimaaktivisten-marco-buschmann-zieht-parallele-zu-strassenkaempfen-in-1920-30ern-a-72d9ff58-4593-4c1a-8bb4-2c426b695fe1
-> https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-04/letzte-generation-marco-buschmann-strassenproteste-extremisten-vergleich
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172631.klimaprotest-letzte-generation-keine-strassenschlacht-dank-klimaklebern.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/449346.d%C3%B6pfner-des-tages-marco-buschmann.html


+++BIG BROTHER
Löschoperation zu besonderem Zeitpunkt: Schweizer Geheimdienst taucht ab
Der Nachrichtendienst des Bundes lässt die öffentlichen Profile seiner Topleute verschwinden – in einem Moment, in dem die Chefs dort um ihre Stelle fürchten müssen.
https://www.derbund.ch/schweizer-geheimdienst-taucht-ab-930802940513


+++POLICE DE
Debatte über tödliche Polizeigewalt: „Ich kriege keine Luft!“
Regelmäßig ersticken Menschen, weil sie von der Polizei bäuchlings auf dem Boden liegend fixiert werden. KOP fordert ein Verbot dieser Praxis.
https://taz.de/Debatte-ueber-toedliche-Polizeigewalt/!5926222/


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
derbund.ch 21.04.2023

BEA-ParkplätzeDie Fahrenden sind abgereist

Im März liessen sich französische Roma am Stadtrand von Bern nieder – auf einem Parkplatz, der für die BEA benötigt wird. Nun sind sie einem Ultimatum zuvorgekommen.

Cedric Fröhlich

Die Parkplatzsituation an Berns grösster Messe hat sich entspannt, eine Woche, bevor sie überhaupt eröffnet wird. Die Fahrenden, die sich im März an der Wölflistrasse niedergelassen hatten, sind weitergezogen. Die Bernexpo Groupe, Veranstalterin der BEA, mietet den Parkplatz jeweils für die Dauer der Ausstellung, die heuer vom 28. April bis zum 7. Mai stattfindet.

Die Fahrenden kamen damit einem behördlichen Ultimatum nach, das am Freitag ablief. «Wir sind dankbar und freuen uns, dass uns die Parkfläche rechtzeitig zur Verfügung steht», sagt Bernexpo-Sprecher Adrian Erni.

Bevor sie ihre rund 20 Wohnwagen auf dem Parkplatz am Berner Stadtrand abstellten, hatten sich die französischen Roma-Familien während zweier Wochen vor der Tissot-Arena in Biel aufgehalten und von dort an den Flughafen Belp disloziert. Der Kanton intervenierte und wies ihnen schliesslich das Gelände an der Wölflistrasse zu.

Hintergrund dieser Episoden ist der anhaltende Konflikt um fehlende Stellplätze für ausländische Fahrende. In der Seeländer Gemeinde Wileroltigen wird voraussichtlich 2025 ein Transitplatz in Betrieb gehen, der die Situation entschärfen soll.
(https://www.derbund.ch/die-fahrenden-sind-abgereist-981213574960)


+++FRAUEN/QUEER
Auf Twitter und Instagram: Drag-Show im Gletschergarten sorgt für Empörung
Dieses Wochenende übernimmt das Jugendkulturhaus «Treibhaus» das Museum Gletschergarten. Die geplante Vorführung einer Dragqueen sorgt in den Sozialen Medien bei einigen für Wut.
https://www.zentralplus.ch/news/drag-show-im-gletschergarten-sorgt-fuer-empoerung-2539441/


+++RASSISMUS
tagesanzeiger.ch 21.04.2023

Blackfacing am Sechseläuten: «Dieser Rassismus war eine neue Dimension für mich»

Gilles Meyer hat die diskriminierende Darbietung am Zürcher Zunftanlass gefilmt. Bei einem Treffen sagt er, warum er mithalf, dass die Sache öffentlich wurde.

David Sarasin

Als die schwarz angemalte Person mit Kraushaarperücke und Knochen in der Hand auf die Bühne trat, überlegte sich Gilles Meyer* kurz, ob er die Licht- und Tonregler einfach runterfahren sollte. «Das war zu viel für mich», sagt er im Gespräch mit dieser Zeitung. Er kümmerte sich während des Sketches der Zünfter am «Ball beim Böögg» hinter einem Mischpult um die Technik auf der Bühne.

Doch Meyer entschied sich gegen dieses offensichtliche Statement vor Ort. Einfach nichts machen wollte er aber auch nicht. Darum filmte er die Szene mit seinem Handy. Später teilte er das in seinem Umfeld. So gelangte sie zum «Tages-Anzeiger». Der darauf aufbauende Artikel fand weitum Beachtung. Auf Anfrage dieser Zeitung hat Meyer sich bereit erklärt, über seine Erfahrung zu sprechen.

Meyer ist DJ und war als solcher auch für den Zunftball am Samstag vor dem Sechseläuten im Zürcher Restaurant Terrasse gebucht. Auf Bitte der Veranstalter kümmerte er sich auch um Licht und Ton.

