Medienspiegel 27. Dezember 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
„Regierungsrat @paschnegg nutzt die neue berner Opferhilfestrategie für einen rassistischen Angriff. Statt mehr Mittel für Opfer von Straftaten zur Verfügung zu stellen, fordert er einseitige Repression gegen migrantische geflüchtete Täter*innen.“
-> Mehr: https://twitter.com/antira_org/status/1607695027290914816


+++GENF
«Les pouvoirs ne font pas attention à notre danse»
C’est par ces mots qu’Alireza terminait sa lettre d’adieu adressée à son éducateur avant de mettre fin à ses jours, le 30 novembre dernier. Si la destinée tragique de ce jeune homme de 19 ans venu se mettre à l’abri en Suisse est singulière, elle illustre la politique suisse en matière non seulement de migration mais aussi en matière de protection de l’enfance et des jeunes adultes.
https://solidarites.ch/journal/414-2/les-pouvoirs-ne-font-pas-attention-a-notre-danse/


+++LUZERN
Die geplante Flüchtlingsunterkunft in Meggen wird ein Fall für das Bundesgericht. (ab
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/regierung-will-oev-gesamtplanung-und-nicht-separate-berichte?id=12308728
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/situation-in-zentralschweizer-spitaelern-unter-kontrolle?id=12309046 (ab 05:32)


+++WALLIS
Mehr Plätze für Asylsuchende: Der Kanton Wallis öffnet eine neue Kollektivunterkunft in Martinach. Er will zudem das Gästehaus St. Ursula in Brig kaufen und als Unterkunft nutzen. (ab 02:10)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/wiederaufbau-kemmeriboden-wie-eine-operation-am-offenen-herzen?id=12309043


+++SCHWEIZ
Italien stoppt Rücknahme von Dublin-Flüchtlingen
Italien nimmt vorübergehend keine sogenannten Dublin-Flüchtlinge mehr zurück. Die Schweiz als Nachbarland ist von dieser Massnahme besonders betroffen. Doch der Bund reagiert bisher gelassen.
 https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/italien-stoppt-ruecknahme-von-dublin-fluechtlingen?partId=12308989


+++MITTELMEER
Rettungsschiff «Ocean Viking» nimmt 113 Flüchtlinge an Bord
In der Nacht auf Dienstag wurden 113 flüchtende Personen im Mittelmeer gerettet. Noch ist unklar, wo die Menschen an Land gelassen werden.
https://www.nau.ch/politik/international/rettungsschiff-ocean-viking-nimmt-113-fluchtlinge-an-bord-66379282


Seenotrettung: Türkische Küstenwache rettet 81 Migranten aus Seenot
In der Türkei hat die Küstenwache Menschen gerettet, die über die Ägäis in den EU-Staat Griechenland zu gelangen versuchten. Die Türkei warf Griechenland Pushbacks vor.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-12/seenotrettung-tuerkei-migranten-griechenland


+++EUROPA
EU-Migrationspolitik: 2023 wird mühsam bleiben
Die Suche nach einer solidarischen Asylpolitik geht auch im neuen Jahr weiter. Zwei Lager stehen sich in der EU unversöhnlich gegenüber. Mehr aufnehmen oder noch stärker abschrecken? Bernd Riegert mit einem Ausblick.
https://www.dw.com/de/eu-migrationspolitik-2023-wird-m%C3%BChsam-bleiben/a-64070016


Milliarden für die Migrationsabwehr
Die Macht und das Geld von Frontex sind in der EU beispiellos
Einst sollte die EU-Grenzagentur die Mitgliedstaaten nur zur Grenzüberwachung und -kontrolle unterstützen. Diese Herangehensweise ist Geschichte. Frontex kommandiert jetzt eine eigene bewaffnete Grenztruppe.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169637.migration-milliarden-fuer-die-migrationsabwehr.html


+++GASSE
Weihnachtsessen für Armutsbetroffene und Einsame
Nach der zweijährigen Corona-Pause fand am 25. Dezember die Kleinbasler Kundenweihnacht wieder statt. Zur 125. «Kundi» kamen weniger Gäste als sonst. Die Stimmung war aber unglaublich, so ein Organisator. Zum ersten Mal veranstaltete in Liestal der Verein Ostello eine Weihnachtsfeier für einsame und armutsbetroffene Menschen. Obwohl auch an diesen Anlass weniger Menschen kamen als erhofft, sei der Abend ein Erfolg gewesen, sagt eine Veranstalterin.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/weihnachtsessen-fuer-armutsbetroffene-und-einsame?partId=12309052


