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+++GROSSBRITANNIEN
nzz.ch 22.04.2023
Grossbritannien will Verfügungen des Menschenrechtsgerichtshofs ignorieren
Der Zustrom von Bootsflüchtlingen aus Frankreich ist ein grosses Politikum in England. Die Regierung in London will sie ohne Prüfung allfälliger Asylanträge abschieben können. Dabei will sie sich auch vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof nicht mehr abhalten lassen.
Bettina Schulz, London
In Grossbritannien finden am 4. Mai Lokalwahlen statt. Ein Grund mehr für die Regierung von Premierminister Rishi Sunak, Schlagzeilen mit einem populären Thema zu machen: den umstrittenen Bootsmigranten. Diese Woche nutzte die Regierung ihre Chance, um das geplante Gesetz zur Abschiebung von Asylsuchenden, die Illegal Migration Bill, zu verschärfen. Der Grund: Im Juni 2022 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit einer einstweiligen Verfügung den ersten Flug gestoppt, mit dem die britische Regierung Migranten nach Rwanda hatte abschieben wollen. Dem soll nun vorgebeugt werden.
Die Regierung brachte einen Ergänzungsantrag ein. Der würde bedeuten, dass das britische Innenministerium künftig einstweilige Verfügungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ignorieren kann. Gleichzeitig sollen britische Gerichte eine Abschiebung nur noch verhindern dürfen, wenn dem Flüchtling im Land der Ausbringung schwere, erkennbare und ernste Gefahr droht. Sunak hat mit den beiden Änderungsanträgen den Wünschen des nationalkonservativen Flügels der Konservativen Partei entsprochen. Einen härteren Antrag der Rebellen, jegliche internationale Urteile zur Abschiebung zu ignorieren, liess die Regierung allerdings nicht durchgehen.
Abschiebung aller Bootsmigranten ist das Ziel
In diesem Jahr sind bereits wieder 5000 Flüchtlinge in Schlauchbooten von Calais nach England eingetroffen. Das neue Gesetz spricht diesen Ankömmlingen ab, im Vereinigten Königreich Asyl beantragen zu können. Nach kurzer Internierung sollen sie in ein vermeintlich sicheres Land, wie etwa Rwanda, ausgeflogen werden. Die britische Regierung hat im April 2022 mit Kigali die unbegrenzte Abschiebung von Flüchtlingen vereinbart. Diese sollen dann in Kigali Asyl beantragen, um dort leben zu dürfen. Eine Rückkehr in das Vereinigte Königreich soll ihnen auf lebenslange Zeit untersagt werden.
Die neuen Änderungsanträge zum Abschiebegesetz gäben nach Einschätzung von Lord Thomas of Cwmgiedd, dem ehemaligen Lord Chief Justice, ein «extrem schlechtes Beispiel» ab. Von der englischen Law Society hiess es, Grossbritannien riskiere, internationales Recht zu brechen.
Aber die konservative Regierung nutzt das Thema, um bei den Wählern Anklang zu finden. Besonders die rechtskonservativen Boulevard-Zeitungen beklagen, dass die 45 000 Flüchtlinge, welche die Insel vergangenes Jahr per Boot erreicht haben, zur Überfremdung im Land beitrügen und das Sozialsystem ausbeuteten. Dass die legale Netto-Einwanderung im Vereinigten Königreich nach Angaben des Office for National Statistic im vergangenen Jahr – trotz Brexit – auf 504 000 Personen gestiegen ist, wird kaum beachtet.
Ein wichtiges Thema für konservative Wähler
Ganz geschlagen geben sich die Kritiker der Regierung jedoch nicht. Moderatere Konservative wollen noch bewirken, dass zumindest Jugendliche und Personen, die nachweislich ausgebeutet wurden, von dem Abschiebegesetz ausgenommen werden. Das würde vor allem junge Leute betreffen, die von Schlepperbanden zur Arbeit auf britischen Cannabisfarmen oder zur Prostitution herbeigeschafft werden. Ausserdem soll es einen Antrag geben, dass die Regierung in Bälde Möglichkeiten schafft, dass Flüchtlinge bereits ausserhalb des Landes Asyl beantragen können. Diese Möglichkeit gibt es bisher nicht.
Das Gesetz wird im kommenden Monat im Oberhaus behandelt. Das House of Lords kann erhebliche Änderungen einfordern und Anträge der Regierung abschmettern. Das Thema wird sich also hinziehen – genau das, was die Regierung beabsichtigt.
(https://www.nzz.ch/international/grossbritannien-will-verfuegungen-des-menschenrechtsgerichtshofs-ignorieren-ld.1734715)
+++GASSE
Jetzt klingeln Bettler schon an der Haustüre
Im Basler Gundeldingerquartier ärgern sich Anwohner über Hausbesuche von Bettelnden. Der Polizei sind Einzelfälle bekannt. In Basel gelten fürs Betteln strenge Gesetze.
https://www.20min.ch/story/jetzt-klingeln-bettler-schon-an-der-haustuere-196826661062?version=1682180623865
-> https://www.baseljetzt.ch/uebergriffig-und-nervig-bettler-klingeln-neu-an-der-haustuer/48467
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Basler Zeitung 22.04.2023
Ärger im Gundeli: Vereinzelte Bettler klingeln nun an der Haustür
Gundeli-Bewohner echauffieren sich auf Facebook über eine neue Methode von Bettlern und Bettlerinnen, die als ziemlich übergriffig empfunden wird.
Katrin Hauser
Vereinzelte Bettler sind in Basel dazu übergangen, an Haustüren zu klingeln. Zwei Fälle aus dem Raum Gundeldingen-Bruderholz kursieren in den sozialen Medien. Demnach habe eine Bettlerin beim Bewohner eines Jugendstilhauses im Gundeli geklingelt und ihm ein Schild sowie das Bild eines Kindes gezeigt. Als der Besitzer ihr deutlich gemacht habe, dass er kein Geld geben möchte, sei sie gegangen.
Ein weiterer Facebook-Nutzer schildert, dass seiner Mutter erst kürzlich etwas Ähnliches passiert sei: Ein Bettler habe an ihrer Haustür geklingelt und sie um 100 Franken gebeten. Als sie ihm nur 20 Franken gegeben habe, sei er auf die Knie gefallen und habe gesagt, dass dies nicht zum Leben reiche.
Die neue Methode der Bettler und Bettlerinnen wird als übergriffig empfunden. Gerade ältere Personen könnten sich überrumpelt fühlen, sagt der Bewohner des Jugendstilhauses.
Pascal Messerli, Präsident der Basler SVP, ist nicht überrascht. «Die Methoden der Bettler verändern sich immer wieder. Sie werden aggressiver und aufdringlicher.» Für Messerli ist klar, dass das Klingeln an der Haustür eine aufdringliche Form des Bettelns darstellt und somit verboten ist. Erst kürzlich wurde das teilweise Basler Bettelverbot in weiten Teilen vom Bundesgericht gestützt. «Nun muss man es einfach noch konsequent anwenden», sagt Messerli.
Die Kantonspolizei Basel-Stadt bestätigt auf Anfrage, dass «in Basel in der Tat auch schon vereinzelt Fälle von Betteln an der Haustür vorgekommen sind». Das sei nicht erlaubt, sagt Mediensprecher Stefan Schmitt und verweist auf zwei Paragrafen im entsprechenden Gesetz: Zum einen wird «mit Busse bestraft, wer innerhalb von fünf Metern um Wohn- und Bürogebäude bettelt». Zum anderen handle es sich um «Betteln in aufdringlicher Art und Weise», was ebenfalls verboten ist.
Auch für SP-Grossrat Pascal Pfister sind die gesetzlichen Grundlagen klar: «Betteln an der Haustür ist nicht erlaubt.» Er plädiert allerdings dafür, die Basler Polizei in dieser Situation nicht alleinzulassen. «Mit den lächerlich wenig jährlichen Stunden, welche Basel in Streetwork mit den Bettelnden investiert, ist es nicht verwunderlich, dass nicht alle Bettelnden die Regeln kennen.»
