Medienspiegel 25. März 2023

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+++++BERN
hauptstadt.be 25.03.2023

Die Kraft der eigenen Stimme

Das Projekt «Stimmen geflüchteter Frauen» will geflüchteten Frauen in der Schweiz eine Plattform geben und ihre Situation ändern, zum Beispiel bei der Unterbringung in Asylzentren. Zu Besuch bei Leiterin Tahmina Taghiyeva, die selbst eine Fluchtgeschichte mitbringt.

Von Lena Madonna (Text) und Danielle Liniger (Bilder)

Ein Kater namens Piru ist inoffizieller Herr eines Büros im Breitenrain mit farbigen Postern und Secondhand-Sofas. Piru schleicht Tahmina Taghiyeva nach, die gerade in den Garten geht. Sie beugt sich zu ihm herab, streichelt sein gräulich-braunes Fell. «Seit ich ihn einmal gefüttert habe, folgt er mir überall hin.» Die Menschenrechtsaktivistin lacht und schaut dem Kater zu, wie er durch die Blumenwiese streift.

Diese kleine Oase mitten in Bern ist der Sitz von Brava, der ehemaligen Terre des Femmes. Die nicht profitorientierte Organisation setzt sich gegen Gewalt an Frauen und Sexismus in der Schweiz ein. Tahmina Taghiyeva leitet seit Juni 2022 das Projekt «Stimmen geflüchteter Frauen».

Wie der Name sagt, will das Projekt den geflüchteten Frauen in der Schweiz eine Stimme geben und ihre Situation ändern. Sie sollen eine Plattform erhalten, um die Politik und die Öffentlichkeit auf ihre Rechte und Bedürfnisse aufmerksam zu machen. «Ich erkenne in den Geschichten anderer auch immer meine eigene», sagt Tahmina Taghiyeva.

Die Anfänge

Das Projekt gibt es seit 2020. Zu Beginn war Tahmina Taghiyeva selbst als Teilnehmerin dabei. Die ehemalige Journalistin und Menschenrechtsaktivistin lebt seit acht Jahren im politischen Exil in Bern. 2015 war sie aus Aserbaidschan in die Schweiz gekommen, hatte trotz ihrer guten Ausbildung keine Jobchancen. Durch Stiftungen unterstützt, begann sie 2017 den Masterstudiengang Public Management and Policy an der Universität Bern. Heute ist sie zu 60 Prozent fest angestellt bei Brava und in ihrer Freizeit als Aktivistin für Menschenrechte unterwegs.

Mit der Kerngruppe, die aus fünfzehn Frauen besteht, trifft sie sich alle vier bis sechs Wochen. Dann planen die Teilnehmerinnen des Brava-Projektes zusammen Aktivitäten wie beispielsweise Podiumsdiskussionen mit Politiker*innen aus der Stadt Bern. So können die Frauen, obwohl sie kein Stimmrecht in der Schweiz besitzen, in der Politik mitreden, sie verstehen lernen und ihre eigenen Anliegen einbringen.

Unterstützt wird Taghiyeva in der Leitung von ihren beiden Kolleginnen Fatma Leblebici und Marwa Younes, die auch Fluchterfahrungen mitbringen. Für sie alle war es wichtig, einen Ort zu schaffen, an dem sich die Teilnehmerinnen wohlfühlen und ernst genommen werden. Im Kreis sprechen die Frauen über ihre aktuellen Lebenssituationen in der Schweiz und die Spuren, die die Flucht bei ihnen hinterlassen hat.

Zum Beispiel Selvije Braha, die jetzt neben Tahmina Taghiyeva auf dem Sofa aus grünem Brokat im hintersten Zimmer des Büros Platz nimmt. Sie ist seit letztem Sommer Teil der Kerngruppe. Ihr grüner Trainingsanzug leuchtet und ihre Stimme hat einen warmen Klang, als sie spricht.

«An diesem Ort hört man mir zu. Das passiert sonst nicht oft», erzählt die zehnfache Mutter. Sie fühlt sich im Alltag immer wieder diskriminiert. Im Asylzentrum, im Spital, bei der Ärztin. «Laut ihnen gehöre ich nicht hierher. Deshalb landet meine Krankenakte immer zuunterst im Stapel und im Asylzentrum hören mir die Mitarbeitenden nicht richtig zu, wenn ich auf meine Probleme aufmerksam machen will.»

Problematik Asylzentren

Selvije Braha lebt seit vier Jahren in der Schweiz. Aufgrund häuslicher Gewalt ist sie mit ihren zehn Kindern aus ihrem Heimatland Serbien geflohen. In der Schweiz hat sie Schutz gesucht und ist in ein Asylzentrum in Bern gekommen. Dort leben viele Frauen, die in ihrem Leben verschiedene Arten von Gewalt, meistens durch Männer, erlebt haben – psychisch, körperlich, sexuell.

Im Zentrum, in dem Selvije Braha lebt, sind die Duschen der Frauen und Männer direkt nebeneinander situiert. Es gibt keine getrennten Stöcke. Keinen Safe Space für Frauen in diesem grossen Haus. Silvije hat oft Angst, in der Nacht hinaus zu gehen. Angst vor betrunkenen Männern, die sie im Dunkeln anfassen.

«Die Strukturen in den Asylzentren produzieren Gewalt und retraumatisieren Menschen», sagt Tahmina Taghiyeva. Sie streichelt Selvije Braha vertraut über den Arm. Es ist einer der Schwerpunkte, worauf sich «Stimmen geflüchteter Frauen» fokussiert: Die Situation in den Asylzentren. Tahmina macht Selvije Mut. Sie soll laut sein. Ihre Stimme hören lassen.

Aktionswoche gegen Rassismus

Die Idee von Taghiyeva ist, dass die Teilnehmerinnen mit der Zeit beginnen, die Treffen selbst zu leiten und immer mehr selbst die Initiative zu ergreifen. So spricht Selvije Braha etwa am 25. März im Restaurant Dock 8 über das Thema Gewalt an Frauen und führt danach eine Podiumsdiskussion. Diese findet im Rahmen der Aktionswoche der Stadt Bern gegen Rassismus statt, die momentan schon zum 13. Mal durchgeführt wird.

«Es ist wichtig, dass viele Menschen zusammenkommen, die dasselbe Thema betrifft», sagt Taghiyeva. Ihr ist es ein Anliegen, dass Projekte wie ihres mehr Aufmerksamkeit erlangen. ‹Stimmen geflüchteter Frauen› ist kein Projekt mit Geflüchteten, sondern eines von Geflüchteten», sagt sie.

