Medienspiegel 15. April 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++SCHWEIZ
Muss die Schweiz sich auf eine Flüchtlingswelle vorbereiten?
Weil wieder mehr Migranten über das Mittelmeer kommen, hat Italien den Notstand ausgerufen. Auch in der Schweiz könnte die Zahl der Asylgesuche bald steigen.
https://www.nau.ch/news/schweiz/muss-die-schweiz-sich-auf-eine-fluchtlingswelle-vorbereiten-66472311


++++MITTELMEER
Technik bei Sea-Watch: Mit Kameras gegen staatliche Repression
Sea-Watch rettet Schiffbrüchige auf dem Mittelmeer. Ihr neuestes Schiff, die Sea-Watch 5, soll noch in diesem Jahr erstmals dorthin auslaufen. Dafür braucht es viel Technik. Wir haben die Verantwortlichen an Bord des Schiffes interviewt.
https://netzpolitik.org/2023/technik-bei-sea-watch-mit-kameras-gegen-staatliche-repression/


+++TUNESIEN
Exodus: Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika werden aus Tunesien vertrieben
Rassistisch motivierte Übergriffe auf Migranten nehmen in Tunesien zu. Präsident Kais Sayed befeuert die fremdenfeindliche Stimmung noch. Seine Rhetorik erinnert an die europäischer Rechtsradikaler
https://www.freitag.de/autoren/sabine-kebir/exodus-fluechtlinge-aus-dem-subsaharischen-afrika-werden-aus-tunesien-vertrieben


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Zürcher Gemeinde will Waldbesetzung nicht mehr dulden – Ultimatum läuft um 18 Uhr ab
Die Waldbesetzer in Rümlang ZH haben sich entschieden, ein Ultimatum von Samstagabend zu ignorieren. Die Gemeinde forderte ein Entgegenkommen und wollte die Besetzung nicht mehr dulden.
https://www.watson.ch/schweiz/z%C3%BCrich/102715108-zuercher-gemeinde-ruemlang-will-waldbesetzung-nicht-mehr-dulden
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/gemeinde-rumlang-zh-will-wald-besetzung-nicht-mehr-dulden-66473957



tagesanzeiger.ch 15.04.2023

Aktion gegen Deponiepläne: Dem Camp im Wald von Rümlang droht die Räumung

Die Aktivistinnen und Aktivisten haben das Ultimatum der Gemeinde Rümlang verstreichen lassen. Die Gemeinde zeigt sich enttäuscht.

Thomas Mathis

Die Gemeinde Rümlang hat den Aktivistinnen und Aktivisten von Waldstattschutt ein Ultimatum gestellt. Sie müssen bis Samstagabend das Camp im Wald neben der bestehenden Deponie Chalberhau verlassen. Doch die Gruppe hat sich entschieden, zu bleiben, wie sie am Samstagmorgen mitteilt.

Man wolle den Ort des Austauschs und des Widerstands aufrechterhalten und sich weiterhin gegen die geplante Erweiterung der Deponie und den «Abrisswahn von bewohnbaren Häusern» stellen. «Unser Widerstand gilt nicht nur dem Rümlanger Wald», wird eine Sprecherin zitiert. «Er gilt einer Baupolitik, von welcher Banken und Konzerne profitieren, während sich Menschen mit niedrigerem Einkommen die Mieten nicht mehr leisten könnten. Er gilt einem System von Verschwendung und Zerstörung.»

Gemeinde Rümlang ist enttäuscht

Die Gemeinde hat auf die Ankündigung ebenfalls mit einer Mitteilung reagiert. Man habe den Waldbesetzerinnen und Waldbesetzern am Freitag zwei alternative Standorte für die Weiterführung der Aktion angeboten und ihnen damit die Gelegenheit gegeben, die Besetzung in eine legale Plattform umzuwandeln.

Die Aktivistinnen und Aktivisten bezeichnen die Vorschläge in ihrer Medienmitteilung als unpassend für den Ausdruck des Widerstands und den Austausch mit den Anwohnenden.

Die Gemeinde Rümlang zeigte sich enttäuscht über die Haltung der Aktivistinnen und Aktivisten. Man habe bei einem Augenschein auch festgestellt, dass das Camp den Wald massiv belaste. «Eine weitere Duldung der Situation ist so nicht möglich», heisst es. Das weitere Vorgehen sei in Planung. Angaben dazu könnten noch nicht gemacht werden. Die Gemeinde sei für einen weiteren Dialog offen. Dieser müsse aber von den Aktivistinnen und Aktivisten initiiert werden.

«Theoretisch könnte es heute ab 18 Uhr eine Räumung geben», heisst es am Nachmittag im Kommunikationskanal von Waldstattschutt. Man bleibe mit der Gemeinde im Gespräch. «Wir gehen dieses Wochenende nicht von einer Räumung aus», relativiert die Gruppe später. Für sie stehe fest: «Kei Rümig in Rümi.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/dem-camp-im-wald-von-ruemlang-droht-die-raeumung-837242917114)



tagesanzeiger.ch 15.04.2023

Aktion im Wald von Rümlang: Fünf kritische Fragen an die Besetzerinnen und Besetzer im Wald

Seit einer Woche besetzen junge Menschen ein Waldstück in Rümlang. In Gesprächen haben sie Stellung zu Vorwürfen genommen.

Thomas Mathis

Die mehrheitlich jungen Aktivistinnen und Aktivisten von Waldstattschutt haben sich im Wald von Rümlang eingerichtet, um sich gegen die geplante Rodung für die Erweiterung der Deponie zu wehren. Es hängen Plattformen an den Bäumen, die neben Zelten als Schlafplatz dienen. Zwischen Bäumen aufgespannte Blachen schützen vor Regen. Es gibt ein Lagerfeuerplatz, ein WC, einen Sanitätsposten, einen Kompost und eine Kochstelle, bei der sich die Kisten mit Lebensmitteln türmen.

Bis Samstagabend müssen die Besetzerinnen und Besetzer das Areal verlassen. Dieses Ultimatum hat die Gemeinde Rümlang ihnen gestellt. In Gesprächen haben sich die Besetzerinnen und Besetzer zu fünf kritischen Fragen geäussert – eine Zusammenfassung.