Seit der Wiedereinführung eines Verbots im Jahr 2021 hat die Polizei bis heute 431 Ordnungsbussen in Zusammenhang mit dem Betteln ausgestellt. In den letzten Wochen habe die Zahl der Bettlerinnen und Bettler in der Innenstadt wieder etwas zugenommen, sagt Schmitt. Der Grund dafür sei wohl das wärmere Wetter.
(https://www.bazonline.ch/vereinzelte-bettler-klingeln-nun-an-der-haustuer-788192059027)
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solothurnerzeitung.ch 22.04.2023
Zwischen Bahngleis und Hauptstrasse: Läuft das Projekt «Wohncontainer für Suchtkranke» in Biberist wie erhofft?
Der Verein Perspektive Region Solothurn-Grenchen stellt einer suchtkranken Person einen Wohncontainer zur Verfügung. Das Fazit von Verein und Gemeinde ist bisher positiv. Ein zweiter Container steht aber noch leer.
Adrian Kamber
Im Normalfall bieten sie jedem von uns Ruhe und Sicherheit: die eigenen vier Wände. Man hat darin die Möglichkeit, sich zurückzuziehen, in sich zu kehren und sich Gedanken über die eigene Zukunft zu machen.
Doch nicht allen in der Schweiz ist diese Möglichkeit vergönnt. Wie zum Beispiel Obdachlosen. Sie müssen sich jeden Tag aufs Neue darum kümmern, wo sie am Abend übernachten können. Und immer wieder auch bei verschiedenen Freunden und Bekannten anfragen, ob sie für die nächste Nacht noch ein Bett frei hätten.
Dass dieses ständige Auf-der-Suche-Sein enorm viel Stress bedeutet, versteht sich von selbst. Wenn dann noch eine Alkohol- oder Drogensucht hinzukommt, verschlechtert sich der Zustand einer Person weiter. Um diese Abwärtsspirale zu durchbrechen, wurden in Biberist vergangenen Dezember zwei Wohncontainer aufgestellt. Sie sollen suchtkranken Personen einen festen Rückzugsort bieten, wo sie selbstständig ihr Leben ordnen und gestalten können.
Tägliche Besuche von Montag bis Freitag
Aufgestellt wurden die beiden Wohncontainer vom Verein Perspektive Region Solothurn-Grenchen. Er berät und betreut suchtkranke Menschen und betreibt unter anderem auch die Gassenküche in der Solothurner Vorstadt. Die Container sind etwa 15 Quadratmeter gross und bieten neben einem Bett auch eine kleine Kochgelegenheit und ein Bad mit WC und Dusche.
Läuft das Projekt denn mittlerweile so, wie man sich das vorgestellt hat? Thomas Blum, Bereichsleiter Begleitetes Wohnen bei der Perspektive, zieht ein positives Zwischenfazit: «Die Frau, die hier wohnt, hat vorher auf der Gasse und von Tür zu Tür gelebt. Jetzt hat sie hier ihren Rückzugsort. Sie fühlt sich wohl und hat angefangen, sich hier einzuleben.» Blum oder jemand vom Team schaut unter der Woche täglich bei ihr vorbei. Er hilft ihr zum Beispiel dabei, Ordnung zu halten. Oder er nimmt die Wäsche für die Reinigung mit.
«Die Wohnmöglichkeit im Container ist bewusst an ganz wenige Auflagen geknüpft. Wir wollen damit ein möglichst niederschwelliges Angebot schaffen», so Blum. «Die Bewohnerin kennt die möglichen Angebote. Eine Pflicht, sich beispielsweise regelmässig auf einen Job zu bewerben, gibt es aber nicht.»
Platziert ist der Wohncontainer mitten in Biberist, zwischen Bahngeleisen und Hauptstrasse. Auf den ersten Blick mag dieser Standort etwas ungünstig erscheinen, doch Blum ist anderer Ansicht: «Ich finde die Lage hier eigentlich super. Man ist nicht am Dorfrand, sondern mittendrin. Und doch besteht durch Strasse und Gleis eine gute Abgrenzung, sodass man in Ruhe gelassen werden kann.»
Keine negativen Rückmeldungen
Meldungen aus der Anwohnerschaft, die sich über die Person beschwert hätten, habe es laut Blum keine gegeben. Das bestätigt auch Urban Müller Freiburghaus, Verwaltungsleiter der Einwohnergemeinde Biberist: «Bei uns sind bisher weder positive noch negative Meldungen zu den Wohncontainern oder der darin wohnhaften Person eingegangen.» Zwar habe es im Vorfeld kritische Stimmen aus der Bevölkerung gegeben. Doch seit das Projekt läuft, habe man nichts mehr gehört. «Das darf man wohl als gutes Signal auffassen», so Müller Freiburghaus.
Bis auf die Tatsache, dass man den Platz zur Verfügung stellt, hat die Einwohnergemeinde nichts weiter mit dem Projekt zu tun. Das Land, wo bis 2016 noch eine Asylunterkunft stand, gehört zwar dem Kanton. Die Einwohnergemeinde besitzt darauf noch bis Juni 2024 einen Baurechtsvertrag. Die Zinsen dafür werden während der Pilotphase nun von der Perspektive übernommen. Weil Biberist danach das Land dem Kanton zurückgeben muss, ist das Projekt bis dahin befristet.
Die beiden Wohncontainer hat der Verein übrigens für je 26 000 Franken bei der Stiftung Terra Vecchia gekauft. Sie wurden dort von Suchtkranken gebaut. Finanziert wird das Projekt mit Spendengeldern.
Reges Interesse am Pilotprojekt
Für den zweiten Wohncontainer sei man aktuell noch auf der Suche nach einem Bewohner oder einer Bewohnerin. Wie es mit den beiden Personen am Ende der Pilotphase weitergehen wird, kann Blum noch nicht sagen: «Dafür ist es noch zu früh.»
Dass das Projekt darüber hinaus aber eine Zukunft haben könnte, deutet Karin Stoop, Geschäftsführerin der Perspektive, bereits an: «Das Pilotprojekt ist in der Fachwelt auf grosses Interesse gestossen. Auch andere Städte zeigen sich interessiert am Konzept, und wir sind mit mehreren regionalen Sozialdiensten im Austausch.»
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/lebern-bucheggberg-wasseramt/pilotprojekt-zwischen-bahngleis-und-hauptstrasse-laeuft-das-projekt-wohncontainer-fuer-suchtkranke-in-biberist-wie-erhofft-ld.2443661)
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
BE:
Kundgebung auf dem Bundesplatz: Über 3000 Menschen empfangen Klima¬aktivist¬innen des «Marche Bleue»
Am Samstagnachmittag findet in Bern eine Kundgebung statt. Die Demonstrierenden setzen sich für das Klimaschutz-Gesetz und die Einhaltung des Pariser Abkommens ein.
https://www.derbund.ch/ueber-1000-menschen-gehen-fuer-ja-zum-klimaschutz-gesetz-auf-die-strasse-795316891414
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/klimaaktivistinnen-werden-in-bern-von-tausenden-menschen-empfangen-151140215
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/klimaaktivistinnen-werden-in-bern-von-tausenden-menschen-empfangen-66478987
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/zu-fuss-von-genf-nach-bern-marche-bleue-klimaaktivistinnen-werden-vor-bundeshaus-gefeiert
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/209324/
-> https://frapp.ch/de/articles/stories/marsch-furs-klima-trifft-in-bern-ein
ZH:
Verlegte Demo-Route: Aktivistinnen und Aktivisten sind hässig auf Zürcher Stadtpolizei
Linke Organisationen wollten sich am Samstag auf dem Helvetiaplatz zur Demo gegen den CS-UBS-Deal versammeln. Kurzfristig verschob die Polizei die Route. Die Polizei versuche der Demo den Wind aus den Segeln zu nehmen, behauptet ein Aktivist.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/aktivistinnen-und-aktivisten-sind-haessig-auf-zuercher-stadtpolizei-151134432?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151139112
-> https://www.zueritoday.ch/videos/protestierende-umgehen-an-demo-gegen-cs-ubs-deal-das-verhuellungsverbot-151142964?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151142948
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/kundgebung-wuetend-wegen-ubs-cs-deal-des-bundes-demonstrierende-ziehen-durch-zuerich-ld.2446097
-> https://twitter.com/femstreikzh
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/demonstrierende-ziehen-haessig-durch-zuerich-00210601/
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/demo-gegen-credit-suisse-debakel-linke-fordern-eine-enteignung-und-verstaatlichung-151142842
-> https://www.telem1.ch/aktuell/demo-gegen-credit-suisse-debakel-linke-fordern-eine-enteignung-und-verstaatlichung-151142642
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/demo-gegen-die-cs-151143086
BS:
bzbasel.ch 22.04.2023
Hells Angels und Klima-Aktivisten: Der Basler Anwalt Andreas Noll ist ein Grundrechts-Fetischist
Klima-Aktivisten, Demonstranten, Hausbesetzer, Hells Angels, Hooligans: Andreas Noll will aber mehr sein als der Szeneanwalt linker Aktivisten. Ein Besuch beim Enfant terrible unter den Basler Anwälten.