Die Bälle haben vor dem Sechseläuten Tradition. Zünfter treffen sich nach dem Fest auf dem Lindenhof in unterschiedlichen Zürcher Restaurants. Zugelassen zu den Bällen sind nur Zünfter, ihre Frauen und geladene Gäste.

Als in der zweiten Hälfte der dreiviertelstündigen Aufführung im Restaurant Terrasse das Wort «nonbinär» fiel, habe er aufgehorcht. «Ich bin selber in einer Beziehung mit einer nonbinären Person, mich hat der herablassende Ton, mit dem gesprochen wurde, schockiert», sagt der 43-jährige Vater von zwei kleinen Söhnen aus einer früheren Beziehung.

Der herablassende Spruch sollte erst der Anfang sein. Während er hinter dem Mischpult stand, vollführten Personen auf der Bühne ein Theater. Dabei war eine Person schwarz angemalt, hielt einen Knochen in der Hand, trug einen Bastrock und eine Kraushaarperücke. In einem gross projizierten Video ahmte ein Mann im Regenbogenhemd eine homosexuelle Person nach, und eine Frau trat als brasilianische Sexarbeiterin auf. Das Publikum, zu dem auch Wirtschaftskapitäne aus der Zürcher Elite gehörten, lachte zu den Sketchen.

Die Szene mit den abschätzigen Darstellungen ist in Meyers Video zu sehen, das diese Zeitung am Mittwoch verpixelt veröffentlicht hat. Meyer weiss, dass ihm sein Outing wirtschaftlich schaden wird. Denn als DJ, der hauptberuflich an Events auflegt, zählt er unterschiedlichste Personengruppen zu seiner Kundschaft. Er kann sowohl die Geschmäcker von Superreichen wie auch jene der Queer-Community bedienen.
-> Video: https://unityvideo.appuser.ch/video/uv448784h.mp4

«Dieser Rassismus war eine neue Dimension für mich», sagt er. Dabei sei er in den vergangenen Monaten häufiger als früher mit rassistischen Äusserungen konfrontiert gewesen. Er erzählt von einem Golfclub-Präsidenten im Kanton Zürich, der nach dem Auftritt einer schwarzen Sängerin sagte, dass sie an diesem Ort eigentlich nicht zugelassen gewesen sei. Und von einer Hochzeit in Küsnacht, wo der Brautzeuge unwidersprochen die Vermehrung der weissen Rasse propagiert habe. «In der Schweiz gibt es mehr Rassismus, als man denkt», sagt Meyer.

Ein rassistisches Erlebnis zu viel

Der Abend im Terrasse war für ihn bloss ein solches Erlebnis zu viel – und eines, das er in einem solchen Ausmass noch nie erlebt hat. «Die Sache verletzt die Antirassismusstrafnorm», ist sich Meyer sicher. Aber auch: «Ich kann nicht verstehen, warum alle Leute so laut lachen konnten bei diesen offensichtlich rassistischen Sketchen», sagt er.

Seine Sensibilität für diese Themen erklärt er auch mit seiner Herkunft. Seine Mutter sei halb Französin und halb Algerierin, sein Vater stamme aus der Berner Bourgeoisie. Er selber sei gebürtiger Schweizer. «Ich werde mit meinen blauen Augen und der hellen Haut als weisse Person wahrgenommen, weiss aber wegen meiner Herkunft, was es heisst, diskriminiert zu werden», sagt er. Sein Freundeskreis setze sich aus Personen mit unterschiedlichsten Hintergründen zusammen.

Mit seinem Gang an die Öffentlichkeit möchte Meyer für alle sprechen, deren Stimme seiner Meinung nach unterdrückt wird – dazu zählt er auch die vielen ausländischen Serviceangestellten, die am Samstagabend im Terrasse arbeiteten. Für Meyer stellen sich nach dem Anlass ganz viele Fragen. «Wie kann es sein, dass die Wahrnehmungen davon, was rassistisch ist und was nicht, so unterschiedlich sein können.»

Auf eine Antwort kann Meyer zumindest aus dem Kreis der Teilnehmenden nicht hoffen.

Für ein Gespräch ist keine der angefragten, am Abend anwesenden Personen bereit. Es sei «ein Abend unter Freunden» gewesen, sagte eine Frau, die am «Ball beim Böögg» selber auf der Bühne stand und die Gilles Meyer als DJ gebucht hatte, gegenüber dieser Zeitung. Auch der Zoo-Verwaltungsrat Martin Naville und der Swiss-Life-Präsident Rolf Dörig äussern sich nicht zum Anlass. Der «Ball beim Böögg» sei eine Privatveranstaltung gewesen, sagen beide auf Anfrage dieser Zeitung.

Gilles Meyer hat von den Veranstaltern eine Whatsapp-Nachricht erhalten. «Nie hätte ich gedacht, dass du mein Vertrauen so missbrauchst», schrieb ihm die Organisatorin. Für Meyer ist ein anderes Thema zentral. «Sie verpasst mit dieser Haltung die Chance, eine solche Darbietung grundsätzlich zu hinterfragen.»