Oftmals würden andere für sie in der Öffentlichkeit sprechen. Oftmals fühle sie sich als Objekt. Als eine grosse, wabernde Masse. Keine Menschen dahinter, nur «sie». Die Geflüchteten.

Die Stimme von Taghiyeva ist bei diesen Worten lauter geworden. Es klingt wie etwas, das tief in den Gliedern sitzt. Hinter Tahmina Taghiyeva knallt ein Brett von der Wand. Darauf ein alter Zeitungsausschnitt aus der «Berner Zeitung», 2019, «Das neue Parlament». Taghiyeva wirft einen Blick darauf, lacht leise und sagt «so viele Männer». Dann stellt sie das Brett zurück an die Wand.

Blick nach vorne

Letztes Jahr war die Gruppe «Stimmen geflüchteter Frauen» in Berlin. Zu Besuch bei «Women in Exile», einer Organisation von geflüchteten Frauen, die sich für andere mit Geschichten wie ihren einsetzen. Sie existiert in fast jeder grösseren Stadt Deutschlands. Taghiyeva und der Rest der Gruppe waren inspiriert von der Stärke der Frauen und der Reichweite, die sie durch das Einsetzen ihrer Stimmen erreicht haben. «Es ist unser Ziel, einmal die gleiche Wichtigkeit in der Schweiz zu erlangen, wie ‹Women in Exile› es in Deutschland geschafft hat», sagt die Menschenrechtsaktivistin bestimmt.

Ob sie sonst noch ein Ziel haben? «Ich hoffe, wir bleiben stark. Ich hoffe, wir können laut sein», sagt sie und schaut dabei Silvije Braha neben ihr an. «Möchtest du heute noch etwas länger hier bleiben?», fragt Tahmina. Diese nickt. Silvije Braha ist froh, wenn sie so viel Zeit wie möglich ausserhalb des Asylzentrums verbringen kann.

Aus einer Ecke blinzelt Piru die beiden an. Während der Kater den ganzen Tag vor sich hin döst, machen Tahmina Taghiyeva, ihre Kolleginnen und Teilnehmerinnen des Projekts sich daran, dass die Stimmen der geflüchteten Frauen in der Schweiz Gehör finden und nachhallen.

Am 25. März findet im Restaurant Dock 8 im Rahmen der 13. Aktionswoche gegen Rassismus die Veranstaltung «Wissen ist Ressource – Hören wir zu!» statt. Es gibt verschiedene Workshops und Geflüchtete sprechen in einer Podiumsdiskussion von ihren Erfahrungen.
-> https://www.brava-ngo.ch/de/aktuell/aktionswoche
(https://www.hauptstadt.be/a/projekt-stimmen-gefluechteter-frauen-unterstuetzt-migrantinnen-aus-be)


+++AARGAU
Aargauer Regierung beantragt Kredit von drei Millionen Franken für externe Betreuung von minderjährigen Flüchtlingen. (ab 05:20)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/jubilaeum-fuer-historische-sbb-dokumente-in-windisch?id=12357859


Die Gops wird für Asylsuchende vorbereitet: Draussen sollen Aufenthaltscontainer stehen
Im Sommer könnten beim Kantonsspital Asylsuchende in der geschützten unterirdischen Operationsstelle (Gops) einquartiert werden. Nun liegt ein Baugesuch auf.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/aarau/aarau-die-gops-wird-fuer-asylsuchende-vorbereitet-draussen-sollen-aufenthaltscontainer-stehen-ld.2434481


+++LUZERN
luzernerzeitung.ch 25.03.2023

Eine afghanische Familie steht kurz vor der Ausschaffung nach Kroatien: «Wir wurden behandelt wie Menschen dritter Klasse»

Im Kanton Luzern leben 68 Menschen mit einem hängigen Wegweisungsentscheid nach Kroatien – ein Land, das laut diversen NGO-Berichten die Menschenrechte von Flüchtlingen missachtet. Eine betroffene Familie erzählt.

Miriam Abt

Ein Beitrag der BBC vom Januar 2021 zeigt ein Flüchtlingscamp im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina. Einige Männer waschen ihre Kleidung in einem eisigen Bach und vereinzelt stehen die abgebildeten Menschen mit Sandalen im Schnee. Im Hintergrund zu sehen sind Khosh Mohammadi und sein damals vierjähriger Sohn Mohammad. Sie wissen zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was die kurz bevorstehende Einreise nach Kroatien für sie bedeuten wird.
-> https://www.facebook.com/watch/?v=234536564871009

Gemeinsam mit Ehefrau Halime und seinen drei Kindern will Mohammadi schnellstmöglich nach Westeuropa weiterziehen. Die Familie ist seit mehreren Jahren auf der Flucht vor politischer Verfolgung in Afghanistan und hat ein klares Ziel vor Augen: Sie möchte in die Schweiz oder nach Deutschland, wo ihre ältesten Söhne bereits Schutz gefunden haben. Einer von ihnen wurde in Fribourg vorläufig als Flüchtling aufgenommen.

Familie Mohammadi muss nach Kroatien

Ihre Zieldestination hat die Familie Mohammadi in der Zwischenzeit erreicht – zumindest vorläufig. Vor zwei Jahren kam sie in die Schweiz und ist via Bundesasylzentrum Chiasso und Durchgangszentrum Sonnenhof in Emmenbrücke in eine Wohnung in Ebersecken gezogen. In dieser kleinen Ortschaft in der Gemeinde Altishofen gehen die beiden jüngeren Kinder auch zur Schule, die älteste Tochter besucht den Unterricht in Nebikon.

Wie lange sie hier noch bleiben können, wissen sie jedoch nicht. Sie sind Sans-Papiers und haben einen rechtskräftigen Wegweisungsentscheid. Bereits beim Erstgespräch mit den Behörden in Chiasso sei ihnen nahegelegt worden, dass die Schweiz ihr Asylgesuch nicht prüfen werde. Kroatien ist zuständig, ein Dublin-Fall.

«Das Problem ist der Fingerabdruck», sagt Khosh Mohammadi immer wieder. Er und seine Familie haben an der kroatischen Grenze ihre Personalien hinterlassen – laut eigenen Aussagen, nachdem ihnen versichert wurde, dass ihre Einreise nicht als Asylgesuch gelten werde. Die Familie Mohammadi zählt gemäss Angaben des Staatssekretariats für Migration (SEM) zu insgesamt 68 Menschen im Kanton Luzern, die über einen hängigen Wegweisungsentscheid nach Kroatien verfügen.