Hans-Martin Jermann
Auf dem Arbeitstisch von Andreas Noll stapeln sich die Dossiers, es wimmelt von Aktenzetteln, daneben steht eine Kiste mit Waggislarven, im Hintergrund an der Wand hängen Fotos mit Graffitis. Wir befinden uns im Büro eines nicht ganz gewöhnlichen Basler Anwalts. Das unaufgeräumte Umfeld wirkt nicht unsympathisch: Hier arbeitet jemand, der offensichtlich Wichtigeres zu tun hat, als darum besorgt zu sein, dass die Akten parallel zur Kante auf dem Tisch liegen.
Ein Freigeist – und Stachel im Fleisch der Strafverfolgungsbehörden
«Andreas ist ein Freigeist», sagt René Brigger, SP-Grossrat und Nolls Kollege in der Kanzlei an der Falknerstrasse. Andere würden sagen ein Quälgeist – der Stachel im Fleisch der Strafverfolgungsbehörden, berüchtigt für seine Anträge und Eingaben vor Gericht.
Der Verteidiger scheut sich auch nicht, zu unorthodoxen Mitteln zu greifen: Erkennt er eine Ungerechtigkeit, stellt er während der Ermittlungen neue Strafanzeigen. Und wenn die Polizei im Internet mit Bildern nach seinen Mandaten sucht, kontert er mit einem Online-Pranger eines fehlbaren Polizisten.
Noll ist auch so etwas wie ein Star unter den Basler Anwälten. Gemäss einem inoffiziellen Rating, das unter Juristen kursiert und ständig nachgeführt wird, ist er vor dem Bundesgericht der erfolgreichste Strafverteidiger aus unserer Region. Noll kommentiert das nicht, doch ganz allgemein sagt er: «Ein guter Anwalt im Strafrecht ist einer, der alles infrage stellt. Mut zu haben, gehört ebenfalls dazu.»
Keiner schiesst härter
Der 50-Jährige ist öffentlich präsent, im Gegensatz zu vielen Berufskollegen mischt er sich immer wieder in politische Debatten ein. «Ein bekannter Anwaltskollege sagte zu mir: Ich hätte einen Offensivdrang wie einst Roberto Carlos.» Für Spätgeborene und Fussball-Abstinente: Der Brasilianer war in den Neunziger- und Nullerjahren einer der besten Linksaussenverteidiger der Welt und hielt lange den Rekord für den härtesten Schuss.
Aktuell liegt Noll – mal wieder – im Clinch mit den Sozialdemokraten . Die grösste Basler Partei hat kürzlich Benimmregeln für die bevorstehende 1.-Mai-Demo aufgestellt und dabei den Schwarzen Block aufgefordert, der offiziellen Kundgebung fernzubleiben. «Igitt, Demo nur für politische Korrekte», lautete Nolls bissiger Kommentar auf dem Kurznachrichtendienst Twitter. Nüchtern fügt er im Gespräch an: «Eine Menschengruppe präventiv auszuschliessen, bevor Regeln verletzt werden, halte ich für sehr problematisch.»
Zudem stellten sich Fragen der Praktikabilität: Wie können Personen aus dem Schwarzen Block ferngehalten werden? Durch Ausweis- oder Zutrittskontrollen? Das sei Blödsinn.
Auch nach der Klimademo vom 11. Februar, die in Krawallen endete, geriet der promovierte Jurist an SP-Grossräte wie Pascal Pfister oder Tim Cuénod, die sich seiner Ansicht nach sofort distanziert und auf die Seite der Sicherheitskräfte geschlagen hatten.
Die Demo sei angekündigt, aber nicht bewilligt gewesen. «Was sprach dagegen, die Demonstrierenden einfach durch die Stadt ziehen zu lassen?» Auf den Hinweis, dass drei Polizeibeamte angegriffen worden seien, entgegnet er: «Das war nach dem Gummischroteinsatz.» Ausschreitungen würden durch die Konfrontation mit den Sicherheitskräften eher begünstigt. Repression sei keine Lösung.
Kontroverses Buch über den Protest der Klima-Aktivisten
Die Klima-Aktivisten könnten im Basler Anwalt einen Vordenker sehen: In seinem kontrovers diskutierten Buch «Protestaktionen und klimaspezifische Rechtfertigungsgründe» fragt Noll nach der Legitimation staatlicher Strafen für Demonstrierende angesichts der existenziellen Folgen der Klimakrise.
Damit sei nicht gemeint, dass man auf die Strasse gehen und alles kurz und klein schlagen dürfe. Angesichts der Notsituation müsse man aber über die Verhältnismässigkeit diskutieren: Die Justiz stelle sich schützend vor die Politik und die Unternehmen, die für die Klimakatastrophe verantwortlich seien, erkläre aber den Protest der Jugend zu einem Unrecht und verfolge darin begangene Straftaten.
Noll illustriert das an einem anderen Beispiel: «Viele reagieren empört, wenn die Fassade eines internationalen Modeunternehmens verschmiert wird. Wir sollten ebenso empört darüber sein, dass dieses Unternehmen T-Shirts für 10 Franken verkauft, die in Bangladesch unter menschenunwürdigen Bedingungen gefertigt wurden.»
Noll hält nichts von Nulltoleranzstrategien: Keine Kriminalität gebe es nur in totalitären Gesellschaften, so gesehen sei ein bisschen Kriminalität ein Zeichen von Freiheit. «Schmierereien an den Hausecken sind für mich jedenfalls das geringere Übel als ein Staat, der seine Bürgerinnen und Bürger überwacht und drangsaliert.»
Andreas Noll verteidigt Klima-Aktivisten, auch war er involviert in die «Basel Nazifrei»-Prozesse. Ist er einfach der Anwalt der linksalternativen Szene? Noll räumt ein, dass er die Ansichten dieser Gruppen «zu einem nicht unbedeutenden Teil mitträgt». Er verstehe viele Junge, die etwas verändern wollten und blockiert würden durch die trägen etablierten Strukturen, sagt der verheiratete Vater zweier Töchter im Teenageralter. Interessanterweise gehörte er als Jugendlicher nicht der Szene an, die er heute anwaltschaftlich vertritt. An Demos habe er kaum je teilgenommen.
Einzelkämpfer und nonkonformistischer Liberaler
Zu seinen Klienten zählen auch Mitglieder der Hells Angels oder Fussball-Hooligans. «Ich unterstütze gerne Minderheiten. Personen, die wenig Sympathien geniessen in der breiten Bevölkerung.» Er hat zudem schon Polizisten und Gefängnisaufseher verteidigt. Er wolle jenen Menschen helfen, die sich mit der geballten Staatsmacht konfrontiert sehen und oft nicht wissen, welche Rechte sie haben. Nicht nur deshalb ist er Verteidiger geworden und nicht Staatsanwalt. Er sei eher ein Einzelkämpfer, beim Staat gebe es viel Bürokratismus, sagt Noll. Im linken Lager zählt er zu den nonkonformistischen Liberalen.