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
VERDRÄNGUNG UND SPEKULATION HAT KEINEN PLATZ IN ST.GALLEN!
In der Nacht auf heute wurde ein leerstehendes Haus in St.Gallen besetzt. Die Besetzer*innen setzen damit ein Zeichen gegen die Verdrängung von Freiräumen und bezahlbarem Wohnraum.
https://barrikade.info/article/5543
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/gegen-immobilienspekulation-hausbesetzung-an-der-wassergasse-in-stgallen-ld.2393313
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/wegen-gentrifizierung-haus-in-stgallen-besetzt-00202034/
-> https://www.20min.ch/story/aktivisten-besetzen-haus-in-der-stadt-polizei-ist-ohne-anzeige-machtlos-768672964886
-> https://www.stadt.sg.ch/news/stsg_stadtpolizei/2022/12/keine-hausbesetzung-in-st-gallen.html


T.Chatziangelou ist in Lebensgefahr – Banner in Bern
Seit 7 Tagen im Durststreik und nun vor der Gefahr der Zwangsernährung. Chatziangelou braucht unsere Solidarität dringend!
Banner Aktion am 26.12.22 vor dem Haus der griechischen Botschafterin in Bern als Unterstützung für den seit 7 (!) Tagen im Durststreik kämpfenden Anarchist T.Chatziangelou.
https://barrikade.info/article/5542
-> https://twitter.com/farbundbeton/status/1607702481311612928


Sie riefen zu Armeeboykott auf – drei Klimaaktivisten kassieren Geldstrafe
Drei Klimaaktivisten erhalten Geldstrafen, weil sie zur Verweigerung der Dienstpflicht aufgerufen hatten. Der Fall könnte vor dem Bundesstrafgericht landen.
https://www.20min.ch/story/sie-riefen-zu-armeeboykott-auf-drei-klimaaktivisten-kassieren-geldstrafe-268041679278


+++BIG BROTHER
US-Polizei will europäische Biometriedaten
Die visafreie Einreise in die USA wird an eine neue Vorschrift gekoppelt
Der geforderte Direktzugriff auf Datenbanken ist selbst unter befreundeten Staaten ungewöhnlich. In Deutschland beträfe dies Fingerabdrücke und Gesichtsbilder von derzeit 3,6 Millionen Menschen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169642.datenbanken-us-polizei-will-europaeische-biometriedaten.html


+++POLIZEI ZH
Zürcher Streit um Angabe der Staatsangehörigkeit geht weiter
Der Streit um die Nennung von Nationalitäten in Polizeimitteilungen geht weiter: Die links-grüne Ratsseite im Zürcher Gemeinderat hat ein Postulat eingereicht, das fordert, die Angabe der Staatsangehörigkeit wieder abzuschaffen.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/polizeiarbeit-zuercher-streit-um-angabe-der-staatsangehoerigkeit-geht-weiter-ld.2393383


+++POLIZEI CH
Verband will Beruf aufwerten: Kantonen fehlen Tausende Polizisten
In der Schweiz fehlen Tausende von Polizisten. Der Verband Schweizerischer Polizei-Beamter (VSPB) ruft dazu auf, den Beruf attraktiver zu machen und fordert die Politik auf, für ausreichend Ressourcen zu sorgen.
https://www.blick.ch/politik/verband-will-beruf-aufwerten-kantonen-fehlen-tausende-polizisten-id18178669.html
-> https://www.derbund.ch/polizeiberuf-soll-attraktiver-werden-701073398239
-> Medienmitteilung VSPB: https://www.vspb.org/content/docs/004%20F%C3%BCr%20Medien/1%20Medienmitteilungen/2022/DE_Medienmitteilung%20VSPB%20Personalmangel_Dezember%202022_final.pdf


+++FRAUEN/QUEER
SVPler fordern mehr Sicherheit vor Club Heaven – doch die Gefahr lauert überall
Zwei SVP-Politiker fordern den Stadtrat auf, Sicherheitsmassnahmen vor dem LGBTIQ+-Club Heaven im Niederdorf zu prüfen. Die Verantwortlichen des Clubs begrüssen die Unterstützung, jedoch kommen Übergriffe gegenüber LGBTIQ+-Personen in der ganzen Stadt vor.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/svpler-fordern-mehr-sicherheit-vor-club-heaven-doch-die-gefahr-lauert-ueberall-149386117