Wo vor gut einer Woche noch Bärlauch spross, ist der Boden jetzt schlammig und zertreten. Mit Seilen wurden mehrere Plattformen an den Bäumen befestigt. Ihr wollt die Natur schützen, belastet sie aber gleichzeitig mit eurem Camp. Wie passt das zusammen?

Es ist uns bewusst, dass wir den Wald stören mit unserer Aktion. Aber einerseits ist nur ein begrenztes Teilstück betroffen, und andererseits kann sich der Wald wieder erholen, wenn wir weg sind. Zusätzlich haben wir die Wege mit Schnüren markiert, um die Pflanzen rundherum zu schützen. Wären wir nicht da, würde die Natur in diesem Waldstück komplett verschwinden. Das wäre viel schlimmer. Wir kümmern uns auch um die Rinde der Bäume. Es gibt verschiedene Techniken, damit die Bäume durch die Seile keinen Schaden nehmen.

Ihr bezieht die Medien zwar ein, aber sobald eine Kamera vor Ort ist, vermummt ihr euch. Warum steht ihr nicht mit Name und Gesicht hin?

Wir machen das vor allem aus Angst vor der rechtsextremen Szene. Wir kennen Fälle, in denen Beteiligte einer Aktion bedroht wurden. Der Polizei haben wir unsere Namen bekannt gegeben.

Der Aufenthalt im Wald birgt Gefahren, insbesondere bei schlechtem Wetter. Der betroffene Wald sei wegen Krankheiten anfällig für Wettereinflüsse wie Stürme, sagt die Gemeinde. Nehmt ihr Verletzte in Kauf?

Uns liegt die Sicherheit aller Beteiligten am Herzen. Deshalb wollen wir ein Gutachten erstellen lassen, das die Sicherheit der Bäume einschätzt. Wir haben zudem bereits seit Beginn ein Sicherheitskonzept. Bei einem starken Sturm ist für uns klar, dass wir den Gefahrenbereich temporär verlassen. Im Camp steht uns für Notfälle auch ein Sanitätszelt inklusive entsprechender Ausrüstung und Fachpersonen zur Verfügung.

Obwohl ihr auf dem Grundstück unerwünscht seid und man euch eine Räumungsfrist von mehreren Tagen gesetzt hat, ruft ihr weiterhin Menschen zum Camp. Braucht es diese Eskalation?

Unser Ziel ist primär, den Wald zu retten. Bevor das nicht definitiv ist, gibt es für uns keinen Anlass, die Besetzung zu beenden. Natürlich haben wir Respekt vor einer Zwangsräumung, insbesondere wegen der Gefahren, die dadurch entstehen. Menschen im Wald von Plattformen herunterzuholen, braucht Zeit und Fachwissen. Neben all dem Druck spüren wir auch Unterstützung, unter anderem von Personen aus der näheren Umgebung. Wir werden zum Beispiel mit Lebensmitteln versorgt.

Es braucht Deponien, um den anfallenden Schutt geordnet entsorgen zu können. Ihr protestiert gegen die geplante Erweiterung im Rümlanger Waldstück, das zwischen Autobahn und Tanklager liegt und an eine bestehende Deponie grenzt. Wohin soll man sonst mit dem Schutt?

Schutt sollte erst gar nicht in dieser Menge anfallen. Wir setzen uns deshalb für Sanierungen und gegen unnötiges Abreissen im Sinne der Gentrifizierung ein. Zum Beispiel bei den strikten Bauvorschriften sehen wir Potenzial. Das Thema Schutt findet klar zu wenig Beachtung, weil die Bevölkerung damit im Alltag nicht konfrontiert ist. Grundsätzlich ist es wie bei anderen Umweltanliegen: Es wird nicht genug gemacht.

Das weitere Vorgehen haben die Besetzerinnen und Besetzer am Freitagabend in einer Diskussionsrunde bestimmt.
(https://www.tagesanzeiger.ch/warum-sie-sich-selbst-im-wald-vermummen-356763813632)



Transparente für Jérémy!
Transpi-Aufruf gegen die Inhaftierung von Jérémy
Seit mehr als drei Wochen befindet sich unser Freund und Genosse Jérémy in Untersuchungshaft im Gefängnis Champ-Dollon. Ihm wird vorgeworfen, im Januar 2022 in der Kiesgrube Sézegnin, die dem weltweit tätigen Zementkonzern Lafarge-Holcim gehört, zwei Fahrzeuge in Brand gesetzt und Baumaschinen sabotiert zu haben. Das Unterstützungskomitee für Jérémy hat die aktuelle Situation erst vor kurzem hier beschrieben.
https://barrikade.info/article/5875


Free Jérémy – Compte-rendu du rassemblement devant le palais de justice
Photos et extraits des prises de parole. On n’arrête pas la lutte pour la préservation du vivant !
 https://renverse.co/infos-locales/article/free-jeremy-compte-rendu-du-rassemblement-devant-le-palais-de-justice-3977


+++SPORT
nzz.ch 15.04.2023

Nach den Krawallen beim Cup-Spiel im «Joggeli»: SBB betreibt trotz Stadionverbot Extrazüge für YB-Fans nach Basel

Obwohl die Fans zum Spitzenspiel vom Sonntag In Basel keinen Zutritt haben, wollen sie zum Stadion pilgern. Die Polizei bereitet sich vor. Und auch die Aargauer Staatsanwaltschaft beschäftigt sich mit Basler Fangewalt.

Daniel Gerny

«Aui zäme uf Basu – üsi Lideschaft isch grösser aus jedi Kollektivstraf»– so wirbt der YB-Fanclub «Ostkurve» für das Spitzenspiel vom kommenden Sonntag. Dabei sind Fussballfans aus Bern in Basel unerwünscht – ja sie haben zum Stadion nicht einmal Zutritt. Als Folge der brutalen Ausschreitungen Anfang April haben der FC Basel und die Basler Behörden für das Spiel gegen YB nicht nur die Muttenzerkurve der Basler Fans, sondern auch den Gästesektor gesperrt.