*Name geändert



Eine Rüge vom Bund

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus verurteilt die Darbietung am «Ball beim Böögg». Diese sei geschmacklos und reproduziere rassistische Stereotype, sagte Geschäftsführerin Alma Wiecken auf Anfrage von CH Media. Beim Blackfacing würden schwarze Menschen auf einseitige und diskriminierende Art dargestellt. Dass die Darbietung in einem privaten Kreis ablief, schützt die Veranstalter gemäss Alma Wiecken nicht zwingend vor der Antirassismusstrafnorm. Diese greife auch bei grösseren privaten Anlässen, bei denen sich nicht alle Teilnehmenden persönlich gut kennen.

Die Enthüllung des «Tages-Anzeigers» hat auch politische Folgen. Die Juso, die bereits am Sechseläuten gegen den Anlass protestiert hatte, fordert, dass diesem die Bewilligung entzogen oder zumindest an gewisse Bedingungen geknüpft werde. Die Stadt dürfe Vereinen, in denen es zu menschenverachtendem Verhalten komme, keine derart riesige Plattform geben, heisst es in einer Mitteilung. (bat)
(https://www.tagesanzeiger.ch/dieser-rassismus-war-eine-neue-dimension-fuer-mich-863079150305)

-> https://www.20min.ch/story/das-war-zu-viel-fuer-mich-dj-outete-blackfacing-am-sechselaeuten-ball-449656143075?version=1682062452524
-> https://www.blick.ch/politik/techniker-filmte-blackfacing-am-sechselaeuten-ball-kann-nicht-verstehen-warum-leute-so-laut-lachen-konnten-id18507927.html
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/dieser-rassismus-war-fuer-mich-neue-dimension-zunft-dj-filmt-blackfacing-151117866?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151105718
-> Mutmasslich rassistische Darbietung im Umfeld des Zürcher Sechseläutens sorgt für viel Kritik. (ab 04.23)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/spurabbau-am-bellevue-bleibt-umstritten?id=12373971


«Ball beim Böögg» am Sechseläuten: Zürcher Staatsanwaltschaft prüft Verfahren wegen Blackfacing
Ein schwarz Angemalter mit einem Knochen in der Hand macht an einem Zunftball Witze auf der Bühne. Nun hat sich die Zürcher Staatsanwaltschaft eingeschaltet.
https://www.blick.ch/politik/ball-beim-boeoegg-am-sechselaeuten-zuercher-staatsanwaltschaft-prueft-verfahren-wegen-blackfacing-id18509260.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/rassismus-rund-um-sechselaeuten-sketch-am-zuercher-zunftball-wird-zum-fall-fuer-den-staatsanwalt
-> https://www.tagesanzeiger.ch/zuercher-staatsanwaltschaft-prueft-strafverfahren-886497262529
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/rassistischer-sketch-am-ball-beim-boeoegg-wird-fall-fuer-justiz?id=12374157
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/sechselaeuten-zuerich-staatsanwaltschaft-prueft-rassismusvorwuerfe?urn=urn:srf:video:db142525-666d-4ad4-828c-a02f612ce290
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sechselauten-zurcher-staatsanwaltschaft-pruft-strafverfahren-66478407


Kritik an Zunftball: «Will die Welt Zünftlern Rassismus verbieten, geben sie erst recht Gas»
An einem Ball von und für Zünfter amüsierten sich die Anwesenden über höchst umstrittene Darbietungen. Laut Experte werden hinter verschlossenen Türen gesellschaftliche Tabus gebrochen, weil die Mitglieder sich «unter sich» fühlen.
https://www.20min.ch/story/will-die-welt-zuenftlern-rassismus-verbieten-geben-sie-erst-recht-gas-461209265294



tagesanzeiger.ch 21.04.2023

Rassismus am Sechseläuten: Mauch bläst Zünften den Marsch

Die Zürcher Stadtpräsidentin verurteilt das Blackfacing am Zunftball deutlich. Die Zünfte zögern und winden sich lange, veröffentlichen aber nachgelagert ebenfalls ein Statement.

David Sarasin, Jan Bolliger

Zwei Tage nach dem Leak des Videos vom Sechseläuten-Ball ist das Thema in den obersten Kreisen der Zürcher Politik angekommen. Am Freitagnachmittag äusserte sich Stadtpräsidentin Corine Mauch zur problematischen Darbietung der Zünfter am «Ball beim Böögg».

«Die Szenen in dem Video sind abstossend, und ich verurteile sie in aller Deutlichkeit», schreibt Mauch auf Anfrage dieser Zeitung. Auch Justizdirektorin Jacqueline Fehr äusserte sich auf Twitter kritisch. «Woher kommt ein Humor, der davon lebt, andere Menschen herabzusetzen?», fragte sie.

Die von dieser Zeitung am Mittwoch veröffentlichten Aufnahmen des «Balls beim Böögg» zeigen einen schwarz angemalten Mann, der sich einen grossen Knochen zwischen die Beine steckt, als Frauen verkleidete Männer sowie einen stereotypen Homosexuellen.