+++RECHTSPOPULISMUS
Zeki lässt Klima-Aktivist am Flughafen überfahren
Komiker Zeki legt sich in einem neuen Video schon wieder mit den Klima-Aktivisten an. Seine «Lösungen» für angeklebte Demonstranten werden dabei immer extremer.
https://www.nau.ch/news/schweiz/zeki-lasst-klima-aktivist-am-flughafen-uberfahren-66378612


Wegen Überlastung: SVP-Chiesa will Asylbewerber nach Afrika schicken
Italien nimmt vorerst keine Schengen-Flüchtlinge mehr zurück. Darauf müsse die Schweiz reagieren, fordert SVP-Präsident Marco Chiesa. Er möchte sich ein Beispiel an Grossbritannien nehmen.
https://www.blick.ch/politik/wegen-ueberlastung-svp-chiesa-will-asylbewerber-nach-afrika-schicken-id18179024.html
-> https://www.20min.ch/story/svp-praesident-chiesa-will-asylsuchende-nach-afrika-abschieben-167929373508


Baselbieter SVP will keine Asylunterkunft in Liestaler Stedtli-Nähe
In der Militärsporthalle in Liestal werden bis Ende März Asylsuchende untergebracht. Die SVP fordert eine Intervention des Regierungsrats.
https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/militaerhalle-baselbieter-svp-will-keine-asylunterkunft-in-liestaler-stedtli-naehe-ld.2393566


+++HISTORY
Dr. h. c. Mariella Mehrs Dankesrede
1998 machte die Universität Basel die Schriftstellerin Mariella Mehr zur Ehrendoktorin. Mehr bedankte sich mit einer Rede, in der sie forderte, zum Schutz der Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen deren Akten zu vernichten. Nun liegt die Rede als Buch vor.
https://journal-b.ch/artikel/dr-h-c-mariella-mehrs-dankesrede/


Schweizer Söldner in Nordamerika
Obwohl offiziell nicht erlaubt, waren in der Zeit des Spätbarocks Schweizer Söldner auch in Nordamerika aktiv. Im Krieg zwischen Frankreich und Amerikanischen Ureinwohnern fielen Schweizer Kämpfer des Infanterie-Regiments Karrer in Mississippi.
https://www.swissinfo.ch/ger/schweizer-soeldner-in-nordamerika/48081008


Die aufmüpfige, anarchische Stadt
Das Buch »Rebellisches Berlin« erzählt von der vielfältigen und zerstrittenen linken Szene
Vom Mietenstreik 1932 zum Bündnis »Zwangsräumungen verhindern« 2012 und noch viel weiter spannt sich der Bogen in dem Sammelband »Rebellisches Berlin« über widerständische Bewegungen in der Stadt.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169647.bewegung-die-aufmuepfige-anarchische-stadt.html



derbund.ch 27.12.2022

50 Jahre Sondereinheit Enzian: Die schweigsame Truppe mit dem schweren Geschütz

Droht Gefahr, tritt sie auf den Plan. Als Elitekommando, das auch mal als «Rambo-Truppe» verschrien wird. Einblicke in die älteste Sondereinheit der Schweiz.

Michael Bucher

Sie sind die Männer fürs Grobe. Durchtrainiert, schwer bewaffnet und dazu ausgebildet, gefährliche Situationen zu entschärfen: die Sondereinheit Enzian der Kantonspolizei Bern.

Die spezialisierte Eingreiftruppe taucht überall dort auf, wo bewaffnete Personen für Gefahr sorgen: Geiselnahmen, Amokläufe oder Raubüberfälle. Aufgeboten wird die Einheit auch bei geplanten Einsätzen mit potenzieller Gegenwehr. So etwa bei Razzien im Drogenmilieu oder Räumungen von besetzten Häusern.

Gegründet 1972, feierte die Elitetruppe heuer ihr 50-jähriges Bestehen. Aus diesem Grund stellt sich die öffentlichkeitsscheue Truppe für einmal den Fragen der Medien, und zwar in der Gestalt des Chefs der Spezialfahndung 3 – dazu gehören die Observationseinheit Milan, die Verhandlungsgruppe und eben Enzian.

Roger Staub heisst dieser Chef. Der 51-Jährige war während rund zwanzig Jahren in verschiedenen Funktionen bei Enzian tätig. 1999 fing er an, wurde Gruppenleiter und stieg später zum Dezernatschef auf. Der vierfache Familienvater lädt in den Ringhof im Berner Lorrainequartier ein, den Sitz der Kripo. Der Händedruck ist wie erwartet fest. Die Art dann wiederum äusserst freundlich. Stünde der Mann hinter einem Postschalter, man würde beim Feedback-Terminal für Kunden auf das lachende Smiley drücken.