NGOs warnen vor Polizeigewalt

Zurück nach Kroatien gehen wolle Mohammadi auf keinen Fall: «Wir wurden dort behandelt wie Menschen dritter Klasse», sagt er und beschreibt, wie er und seine Mitmenschen von der Grenzpolizei geschlagen und gezwungen wurden, ihr gesamtes Hab und Gut abzugeben. Zudem seien sie mehrmals illegal wieder nach Bosnien zurückgewiesen worden. Auch seine Frau Halime Mohammadi erzählt von einem «bleibenden» Erlebnis an der Grenze. Unter Druck sei sie gewaltvoll dazu gezwungen worden, ihre Fingerabdrücke abzugeben. «Diese Angst vergesse ich nie in meinem Leben», sagt sie.

Gegen den Wegweisungsentscheid des SEM ging die Familie Mohammadi deshalb bis vor das Bundesverwaltungsgericht, erhielt am 25. Januar aber einen negativen Entscheid. Seither leben sie von Nothilfe.

Die Erzählungen von Khosh und Halime Mohammadi lassen sich nicht überprüfen, jedoch gibt es Nachweise von zahlreichen ähnlichen Vorfällen: Die Organisationen Solidarité sans frontières sowie die Schweizerische Flüchtlingshilfe haben Fälle von Gewalt gegen Flüchtende sowie systematische illegale Rückweisungen – sogenannte Pushbacks – der kroatischen Behörden dokumentiert. In ihren Berichten kritisieren sie die Ausschaffungspraxis des SEM und fordern, dass die Dublin-Ausschaffungen nach Kroatien eingestellt werden.

Politische Stimmen bis auf Kantonsebene

Auch Stimmen aus der Politik gehen auf diese Berichte ein. Auf Bundesebene waren die Aufnahmebedingungen Kroatiens zuletzt während der Frühjahrssession ein Thema: Als Antwort auf eine Interpellation der grünliberalen Nationalrätin Katja Christ hielt der Bundesrat fest, dass die Berichte der Pushbacks nicht in Zusammenhang mit den Rückschaffungen im Rahmen des Dublin-Abkommens stehen würden und nicht geplant sei, die Wegweisungen auszusetzen.

Gegen diesen Entscheid gibt es Widerstand aus den Kantonen – nach der Waadt und Bern nun auch aus Luzern. Wie es in einer Mitteilung heisst, fordert der Verein Solinetz Luzern gemeinsam mit der SP und den Grünen den Kanton dazu auf, Dublin-Ausschaffungen nach Kroatien per sofort zu unterbrechen. Mittels einer dringlichen Anfrage der Grünen-Kantonsrätin Laura Spring wird dieses Anliegen zudem im Parlament thematisiert.

Jedoch noch nicht in der laufenden Session: Das Luzerner Parlament folgte der Empfehlung der Regierung und lehnte die dringliche Behandlung mit 74 zu 38 Stimmen ab. Neben den Grünen und der SP unterstützen auch die Mehrheit der GLP sowie vereinzelte Mitte-Mitglieder das Anliegen. Justiz- und Sicherheitsvorsteher Paul Winiker (SVP) fand, es müsse nicht unmittelbar behandelt werden. «Zudem liegt die Zuständigkeit nicht beim Kanton Luzern, sondern beim Bund.»

Der Bund entscheidet, der Kanton führt aus

In der Schweiz ist ausschliesslich das Staatssekretariat für Migration dafür zuständig, Asylgesuche zu prüfen. Liegt ein Wegweisungsentscheid vor, ist dessen Vollzug hingegen in der Verantwortung des Wohnkantons – wobei dieser laut SEM aber keinen subjektiven Ermessensspielraum hat. «Kommen die Kantone ihrer Verpflichtung nicht nach, kann das SEM eine Streichung der Subventionen vornehmen», heisst es auf Anfrage. Zu solchen Fällen sei es in der Vergangenheit auch schon gekommen, nicht aber im Kanton Luzern.

Letzterer führt den Rückführungsprozess nicht nur für das eigene Gebiet, sondern auch für das Bundesasylzentrum Glaubenberg im Kanton Obwalden durch. Als Gegenleistung erhält er vom Bund Kompensationen –je nach Anzahl der vollzogenen Ausschaffungen hat er weniger Asylplätze zur Verfügung zu stellen. Gemäss Angaben des SEM kam es im vergangenen Jahr zu 540 Vollzügen ab Glaubenberg. Im Kanton Luzern waren es im gleichen Zeitraum 408 Wegweisungen, in den ersten beiden Monaten des laufenden Jahres 91. Wie viele Menschen nach Kroatien ausgeschafft wurden, kann das SEM auf Anfrage nicht beantworten.

Klar ist jedoch, dass die Familie Mohammadi bis zum Schluss dagegen ankämpfen wird, Teil dieser Statistik zu werden. «Ich kooperiere, gehe aber nicht freiwillig», sagt Khosh Mohammadi. Nach Jahren der Flucht wolle er endlich arbeiten, den Kindern eine Ausbildung ermöglichen. «In Kroatien sehe ich keine Zukunft.»



Das regelt das Dublin-Abkommen

Die Dublin-Verordnung regelt, welches Land unter den Mitgliedsstaaten für das jeweilige Asylgesuch zuständig ist – dies mit dem Ziel, dass jedes Gesuch nur von einem Staat behandelt wird. Mitglieder des Dublinraums sind alle EU-Staaten sowie die Schweiz, Norwegen, Island und Liechtenstein.

In den meisten Fällen hat sich jenes Land um das Gesuch zu kümmern, in das die schutzsuchende Person zuerst eingereist ist. Die Familie Mohammadi hatte auf der Flucht zwar zuerst Asyl in Griechenland beantragt, aufgrund der dort herrschenden Aufnahmebedingungen verzichtet die Schweiz aber weitgehend auf Dublin-Rücksendungen. Ausnahmen gibt es teilweise bei Menschen, die in Griechenland bereits einen Schutzstatus erhalten haben.



FDP fordert konsequenten Vollzug

Auch der Altishofer Kantonsrat Andreas Bärtschi (FDP) beschäftigt sich mit dem Vollzug von Wegweisungen. In einem Ende Januar eröffneten Vorstoss fordert er von der Regierung eine «Klärung, wie effizient die Rückweisungen durchgeführt werden», wie es in der Medienmitteilung heisst. Die gesetzlichen Grundlagen erachtet er als genügend, jedoch stocke es in der Umsetzung.