Nach dem Cup-Spiel gegen YB vor vierzehn Tagen wurden Sicherheitskräfte von Basler Fans so massiv angegriffen, dass vier von Ihnen schweren Verletzungen im Spital landeten. Die partielle Schliessung des Stadions am kommenden Sonntag ist eine direkte Folge davon.

Doch trotz dem teilweisen Geisterspiel zittert die Stadt dem kommenden Sonntag entgegen. Denn die Fan-Gruppierungen beiden Mannschaften haben dazu aufgerufen, zum Stadion zu pilgern. Im Aufruf der YB-Fans wird die Fahrt nach Basel sogar ausdrücklich als Protestmassnahme gegen die Sperrung inszeniert.

SBB ist verpflichtet, die Fans zu transportieren

Die SBB will deshalb auch am kommenden Sonntag Extrazüge einsetzen, wie deren Sprecher Martin Meier gegenüber der NZZ bestätigt. Dieser Entscheid wirkt angesichts der Stadion-Sperrung auf den ersten Blick paradox. Weil die SBB aber eine gesetzliche Transportpflicht haben, dürfen sie auch Fans ohne Matchticket die Fahrt nach Basel nicht verweigern. Wenn die SBB die Extrazüge nicht fahre, nutzten die Fans einfach die fahrplanmässigen, begründet Meier den Entscheid.

So aber könnten die Fans von den anderen Passagieren getrennt und die Sicherheit im öffentlichen Verkehr gewährleistet werden. Adrian Plachesi, Leiter der Abteilung Kommunikation bei der Basler Polizei, bestätigt auf Anfrage, von den SBB über die Extrazüge ins Bild gesetzt worden zu sein. Laut Meier sind auch die beiden Clubs so wie die Swiss Football League informiert.

Unbekannt ist allerdings, wie viele YB-Fans nach Basel fahren. Die Basler Polizei macht offiziell nur spärlich Angaben zum Sicherheitsdispositiv. Plachesi erklärt einzig, man sei über die Lage im Bild und entsprechend vorbereitet. Unbehagen bereitet den Behörden dabei nicht nur die Ankündigung der Berner Ostkurve. Auch eine ausführliche Stellungnahme der Basler Fans vom Donnerstag enthält Elemente, die eine Entwarnung nicht zulassen.

Auch YB-Fans wollen zum Stadion

Darin entschuldigt sich die Muttenzerkurve zwar «für unser Versagen bei der gesamten FCB-Familie». Das Ausmass der Gewalt habe die Fans selbst schockiert. Man werde deshalb am Sonntag nicht versuchen, die Stadionsperre zu umgehen. Doch gleichzeitig kündigen die Fans an, die «Plattform-Bar» zu öffnen, die diese selbst betreiben – und die sich unmittelbar beim Eingang zur Kurve an der Westseite des Stadions befindet. Dort gebe es auch die Möglichkeit, das Spiel zu verfolgen.

Die nach Basel gereisten YB-Fans wollen sich hinter dem Gästesektor versammeln. Bei beiden Fan-Treffen ist die Dynamik im Voraus schwer abschätzbar. Alleine die Tatsache, dass sich beiden Gruppen bei diesem hochemotionalen Spiel in unmittelbarer räumlicher Nähe befinden, stellt für die Polizei eine Herausforderung dar. Sie hofft, dass möglich viele Anhänger einsichtig sind und bei diesem Spiel zu Hause bleiben. Dazu rufen auch die beiden Klubs auf.

Aargauer Staatsanwaltschaft droht mit Internet-Pranger

In einem anderen Fall von möglicher Basler Fangewalt im letzten Jahr griff am Freitag die Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau zu einer einschneidenden Methode. Kurz nach einem Cup-Spiel zwischen dem FC Aarau und dem FC Basel kam es im letzten September in der Aarauer Bahnhofunterführung zu einer brutalen Gewalttat, die bis heute ungeklärt ist.

Mehrere unbekannte Personen griffen damals einen Mann an und traktierten ihn mit Schlägen und Tritten. Als dieser schon am Boden lag, holte einer der Männer mit seinem Fuss aus und trat dem Opfer mit voller Wucht ins Gesicht. Bis heute konnte der Täter nicht ermittelt werden. Er sei aber aufgrund seiner Kleidung dem Umfeld des FC Basel zuzuordnen.

Die Aargauer Staatsanwaltschaft droht nun mit der Veröffentlichung von Videobildern der Tat, auf der der Mann gut erkennbar sei. Das Verfahren läuft in drei Stufen ab: Zunächst wir der mutmassliche Täter aufgefordert, sich freiwillig zu stellen. Tut er dies nicht, werden am 24. April verpixelte Bilder veröffentlicht – und zwei Wochen später die unverpixelten Aufnahmen. In der Vergangenheit war ein solcher Internet-Pranger in vielen Kantonen erfolgreich.
(https://www.nzz.ch/schweiz/nach-den-krawallen-beim-cup-spiel-im-joggeli-sbb-betreibt-trotz-stadionverbot-extrazuege-fuer-yb-fans-nach-basel-ld.1733921)
-> https://www.blick.ch/sport/fussball/superleague/trotz-sektorsperre-im-joggeli-yb-fans-reisen-im-extrazug-nach-basel-id18488448.html
-> https://www.watson.ch/sport/fussball/462218882-ausgesperrte-fans-vor-fussball-klassiker-in-basel-ist-anspannung-gross


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Im Chalet
In der Nähe von Gstaad werden zwei Geschwister jahrelang von einem reichen Mann als Hausangestellte ausgebeutet und misshandelt. Bis der Bruder sich wehrt und der Schwester hilft. Nun soll er die Schweiz verlassen.
https://www.republik.ch/2023/04/15/im-chalet


+++JUSTIZ
Schweizer Zwei-Klassen-Justiz: Wie Armen der Zugang zum Recht erschwert wird
Auch Arme können vor Gericht gehen. Möglich machen das vom Staat bezahlte Anwälte. Nur: Die werden immer schlechter entlöhnt, schreibt der «Beobachter».
https://www.blick.ch/politik/schweizer-zwei-klassen-justiz-wie-armen-der-zugang-zum-recht-erschwert-wird-id18488402.html