Neben seiner Tätigkeit als Strafverteidiger engagiert er sich politisch: Gemeinsam mit anderen Juristen hat er einen Appell an den Bundesrat lanciert, Julian Assange in der Schweiz Asyl zu gewähren. Der australische Whistleblower wird von den USA strafrechtlich verfolgt, nachdem seine Plattform Wikileaks Auszüge aus Militärprotokollen veröffentlicht hat, die unter anderem Gräueltaten in Afghanistan und im Irak belegten.
Noll bezeichnet sich als USA-kritisch und tut dies in den sozialen Medien kund. «Amerikanische Präsidenten begingen Kriegsverbrechen. Ins Gefängnis soll aber einer, der diese Verbrechen aufgedeckt hat», sagt er.
Kontroverse Retweets zum Ukraine-Krieg
Im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg Russlands fallen seine Retweets von Nato-Kritikern und linken Gegnern der Waffenlieferungen an die Ukraine auf: «Natürlich ist primär Putin der Aggressor und es gab null Berechtigung, diesen souveränen Staat zu überfallen.» Der Westen und die Nato seien aber mitschuldig. Beide Kriegsparteien sollten nun an den Verhandlungstisch – ohne Vorbedingungen.
Das klingt für viele zu russlandfreundlich, wäre doch ein rascher Frieden mit massiven Gebietsverlusten der Ukraine verbunden. Noll kann den Einwand nachvollziehen. Für ihn geht’s vorliegend auch eher um die Frage nach der Deutungshoheit der Narrative: «Globale Supermächte gehen mit der Wahrheit selektiv um. Europa hat gegenüber dem imperialistischen Gehabe der USA nie so klar Position bezogen wie nun gegenüber Russland.»
Der Anwalt lugt hinter seiner Lesebrille hervor, seine scharfen Augen fixieren den Gesprächspartner. Auf seinem Schreibtisch mag das kreative Chaos herrschen, in seinem Denken ist Noll klar strukturiert. Der Prinzipienreiter bohrt, bis keine Fragen mehr offen bleiben. Die Frage zum Schluss stellen wir: «Herr Noll, sind Sie ein Grundrechtsfetischist?» Noll lacht laut, fügt dann aber in sanftem Ton an: «Das hat schon etwas.»
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/anwalt-hells-angels-und-klima-aktivisten-der-basler-anwalt-andreas-noll-ist-ein-grundrechts-fetischist-ld.2435790)
+++PSYCHIATRIE
Neubau der Psychiatrie Baselland: Früher sperrte man die «Irren» ein, heute gibt es kaum noch Zwang
Im Herbst werden in Liestal unter anderem die neuen Isolationszimmer in Betrieb genommen. Zimmer, die nur noch im äussersten Notfall benutzt werden.
https://www.bazonline.ch/frueher-sperrte-man-die-irren-ein-heute-gibt-es-kaum-noch-zwang-803233346218
+++RASSISMUS
708 Fälle im Jahr 2022 – ein trauriger Rekord: Wo sich Rassismus am häufigsten zeigt
Noch nie meldeten Schweizer Beratungsstellen so viele Fälle von Diskriminierung wie im letzten Jahr. Das geht aus einem noch unveröffentlichten Rassismus-Report des Bundes hervor. Am häufigsten traf es Schwarze und Muslime.
https://www.blick.ch/schweiz/708-faelle-im-jahr-2022-ein-trauriger-rekord-wo-sich-rassismus-am-haeufigsten-zeigt-id18511631.html
+++RECHTSEXTREMISMUS
Basel: «Seine Ansichten sind voll Krise» – warum feiern Jugendliche Eric Weber?
Der rechtsextreme Basler Politiker Eric Weber erreicht auf Tiktok Hunderttausende junge Menschen. Seinem Aufruf nach Basel folgten am Mittwoch Jugendliche aus der halben Schweiz.
https://www.20min.ch/story/seine-ansichten-sind-voll-krise-warum-feiern-jugendliche-eric-weber-225758770848?version=1682139695641
Social-Media-Phänomen: Rechtsextremer Politiker begeistert auf Tiktok – diese Gefahren drohen
Fast täglich postet der rechtsextreme Basler Grossrat Eric Weber Videos auf Tiktok. Erfolg hat er damit besonders bei Jungen. Auch wenn die meisten seine Ansichten nicht teilen – laut Fachleuten ist das gefährlich.
https://www.20min.ch/story/rechtsextremer-politiker-begeistert-auf-tiktok-diese-gefahren-drohen-726287075887
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aargauerzeitung.ch 22.04.2023
Der grosse Extremismus-Report: Die Junge Tat – rechte Aktivisten oder Neonazis?
Viele reden über sie, kaum jemand spricht mit ihr: Wer sind diese Leute von der Jungen Tat, woraus besteht ihre Ideologie, wie gefährlich ist sie? Die «Schweiz am Wochenende» hat in ihrem Milieu recherchiert. Sie ist dabei auf Identitäre getroffen, von denen einige Migrationshintergrund haben.
Kurt Pelda
Vor dem Aargauer Regierungsgebäude steigt roter Rauch auf. Vermummte recken die Fäuste in die Höhe und skandieren: «Jugend leistet Widerstand.» Es ist ein Protest dagegen, dass Wohnungsmieter auf Wunsch der Behörden Asylsuchenden Platz machen sollen. Die Vermummten haben eine weisse Tafel aufgestellt, darauf steht: «Das Regierungsgebäude wird nun als Remigrationszentrum verwendet.» Gezeichnet: Das Volk.
Die Gruppierung, die sich hier mit gehöriger Selbstüberschätzung mit dem Volk gleichsetzt, warnt vor Massenzuwanderung. Diese werde die abendländische Kultur zerstören und die Schweizer in ihrem eigenen Land in die Minderheit versetzen. Nach der Aktion verbreitet die Junge Tat ein Video, das ihre Untergangsstimmung treffend mit einem Song unterlegt: Er heisst «End of the world». Auf dem Cover der Aufnahme, das im Aktionsvideo nicht zu sehen ist, sieht man einen Uniformierten mit einem Sturmgewehr. Statt eines Kopfs hat er einen Totenschädel.
Angst vor «Überfremdung»
Die Junge Tat besteht fast nur aus jungen Männern. In den Medien werden sie meist als Neonazis oder Rechtsextremisten gebrandmarkt. Letztes Jahr hat es die Truppe sogar in den jährlichen Terrorismusbericht von Europol geschafft, auf Grund einer Meldung des Bundesamts für Polizei: In den sozialen Medien betreibe die neue Gruppe eine Kommunikationsstrategie, die in der rechtsextremistischen Szene bisher beispiellos sei, heisst es da.
Doch stimmt das überhaupt? Weder die Ideologie noch die Art und Weise, wie die Junge Tat ihre Botschaften verbreitet, sind neu oder einzigartig. Vielmehr hat sie sowohl die verwendete Bildsprache als auch die Inhalte zu einem grossen Teil von identitären Gruppen aus dem Ausland übernommen und an Schweizer Verhältnisse angepasst. Vieles wurde zum Beispiel von der neu-rechten Bewegung «Die Österreicher» inspiriert. Auf Flugblättern verweist die Junge Tat sogar auf eine Website einer identitären Jugendgruppe in Österreich. Die Webseite soll den «Bevölkerungsaustausch» statistisch untermauern. Da stösst man auf düstere Voraussagen, wonach schon im Jahr 2049 Menschen mit Migrationshintergrund die Mehrheit der Gesamtbevölkerung stellen könnten. Demografische Prognosen über einen so langen Zeitraum sind natürlich Unfug, damit schüren rechtsextreme Gruppen Ängste vor Überfremdung.
Der Bevölkerungsaustausch sei eine statistische Tatsache, behauptet der 22-jährige Winterthurer Manuel C., Gründer und Chef der Jungen Tat. Doch «Bevölkerungsaustausch» würde bedeuten, dass Schweizer durch Ausländer ersetzt werden. Dazu müsste dem Einwanderungssaldo der Ausländer eine entsprechende Auswanderung von Schweizern gegenüberstehen.