In seiner Interpellation bezieht er sich auf vorläufig Aufgenommene mit einem Ausweis F: Diesen Status erhalten Menschen mit einem abgelehnten Asylgesuch, die aus unterschiedlichen Gründen nicht rückgeführt werden können. So soll der Regierungsrat etwa aufzeigen, wie er bei der Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen sicherstellt, dass nur solche Personen berücksichtigt werden, die integriert sind und die Rechtsordnung beachten. Weiter will Bärtschi wissen, wie die offenen Fälle schnellstmöglich abgearbeitet werden können.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/asylwesen-eine-afghanische-familie-steht-kurz-vor-der-ausschaffung-nach-kroatien-wir-wurden-behandelt-wie-menschen-dritter-klasse-ld.2427296)


+++ZÜRICH
Zürich eröffnet ein neues Zentrum für Flüchtlinge in Adliswil (ab 01:47)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/schaffhauser-altstadt-etliche-ladenlokale-stehen-leer?id=12357865
-> https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2023/03/kanton-eroeffnet-asylzentrum-adliswil.html
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/adliswil-eroeffnet-neues-asylzentrum-00208647/
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/asylzentrum-adliswil-feierlich-eroeffnet-150712247



tagesanzeiger.ch 25.03.2023

Asylsuchende in Adliswil: Mario Fehr zündete den Turbo fürs neueste Durchgangszentrum

In Adliswil hat der Kanton einen Holzbau für Asylsuchende eingeweiht. Dabei drückte der Sicherheitsdirektor aufs Tempo. Nun zeigt sich: Der Bau wird demnächst überbelegt sein.

Ev Manz

Mehr als einmal wählte Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) im Frühjahr 2021 die Nummer des kantonalen Hochbaudepartements und machte Druck. Kurz darauf berief er eine Ad-hoc-Sitzung ein und machte unmissverständlich klar: Der Ersatzneubau des Kantons für Asylsuchende in Adliswil musste früher als geplant fertiggestellt sein – viel früher. Da war die Zahl der Asylsuchenden, die bereits ein Jahr vor der Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine zu steigen begann. Zudem wollte Fehr Resultate sehen. Denn sie sind es, die ihn im politischen Alltag antreiben. Und in seiner Heimatstadt noch viel mehr. Er sagt: «Als Adliswiler bin ich stolz, dass hier das am schnellsten realisierte Asylzentrum steht.»

Eigentlich war die Fertigstellung des neuen Durchgangszentrums bei der Haltestelle Sihlau in Adliswil erst Mitte 2026 geplant. Als Fehr dem beim Kanton zuständigen Bereichsleiter Daniel Baumann eröffnete, dass er den Bau drei Jahre früher in Betrieb nehmen wolle, glaubte dieser zuerst an einen Scherz. «An der Sitzung wurde uns aber klar, dass er es ernst meinte. Also suchten wir nach Lösungen», sagt Baumann anlässlich der Einweihung des Neubaus am Samstag.

Bis 10 Personen pro Wohneinheit

Die Lösung hiess in diesem Fall ein Holz-Modulbau, bestehend aus 60 masslich identischen Elementen, die Platz bieten für einen Regelbetrieb mit 140 Asylsuchenden. Die Wohneinheiten samt zwei Nasszellen sind für 6 beziehungsweise 10 Personen vorgesehen. Die Küche ist zugleich auch Aufenthaltsraum und Gang. Je nach Konstellation der Gruppen können die Wohneinheiten flexibel miteinander verbunden werden.

Aus Platzgründen hat das Zürcher Planerteam Azzola Durisch Architekten mit seinem Projekt «Karvansara», was auf Persisch so viel heisst wie Zwischenstation für Reisegruppen, die Treppenverbindungen ausserhalb der Wohneinheiten erstellt. Sie sollen den Bewohnenden auch als Begegnungsorte dienen. Darüber hinaus sind im Zentrum ein Quartierraum, Schulungsräume und eine Gemeinschaftsküche untergebracht. Beheizt wird das Gebäude mit einer Wärmepumpe, die Fotovoltaikanlage auf dem Dach generiert mehr Energie, als der Kanton an Verbrauch rechnet. Deswegen wurde der 14 Millionen Franken teure Bau als schweizweit eines von 10 Gebäuden mit Platin, der höchsten Zertifizierung für nachhaltige Bauten, ausgezeichnet.

Überbelegung in Anfangsphase

Das Durchgangszentrum richtet sich an Familien und Einzelpersonen, die länger in der Schweiz bleiben – anerkannte Flüchtlinge, vorläufig Aufgenommene und Personen im Asylverfahren. Sie dürften mehrheitlich aus Afghanistan, Syrien, Eritrea und der Türkei stammen und bereits Anfang April einziehen.

Angesichts der hohen Asylzahlen geht der Kanton davon aus, dass in einer ersten Phase 200 Personen in der Sihlau untergebracht sein werden.

Betreiberin des Durchgangszentrums ist die Asylorganisation Zürich (AOZ). 15 Mitarbeitende übernehmen die Rundumbetreuung im Auftrag des kantonalen Sozialamts. Der Ende Mai abtretende AOZ-Direktor Stefan Roschi lobt die neue Unterkunft, insbesondere die Anordnung der beiden räumlich versetzten Baukörper. Sie biete viele Begegnungs- und Rückzugsorte. «Mit dem Bau in Adliswil hat der Kanton die Wohnsituation für die Asylsuchenden nochmals massiv verbessert.» Zu seinem Abgang wollte Roschi keine Aussagen machen.

Innerhalb eines Monats erstellt

Die 60 Elemente wurden samt Küchen und Nasszellen in der Fabrik vorgefertigt und innerhalb eines Monats auf dem Platz zusammengebaut. Das sparte Zeit für den Abbruch des Vorgängerbaus und minimierte die Lärmemissionen.

Auf dem Adliswiler Landstück zwischen der Sihltalbahn und dem Fluss, in Nachbarschaft der Rudolf-Steiner-Schule und des Winterplatzes für Fahrende, werden seit über 30 Jahren Asylsuchende einquartiert. 1990 wurde eine Containersiedlung als Provisorium mit 140 Plätzen eröffnet. Vorgesehen war es für den Betrieb von fünf Jahren. Tatsächlich war es bis 2021 als Rückkehrzentrum in Betrieb. Die Platz- und Hygieneverhältnisse wurden mehrfach kritisiert. Der Adliswiler Stadtpräsident Farid Zeroual (Die Mitte) ist denn auch froh, dass das Provisorium nun «endlich» nicht mehr zum Stadtbild gehört. «Und wir Asylsuchende mit dem Durchgangszentrum willkommen heissen können und sie nicht, wie bisher mit dem Rückkehrzentrum, in eine unsichere Zukunft schicken müssen.»

Sicherheitsdirektor Mario Fehr schaut bereits in die Zukunft. Er ist überzeugt, dass viele Behördenvertreter und Planer den Neubau besuchen werden, um eine zeitgemässe Asylunterkunft zu erstellen.