Die Verschwiegenheit

Doch trotz aller Offenheit, das Image der Verschwiegenheit will Staub nicht korrigieren. Fragen nach Truppenstärke, Ausrüstung, Taktik oder Anekdoten zu einzelnen Einsätzen lässt er konsequent unbeantwortet. «Wir wollen unsere Möglichkeiten und unsere Grösse aus taktischen Gründen nicht offenlegen», begründet Staub das Schweigen, «es wäre nicht gut, wenn die Gegenseite bei einem Einsatz abschätzen könnte, mit was sie rechnen muss.»

Gewisse Details sind aus früherer Berichterstattung dennoch bekannt: Demgemäss zählen zum Arsenal Faustfeuerwaffen, Maschinenpistolen und Sturmgewehre, Spreng- und Reizstoffe sowie Irritationsmittel wie Blendgranaten oder Nebelpetarden. Auch im Repertoire: Deformationsgeschosse – die Munition also, die im Körper «aufpilzt» und so für grössere Wunden und eine bessere «Mann-Stopp-Wirkung» sorgt. Ausserdem Elektroschockpistolen, sogenannte Taser. Damit setzten Enzian-Leute etwa den Berner «Heiler» ausser Gefecht, als dieser bei seiner Verhaftung 2013 mit einem Säbel Polizisten bedrohte.

Was weiter bekannt ist: Bis 1994 war Enzian eine Miliztruppe, in der sich bis zu sechzig «normale» Polizisten abwechselnd für den Spezialdienst zur Verfügung stellten. Erst danach wurde die Sondereinheit zu einem eigenständigen, professionellen Dezernat. Dreissig Mann standen neu ausschliesslich im Enzian-Dienst. Ruft kein Einsatz, ist die Mannschaft auf Pikett oder im Ausbildungstraining. Das ist auch heute noch so. Mit dem Unterschied, dass es nun deutlich mehr als dreissig Einsatzkräfte sein dürften – nicht zuletzt, weil 2008 die Sondereinheit Stern der ehemaligen Stadtpolizei zu Enzian stiess.

Die Gründungszeit

Laut Roger Staub war es vor allem der Anfang der 1970er-Jahre schwelende Jurakonflikt, der im Frühjahr 1972 zur Gründung der Berner Spezialeinheit führte. Das Ganze geschah noch vor dem Attentat von München im September desselben Jahres. Damals verübte ein arabisches Terrorkommando einen blutigen Anschlag auf israelische Sportler während der Olympischen Spiele. Weil die Befreiung der Geiseln mangels Spezialkräften scheiterte, gilt der Anschlag als Initialzündung für die Gründung etlicher Antiterroreinheiten in Europa, angefangen bei der Bundesgrenzschutztruppe GSG 9. Somit nahm der Kanton Bern nicht nur schweizweit, sondern auch europaweit eine Vorreiterrolle ein.

Heute ist Enzian weit mehr als eine Antiterroreinheit. Mehrere Hundert Einsätze bestreitet die Truppe jedes Jahr. Personenschutzaufträge machen dabei den Grossteil aus – laut Staub zwischen 60 und 70 Prozent. Solche Aufträge können auch mal mehrere Tage dauern, und das rund um die Uhr. Beschützt werden etwa Schweizer Magistratspersonen wie Bundes- oder Regierungsräte, aber auch ausländische Staatschefs, die in Bern zu Besuch sind.

Personenschutz ist die einzige Enzian-Tätigkeit, bei der auch Frauen dabei sind. Sie kommen vor allem zum Einsatz, wenn weibliche Personen beschützt werden müssen. Ansonsten ist es eine reine Männertruppe. Die Anforderungen sind streng: «Gewissenhaft, belastbar und flexibel» müssen die Enzian-Leute laut Staub sein, und das in besonderem Mass. «Es ist körperlich wie auch mental eine fordernde Aufgabe», sagt er. Deshalb beträgt die durchschnittliche Verweildauer bei Enzian bloss etwa acht Jahre.