Zünfter fühlen sich nicht verantwortlich

Bei den Zürcher Zünften wollte man lange nichts mit der Sache zu tun haben. Anfragen dieser Zeitung liefen während dreier Tage mehrfach ins Leere. Auch das Zentralkomitee der Zürcher Zünfte (ZZZ), das für das Sechseläuten verantwortlich zeichnet, äusserte sich nur zögerlich zu dem Vorfall. Beim «Ball beim Böögg» handle es sich um einen privaten Anlass, der in keiner Beziehung zum Sechseläuten oder zum Komitee stehe, gab der Sprecher des ZZZ, Victor Rosser, auf Anfrage bekannt.

Ähnlich klang es bei den fünf angefragten Zunftmeistern jener Zünfte, deren traditionelle Zunftkleider auf Videos der Veranstaltung, die dieser Zeitung vorliegen, erkennbar sind. Es handelt sich dabei um die Zünfte Gerwe/Schuhmachern, Schiffleuten, Stadtzunft, Riesbach und die Gesellschaft zur Constaffel. Die Zunft Riesbach schreibt, dass es bei ihnen noch nie zu Diskriminierung gekommen sei und dass diese «von unseren Zünftern auch nicht geduldet» würde. Der Tenor bei allen Zunftmeistern war jedoch, dass die Veranstaltung «privat» gewesen sei, sie selbst nicht dabei gewesen seien und man sich deshalb auch nicht direkt zu dem Anlass äussern könne und wolle.

Stadtpräsidentin Corine Mauch liess dieses Argument nicht gelten. Sie nimmt die Zünfte als Gesamtes in die Pflicht. Der Vorfall sei zwar in privatem Rahmen passiert, schreibt Mauch, werde aber mit dem Sechseläuten in Verbindung gebracht. «Ich erwarte daher von den Zünften, dass sie sich zum Vorfall positionieren und sich aktiv mit der Thematik auseinandersetzen.»

Man werde sich «aktiv mit der Thematik auseinandersetzen»

Am Freitagabend äusserte sich der Präsident des ZZZ, Felix H. Boller, schliesslich zum Vorfall. Er wiederholte zunächst das, was die angefragten Banker, Verwaltungsräte und Juristen in den Tagen zuvor schon gesagt hatten: nämlich dass es sich beim «Ball beim Böögg» um einen privaten Anlass gehandelt habe. Neu schrieb Boller aber auch, dass das ZZZ und die Zürcher Zünfte jegliche Form von Rassismus ablehnten. Er wählte ähnliche Worte wie zuvor Mauch in ihrer Aussage: «Das ZZZ wird sich zusammen mit den Zunftmeistern aktiv mit der Thematik auseinandersetzen.»

Für die Organisatoren des Balls könnte der Auftritt jedoch noch weitere Konsequenzen haben. Laut der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (ERK) wurden in den gefilmten Szenen «rassistische Stereotype reproduziert». Das bei der Veranstaltung angewandte Blackfacing sei rassistisch, weil es in diesem Fall schwarze Menschen auf eine einseitige und diskriminierende Art und Weise darstelle, sagte die Bundesbehörde gegenüber CH Media. Die ERK sieht darin eine mögliche Verletzung der Antirassismusstrafnorm. Dabei würde es sich um ein Offizialdelikt handeln.

Deshalb beschäftigt sich nun auch die Staatsanwaltschaft mit der Angelegenheit. Sie leitete am Freitag ein Vorabverfahren ein, wie der Sprecher der Staatsanwaltschaft auf Anfrage bekannt gab. Dabei wird untersucht, ob ein hinreichender Tatverdacht für ein Offizialdelikt vorliegt und ob die Voraussetzungen zur Eröffnung einer Strafuntersuchung gegeben sind.
(https://www.tagesanzeiger.ch/mauch-blaest-zuenften-den-marsch-605497749246)



Rassismuskritische Psychotherapie: Rassismus macht krank
Zu oft werden Diskriminierungserfahrungen vernachlässigt. Therapeut:innen müssen sich fragen: Durch welche Brille schaue ich denn selbst?
https://taz.de/Rassismuskritische-Psychotherapie/!5926354/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Serie zur Anastsia-Bewegung
Teil 1: Arier- und Ahnenkult
https://www.endstation-rechts.de/news/arier-und-ahnenkult

Teil 2: Russische Einflussnahme
https://www.endstation-rechts.de/news/russische-einflussnahme

Teil 3: Kampf gegen Bildung
https://www.endstation-rechts.de/news/kampf-gegen-bildung


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Jurist meldet Nicolas Rimoldi bei der Kesb, dieser will Anzeige erstatten
Hinter einer Gefährdungsmeldung an die Zürcher Kesb steht der Luzerner Jurist Loris Fabrizio Mainardi. Grund für die Meldung sollen Äusserungen von Rimoldi sein. Er setzt sich zur Wehr.
https://www.20min.ch/story/jurist-meldet-nicolas-rimoldi-bei-der-kesb-dieser-will-anzeige-erstatten-358917971206?version=1682053572674
-> https://www.blick.ch/politik/nach-twitter-fehde-mit-meret-schneider-luzerner-jurist-meldet-nicolas-rimoldi-bei-der-kesb-id18507707.html
-> https://www.zentralplus.ch/news/nicolas-rimoldi-will-anzeige-gegen-luzerner-erstatten-2539142/


+++HISTORY
tagesanzeiger.ch 21.04.2023

Interview zur Industrialisierung: «Ohne Sklaverei gäbe es den Westen nicht»

Erst Millionen versklavte Afrikanerinnen und Afrikaner machten Europa zur Supermacht, sagt Howard French. Der Publizist schreibt die Geschichte der westlichen Welt um.