Fakten Asylwesen Zürich

Zahlen

– 2022 verzeichnete der Kanton Zürich über 16’000 Asylsuchende – rund 13’000 von ihnen stammen aus der Ukraine und haben Status S.

– Bei 600 Personen wurde das Asylgesuch abgelehnt, und sie werden vom Kanton in ihr Heimatland zurückgeführt.

– Der Kanton Zürich hat derzeit 18 Unterkünfte mit über 2000 Plätzen; 2022 hat er rund 1200 zusätzliche Plätze geschaffen.

– Bis Ende 2023 rechnet der Kanton mit 5000 Zuweisungen an den Kanton Zürich.

– Auf 1. Juni hat der Kanton die Aufnahmequote für Gemeinden auf 1.3 Prozent erhöht. Das heisst, eine Gemeinde muss pro 1000 Einwohnende 13 Asylsuchende aufnehmen.

Bundesasylzentrum

– Asylsuchende werden in verschiedenen Phasen in Asylzentren des Bundes untergebracht.

– Nach der Ankunft, sobald sie ein Asylgesuch eingereicht haben oder vor der Rückkehr.

– Im Kanton Zürich gibt es drei Asylzentren des Bundes:
    – das Bundesasylzentrum in Zürich-West (360 Plätze, AOZ als Betreiberin, für max. 140 Tage), wo Verfahren zur Zuweisung an die Kantone eingeleitet werden
    – das Bundesasylzentrum in Embrach (360 Plätze, AOZ als Betreiberin), wo keine Verfahren gemacht werden und sich Personen aufhalten, deren Verfahren unter das Dublin-Abkommen fällt oder deren Asylgesuch abgelehnt wurde
    – die Transitunterkunft am Flughafen Zürich (60 Plätze, AOZ als Betreiberin, für max. 60 Tage).

– Bundesasylzentren sind immer Kollektivunterkünfte.

– Asylsuchende in Bundesasylzentren dürfen nicht arbeiten.

Durchgangszentrum

– Nach der Zuweisung an die Kantone gelangen Asylsuchende in Durchgangszentren.

– Im Kanton Zürich gibt es mit dem Neubau in Adliswil sechs Durchgangszentren.

– Dazu kommen seit 2022 sieben temporäre Durchgangszentren. Drei davon für Personen mit Status S (Zürich St. Peter und Paul, Richterswil (Paracelsus) und Dietlikon) und vier für Asylsuchende (Zürich Turnerstrasse, Zürich Katzenschwanz, Polizeikaserne Zürich und Mattenbach in Winterthur).

– Asylsuchende in Durchgangszentren können eine vorübergehende Bewilligung für Erwerbstätigkeit erhalten (beschränkbar auf einzelne Branchen). Die Kinder besuchen die öffentliche Schule. Asylsuchende erhalten Deutschunterricht und werden mit dem Schweizer Alltag vertraut gemacht.

– Im Durchgangszentrum bleiben die Asylsuchenden vier bis sechs Monate. Danach werden sie den Gemeinden je nach Asylquote zugewiesen.

Rückkehrzentrum

– Im Kanton Zürich gibt es derzeit vier kantonale Rückkehrzentren.

MNA-Zentrum

– Der Kanton Zürich hat mit dem Lillienberg in Affoltern ein Jugendheim für unbegleitete Minderjährige.
(https://www.tagesanzeiger.ch/mario-fehr-zuendete-den-turbo-fuers-neueste-durchgangszentrum-214999887409)



Höhere Asylquote: Gemeinden suchen händeringend Wohnraum für Geflüchtete
Weil der Kanton die Asylquote per Anfang Juni erhöht, sind die Limmattaler Gemeinden gezwungen, kurzfristig weitere Plätze für die aufgenommenen Flüchtlinge zu schaffen. Ein schwieriges Unterfangen.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/region-limmattal/fluechtlinge-im-limmattal-das-zur-verfuegung-stellen-von-genuegend-unterbringungsmoeglichkeiten-stellt-eine-riesige-herausforderung-dar-ld.2427825


+++SCHWEIZ
Durchbruch mit Algerien: Mehr abgewiesene Asylsuchende verlassen die Schweiz
Die Zahl der unerledigten Asylgesuche schnellt in die Höhe. Bei der Rückkehr dagegen sinken die Pendenzen. Dazu beigetragen hat eine bessere Zusammenarbeit mit Algerien.
https://www.derbund.ch/mehr-abgewiesene-asylsuchende-verlassen-die-schweiz-795500789975


+++DEUTSCHLAND
Geflüchteten-WG Wo Schwule in Deutschland Schutz finden
In Schwäbisch Gmünd wohnen sechs schwule Flüchtlinge in einer Wohngemeinschaft. Die bietet Schutz und schafft Selbstvertrauen. Traumatische Erlebnisse in ihren Heimatländern verbinden sie.
https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/gefluechtete-wohngemeinschaft-101.html


+++TUNESIEN
Küste vor Tunesien 34 Menschen nach Bootsunglück vermisst
Vor der Küste Tunesiens werden 34 Migranten nach einem Bootsunglück vermisst – nur vier Menschen konnten bislang gerettet werden. Es war der fünfte Schiffbruch innerhalb von zwei Tagen. Das Land selbst steckt in einer tiefen Krise.
https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/tunesien-bootsunglueck-migranten-vermisst-101.html


+++UGANDA
Wie die Kirchen und das koloniale Erbe die Homophobie in afrikanischen Ländern fördern
In Uganda will das Parlament Homosexuelle ins Gefängnis stecken. Kein Einzelfall.
https://www.watson.ch/blogs/sektenblog/903390990-christliche-kirchen-unterstuetzen-politiker-die-schwule-kriminalisieren


+++KENIA
LGBTQI-Flüchtlinge in Kenia – Eine temporäre Heimat in einem feindlichen Land
Homosexualität ist in Kenia verboten. Das Land gewährt Flüchtlingen aber als einziges Land Ostafrikas Asyl aufgrund ihrer sexuellen Orientierung. Eine Reportage.
https://www.srf.ch/news/international/lgbtqi-fluechtlinge-in-kenia-eine-temporaere-heimat-in-einem-feindlichen-land


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Gegen UBS, CS & SNB – «Töten Menschen und Tiere»: Plakataktion im Berner Hauptbahnhof schiesst gegen Banken
Am Freitagabend starteten Aktivistinnen und Aktivisten eine Plakataktion im Berner Hauptbahnhof. Sie kritisierten auf einem Banner die Schweizer Banken.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/toeten-menschen-und-tiere-plakataktion-im-berner-hauptbahnhof-schiesst-gegen-banken-150699106?autoplay=true&mainAssetId=Asset:150699076