Eine solche Entwicklung wird durch die Zahlen des Bundesamts für Statistik aber nicht belegt: In den 20 Jahren von 2002 bis 2021 wanderten unter dem Strich 1,3 Millionen Ausländer in die Schweiz ein, während per Saldo nur knapp 112’000 Schweizer das Land verliessen. Von einem Austausch der Schweizer durch Ausländer kann also keine Rede sein, vielmehr wachsen durch die Nettozuwanderung sowohl die Bevölkerung als auch der Ausländeranteil. Bevölkerungsaustausch bedeute aber nicht Abwanderung der Einheimischen, wendet Manuel C. dagegen ein, sondern Rückgang des Anteils der Schweizer an der Gesamtbevölkerung mit gleichzeitiger Zunahme des Ausländeranteils durch Migration. Ohne Zuwanderung würde die Einwohnerzahl der Schweiz kaum wachsen.
Identitäre mit Migrationshintergrund
So, wie sich die Junge Tat heute präsentiert, lässt sie sich klar dem identitären Spektrum zuordnen. Identitäre wehren sich gegen Massenzuwanderung, Islamisierung und Multikulturalismus, am liebsten wäre es ihnen, wenn die Völker gemäss dem «Ethnopluralismus» jeweils getrennt in ihren eigenen Ländern lebten. Das wäre dann eine Art ethnischer Apartheid, wobei die Trennlinien durch Staatsgrenzen gezogen würden. «Die Erhaltung unserer Kultur und ein funktionierender Grenzschutz sind Grundlagen des Nationalstaates», entgegnet der Chef der Jungen Tat. Mit Apartheid habe dies nichts zu tun.
Identitäre fabulieren gerne von «Remigration», der Abschiebung ganzer Migrantengruppen, manchmal aber auch nur von der Ausschaffung krimineller Ausländer. «Die Kultur und die Ethnien unserer Nachbarländer ähneln uns weit mehr als jene aus dem globalen Süden», meint Manuel C. dazu. Völker und Kulturen mit erhöhten Geburtenraten und niedriger Produktivität belasteten unsere Infrastruktur und seien meist nicht assimilationswillig.
Ironischerweise finden sich auch in der Jungen Tat viele Leute mit Migrationshintergrund. Das gilt zum Beispiel für die Führungsfiguren Manuel C. und Tobias L.: C. trägt einen aus Italien stammenden Nachnamen, und die Mutter von L. kommt aus Österreich. Ähnliches lässt sich bei weiteren Mitgliedern beobachten, deren Namen hier aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes geändert sind: Die Vorfahren von Francesco G., einem der wenigen Studenten in der Jungen Tat, kommen ebenfalls aus Italien, und Matej D. sowie Ante P. haben slawische Wurzeln. Der 24-jährige Alejandro S. hat seinen schweizerisch klingenden Familiennamen kurioserweise abgelegt, um einen typisch spanischen Nachnamen anzunehmen. Bei einem Hausbesuch dieser Zeitung zieht es der Bürger von St. Gallen vor, Englisch statt Deutsch zu sprechen.
Manuel C. beschwichtigt: «Ein grosser Teil unserer Aktivisten hat einen kulturnahen Migrationshintergrund.» Kulturfremd seien in den Augen der Jungen Tat vor allem Menschen aus dem globalen Süden und dem muslimischen Raum. Christliche Europäer stellten für sie kein Problem dar, genau so wenig wie ausländische Minderheiten, die sich integrierten. «Ausserdem gibt es die Möglichkeit, Fremde zu akzeptieren, eine Sichtweise, die sich diametral von der nationalsozialistischen Rassenlehre unterscheidet.»
Am Anfang war die Eisenjugend
Woher kommt die Junge Tat? Die kleine Vorläuferorganisation Eisenjugend hatte ihren ersten öffentlichen Auftritt am internationalen Frauentag im März 2020 in Zürich. Damals fiel eine kleine Gruppe feixender junger Männer unangenehm auf und wurde fotografiert. Neben Manuel C. waren auf den Bildern auch der Student Francesco G. und Simon F. (Name geändert) zu sehen. Bei Simon F. handelt es sich um einen Schulkollegen von Manuel C. aus Winterthur, der in einem verstörenden Eisenjugend-Video eine israelische Fahne verbrannte. Die Minigruppe verbreitete damals rabiate nationalsozialistische und rassistische Propaganda. Die drei jungen Männer wurden dann auch in der Jungen Tat aktiv, die im Herbst 2020 ihren heute noch bestehenden Telegram-Kanal eröffnete.
Noch vor zwei Jahren wurde Manuel C. wegen mehrfacher antisemitischer Rassendiskriminierung, mehrfacher Sachbeschädigung und eines Vergehens gegen das Waffengesetz zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 30 Franken und Verfahrenskosten von rund 20’000 Franken verurteilt. Weitere Mitglieder der Eisenjugend, die heute zum Teil auch bei der Jungen Tat mitmischen, erhielten damals ebenfalls per Strafbefehl bedingte Geldstrafen, weil sie «die Ideologie des Nationalsozialismus» verbreitet sowie Juden und Dunkelhäutige diskriminiert und Hass gegen sie geschürt hatten.
Heute bereue er «zutiefst», was er damals in «jugendlichem Leichtsinn» gemacht habe, sagt der Chef der Jungen Tat. Es sei eine Reaktion auf das linksdominierte Meinungsfeld gewesen – und eine Provokation. Mit Nationalsozialismus wolle er nichts mehr zu tun haben. «Wir sind gewaltfreie politische Aktivisten und wehren uns nur, wenn wir von Linksextremen angegriffen werden.»
Sonderbar wirkt allerdings, dass die «friedfertige» Junge Tat die Tiwaz-Rune, einen nach oben gerichteten Pfeil, als ihr Symbol ausgewählt hat. Dabei handelte es sich bei Tiwaz ausgerechnet um den altnordischen Kriegsgott. Die Tiwaz-Rune wurde als Symbol auch im Dritten Reich und später von diversen Neonazi-Gruppen verwendet. Manuel C. behauptet, dass ihm der Bezug der Rune zum Dritten Reich bei der Gründung der Jungen Tat nicht bewusst gewesen sei. Der Pfeil solle die Zielstrebigkeit der Gruppe symbolisieren.
Nach wie vor eine Splittergruppe
Heute besteht die Gruppe aus ungefähr 20 Aktivisten und bis zu 100 Sympathisanten. Die Grösse der Jungen Tat steht somit in keinem Verhältnis zur Berichterstattung in den Medien. Die Junge Tat fühlt sich auf Grund ihrer rechten Ansichten diffamiert und wirft grossen Teilen der Presse einen «undemokratischen Umgang mit anderen Meinungen» und eine «kriminalisierende Berichterstattung» vor.
Manuel C. spricht von gewaltfreiem Protest, aber an der Zürcher Corona-Demonstration im Februar 2022 ging Tobias L. einen Zivilpolizisten an. Kurze Zeit später verpasste ein anderer «Aktivist» demselben Polizisten einen Fusstritt, worauf dieser kurz zu Boden ging. Der zweite Täter wurde deshalb per Strafbefehl verurteilt. Er ist inzwischen nicht mehr bei der Jungen Tat. Weitere Strafverfahren der Zürcher Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Protestaktion sind noch nicht abgeschlossen. Bei dieser Demonstration marschierten bei der Jungen Tat ausserdem hartgesottene Neonazis des Netzwerks Blood & Honour mit. Seither hat sich die Junge Tat allerdings von solchen Neonazigruppen abgewandt.