Jörg Häntzschel

Mister French, ein Buch über die Entstehung der modernen Welt, das in Afrika beginnt: Das ist ungewöhnlich.

Der Aufstieg des Westens war eine Geschichte der Ausbeutung. Sie beginnt mit den Goldfunden in Elmina im heutigen Ghana durch die Portugiesen. Afrikanische Sklavenarbeit wurde langfristig viel wichtiger, aber alles fing mit dem Gold an.

So haben wir die Geschichte nicht gelernt.

In den USA und in Europa wird sie so erzählt: Eines Tages im 15. Jahrhundert fanden die Europäer, sie müssten einen Seeweg nach Asien finden. Und dieses Unternehmen machte Europa schliesslich zum Zentrum von Reichtum und Macht in der Welt. So begann die moderne Ära. Das ist nicht nur viel zu einfach, es stimmt auch einfach nicht.

Wie war es also wirklich?

Spaniens und Portugals Obsession, die Welt zu entdecken, beginnt keineswegs mit Asien. Sie beginnt mit dem Versuch, einen Weg nach Afrika zu finden. Man wusste, dass dort enorme Goldvorkommen lagen. Dieses Gold hat die europäische Fantasie entzündet. Erst als die Portugiesen 1471 dieses Gold in Afrika tatsächlich fanden, entschlossen sich die Spanier, Kolumbus seine Theorie beweisen zu lassen, dass über den Atlantik Asien zu erreichen sei. Die Portugiesen und Spanier glaubten, wenn es Gold in Äquatorialafrika gebe, müsse es auch anderswo auf ähnlichen Breitengraden zu finden sein.

Warum verschwand Afrika aus dieser Geschichte?

Weil das, was die Europäer den Afrikanern angetan haben, so grauenvoll war, dass es Europa nicht aushielt, Afrika seinen Platz in der Geschichte zuzugestehen. Und weil die Europäer eine Erzählung brauchten, in der ihre Tugenden zum Tragen kommen: die protestantische Ethik, die jüdisch-christliche Religion, die Wissenschaft. Das sind nicht nur Mythen. Aber sie wurden zu bevorzugten Erklärungen für den enormen ökonomischen und militärischen Erfolg, den die Europäer von dieser Zeit an im Vergleich mit anderen Teilen der Welt hatten, die Europa zuvor überlegen waren, vor allem Asien. So musste man der schrecklichen Wahrheit nicht in die Augen sehen.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Europa könne sich schwer vorstellen, nicht immer schon überlegen gewesen zu sein.

Nach der Fantasievorstellung des Westens gibt es eine direkte Linie vom klassischen Griechenland zum modernen Europa. Die Herkunft aller europäischen Tugenden lässt sich so in Griechenland, in seiner Demokratie, Philosophie und Wissenschaft verorten. Dabei hatte Griechenland nichts mit dem heutigen Europa zu tun. Sehr eng waren hingegen die Beziehungen Griechenlands zu Asien und Afrika. Griechische Religion, Mythologie und Wissenschaft waren stark vom alten Ägypten beeinflusst. In Wahrheit war Europa bis zum Beginn der Neuzeit alles andere als führend. Die Araber, Inder und Chinesen waren viel weiter.

Die Aufwertung Europas wurde zusätzlich komplementiert durch die Abwertung Afrikas?

Um sich nicht schuldig zu fühlen, müssen die Europäer nicht nur die Tatsache aus der Geschichte löschen, dass sie verantwortlich für Tod und Versklavung von Millionen Menschen sind. Sie müssen auch an der Vorstellung festhalten, dass all das in einer wertlosen Weltgegend passiert ist. Wenn einmal etabliert ist, dass in Afrika nur Wilde herumliefen mit Knochen in der Nase und Speeren in der Hand, ohne jede Organisation, ohne jede Struktur, dann ist es viel einfacher, die folgende Geschichte in eine Geschichte europäischer Tugenden zu verwandeln.

Warum leisteten Afrikaner nicht mehr Widerstand?

Zunächst einmal hatte niemand, der nicht weiss war, egal auf welchem Kontinent, die Vorstellung, einer Rasse anzugehören. Erst die Europäer führten das ein. Sie sagten, ihr seid Asiaten. Und ihr seid Indianer. Und ihr seid schwarz, also seid ihr Afrikaner. Es ging darum, auf der Basis des europäischen Rassismus verallgemeinernde Kategorisierungen zu machen mit dem Ziel, die Überlegenheit Europas zu untermauern.

In Afrika muss man doch erlebt haben, wie Menschen in Ketten gelegt und zu den Häfen getrieben wurden.