Klimastreik-Demo gegen LNG-Terminal in Muttenz
Die Gruppe «Klimastreik Basel» hat am Samstag vor dem Sitz des Gasverbunds Mittelland in Arlesheim demonstriert. Die Kundgebung richtete sich gegen die geplante Flüssiggasanlage in Muttenz.
https://www.baseljetzt.ch/klimastreik-demo-gegen-lng-terminal-in-muttenz/36432
-> https://telebasel.ch/telebasel-news/?channel=15881
-> https://www.bazonline.ch/zivilen-ungehorsam-schliessen-wir-nicht-aus-774045746146
-> https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/versammlung-klimastreik-demonstriert-vor-dem-sitz-des-gasverbundes-mittelland-gegen-das-geplante-fluessiggas-terminal-ld.2434415


+++REPRESSION DE
Großdemo in Lützerath – war das Polizeigewalt?
Der Ort Lützerath am Braunkohletagebau Garzweiler wurde nach massiven Protesten mitte Januar endgültig geräumt. während der Kohleabbau ausgeweitet wird, laufen laut der Polizei Aachen mehr als 600 Verfahren gegen Demonstrant*innen. Zugleich erheben viele Menschen massive Vorwürfe gegen die Sicherheitsbehörden und RWE. NRW-Innenminister Herbert Reul sagte dazu nur, dass die Beamt*innen “hochprofessionell” seien und es bei “zwei, drei Einzelfällen” zu Fehlverhalten gekommen wäre. Gab es in Lützerath Polizeigewalt?
https://www.youtube.com/watch?v=r5zJKEMtQSQ


+++MENSCHENRECHTE
«Arena Spezial» zur Behindertensession
Eine gehörlose Ärztin, eine muskelkranke Politikerin, ein Behindertenrechtsaktivist im Rollstuhl und ein Sportler mit kognitiver Beeinträchtigung – sie alle sind zu Gast in einer 100-minütigen Livesendung zur Behindertensession. Neben Sandro Brotz ist Oceana Galmarini als Gastmoderatorin im Einsatz.
https://www.srf.ch/play/tv/arena/video/arena-spezial-zur-behindertensession?urn=urn:srf:video:591b276e-9610-4db4-9b95-0782337df9f4
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/arena-zur-behindertensession-wir-wollen-das-was-fuer-alle-anderen-selbstverstaendlich-ist
-> https://www.watson.ch/schweiz/review/442946407-islam-alijaj-in-der-srf-arena-es-interessiert-einfach-niemanden


Nationale Institution für Menschenrechte neu in Freiburg
Freiburg wird zum Sitz der Nationalen Institution für Menschenrechte (NRMI). Diese Institution wird am 23. Mai gegründet.
https://frapp.ch/de/articles/stories/freiburg-wird-zum-sitz-der-nrmi


+++POLICE BE
ajour.ch 25.03.2023

Berner Polizeikommandant über die Bieler Gang: «Wir mussten ihnen zeigen: Ihr seid zu weit gegangen»

Seit Anfang 2022 ist der Aarberger Christian Brenzikofer der höchste Polizist im Kanton. Ein Dauerthema ist für ihn seither die Bieler Gang «2CZ».

Hannah Frei

Christian Brenzikofer, was die Kriminalität angeht, hat Biel einen schlechten Ruf. Wie denken Sie als Seeländer über die Stadt?

Christian Brenzikofer: In meiner Jugend war Biel für mich das Grösste. Dort verbrachte ich die Gymer-Zeit. Ziemlich früh, wohl schon mit etwa 14 Jahren, war ich daher häufig in Biel unterwegs, auch im Ausgang. Es wäre uns nie in den Sinn gekommen, statt nach Biel nach Bern in den Ausgang zu gehen. Daher ist für mich Biel ein besonderer Ort, den ich längst nicht primär mit Negativem verbinde. Der Ruf wird der Stadt nicht gerecht. Das greift zu kurz und schafft ein falsches Bild. Biel ist eine spannende Stadt, schon nur wegen der Mehrsprachigkeit. Zudem gibt es den See und die Nähe zum Jura. Dadurch wird Biel zu einem Anziehungspunkt für viele Menschen. Solche Orte sind für die Gesellschaft enorm wichtig. Aber natürlich kommt es an diesen auch vermehrt zu Konflikten. In Biel muss daher viel in die Integration und ins Zusammenleben investiert werden.

Trotzdem: Biels schlechter Ruf kommt ja nicht von ungefähr, betrachtet man etwa die Kriminalstatistiken der letzten Jahrzehnte.

Ich will nichts schönreden. Aber ich bin davon überzeugt, dass es nichts bringt, einfach an einem schlechten Ruf festzuhalten. Auf negative Entwicklungen müssen wir natürlich eingehen. Besonders dort, wo man mit Prävention nicht mehr weiterkommt, beispielsweise bei den kriminellen Gruppierungen, die es in Biel gibt. Ihnen müssen wir Grenzen setzen und zeigen, dass man auch in Biel nicht einfach tun kann, was man möchte. Es darf keine Parallelgesellschaften geben. Das birgt Konfliktpotenzial. Rivalisierende Gruppen sind ein Phänomen, das wir eher von der französischsprachigen Schweiz kennen. Entstehen solche kriminellen Gruppen, ist es wichtig zu zeigen, dass der Staat jederzeit die Überhand hat.

Sie sprechen damit die Jugend-Gang «2CZ» an, die in den letzten beiden Jahren für Aufsehen sorgte. Es kam mehrfach zu Auseinandersetzungen, etwa mit anderen Gruppierungen aus La Chaux-de-Fonds und Neuenburg. Im September 2021 endete eine solche sogar tödlich. Was hat die Polizei gegen sie unternommen?

Für uns war klar: Hier müssen wir viele Mittel investieren, sowohl bei der Polizei als auch bei der Staatsanwaltschaft und Jugendanwaltschaft. Vorweg möchte ich erwähnen, dass wir in den letzten Jahren einen Schwerpunkt auf die Jugendgewalt gesetzt haben. Besonders in die Prävention haben wir deutlich mehr Ressourcen gesteckt. Die sogenannten Jugendpatrouillen sprechen die Jugendlichen direkt an und klären auf. Zudem ist beispielsweise ein junger Erwachsener mit uns unterwegs, der als Jugendlicher straffällig geworden ist. Er zeigt den jungen Menschen, was passieren kann, wenn man abdriftet. Wir wollen früh einen Kontakt zu den Jugendlichen herstellen. Kommt es trotzdem zu Delikten, schauen wir mit den Eltern, der Schule oder mit der Jugendanwaltschaft. Dabei muss jeder Fall individuell beurteilt werden. Wir dürfen die Jugendlichen nicht alle in einen Topf werfen.