Immer wenn Migranten in Mord, Totschlag oder Vergewaltigungen verwickelt sind, spült das Wasser auf die Mühlen der Identitären. Darüber hinaus bringen die sogenannte Frühsexualisierung von Kindern und die penetrante Diskussion um die Gender-Ideologie neue Mitglieder und Anhänger, wie Manuel C. erklärt. Das Thema beschäftige die Bevölkerung, die meisten sähen es kritisch. Dennoch hat sich das Wachstum der Mitgliederzahl verlangsamt. Das sieht man auch an der Entwicklung der Abonnentenzahl auf dem Kanal der Jungen Tat auf Telegram, dem inzwischen wichtigsten sozialen Medium der Schweizer Identitären: In den zwölf Monaten zwischen Herbst 2020 und 2021 schoss die Zahl der Abonnenten von Null auf mehr als 5000, doch seither geht es wesentlich langsamer aufwärts. Seit geraumer Zeit pendelt der Wert um 6800. Das Potenzial am rechten Rand des politischen Spektrums ist nun einmal begrenzt.
Das habe in erster Linie mit der politischen Zensur auf sozialen Medien wie Instagram und Tiktok zu tun, meint der Gründer der Jungen Tat. Darum müsse man auf das weitgehend unzensierte Telegram ausweichen, dessen Reichweite sich aber nicht mit Applikationen wie Instagram vergleichen lasse. Trotzdem träumen die Identitären davon, dass ihr digitaler Auftritt und provozierende Protestaktionen in eine Volksbewegung münden, die das «System» am Ende in der gewünschten Richtung verändert.
«Globalistische Elite»
Viele Mitglieder und Helfer der Jungen Tat leben auf dem Land oder in der Agglomeration, wo «Multikulti» oder Gender-Sprache eher auf Ablehnung stossen als in den städtischen Zentren. Typisch für eine Jugendgruppe ist auch, dass ein grosser Teil noch bei den Eltern oder bei Verwandten wohnt. Selbst wenn viele Aktivisten einen Beruf haben, stehen doch nur wenige wirtschaftlich ganz auf eigenen Füssen. Auffällig ist auch, wie viele der «Aktivisten» und Sympathisanten mit Schiesssport und Schusswaffen liebäugeln. Studenten oder Intellektuelle sind die Ausnahme, auch wenn sich die Führungsfiguren häufig intellektuell wirkender Versatzstücke aus Seminaren und der Literatur der identitären Bewegung bedienen.
Der Chef der Jungen Tat spricht auch gerne vom «globalistischen Establishment», das aus Politikern und Medienschaffenden bestehe, meistens Linken oder Liberalen. Sie würden bewusst oder unbewusst den «Bevölkerungsaustausch» vorantreiben. In einem lesenswerten Bericht des niedersächsischen Verfassungsschutzes heisst es, dass sich die Identitären ideologisch nicht am historischen Nationalsozialismus orientierten. Sie seien organisatorisch auch nicht Teil der neonazistischen Szene. Dennoch ordnen der deutsche und der österreichische Verfassungsschutz die Identitären klar der rechtsextremen Szene zu.
Das tut auch der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) im Fall der Jungen Tat, selbst wenn der Begriff «Identitäre» in den veröffentlichten NDB-Berichten bisher nicht auftaucht. Manuel C. widerspricht dieser Darstellung vehement, er sieht die Junge Tat als «rechts» und nicht «rechtsextrem». Die Junge Tat habe sich wiederholt auf Flugblättern und Transparenten gegen Extremismus positioniert. Die Aktionen und die Weltanschauung der Mitglieder hätte nichts zu tun mit extremistischem Gedankengut. Man werde einfach von den Medien in diese Ecke gedrängt, damit die politischen Positionen der Jungen Tat diskreditiert würden.
Verbote in Frankreich und Österreich
Positionen, die Mitglieder in den sozialen Medien vertreten, kann man allerdings durchaus als rassistisch bezeichnen. Nehmen wir zum Beispiel Tobias L., neben dem Gründer der Jungen Tat die zweite Führungsfigur. Noch vor drei Jahren bezeichnete er sich auf Twitter als «Nationalist, Sozialist, Aktivist». Inzwischen sind die Worte «Nationalist» und «Sozialist» aus der Profilbeschreibung verschwunden.
Tobias L. wohnt in einer malerischen Altstadt, irgendwo im Kanton Bern. Seine Nachbarn sind arabischstämmig, sprechen aber perfekt Mundart. Einerseits sagt Tobias L. bei einem Hausbesuch: «Ich habe keine Probleme mit Individuen. Meine Nachbarn sind ganz ordentliche Menschen. Ich habe nur Mühe mit Massenmigration, ausländischen Kriminellen und Sozialhilfebezügern.» Wenn er von Nordafrikanern spricht, verwendet der 20-Jährige anderseits auch gerne mal den abwertenden Begriff «Sandneger». In einem Tweet verglich er auszuschaffende Ausländer mit einem kleinen Affen aus einem Globi-Buch, den Globi gerade einzufangen versucht. Im Zusammenhang mit einem Gewaltverbrechen in Basel, bei dem nach zwei mutmasslich nordafrikanischen Messerstechern gefahndet wurde, schrieb er ausserdem: «Zuwanderung kulturfremder Ausländer bedeutet Messer im Hals.»
Sina (Name geändert), eines der ganz wenigen weiblichen Mitglieder, findet das Engagement der Frauen in der patriotischen Bewegung extrem wichtig. Denn es seien besonders Frauen, die von den Konsequenzen der Massenmigration betroffen seien, meint die ehemalige Klimaaktivistin aus der Region Nordwestschweiz. Anhand ihrer Profile in den sozialen Medien lässt sich ihr Gesinnungswandel von Links-Grün bis weit Rechts nachvollziehen. Auf Instagram beschwerte sie sich kürzlich über aggressive Ameisen, die sich in Winterthur ausbreiteten. Im selben Atemzug spricht sie von «importiertem Gesindel», das einen Haufen Ärger mache, und vergleicht die Insekten implizit mit Migranten. Das ist astreiner Rassismus.
Zum Bild, das die Junge Tat von sich zu zeichnen versucht, nicht so recht passen will auch folgende Tatsache: Bei der Aktion in Aarau zeigten Vermummte immer wieder das Okay-Zeichen, bei dem Daumen und Zeigefinger ein «O» formen. Spreizt man die drei übrigen Finger der Hand ab, bilden diese ein «W». In dieser Konstellation lassen sich Daumen und Zeigefinger statt als «O» auch als «P» interpretieren: Aus dem Okay wird so ein «WP» für «White Power», ein Symbol weisser Rassisten. Spätestens seitdem der Attentäter von Christchurch vor einem neuseeländischen Gericht mit seinen Fingern das White-Power-Zeichen geformt hat, gilt das Okay-Zeichen im rechtsextremen Kontext als Symbol weisser Überlegenheit. Der Terrorist ermordete 2019 insgesamt 51 Muslime. Das Zeichen sei in der Jungen Tat aber anders gemeint, erklärt deren Chef. Es sei in Amerika aufgekommen im Zusammenhang mit dem Spruch «It’s okay to be white». Die Aktivisten wollten damit bloss zum Ausdruck bringen, dass es in Ordnung sei, weiss zu sein.
(https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/exklusive-recherche-der-grosse-extremismus-report-die-junge-tat-rechte-aktivisten-oder-neonazis-ld.2445343)
-> https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/387829159-die-junge-tat-rechte-aktivisten-oder-neonazis
+++HISTORY
nzz.ch 22.04.2023
Die Credit Suisse und die lange Suche nach Nazi-Vermögen: Ein düsteres Kapitel Schweizer Geschichte gerät erneut in den Fokus
Der amerikanische Anwalt Neil Barofsky wirft der Credit Suisse vor, Informationen zu Nazi-Geldern aus Argentinien vernachlässigt zu haben. Die Bank wehrt sich. Und hat nun selbst wieder zu ermitteln begonnen. Historiker haben derweil keinen Zugang zu den Archiven.
Elena Oberholzer
Es ist ein düsteres Kapitel Schweizer Geschichte. Und ein Kapitel, das wohl noch lange nicht zu Ende erzählt ist: die Verbindung des Schweizer Finanzplatzes zum «Dritten Reich».