+++KNAST
Gleiches Recht hinter Gittern – Frauen sollen ins gleiche Tessiner Gefängnis wie Männer
Zu wenig Tageslicht, strengeres Regime: Weibliche Gefangene sind im Tessin schlechter gestellt. Das soll sich ändern.
https://www.srf.ch/news/schweiz/gleiches-recht-hinter-gittern-frauen-sollen-ins-gleiche-tessiner-gefaengnis-wie-maenner
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/frauen-werden-in-tessiner-gefangnis-schlechter-behandelt-als-manner-66473927


+++POLIZEI CH
Oberste Sicherheitsdirektorin Kayser-Frutschi kritisiert Kantone und Städte wegen Krawallen:
«Heute schaut jeder für sich»
Karin Kayser-Frutschi ist die oberste Sicherheitsdirektorin der Schweiz. Jetzt fordert sie einheitliche Regeln für Demonstrationen und bei Gewalt in Fussballstadien.
https://www.blick.ch/politik/oberste-sicherheitsdirektorin-kayser-frutschi-kritisiert-kantone-und-staedte-wegen-krawallen-heute-schaut-jeder-fuer-sich-id18490136.html


+++RASSISMUS
Ruefers Satz und was er über die Rassismus-Debatte in der Schweiz aussagt
Ein rassistisches Zitat von Sascha Ruefer sorgte für Aufruhr – weil es von der WoZ als rassistisch bezeichnet worden war. Nun will sich Sascha Ruefer reinwaschen, indem er «Kontext» liefert. Was an der Debatte problematisch ist, und was sie über uns aussagt.
https://www.babanews.ch/ruefers-satz-und-was-er-ueber-die-rassismus-debatte-in-der-schweiz-aussagt/


+++RECHTSEXTREMISMUS
„Links: Weltwoche vom Mittwoch. Rechts: CD-Cover der Neonazi-Band Gigi und die braunen Stadtmusikanten. Fällt euch was auf?
Zum ersten Mal verwendet hat die Weltwoche den Cartoon 2016 auf einem Cover. Diese Woche publizierte das Blatt ihn erneut.
Die Neonazi-Band hat das Bild für ihr Album dankend übernommen. Hinter der Band steckt der Rechtsextremist Daniel «Gigi» Giese. Alben der Band haben Namen wie «Braun is beautiful», «Braun ist Trumpf» oder «Adolf Hitler lebt!»
(https://twitter.com/FabianEberhard/status/1647170087793614850)


„Drag Story Time” Internationales Feindbild der extremen Rechten
Veranstaltungen mit Drag Queens sind in den USA schon lange Zielscheibe der extremen Rechten. Daran nehmen sich Identitäre in Österreich sowohl ideologisch als auch stilistisch ein Vorbild.
https://www.belltower.news/drag-story-time-internationales-feindbild-der-extremen-rechten-148303/


+++HISTORY
ZWANGSARBEITERINNEN IN DER SCHWEIZ: «DIE BRIEFE ZEIGEN, WIE SEHR MEINE MUTTER UM MICH GEKÄMPFT HAT – SIE HAT RICHTIG GEBETTELT»
Als Teenagerin musste Irma Frei drei Jahre lang Zwangsarbeit in einer Bührle-Fabrik verrichten. Das hier ist ihre Geschichte einer verlorenen Jugend.
(Yves Demuth (Das Magazin), derbund.ch 14.04.2023)

«Ich bin Irma Frei. Ich wurde als Mädchen gezwungen, für die Bührles zu arbeiten. Was damals passiert ist, habe ich mein Leben lang verdrängt. Nicht einmal meinen beiden Töchtern habe ich von meiner Vergangenheit als Heimkind erzählt. Wenn sie fragten, sagte ich nur: ‹Ich hatte keine schöne Kindheit und keine schöne Jugend.›

Meine Vormundin schickte mich im Alter von siebzehn Jahren ins Marienheim Dietfurt, das den Nachkommen von Emil Bührle gehörte. Drei Jahre musste ich da bleiben, erst 1961 kam ich wieder in die Freiheit. Die meisten der jungen Frauen dort waren nicht freiwillig da. Wir waren von den Sozialbehörden dort versorgt worden und mussten alle in der Spinnerei der Bührles arbeiten. Ich musste Zwangsarbeit für eine der reichsten Familien der Schweiz verrichten. Das hat einen bitteren Nachgeschmack.

Vor zwei Jahren habe ich Einsicht in meine Akten verlangt. Als ich las, was die Amtsvormundschaft über mich geschrieben hatte, hielt ich es fast nicht mehr aus. Die ganze Ungerechtigkeit hat die Behörde dort fein säuberlich notiert. Als wäre es das Normalste der Welt. Das hat mich extrem mitgenommen.»

Rechtlose im Rechtsstaat

Irma Frei ist ein Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, so wie Tausende andere Schweizerinnen und Schweizer. Betroffene wie sie wurden ihren Eltern weggenommen und fremdplatziert. Sie landeten als Verdingbuben bei Bauern oder als Spinnereimädchen in der Industrie. Sie waren Rechtlose im Rechtsstaat, weil die Behörden sie «versorgten», ohne dass sie sich wehren konnten. Bis 1980 war ein fürsorgerischer Freiheitsentzug ohne Gerichtsurteil möglich.

In den vergangenen zehn Jahren sind viele Forschungsberichte erschienen über das Unrecht, das diesen Menschen angetan wurde. Ein Unrecht, das sich gemäss dem Wiedergutmachungsgesetz des Bundes «auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat». Doch keiner dieser Berichte befasste sich eingehend mit dem System der privaten Fabrikheime und der Zwangsarbeit. Wie intensiv der Staat und die Wirtschaft zum gegenseitigen Nutzen zusammengearbeitet haben, blieb bis heute weitgehend im Dunkeln.