Wie ist die Polizei konkret vorgegangen?

Wir mussten die jungen Männer aus der Anonymität herausholen. Das ist uns auch gut gelungen. Ihnen wurde ein Zeichen gesetzt, dass die Polizei hinschaut. Das hat Wirkung gezeigt. Die ansteigende Gewalt konnten wir dadurch brechen. Nun können wir wieder stärker präventiv arbeiten. Heute wissen wir deutlich mehr, was in dieser Gruppierung läuft. Erstaunlich ist, dass viele Jugendliche aus solchen kriminellen Gruppierungen ziemlich gut in die Gesellschaft integriert sind, in die Schule gehen oder eine Ausbildung absolvieren. Und sie alle haben Entwicklungspotenzial. Andere hingegen befinden sich sozial eher am Rand der Gesellschaft. Für sie bildet die Gruppe ein Auffangbecken.

Aufgrund der Gang wurde bei der Kantonspolizei eine Sonderermittlungsgruppe ins Leben gerufen. Mit welchem Ziel?

Wir wollen mit allen Mitteln Parallelgesellschaften verhindern. Bei dieser kriminellen Gruppierung ging es primär darum, die Zivilbevölkerung, aber auch die Mitglieder selbst zu beschützen. Und wir mussten den jungen Menschen zeigen: Ihr seid zu weit gegangen.

Das hat offenbar Wirkung gezeigt. Sie sagen, die Situation habe sich aufgrund der stärkeren Präsenz der Polizei verbessert. Heisst das, man konnte ein Gangmitglied nach dem anderen aus dem Verkehr ziehen?

Ja, wir konnten sie aus der Anonymität herausholen und einzelne befinden sich nach wie vor in Haft oder einer Massnahme. Das waren keine Einzelaktionen. Dies haben wir in Zusammenarbeit mit anderen Kantonen gemacht. Wir hoffen, dass die betroffenen Jugendlichen und jungen Erwachsenen nach ihrer Haft oder Massnahme wieder Fuss fassen können in der Gesellschaft. Dazu werden wir versuchen, weiterhin den Kontakt mit ihnen zu halten.

Zu wie vielen Anzeigen kam es in Bezug auf die Bieler Gruppierung «2CZ» seit Anfang 2020 bis heute? Und wegen welcher Delikte?

Es kam unter anderem zu schweren Delikten wie Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Raub. Wie viele Anzeigen gesprochen wurden, kann ich nicht beantworten, da wir diese grundsätzlich nicht nach Gruppierungen aufschlüsseln.

Wurde die Sonderermittlungseinheit inzwischen wieder aufgelöst?

Wir schaffen relativ häufig solche Ermittlungsgruppen, besonders bei schweren Delikten. In diesem Fall ging es darum, die anderen Behörden miteinzubeziehen, etwa die Stadt, die Jugendanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft. Das Team, das sich um die Bieler Gruppierung kümmert, besteht aus Spezialisten, die bereits zuvor eng zusammengearbeitet haben, aus der Regionalfahndung, der Uniformpolizei und aus Personen, die in der Bekämpfung der Jugendgewalt tätig sind. Diese Zusammenarbeit besteht weiterhin. Und damit wird auch das Thema weiterhin gleich bearbeitet. Je nachdem werden lediglich mehr oder weniger Leute dafür eingesetzt.

Die Grosseinsätze der Polizei aufgrund der Bieler Gang blieben in der Bevölkerung nicht unbemerkt. Besonders rund um das ehemalige Sabag-Areal, wo sich die Mitglieder häufig aufhielten, kam es zu zahlreichen Kontrollen. Solche Einsätze können auf die Zivilbevölkerung durchaus auch beängstigend wirken.

Wir wollen die Leute natürlich nicht erschrecken. Ich kann das verstehen: Auch wenn ich bei meinen eigenen Leuten in eine Kontrolle komme, überlege ich kurz, ob ich alles richtig gemacht habe. Aber die Kontrollen waren und sind nötig. Zudem konnten wir dadurch auch ein Zeichen gegen aussen setzen, dass die Polizei für die Bevölkerung da ist. Wir konnten Sicherheit vermitteln, sodass sich die Menschen wieder möglichst frei bewegen konnten. Aber nicht alle Jugendlichen, die etwas zu verschulden haben, stehen in Zusammenhang mit einer kriminellen Gruppierung. Es wäre falsch, hier nicht zu differenzieren.

Wie soll die Präventionsarbeit an den Berner Schulen künftig aussehen?

Gemäss Gesetz decken wir bis zur 6. Klasse den Verkehrsunterricht ab. Das dehnen wir nun aus. Wir möchten bis und mit der 9. Klasse jährlich zwei Lektionen in den Klassen unterrichten. Da geht es dann nicht nur um den Verkehr, sondern etwa auch um sexualisierte Gewalt oder eben auch um solche kriminellen Gruppierungen. Die Jugendlichen bleiben also in den nächsten Jahren unser Fokus.

Welchen Ruf hat Biel bei Ihrem Korps?

In Biel deckt man das gesamte Spektrum ab. Und das noch in beiden Sprachen. Das ist für meine Leute sehr spannend. Bei uns werden die frischgebackenen Polizistinnen und Polizisten auf die Einsatzgebiete im gesamten Kanton aufgeteilt. Aus dem Seeland stammen weniger Leute als aus anderen Regionen im Kanton. Daher kommt es natürlich auch vor, dass manche in Biel stationiert werden, die etwa im Emmental zu Hause sind. Einige begrüssen es, andere weniger. Aber das hängt meist mit persönlichen Gründen zusammen. Ich war im letzten Sommer selbst in Biel im Einsatz am Lakelive-Festival. Und da muss man einfach festhalten: Der Grossteil der Menschen, die sich dort aufhielten, waren ganz entspannt unterwegs. Mir hat sich einmal mehr gezeigt, dass der schlechte Ruf Biel nicht gerecht wird.

Das Lakelive-Festival ist aber nicht unbedingt geeignet, um Biel zu repräsentieren. Das wäre wohl eher die Braderie, oder nicht?

Das stimmt. Aber auch die Braderie ging im letzten Jahr gut über die Bühne. Auch wenn es je nachdem in Biel mehr polizeiliche Ereignisse gibt als anderswo, stellt sich mir und auch meinen Leuten immer die Frage, was man davon lernen kann. Ich bin sogar der Meinung, uns würde im Kanton etwas fehlen ohne unser Biel.