Die Aufarbeitung begann erst Mitte der 1990er Jahre, fünfzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Nachfahren von Holocaust-Opfern berichteten damals in amerikanischen Medien, die Schweizer Banken händigten die ihnen zustehenden Vermögenswerte nicht aus und profitierten so von der Judenverfolgung. Ein Vorwurf, der immer lauter wurde.
Schliesslich reagierte man auf den internationalen Druck. Die Bankiervereinigung beauftragte den ehemaligen Chef der amerikanischen Zentralbank, Paul Volcker, mit der Leitung einer Kommission, welche bei allen Schweizer Banken umfassend nach nachrichtenlosen Konten suchen sollte. Der Bundesrat wies eine Expertengruppe unter der Leitung des Historikers Jean-François Bergier an, die Schweizer Verbindung zum «Dritten Reich» aufzuarbeiten.
Gleichzeitig reichten Nachkommen von Holocaust-Opfern in den USA Sammelklagen gegen den Schweizer Finanzplatz ein. Schliesslich verpflichteten sich die Grossbanken zu einer Kompensationszahlung in Höhe von 1,25 Milliarden Dollar zugunsten von Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen.
Die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg wurde in den 1990er Jahren intensiv aufgearbeitet. Doch längst nicht alle Fragen sind geklärt, wie die jüngsten Ereignisse zeigen. Ein US-Senatsausschuss hat der Credit Suisse Anfang Woche vorgeworfen, eine Untersuchung sabotiert zu haben, die neue Erkenntnisse über CS-Konten von deutschen Nazis in Argentinien hätte bringen sollen. Auslöser war ein Bericht des amerikanischen Anwalts Neil Barofsky, der bis vor wenigen Monaten selbst mit der Credit Suisse zusammengearbeitet hat. Die Bank hat die Vorwürfe am Dienstag vehement zurückgewiesen.
Die Geschichte beginnt in Argentinien
Um die neuste mutmassliche Entdeckung einer Verbindung zwischen Nazi-Konten, jüdischem Vermögen und der Credit Suisse zu verstehen, muss man die Geschichte der Deutschen in Argentinien nachzeichnen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg war das Land in Südamerika ein beliebtes Ziel für Auswanderer aus Deutschland. Im Februar 1931 – die NSDAP wurde in Deutschland immer stärker – wurde in Buenos Aires eine Art lokaler Ableger der nationalsozialistischen Partei gegründet.
Während des Krieges lebten in Argentinien über 40 000 Deutsche. Ungefähr ein Viertel soll Verbindungen zu Nazi-Deutschland gehabt haben. Viele waren Mitglied in der argentinischen Version der Deutschen Arbeitsfront, der Unión Alemana de Gremios (UAG). Während der Zeit des Nationalsozialismus war das der Verband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich viele deutsche Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher in Argentinien versteckt. Der argentinische Präsident Juan Perón, im Jahr 1946 gewählt, schützte sie. Die Deutschen sollten ihm dabei helfen, Argentinien zu einer wirtschaftlichen Grossmacht zu machen. In den späten 1940er Jahren waren deutsche Firmen in Argentinien stark präsent.
Ein neues Dokument wirft Fragen auf
Die Verbindungen der Credit Suisse zu den Nationalsozialisten in Argentinien wurden bereits in den 1990er Jahren untersucht. Doch im Jahr 2020 tauchte plötzlich ein neues Dokument auf: Das Simon-Wiesenthal-Center (SWC) in Los Angeles, eine der wichtigsten jüdischen Organisationen in der Holocaust-Forschung, hatte von einem Forscher in Buenos Aires 12 000 Namen mutmasslicher Nationalsozialisten in Argentinien erhalten. Viele der Personen auf der Liste hätten Bankkonten bei der Schweizerischen Kreditanstalt (SKA) gehabt, der Vorgängerin der Credit Suisse, hiess es vom SWC. Konten, auf denen sich möglicherweise Gelder befanden, die die Nationalsozialisten Holocaust-Opfern gestohlen hatten.
Die Credit Suisse beauftragte die amerikanische Prüfgesellschaft Alix Partners, die Entdeckung des SWC unter die Lupe zu nehmen. Und bat den amerikanischen Anwalt Neil Barofsky darum, die Untersuchung zu beaufsichtigen. Barofsky und die Bank kennen sich: Ab 2014 war der Anwalt in Zürich als Aufpasser zugegen. Nachdem sich die CS schuldig bekannt hatte, wissentlich amerikanischen Bürgern bei der Steuerhinterziehung geholfen zu haben, sollte Barofsky sicherstellen, dass das Thema bei der Bank aufgearbeitet wird.
Doch dann beendete die Bank die Zusammenarbeit mit Barofsky im vergangenen November abrupt. Weshalb, ist nicht klar.
Barofsky selbst schreibt in einem Bericht, die Credit Suisse habe ihn daran hindern wollen, seine Arbeit zu tun. Die Bank habe die Untersuchung zu mutmasslichen Nazi-Verbindungen der SKA nach Argentinien in der Hälfte abgebrochen und sich geweigert, Konten von Nationalsozialisten zu untersuchen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs nach Argentinien geflohen waren. Die Credit Suisse weist diese Vorwürfe zurück.
Zwei Berichte, zwei Perspektiven
Im Februar schaltete sich eine Kommission des US-Senats ein. Am Dienstag veröffentlichte diese sowohl die Untersuchungen der Credit Suisse als auch den Bericht von Neil Barofsky. Was in den beiden Dokumenten steht, unterscheidet sich diametral.
Laut dem Bericht der Credit Suisse liefert die Liste des SWC keine Hinweise auf bisher unentdeckte Personen oder Konten. Alix Partners habe sowohl in den Datenbanken der Credit Suisse als auch in denjenigen der SKA gründlich nach den Namen gesucht. Ausserdem habe man eine Liste von UAG-Mitgliedern, welche das argentinische Parlament 1941 erstellt hatte, berücksichtigt.
Zwar sei man dabei auf acht Personen gestossen, welche zwischen 1933 und 1945 Konten bei der SKA gehabt hätten. Sieben dieser Konten wurden laut der Credit Suisse jedoch bis im Januar 1937 wieder geschlossen. Das achte Konto blieb bis 1974 offen. Jedoch konnte Alix Partners laut dem Bericht der Credit Suisse dort keine Verbindung zu Vermögen von Holocaust-Opfern entdecken. Die Bergier-Kommission habe ihre Arbeit gründlich gemacht, schreibt die Bank.
Doch: Seit die Bergier-Kommission ihre Arbeit vor zwanzig Jahren beendet hat, fehlt eine wissenschaftliche Diskussion zur Geschichte des Schweizer Finanzplatzes. Matthieu Leimgruber, Professor für Geschichte der Neuzeit und Schweizer Geschichte an der Universität Zürich, sagt: «Das Problem ist, dass die Forschung keinen Zugang zu den Archiven der Privatbanken erhält.» Eine historische Aufarbeitung zur Credit Suisse sei deshalb kaum möglich.
Barofsky selbst ist überzeugt, dass er Konten entdeckt hat, die in den Untersuchungen der 1990er Jahre nicht offengelegt wurden. Bis zu seiner Entlassung im November 2022 habe er diese jedoch nicht endgültig identifizieren können. Er bezieht sich auf eine Liste mit Hunderten von Namen, die Teil eines Netzwerks waren, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher aus Deutschland geschmuggelt hat. Diese Fluchtrouten sind auch bekannt als «Rattenlinien».
Auf Druck des US-Senats hat sich die Credit Suisse nun bereit erklärt, diese Rattenlinien erneut zu untersuchen. Laut verlässlichen Quellen wird es wieder die Firma Alix Partners sein, welche die Untersuchung dazu durchführt. Ein Ergebnis dürfte in der zweiten Hälfte dieses Jahres zu erwarten sein.