Mich beschäftigt das Thema seit zwei Jahren. Damals erzählte mir eine Betroffene erstmals von ihrer Zeit in Emil Bührles Fabrikheim. Der Zürcher Industrielle war einst einer der reichsten Schweizer und einer der Profiteure dieses Systems. Er war Waffenfabrikant und Kunstsammler und besass eines der grössten Schweizer Textilunternehmen der Nachkriegszeit. Zu diesem Unternehmen gehörte ein Heim, in dem Teenagerinnen weggesperrt und zur Arbeit gezwungen wurden. Das Marienheim Dietfurt.

Ich verbrachte Stunden in Archiven und sprach mit acht Frauen, die als Jugendliche von Schweizer Industriebetrieben ausgenutzt wurden. Es stellte sich heraus, dass Tausende Jugendliche unter diesem System gelitten haben mussten. Dass die Sozialbehörden zwischen 1941 und 1975 junge Frauen häufig in Zwangsarbeitsheimen versorgten. Die Bührles haben zwar länger als andere Industrielle davon profitiert, doch das Marienheim Dietfurt war nur eines unter vielen. Marienheim hiessen damals viele katholische Heime für Frauen. Die Ordensschwestern dieser Heime wollten wohl in Anlehnung an die Heilige Jungfrau Maria die Jungfräulichkeit der unverheirateten Insassinnen bewahren.

Auch Reformierte betrieben in der Nachkriegszeit solche Heime, die sie etwa Töchterheim oder Lärchenheim nannten. Solche Institutionen entstanden da, wo es Arbeit für Frauen gab. In Rüti im Kanton Glarus betrieb ein Textilunternehmer ein Marienheim. In Bettlach im Kanton Solothurn diente ein Marienheim der Uhrenindustrie. In Walzenhausen im Appenzellerland erhielt ein Fabrikheimbetreiber sogar Provisionen von Industriellen für die Vermittlung von «versorgten» Teenagerinnen. Im Nachbardorf Lutzenberg mussten einzelne Heiminsassinnen noch in den Fünfzigerjahren Fussketten tragen, damit sie nicht fliehen konnten, wie ich Dokumenten im Bundesarchiv entnahm.

Die Frauen in diesen Heimen waren sechzehn bis zweiundzwanzig Jahre alt, für ihre Fabrikarbeit erhielten sie nur auf dem Papier Lohn. In der Regel blieb für sie nichts übrig, weil das Geld für Kost und Logis an die Heime ging. Die fürsorgerische Zwangsarbeit endete erst, als die Industrie 1975 in eine Wirtschaftskrise stürzte und das Interesse an den billigen Arbeitskräften aus den Heimen verlor.

Die Kinder von Alleinerziehenden und Armen hatten ein besonders grosses Risiko, in einem Heim zu landen. Waren sie erst einmal in einem Kinderheim, kamen sie später als Jugendliche mit grösserer Wahrscheinlichkeit in ein Fabrikheim. Die Behörden betrachteten das als «Nacherziehung» nach der obligatorischen Schulzeit. So war es auch bei Irma Frei.

Von der Pflegefamilie ins Heim

«Ich wuchs in Schaffhausen als jüngstes von fünf Kindern auf. Mein Vater war Fräser im Stahlwerk von Georg Fischer, meine Mutter Hausfrau. Als ich 1941 auf die Welt kam, waren meine Eltern zum zweiten Mal miteinander verheiratet. Sie hatten sich scheiden lassen und dann wieder zueinander gefunden. Bis ich sieben Jahre alt war, wohnte ich bei ihnen. Die Amtsvormundschaft Schaffhausen kam immer wieder in unsere Wohnung und kontrollierte, ob meine Mutter schön aufgeräumt hat.

Als meine Eltern sich das zweite Mal scheiden liessen, kam ich zu einer Pflegefamilie nach Rheinau im Kanton Zürich – zusammen mit einer meiner älteren Schwestern. Dort besuchte ich die Primarschule. Meine Mutter wollte mich zurückhaben, als sie wieder verheiratet war. Das weiss ich aber erst, seit ich meine Vormundschaftsakten gelesen habe.

Es hat mich sehr beschäftigt. Die Amtsvormundschaft Schaffhausen hat meine Mutter richtig runtergemacht. Was für eine schlechte Mutter sie doch sei, steht da. Dabei beweisen ihre Briefe das Gegenteil. Die sind ja auch in den Akten abgelegt. Sie zeigen, wie sehr meine Mutter um mich gekämpft hat. Sie hat richtig gebettelt. Immer wieder. Meine Mutter schrieb der Amtsvormundschaft, dass sie oft sehr Langezeit nach mir habe und dann weine. Aber es half nichts. Auf sie als geschiedene Frau hörte niemand.

Ich wollte natürlich zu meiner Mutter zurück und rebellierte. Das hat meine Pflegemutter nicht ertragen, sie hat mich dann mit elf Jahren abgeschoben, das war im Jahr 1952. Die Amtsvormundschaft Schaffhausen steckte mich zuerst in ein Kinderheim, dann ins Kinderdörfli Rathausen im Kanton Luzern. Das war aber eher ein Kinderzuchthaus. Die katholischen Schwestern dort haben mich geplagt. Bis zum Ende der Schulzeit musste ich in Rathausen bleiben. Erst mit fünfzehn Jahren konnte ich in ein Blindenheim arbeiten gehen und danach ein Haushaltslehrjahr machen.

Als ich siebzehn Jahre alt war, kam ich als Haushaltshilfe zu einer Familie nach Rothenburg im Luzernischen. Die Familie führte einen Lebensmittelladen. Ich war da das Dienstmädchen. Die Frau hat mich heruntergeputzt, wenn ich etwas falsch gemacht habe. Wenn ich zum Beispiel anders kochte als sie. Ich hielt dann dagegen und sagte, so habe ich es im Haushaltsjahr gelernt. Und der Mann hielt zu mir. Er sagte, die Irma sei ja noch jung und müsse noch lernen. Das hat die Frau schlecht vertragen. Auch war sie immer gestresst. Sie machte nie Pause. War im Laden, im Haushalt, bei den zwei kleinen Kindern. Wenn sie dann sah, dass ich nach dem Betten, Wäschemachen und Kochen mal in einer Zeitschrift las, hat sie mich ermahnt.