Wie anderswo auch hatte die Sklaverei in Afrika eine lange Tradition. Sie diente vor allem dazu, die Population der eigenen Gruppe zu vergrössern. Je mehr Menschen, desto reicher und mächtiger der Herrscher. Um zum Bevölkerungswachstum beizutragen, wurden ihre Gefangenen schnell in die Siegergesellschaft integriert. Das Stigma, versklavt worden zu sein, verschwand schnell. Es gibt Könige, deren Mütter Sklavinnen waren. Den Afrikanern war nicht klar, dass die Europäer eine ganz andere Form der Sklaverei praktizierten, «chattel slavery» (deutsch etwa: «Besitzsklaverei», die Red.). Sie basiert darauf, eine gesamte Gruppe von Menschen ausgehend von ihrer Hautfarbe als für die Sklaverei bestimmt zu definieren. Jeder, der schwarz ist und zum Sklaven wird, ist Eigentum seines Halters und verliert alle natürlichen Rechte. Seine Kinder und Kindeskinder werden ebenfalls Sklaven. Das ist ein völlig neues Konzept. Die Plantagen und die Besitzsklaverei sind ökonomisch gesehen die wichtigsten Erfindungen der Neuzeit. Ohne sie gäbe es den Westen nicht.

Wie genau funktionierte diese Plantagenökonomie in der Karibik und in Brasilien?

Die Europäer rissen das Land der amerikanischen Ureinwohner an sich und füllten es mit Afrikanern, die sie zu Tode geschunden haben. Das dauerte im Durchschnitt fünf Jahre. Beide Prozesse kann man als Genozid beschreiben.

Warum haben sie nicht die Menschen, die sie dort vorfanden, versklavt?

Sie haben es durchaus versucht, aber es funktionierte nicht: Die Ureinwohner hatten keine natürlichen Abwehrkräfte gegen die Krankheiten, die die Europäer mitbrachten. Sie starben wie die Fliegen. Auf den entleerten Inseln liessen die Europäer dann also die Afrikaner die harte Arbeit machen. Der zweite Grund ist: Die Natives kannten sich aus, kannten die Wälder, die Menschen in der Umgebung. Und wenn sie flohen, liessen sie sich als Sklaven nicht identifizieren. Wenn Sie hingegen einen Menschen aus Afrika verschleppen und vorher festgelegt haben, dass versklavt zu sein der natürliche Status eines schwarzen Menschen ist, können Sie per Gesetz bestimmen, dass es illegal für eine schwarze Person ist, frei zu sein. Genau das taten die Portugiesen, die Franzosen und die Briten.

Sie beschreiben die Karibik als Labor für radikal neue Formen des Arbeitens. Einiges davon erinnert an die spätere Industriearbeit im Westen.

Viele Techniken der Industrialisierung wurden auf den Zuckerplantagen in Brasilien und in der Karibik entwickelt. Schon auf der Plantageninsel São Tomé im frühen 17. Jahrhundert gab es grössere Gruppen von Arbeitern als irgendwo in Europa. Später, in Brasilien und Barbados, wurde die Arbeit in einzelne Schritte geteilt, und diese wurden genau synchronisiert. Massen von Arbeitern, synchronisierte, in Einzelschritte zerlegte Prozesse: Das ist eine Grundidee der Industrialisierung. Der Westen erzählt, sie habe in den Spinnereien in Lancashire begonnen. In Wahrheit war es 150 oder 200 Jahre früher in der Karibik.

Nur vier Prozent der Sklaven, die nach Amerika verschifft wurden, gingen in die USA. Warum spielen die USA nach allgemeiner Vorstellung für die Sklaverei eine viele bedeutendere Rolle?

Die Amerikaner denken, alles in Amerika sei gross, deshalb müsse auch unsere Sklaverei gross gewesen sein. Das ist ein Effekt imaginärer Hegemonie. Es ist naiver Chauvinismus. Man muss aber sagen: Obwohl die USA nur vier Prozent der Sklaven einführten, war die Sklavenpopulation sehr gross. In den USA wurde kein Zucker angebaut, die tödlichste Form der Plantagenwirtschaft. Und als die Einfuhr von Sklaven um 1808 aufhörte, taten die Plantagenbesitzer viel dafür, dass ihre Sklaven sich fortpflanzten.

Sie sollten Kinder kriegen, um für ihre Halter mehr Sklaven zu produzieren?

Das Vorbild war die Haltung von Nutztieren, bei der man ja auch versucht, das Maximum aus jedem Tier herauszuholen. Als keine neuen Sklaven mehr eingeführt werden konnten, liessen die Plantagenbesitzer ihre Sklaven so viele Kinder wie möglich bekommen und hielten ihre Sklaven im Vergleich zu denen auf den Zuckerinseln in der Karibik relativ gesund und gut ernährt.

In Europa bekam man von der Sklavenarbeit nicht viel mit. Dabei waren die Effekte enorm. Sogar die Ernährung veränderte sich.