(https://www.nzz.ch/wirtschaft/die-aufreibende-suche-nach-nazi-vermoegen-laut-vorwuerfen-aus-den-usa-fuehren-neueste-spuren-nach-argentinien-und-zu-bisher-unentdeckten-konten-der-credit-suisse-ld.1734474)
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tagblatt.ch 22.04.2023
«Manchmal war ich die engste Bezugsperson»: Vor knapp 30 Jahren hat Hermann Gander die Suchtberatung Wil aufgebaut – nun wird er pensioniert
Als Hermann Gander die Suchtberatung in Wil 1994 übernahm, herrschte noch eine ganz andere Zeit. Heroin war die Droge Nummer eins. Der Stellenleiter spricht über die offene Drogenszene, die Beziehung zu Klienten und berührende Momente.
Sabrina Manser
Gerade habe er einen weiteren Klienten verabschiedet, sagt Hermann Gander. «Es war speziell, für ihn und für mich. 25 Jahre lang habe ich ihn begleitet.» Gander ist seit 29 Jahren, seit deren Bestehen, Stellenleiter der Suchtberatung Wil. Nun wird er Ende April pensioniert. Er hinterlässt einiges, auch seine Klientinnen und Klienten. «Es war schön, mit ihnen mitgehen zu können», sagt er nachdenklich.
Als Gander 1994 die Suchtberatung aufgebaut hat, herrschte noch eine ganz andere Zeit. In den Jahren davor sorgte die offene Drogenszene in Schweizer Städten international für Schlagzeilen. Gander arbeitete zu dieser Zeit auf einer Entzugsstation in Wil. «Diese waren damals ganz neu. Man errichtete spezielle Suchtstationen für Leute mit einem Heroin-Problem.»
Dann entstand die kantonale Drogenberatung, bei der Gander mehrere Jahre arbeitete und die Ausbildung zum Sozialtherapeuten absolvierte – er war gelernter psychiatrischer Pfleger, ursprünglich war er im Verkauf tätig. Gander sagt: «Die Probleme beim Platzspitz und Letten in Zürich sowie Schellenacker in St.Gallen wurden nicht kleiner.» So wurden regionale Beratungsstellen, wie jene in Wil, geschaffen.
Zu diesem Zeitpunkt gab es auch eine Veränderung in der Politik. Lange herrschte eine Repressionspolitik mit Verboten, Bussen und Inhaftierungen. Nur blieb sie erfolglos. Dann wurde die Vier-Säulen-Politik bestehend aus Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression geschaffen. Die Methadonabgabe habe ebenfalls vieles verändert, so Gander. «Man musste nicht mehr kriminell sein, um zu seiner Droge zu kommen.»
Heroin als Droge Nummer eins
Bei der Suchtberatung gab es vom ersten Tag an viel zu tun. «Manchmal hat uns auch die Polizei jemanden vom Platzspitz vorbeigebracht», erzählt Gander. Oder Eltern hätten angerufen und gesagt, ihr Sohn sei beim Platzspitz. Auch Gemeinden und Angehörige hätten Leute vorbeigeschickt. Gander musste anfangs auch viel Aufbauarbeit leisten, den Kontakt mit Ärztinnen und Apothekern herstellen, die Methadon abgaben, und zuerst einmal das Büro einrichten.
«Heroin war damals die Droge Nummer eins», sagt der 64-Jährige. «Und sie war sichtbar.» Man sah, wie sich die Leute auf der Strasse einen Schuss setzten, überall lagen Spritzen, auch auf Spielplätzen. Man sah, wie ein Rettungswagen kam und jemanden reanimierte, erinnert sich Gander. «Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.»
Auch vor Aids hatte man grosse Angst. Zu den Anfangszeiten der Suchtberatung hat Gander jährlich einen Menschen mit Aids beim Sterben begleitet. «Die wussten einfach, ich sterbe.» Er nennt es tiefe Begegnungen, die ihm in Erinnerung bleiben werden.
Der Ruf der Suchtberatung
Heute ist die Alkoholsucht das grösste Problem. Die Behandlung ist aber dieselbe geblieben. «Die Leute müssen etwas verändern wollen», sagt Gander. Egal, ob es um Kaufsucht, Esssucht, Cannabis oder Kokain geht. Hinter einer Sucht seien immer tieferliegende Probleme verborgen. «Niemand ist süchtig, weil es ihm Freude macht.» In der Beratung gehe es dann darum, eine Beziehung aufzubauen. Diese mache den Grossteil einer heilsamen Wirkung aus.
Nicht nur die Suchtarten haben sich in den vergangenen knapp 30 Jahren verändert. «Immer mehr Leute kommen freiwillig zu uns», so Gander. Früher sei die Hälfte wegen der Auflagen des Strassenverkehrsamtes oder einer von der Justiz verhängten Massnahme in die Beratung gekommen. Diese Zahl sei zurückgegangen. Generell habe die Anzahl Klientinnen und Klienten aber zugenommen. Dies erklärt sich Gander mit der Bekanntheit und Akzeptanz der Beratungsstelle. Auch die Qualität und Fachlichkeit stimme, sagt Gander. Alle Mitarbeitenden würden sich stetig weiterbilden.
«Für mich war immer wichtig, dass die Suchtberatung einen guten Ruf hat», sagt Gander. Es sei eine schöne Bestätigung, wenn Ärztinnen oder Apotheker Menschen an die Suchtberatung verweisen. Gander ist zufrieden, wie sich die Suchtstelle entwickelt hat und gewachsen ist. «Vieles, was ich am Anfang gemacht habe, hat sich als richtig erwiesen», sagt Gander und lacht. Auch vom Vorstand sei er unterstützt worden.
Begegnungen, die berührten
Doch die Hauptaufgabe blieb die Beratung. Gander hat Klientinnen und Klienten teilweise jahrelang begleitet. Er hat miterlebt, wie Menschen vom Heroin wegkamen, wie sie daran starben oder lernten, mit ihrer Sucht zu leben. Es gab Menschen, die sich ein neues Leben, eine Familie aufbauen konnten. «Einmal hat mich eine Frau auf der Strasse angesprochen und sich bedankt, weil ich ihrem Sohn und der Familie vor Jahren helfen konnte», sagt Gander, sichtlich gerührt von all den Begegnungen.
Diese Begegnungen seien es gewesen, die ihn über 30 Jahre im Beruf angetrieben hätten, sagt Gander. «Ich habe viele interessante, liebenswerte Menschen kennengelernt.» Die Leute, die es geschafft haben, in eine Beratung zu kommen, haben ihn beeindruckt. «Sie haben einiges durchgemacht, viel erlebt. Das gilt es zu würdigen.»
Berührend seien auch die Kontakte mit jenen Menschen gewesen, die er über längere Zeit begleitet habe, sagt Gander. Beispielsweise hatte er lange jemanden beraten, der keine einfache Kindheit hatte. Seine Mutter war Prostituierte, und er wuchs bei der Grossmutter auf, die trank. Nach Jahren hatte er es geschafft, mit den Drogen aufzuhören. Und war dann an Krebs gestorben. «Manchmal war ich die engste Bezugsperson.» Diese Momente seien die speziellen.
Auf Pilgerreise
Doch nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Die Leitung übernimmt Peter Lötscher, der seit sechs Jahren bei der Suchtberatung Wil arbeitet. Nach der Pensionierung geht Gander auf eine zweimonatige Pilgerreise, er läuft von Spanien zurück in die Schweiz. Und auch ein neues Projekt will er in Angriff nehmen: «In der Region braucht es eine Familienberatung.» Ein solches Angebot bestehe zwar in den Gemeinden, sei aber zu wenig bekannt. Es müsse niederschwellig und kostenlos sein. In den nächsten zwei bis drei Jahren möchte er eine solche Stelle aufbauen.
Ansonsten will sich Gander überraschen lassen von dem, was auf ihn zukommt. «Ich freue mich darauf, mehr Zeit für meine Frau und meine beiden erwachsenen Kinder zu haben und im Garten zu sein.» Die Begegnungen mit den Leuten werden ihm aber fehlen.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wil/portraet-manchmal-war-ich-die-engste-bezugsperson-vor-knapp-30-jahren-hat-hermann-gander-die-suchtberatung-wil-aufgebaut-nun-wird-er-pensioniert-ld.2444835)