Die Frau nervte es, dass ich mir erlaubt habe, zweimal pro Tag eine Pause zu machen. Sie hat dann hinter meinem Rücken auf der Vormundschaft angerufen und mich wegen den Pausen und vielem mehr angeschwärzt. Mit den Vorwürfen wurde ich nie konfrontiert. Ich konnte nie Stellung nehmen. Vermutlich wollte sie mich einfach loshaben, weil ich nicht zu allem sofort Ja gesagt habe. Und weil mich ihr Mann verteidigte. Also hat sie bei der Vormundschaft dick aufgetragen.

Eines Tages nach dem Zmittag kam dann die Vormundschaftsfrau aus Schaffhausen. Das war im Juni 1958. Sie sagte, ich komme an einen neuen Ort. ‹Schau, Irmeli, ich habe hier eine gute Unterkunft für dich›, sagte sie zu mir. ‹Ich habe etwas Schönes gefunden, ein Mädchenheim mit vielen anderen Mädchen. Von dort aus gehst du dann auswärts arbeiten in einer Spinnerei. Das wird dir gefallen. Du wirst angelernt, so wie alle anderen auch.›

Ich wollte eigentlich eine Lehre als Damenschneiderin machen. Weil ich gerne genäht habe. Aber als Heimkind hatte ich keine Rechte.

Eine Lehre stand nie ernsthaft zur Diskussion. Die Vormundin hat mir beim Abholen in Rothenburg komplett falsche Tatsachen vorgespiegelt. Sie sagte, ich komme nun an einen Ort mit mehr gleichaltrigen Mädchen mit gleichen Interessen. Das freue mich doch sicherlich. Weil das hatte ich bemängelt an Rothenburg. Dass ich immer nur mit dieser Familie war. Ich war siebzehn Jahre alt, ich wollte Kontakt zu Gleichaltrigen.

Die Vormundin schickte mich packen. Ich hatte nur ganz wenige Habseligkeiten, die ich in ein kleines Köfferli legte, und die Kleider, die ich anhatte. Wir fuhren mit dem Postauto nach Luzern und mit dem Zug nach Dietfurt ins Toggenburg. Die Vormundin war sehr von oben herab. Sie sprach die ganze Reise nicht mit mir. In die Akte schrieb sie danach aber, ich sei arbeitsscheu. Weil ich zu viele Pausen mache, müsse ich nun mindestens zwei Jahre lang an ausdauerndes Arbeiten gewöhnt werden in einer Fabrik. Ich wusste aber nichts davon. Sie schwieg mich zuerst an und verleumdete mich danach in den Akten. Diese Akten sind schon ziemlich hart. Nach der Akteneinsicht konnte ich zwei Wochen lang nicht mehr richtig schlafen. Das hat mich sehr mitgenommen. Was da alles gelogen wird und schlecht geredet, ist schwer auszuhalten.»

Die Behörden schauen weg

Im Juni 1958, fast zeitgleich mit der disziplinarischen Strafversetzung von Irma Frei ins Bührle-Heim, beschäftigten sich die Bundesparlamentarier mit dem Thema Zwangsarbeit. Diese war in der Schweiz eigentlich bereits seit 1941 untersagt. Geregelt war das Verbot durch ein internationales Abkommen. Darin stand, dass der Staat niemandem eine Arbeitspflicht auferlegen dürfe ohne ein Gerichtsurteil. Auch durften weder private Personen noch Unternehmen von Zwangs- oder Pflichtarbeit profitieren.

Die Realität sah anders aus: In Fabrikheimen und anderen Institutionen wurden Hunderte «Versorgte» zur Arbeit gezwungen. 1958 schlug der Bundesrat dem Parlament vor, ein zweites internationales Abkommen zu unterzeichnen. Das Übereinkommen Nr. 105 über die Abschaffung der Zwangsarbeit. Das Abkommen verbietet ausdrücklich, Zwangsarbeit «als Massnahme der Arbeitsdisziplin» anzuordnen, so wie im Fall von Irma Frei.

Der Bundesrat sah darin aber kein Problem für die Schweiz. Er schrieb: «Die Schweiz hat die Zwangsarbeit, wie sie durch dieses neue Abkommen getroffen werden soll, nie gekannt.» Anstatt sich selbst zu hinterfragen, zeigte man mit dem Finger auf andere: Ein FDP-Nationalrat betonte, dass mit dem neuen Übereinkommen grosser moralischer Druck erzeugt werden könne auf Länder, die solche Formen der Zwangsarbeit tolerieren würden. Ein SP-Nationalrat sagte, ein Beitritt sei eine «moralische Unterstützung der freiheitlichen Kräfte auf der ganzen Welt, die sich gegen die Zwangsarbeit auflehnen, ganz gleichgültig, ob sie von roten oder schwarzen Diktatoren befohlen wird». Die Debatte stand im Zeichen des Kalten Kriegs. Zwangsarbeit passte nicht zum Selbstverständnis einer westlichen Demokratie.

Erst 1969 gab Bundespräsident Ludwig von Moos in einer Nationalratsdebatte zu, dass eine «Versorgung mit Zwangsarbeit verbunden» sein könne. Bei einer Anstaltseinweisung sei nicht nur das fehlende Gerichtsurteil ein Problem, sagte er. Sondern auch, dass «die Versorgung unter Umständen gegen das internationale Abkommen über Zwangs- und Pflichtarbeit» verstösst. Justizminister von Moos legte dieses Geständnis wohl nur deshalb ab, weil der Schweiz der vorbehaltlose Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention versagt blieb. Die Zwangsarbeit war menschenrechtswidrig.