Was denn?

Die Mentalität, die Kultur. Biel ist diesbezüglich anders als der restliche Kanton. Die Stadt zeigt eine Vielfalt, die es sonst nirgends gibt.

Wie steht es im Gegenzug um den Ruf der Polizei im Kanton Bern?

Ich habe den Eindruck, dass sich am Ruf in den letzten Jahren oder sogar Jahrzehnten kaum etwas geändert hat. Wichtig ist, dass wir immer menschlich bleiben und jeweils transparent machen, aus welchem Grund wir wie vorgehen. Wir müssen glaubwürdig und unparteiisch sein. Manchmal wird unsere Präsenz auch einfach missverstanden. Wenn wir etwa bei einer Demonstration dabei sind, könnte bei manchen der Eindruck entstehen, wir seien gegen die Durchführung der Demonstration. Aber eigentlich stellen wir sicher, dass die Leute ihre Meinung kundtun können.

Sie sind seit Anfang 2022 Kommandant bei der Kapo Bern. Wie würden Sie das letzte Jahr beschreiben?

Es war ein sehr spannendes Jahr. Ich bin mittlerweile seit 22 Jahren bei der Kantonspolizei. Das Korps kenne ich daher schon gut. Aber nun trage ich einen neuen Hut. Das Jahr ging rasch vorbei. Es blieb mir gar nicht genügend Zeit, um überall so vorwärtszukommen, wie ich mir das gewünscht hätte. Und es lief doch auch viel: Anfang Jahr war Corona noch ein grosses Thema, dann kam der Krieg in der Ukraine und später die Energiemangellage. Das war für das Korps herausfordernd.

Inwiefern hat sich der Krieg in der Ukraine auf die Kapo Bern ausgewirkt?

Wir haben eine Eventualplanung ausgearbeitet, uns also damit auseinandergesetzt, welche Auswirkungen der Krieg auf die Schweiz haben könnte. So haben wir auch in Zusammenarbeit mit dem Kanton die Koordination und Unterbringung der Flüchtlinge aus der Ukraine organisiert.

Wie bereitete sich die Kapo auf ein allfälliges Kriegsszenario vor?

Wir fragten uns: Wie einsatzfähig sind wir, sollte es zu einer sogenannten A-Wolke (im Falle einer atomaren Explosion, Anm. der Red.) oder auch zu einer Art Stellvertreterauseinandersetzung in der Schweiz kommen? Ich bin davon überzeugt, dass die Polizei eine der wenigen Instrumente wäre, die eins zu eins weiterhin funktionieren müssen. Daher müssen wir vorbereitet sein. Das Wichtigste ist, festzulegen, wer wo einrückt, sollten die herkömmlichen Kommunikationsmittel nicht mehr laufen. Was, wenn die Notrufzentralen nicht mehr erreichbar sind? Da müssen Lösungen her. Die Sicherheit muss aufrechterhalten werden. Sonst bricht Panik aus. Man sagt ja: Können die Menschen 48 Stunden lang kein Geld abheben, kommt es zu einem Chaos. Zudem müssen wir schauen, dass für unseren Betrieb genügend Material vorhanden ist, genügend Treibstoff, genügend Strom.

Wurde diesbezüglich das gesamte Korps informiert? Oder lief das vorerst lediglich auf Kaderstufe?

Die höheren Kader waren natürlich im Bild. Wir gingen noch nicht so weit, das gesamte Korps miteinzubeziehen. Wir wollten nicht unnötig beunruhigen. Das Korps haben wir aber darüber informiert, dass wir planungstechnisch vorbereitet sind, sollte es zum Äussersten kommen. Natürlich werden solche Szenarien auch auf Bundesebene geplant.

Das letzte Jahr war für Sie also ziemlich herausfordernd. Was ist Ihnen dabei nicht gelungen?

Ich bin jemand, der immer noch etwas mehr machen möchte, als möglich ist. Ich wünschte mir mehr Kontakt, zu meinen Leuten und zur Bevölkerung. Diesbezüglich hätte ich gerne mehr getan. Ein Thema, das uns immer noch beschäftigt, ist zudem der Weggang von Moutier. Für mich ist das ein einschneidendes Ereignis mit vielen Folgen. Bisher ist es nicht gelungen, für die Polizei in Moutier eine gute Alternative für die Zeit nach 2026 zu finden. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in Moutier stationiert sind, sollen weiterhin für die Kapo Bern arbeiten können. Und es ist wichtig, dass wir den Berner Jura nicht verlieren. Das hängt natürlich mit politischen Entscheiden zusammen. Aber wir wollen alle Regionen, die zum Kanton Bern gehören, zusammenhalten und sie gleichwertig abdecken können.

Welche Lösungen stehen in Bezug auf die Polizei in Moutier zur Debatte?

Bisher ist unklar, welchen Standort die Polizei ab 2026 haben wird. Ebenfalls, welche Möglichkeiten zur Auswahl stehen. Diese politischen Entscheide stehen noch aus.

Gibt es zurzeit noch andere Sorgenkinder im Kanton?

Dranbleiben müssen wir auch bei der organisierten Kriminalität gegen den Staat. Ein Beispiel dafür war etwa der «Rocker-Prozess» in Bern, wie ihn die Medien nannten. Daher sind wir damals auch dezidiert aufgetreten. Wir wollten zeigen, dass wir hier die Oberhand haben. Denn dies sind staatsgefährdende Vorgänge, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Und natürlich werden wir uns auch in Zukunft allgemein für die Sicherheit der Berner Bevölkerung einsetzen.



Zur Person:

– 1971 in Sutz-Lattrigen geboren
– hat die Matura am Gymnasium Biel-Seeland an der Alpenstrasse absolviert
– studierte Rechtswissenschaften an der Universität Bern
– war in der Schweizer Armee Kommandant einer Flugzeugabwehrbatterie
– amtete 1998 für ein Jahr als Chief Air Operations und Personalchef einer OSZE-Mission in Bosnien-Herzegowina
– arbeitete von 2013 bis 2021 als Chef Abteilung Ressourcen und Dienstleistungen bei der Kapo Bern
– war Prüfungsexperte im Rahmen der Berufsprüfung zur Polizistin und zum Polizisten
– lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Aarberg
(https://ajour.ch/de/story/berner-polizeikommandant-%25C3%25BCber-die-bieler-gang-wir-mussten-ihnen-zeigen-ihr-seid-zu-weit-gegangen/58713)


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https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-03/rentenreform-frankreich-proteste-gewalt-europarat