Die Explosion der Zuckerproduktion veränderte den Lauf der Geschichte. Die Europäer hatten plötzlich Zugang zu mehr billigen Kalorien denn je, eine Diät-Revolution! Ausserdem wurden Stimulanzien wie Kakao, Tee, Kaffee, Tabak günstig verfügbar. Beides half, die Produktivität der europäischen Arbeiter enorm zu steigern, es war der Treibstoff für die Entwicklung des Westens.



Neubeurteilung von Afrikas Rolle

Afrikanische Sklavenarbeit spielte geschichtlich noch eine weit grössere Rolle als bisher angenommen – ohne sie wäre die transatlantische Allianz, die man den Westen nennt, nie entstanden. Das ist die These, die der US-Journalist Howard French in seinem minutiös recherchierten und schockierenden Buch «Afrika und die Entstehung der modernen Welt» entwickelt. French (65) war Korrespondent der «New York Times» in Zentralamerika, Afrika, China und Japan. (vin)
(https://www.tagesanzeiger.ch/ohne-sklaverei-gaebe-es-den-westen-nicht-556493220137)



tagblatt.ch 21.04.2023

Fabrikarbeit, Fussketten, Arrestkammer: Was junge Frauen im Lärchenheim in Lutzenberg durchlebten

Jugendliche in Heimen als billige Arbeitskräfte zu missbrauchen, war in der Schweiz bis 1981 gang und gäbe. Ein fast vergessener Ostschweizer Fall ist das Lärchenheim Lutzenberg. In einem neuen Buch kommen Betroffene zu Wort.

Adrian Vögele

Es war ein Skandal, der hohe Wellen warf: 1959 schrieben Schweizer Zeitungen über die Zustände im Lärchenheim in Lutzenberg. In diesem Heim – damals «Mädchenerziehungsanstalt» genannt – müssten junge Frauen Fussketten tragen, damit sie nicht flüchten würden. Von kahl rasierten Köpfen, Büsserkleidern und einer Arrestzelle ohne Fenster wurde berichtet. Der Heimleiter: ein ehemaliger reformierter Pfarrer.

Die Nachrichten lösten auch im Ausland Entsetzen aus. Ein evangelischer Geistlicher in Süditalien schrieb dem Schweizer Bundespräsidenten einen langen Brief – er wollte wissen, ob es wirklich stimme, dass ein reformierter Pfarrer für Pranger und Folter verantwortlich sei. Die Schweiz beschwichtigte. Der Heimleiter behauptete, die erwähnten Peinigungen lägen weit zurück.

Das Lärchenheim ist ein weiterer Fall fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, der weitgehend vergessen war – und nun wieder ans Licht kommt. «Beobachter»-Journalist Yves Demuth hat die Geschichte recherchiert und mit betroffenen Frauen gesprochen. In seinem neuen Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen» ist dem Lärchenheim ein eigenes Kapitel gewidmet.

Damit wird immer deutlicher, dass Zwangsarbeit vor 1980 gerade in der Ostschweiz keine Seltenheit war, sondern eine verbreitete Praxis. Mehrere andere Fälle sind bereits publik geworden, in Teufen, Walzenhausen, Dietfurt. Die Leidtragenden waren oft junge Frauen, oft aus schwierigen familiären Verhältnissen. Profitiert hat die Industrie.

Nach der Flucht die Dunkelkammer

Im Lärchenheim lebte Ende der 50er-Jahre auch die Zürcherin Gloria Wunram. Sie berichtete später, fast alle Bewohnerinnen hätten in Textilfabriken der Umgebung arbeiten müssen. «Man bezahlte nämlich den Aufenthalt in dieser Anstalt selbst.» Den Jugendlichen wurde gedroht, sie würden sich verschulden, wenn sie zu wenig arbeiteten. 1959 flüchtet Wunram, wird von der Polizei wieder aufgegriffen und zurück ins Lärchenheim gebracht. Die Folgen: Strafrock, Strafpredigt, Strafhaarschnitt – und Schlafen in der Strafkammer, «die keinen Lichtschalter hatte, nur eine Pritsche und einen Kübel für die Notdurft».

Monika L. aus Winterthur war von 1966 bis 1968 im Heim in Lutzenberg. Die Eltern waren nicht in der Lage gewesen, ihre vier Kinder zu ernähren. Als 17-Jährige arbeitete Monika L. zunächst als Dienstmädchen bei einer Familie in der Stadt Zürich. «Als die Ehefrau mit den Kindern im Ferienhaus war, belästigte mich der Hausherr sexuell. Ich wehrte den Übergriff erfolgreich ab, woraufhin er mich loswerden wollte.» Die Fürsorge schickte Monika L. ins Lärchenheim. Tagsüber musste sie in einer Unterwäschefabrik in Rheineck arbeiten. «Die Arbeit war keine Ausbildung, das hat auch niemand behauptet. Niemand hat mich nach meinen Berufsvorstellungen gefragt.» Für die zwei Jahre Fabrikarbeit habe sie keinen Rappen erhalten.