Bern versuchte daraufhin, die Zwangsarbeit abzuschaffen – vorläufig vergeblich. Die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren dachten nicht daran, einzulenken. Sie schrieben nach Bern: Administrative Einweisungen in Anstalten mit Arbeitspflicht «erfolgen bei uns keineswegs aus Interesse an der Arbeitsleistung der Betroffenen». Um den Vorwurf der Zwangsarbeit aus der Welt zu schaffen, betonten sie: «Wir unterhalten keine Arbeits- und Konzentrationslager.» Die Zwangsarbeit, die Betroffene wie Irma Frei leisten mussten, bezeichneten die Regierungsräte als «Arbeitstherapie».

Arbeitsbeginn in der Nacht

«Bevor ich im Marienheim Dietfurt angekommen bin, habe ich mir nichts darunter vorstellen können. Ich dachte, es handle sich um eine Pension mit zehn bis fünfzehn Mädchen. Ich stellte mir einen Ort vor, wo jedes sein eigenes Zimmer hat und man einer normalen Arbeit nachgeht. Dass hier fast hundert Mädchen wohnten und ich zur Schichtarbeit musste mit Aufstehen um vier Uhr in der Nacht, hatte ich nicht erwartet.

Die Heimleiterin war die Schwester Oberin, eine Ordensschwester aus dem Kloster Ingenbohl. Sie hat die Vormundin und mich sehr freundlich empfangen. Es gab einen Kaffee. Sie zeigte mir das Zimmer, einen Sechserschlag. Ein schmaler Schrank stand drin, der für mich war. Erst als die Oberin mir den Speisesaal zeigte, merkte ich, wie viele Mädchen hier wohnten. ‹Leck, Irma, jetzt bist du wieder in einem Heim gelandet›, dachte ich. Es wurde mir bang. Aber ich habe nichts gesagt. Ich wusste, wenn ich hier nicht pariere, komme ich nicht mehr raus.

Die Oberin schickte mich in den Aufenthaltsraum. Dort wartete ich, bis die anderen von der Schicht zurückkamen. Oder von ihren Ämtli. Über den Lohn sprach die Oberin nicht. Sie erklärte auch nicht im Detail, wie das Heim funktionierte. Es gab ja auch keine Wahlmöglichkeiten für irgendetwas. Unterschreiben musste ich nichts. Die Oberin sagte nur: ‹Geh dort an den Tisch zu diesen drei Mädchen, die mit dir im Zimmer sind. Morgen gehst du mit ihnen auf die Schicht. Sie erklären dir, wie der Tagesablauf ist.›

Die Mädchen sagten mir: ‹Flüchten bringt nichts hier. Am besten, du befolgst alles, dann wirst du in Ruhe gelassen.› Ich wusste nicht, wie lange mein Aufenthalt dauern sollte. Alle sagten mir, ich müsse bis zur Volljährigkeit hier bleiben. Das hiess für mich: drei Jahre Spinnerei bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag.

Schon am nächsten Morgen musste ich in die Frühschicht, zusammen mit den Mädchen aus meinem Zimmer. Dort wurde ich eingeteilt in das Vorwerk. Das war im Parterre der Spinnerei, dort, wo die schweren Baumwollballen aus dem Lager hereinkamen. In den Vorbereitungsmaschinen wurden sie zerkleinert. Die Arbeit war anstrengend.

Aber in der Fabrik hat es mir gut gefallen. Der Werkmeister war sehr zufrieden mit mir. Zum ersten Mal in meinem Leben sagte mir jemand, ich mache es gut. Er gab mir hin und wieder ein Butterbrot, das er von zu Hause mitgebracht hatte. Er war ein guter Mann. Nach jeder Schicht las er die gefertigten Laufmeter an der Maschine ab. Wenn es zu wenige waren, gab es vermutlich eine Meldung ins Spinnereibüro und an die Oberin.

Von der Firmenleitung habe ich nie jemanden gesehen. Kein höherer Angestellter der Spinnerei hat sich je für mich oder meine Zimmergenossinnen interessiert. Mit den Mädchen meiner Schicht im Vorwerk hatte ich keine Probleme. Wir von unserem Zimmer haben einander geholfen.

Dreimal besuchte mich meine Schwester im Heim und gab mir Geld. Ich wusste, ich musste durchhalten bis zu meinem zwanzigsten Geburtstag. Es waren ungefähr dreissig Schweizerinnen dort. Alle waren jünger als zwanzig. Die anderen Heimbewohnerinnen waren Italienerinnen, die freiwillig im Heim waren.»

Religiöse «Erziehung»

Die Erzählungen von Irma Frei decken sich mit den Chroniken der Ordensschwestern von Dietfurt. Die handgeschriebenen Tagebücher liegen im Klosterarchiv in Ingenbohl. Darin kann man nachlesen, wie Emil Bührles Mann vor Ort die Schwestern 1950 unter Druck setzte. Der Direktor der Spinnerei und Weberei Dietfurt AG brauchte Personal, als die Konjunktur anzog. Doch aufgrund der tiefen Löhne fand er kaum jemanden.

«Die Fabrik sucht Arbeiterinnen in der Schweiz. Wir verschicken Anfragebriefe an die verschiedenen Amtsvormundschaften», notierte eine Schwester. Sie beklagte sich, dass das Marienheim «nur Mädchen aus Versorgungsheimen, Jugendanwaltschaften, Amtsvormundschaften, Schutzaufsicht und Fürsorgestellen für den Fabrikbetrieb» erhalte, «normale Mädchen melden sich nie (ausgenommen Italienerinnen).»

Die Fabrikheime wurden zu einem Teil des staatlichen Fürsorgeapparats mit 648 Anstalten. Und das machten sich Institutionen wie die Pro Juventute zunutze. Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das jenischen Eltern aus rassistischen Gründen die Kinder wegnahm, bediente sich der Fabrikheime gezielt.

Nach dem Zwangsarbeitsverbot von 1941 liess das «Hilfswerk» der Pro Juventute noch mindestens dreiunddreissig Mal junge Frauen in ein Fabrikheim einweisen. Neun jenische Teenagerinnen kamen so ins Bührle-Heim nach Dietfurt. Dreiundzwanzig Heimeintritte gab es im Marienheim Bettlach. Bis zu vier jenische Jugendliche wurden im Töchterheim Sonnenberg in Walzenhausen weggesperrt. Das zeigt eine Datenbank des Bundesarchivs, die die Historiker Sara Galle und Thomas Meier angelegt haben.

Ob bewusst oder unbewusst, Industrielle wie Emil Bührle profitierten vom Versuch der Pro Juventute, die jenische Identität zu zerstören. Die Fabrikheime dienten dem «Hilfswerk» darüber hinaus als eigentliche Einschüchterungsanstalten. So schrieb der Leiter des Pro-Juventute-Programms nach einem Streit mit einer bevormundeten Teenagerin, die als Dienstmädchen arbeiten musste: «Ernste Warnung, wenn es da nicht gehe, komme sie nicht mehr in einen Haushalt, sondern in ein Fabrikheim.»

In den Fabrikheimen spielte neben der Arbeit die religiöse «Erziehung» eine grosse Rolle. Im Marienheim Dietfurt wollten die Schwestern die Teenagerinnen auf den angeblich richtigen Weg zurückbringen: «Immer wieder Mädchen, die in der Gefahr lebten, im Sumpf der Schlechtigkeit unterzugehen. Mit der Gnade Gottes wollen wir die erglimmenden Lichtlein wieder zum Leuchten bringen», lautet ein Eintrag in der Heimchronik.

Für Insassinnen wie Irma Frei bedeutete das: Fünf Tage die Woche morgens und abends in der Heimkapelle zu Gott beten und achteinhalb Stunden für die Bührles arbeiten. Wem das nicht gefiel, blieb nur die Flucht. Die konnte aber eine Polizeifahndung auslösen.

«Lohn»: Fünf Franken pro Monat

«Am Sonntag hatten wir nach der Kirche jeweils vier Stunden frei. Dieser Ausgang war der Lichtblick der Woche. Hin und wieder gingen wir einen Kaffee trinken. Denn wir erhielten pro Monat fünf Franken Taschengeld.

Im Herbst 1960, ich war neunzehn Jahre alt, war ich an einem Sonntagnachmittag auf dem Rückweg ins Marienheim. Es regnete, und ich lief der Hauptstrasse entlang, als ein Auto neben mir anhielt. Der junge Mann am Steuer fragte mich, ob er mich ein Stück mitnehmen könne. Vier Jahre später war er mein Ehemann. Das letzte halbe Jahr in Dietfurt traf ich ihn einmal pro Monat – jeweils am Sonntag. Die Oberin wusste es und hatte nichts dagegen.

An einem Samstag im Frühling 1961 teilte mir die Oberin dann mit, dass ich in einer Woche entlassen werde. Das war drei Wochen vor meinem zwanzigsten Geburtstag. Ich weiss das Datum noch genau. Am 14. April 1961 kam ich frei. Am Freitag, bei der letzten Schicht in der Fabrik, verabschiedete ich mich vom Werkmeister, der mir Glück wünschte. Am Abend wünschten mir auch die Mädchen auf meinem Zimmer viel Glück.

Ich freute mich so fest, endlich frei zu sein. Ich ging mit demselben Köfferli, mit dem ich drei Jahre vorher angekommen war, in den Aufenthaltsraum und wurde dann ins Büro der Oberin gerufen. Sie gab mir ein Couvert mit fünfzig Franken und wünschte mir alles Gute. Eine Abrechnung gab es nicht. Ich habe also fünfunddreissig Monate lang für ein Sackgeld von fünf Franken monatlich gearbeitet, plus einen Abschiedsbatzen.

Nach der Heimentlassung ging ich zu meiner Schwester nach Winterthur. Sie besorgte mir eine Stelle im Lager des Warenhauses ABM. Später konnte ich ins Büro wechseln. Daneben jobbte ich als Fotomodell. Ich heiratete und bekam eine Tochter. Als sie sieben Jahre alt war, entschieden mein Mann und ich uns für eine Trennung. Aber im Guten. Wir hatten es auch danach gut.

Ein paar Jahre später lernte ich meinen heutigen Mann kennen. Mit ihm habe ich nochmals eine Tochter bekommen. Später arbeitete ich in der Modebranche und wurde stellvertretende Geschäftsführerin einer Herrenboutique am Zürcher Bahnhofplatz. Ich hatte Erfolg im Beruf und war auch acht Jahre lang Präsidentin des Frauenvereins Regensdorf mit über fünfhundert Mitgliedern. Zudem wählte mich die Gemeinde Regensdorf in die Betriebskommission ihres Alters- und Pflegeheims. Ich habe mit meinen beiden Töchtern bis heute ein nahes Verhältnis.

Es ist mir sehr gut gegangen in meinem Leben, ich hatte viel Glück.

Heute weiss ich, wie viel ich auf dem Papier verdient habe in der Bührle-Spinnerei. Laut meinem AHV-Ausweis zahlte man mir 1960 einen Jahreslohn von 4975 Franken. Das Geld habe ich aber nie erhalten, weil es direkt ans Heim ging. Insgesamt habe ich mindestens 10’905 Franken Lohn nie erhalten. Heute wären das über 45’000 Franken. Mit diesem Geld musste ich meine eigene Wegsperrung in Bührles Heim bezahlen. Da frage ich mich schon, wie das sein kann.

Der Schwester Oberin bin ich dafür aber nicht böse. Die hatte auch kein schönes Leben und hat sich manchmal auch für uns eingesetzt gegen die Fabrikherren. Die Schuld trägt die Amtsvormundschaft von Schaffhausen. Sie hat die Zwangsarbeit angeordnet. Die Bührles haben uns Mädchen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Sie profitierten von unserem Leid. Die Bührle-Erben haben sich bei uns bis heute nie dafür entschuldigt.» 

Yves Demuth ist Historiker und Redaktor beim «Beobachter».
Sein Buch «Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit» erscheint dieser Tage in der Edition Beobachter. Die Buchvernissage findet am 3. Mai um 19 Uhr im Volkshaus Zürich im Beisein von Betroffenen statt.
(https://www.derbund.ch/die-briefe-zeigen-wie-sehr-meine-mutter-um-mich-gekaempft-hat-sie-hat-richtig-gebettelt-440543423921)