«Ich hatte keine Chance, das Kind zu behalten»

Monika L. sagt, sie habe sich bewusst angepasst und untergeordnet im Lärchenheim. «Pfarrer H. hatte vermutlich einen guten Charakter, er war aber überfordert. Immerhin war er nicht übergriffig, so wie andere Heimleiter.» Dass sie arbeiten musste, fand sie nicht schlimm. In der Fabrik in Rheineck habe es ihr jedoch nicht gefallen. Einmal wurde sie vom Inhaber geschlagen. Schlimm gewesen sei vor allem die Zeit unmittelbar nach der Entlassung aus dem Heim. «Wir hatten keine Ahnung, wie man in Freiheit lebt. Ich wusste mit 19 Jahren nicht einmal, wie eine Zehnernote aussieht.»

Auch Monika L.s jüngere Schwester lebte ab 1968 im Lärchenheim. Sie sagt: «Ich war sehr aufmüpfig und habe nicht alles akzeptiert.» Nach einem Jahr im Heim riss sie aus. Die 17-Jährige schaffte es bis nach Hildesheim. In Deutschland lernte sie einen Mann kennen, er verhalf ihr zu einem Job in einem Restaurant. Sie wurde schwanger, der Vater des Kindes war aber keine Hilfe. «Ich kam mit der Situation nicht mehr zurecht und ich wollte einfach wieder in die Schweiz zurück.» Dort endete ihre Flucht – im Lärchenheim.

Obwohl sie schwanger war, musste sie in die Strafkammer, wurde später abgeschottet von den anderen jungen Frauen. Sie sagt, wenn eine andere Insassin sie nicht ermuntert hätte, dann «hätte ich mir das Leben genommen». Sie brachte ihr Kind im Spital Heiden zur Welt. «Der Vormund hat mir ein Formular hingehalten, damit ich es zur Adoption hergebe. Das habe ich dann unterschrieben. Ich hatte keine Chance, es zu behalten.»

Die Behörden schauten zu – und lobten das Heim

Die Methoden des Heimleiters Hans H. waren zwar auch im Trägerverein des Heims zeitweise umstritten, er setzte sich jedoch durch. Die Recherchen zeigen, dass er mit den Insassinnen unterschiedlich umging. Im Buch heisst es: «Wer brav war, kam in den Genuss von Freiheiten und Freizeitkursen, wer sich auflehnte, landete im Arrestzimmer.» Der Heimleiter sagte damals, die jungen Frauen dürften wenn immer möglich eine Lehre machen. Dem widerspricht ein Dokument, das der Heimleiter beim Bund einreichte. 1967 durften nur drei von 83 jungen Frauen eine Lehre machen.

Die Behörden störte das nicht. Der Bund unterstützte das Heim mit Subventionen. 1971 wurde das Heim in einer «Expertise» im Auftrag des Bundes sogar gelobt. Die eingelieferten Frauen würden an «Triebhaftigkeit», «Arbeitsunlust» oder einem «falsch gelenkten Freiheitsanspruch» leiden, wurde darin behauptet. Das Gegenmittel dazu sei eine «Arbeitstherapie».

1981 verbot die Schweiz solche Praktiken. Die Heimeinweisung ohne Gerichtsurteil wurde abgeschafft. Wenige Monate zuvor hatte das Lärchenheim den Betrieb eingestellt – aus wirtschaftlichen Gründen. Mit der Rezession ab 1975 benötigte die Industrie in der Region kaum mehr billige Arbeitskräfte, das Heim verlor seine wichtigste Geldquelle.

1982 wurde am Standort in Lutzenberg ein Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige eröffnet, mit staatlicher Trägerschaft. Es besteht bis heute.

Kanton unterstützt Aufarbeitung

Das Lärchenheim ist nach der Anstalt Gmünden in Teufen und dem Heim Sonnenberg in Walzenhausen der dritte Fall von früherer Zwangsarbeit auf Ausserrhoder Boden, der publik wird. Was sagt der Kanton dazu? In Ausserrhoden habe es damals vergleichsweise viele Heime gegeben, schreibt die Kantonskanzlei auf Anfrage. «Die Aufsicht wurde – zumindest nach heutigem Verständnis – unzureichend wahrgenommen.» Das Staatsarchiv helfe Betroffenen bei der Suche nach Unterlagen. Auch die Recherchen von Buchautor Yves Demuth habe man aktiv unterstützt. «Es liegt auch im Interesse des Kantons, Unrecht aufzuarbeiten.» Die Geschichte der Anstalt Gmünden liess der Kanton untersuchen, das Buch erschien 2021.

Ob nun weitere Studien zum Thema veranlasst werden, hat der Regierungsrat noch nicht entschieden. Eine isolierte Aufarbeitung in Ausserrhoden sei nicht zielführend, weil die Betroffenen von Behörden aus der ganzen Deutschschweiz in die Ausserrhoder Heime geschickt worden seien. Die Frage der Aufarbeitung stelle sich zudem auch bei Firmen, die damals involviert waren.
Buch:

Yves Demuth: Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit. Edition Beobachter, 2023.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/dd-zwangsarbeit-in-ar-der-dritte-fall-ld.2445267)
-> https://www.blick.ch/gesellschaft/zwangsarbeit-in-der-schweiz-heimmaedchen-mussten-schuften-ohne-lohn-id18506001.html