Die tödlichen Einsätze

Bei aller Gewissenhaftigkeit, im Eifer des Gefechts können Einsätze auch mal schiefgehen – im schlimmsten Fall tödlich enden. Solche Fälle sind in Bern zwar rar, doch sie kommen vor. Ein prominentes Beispiel ist etwa der Fall Cemal G. Der Mann starb bei seiner Verhaftung im Sommer 2001. Die damalige Sondereinheit Stern der Stadtpolizei war ausgerückt, um Cemal G. in die psychiatrische Klinik einzuliefern. Dieser wehrte sich jedoch massiv, sodass ihn sechs Beamte während rund zehn Minuten zu Boden drückten, wobei der Mann erstickte. Der Einsatz zog einen Gerichtsprozess nach sich, die Polizisten wurden jedoch freigesprochen.

Weiter bekannt sind drei Schusswaffeneinsätze mit tödlicher Folge. 1998 erschoss ein Enzian-Mitarbeiter einen bewaffneten Mann auf der Flucht, nachdem dieser mit zwei Komplizen eine Bank in Linden im Emmental überfallen hatte. Zwei Jahre zuvor erlag ein Kosovare den Folgen einer Schussverletzung. Bei der Anhaltung des flüchtenden Mitglieds einer Diebesbande hatte sich ein Schuss aus der Dienstwaffe gelöst.

Der jüngste Fall ereignete sich am 21. Mai 2021 in Adelboden. Enzian rückte zu einem Mehrfamilienhaus aus, in dem ein Mann sich auffällig verhielt und drohte, sich etwas anzutun. In der Wohnung fanden sie den Mann mit erhobener Waffe vor. Ein Enzian-Mitarbeiter feuerte daraufhin fünf Schüsse ab, einer davon verletzte das Opfer tödlich.

Auch dieser Fall zog ein Strafverfahren wegen vorsätzlicher Tötung und Amtsmissbrauch nach sich, das aktuell noch hängig ist. Eine zentrale Frage ist, ob seitens der Polizei nicht weitere Abklärungen bei Fachpersonen nötig gewesen wären. Zumal es nicht um eine Festnahme einer gefährlichen Person, sondern um den Schutz einer psychisch angeschlagenen Person ging.

Die Kritik

Dass die Sondereinheit bisweilen unverhältnismässig vorgehen soll, wird insbesondere in linken Kreisen wiederholt vorgebracht. Am vehementesten etwa nach einer Hausdurchsuchung in einem vom Kollektiv «Familie Osterhase» zwischengenutzten Haus in Ostermundigen. Im April 2015 rammten Enzian-Mitarbeiter frühmorgens die Haustür und stürmten mit gezogenen Maschinenpistolen die Zimmer. Während der Razzia mussten die anwesenden Bewohner stundenlang gefesselt und mit verbundenen Augen ausharren. Der von der Polizei wegen Gewaltdelikten gesuchte Mann war jedoch gar nicht dort.

Zu dem Fall will Roger Staub nichts sagen. Zum generellen Vorwurf der «Rambo-Truppe» meint er: «Dass nach Einsätzen, bei denen es zu gewaltsamen Festnahmen kommt, von gewisser Seite Kritik geäussert wird, gehört zu unserem Job. Ich kann nur sagen, dass wir unsere Leute so gut wie möglich darin trainieren, auch in heiklen Einsätzen verhältnismässig vorzugehen.»

Die Gefahren

Umgekehrt können Einsätze auch für die Enzian-Mitarbeiter nicht folgenlos bleiben. Prominentestes Beispiel dürfte der Fall des Bieler Rentners Peter Hans Kneubühl sein, der sich im September 2010 gegen die Zwangsräumung seines Hauses wehrte und auf Polizisten schoss. Einen Enzian-Mitarbeiter traf er aus nächster Nähe am Kopf. Dank eines Helmes kam der Polizist lediglich mit Verletzungen davon.

Gerade weil Enzian-Einsätze oft gefährlich seien, sei der Zusammenhalt innerhalb des Teams besonders ausgeprägt, sagt Roger Staub. «Man muss aufeinander zählen können, das schweisst zusammen.» Vergleiche mit den Grenadieren der Schweizer Armee, wo der zelebrierte Zusammenhalt schon fast einer Bruderschaft gleichkommt, sind sicher nicht verkehrt.

Apropos Familie: Verträgt sich ein solcher Job überhaupt mit einem Familienleben? Es habe durchaus auch Väter dabei, das sei kein Hinderungsgrund, so Staub. «Ja, es ist ein gefährlicher Job», meint er zum Schluss, doch man müsse sich fragen, wer denn tatsächlich die gefährlichere Aufgabe habe: die Zweierpatrouille, die als Erstes ausrückt und nicht weiss, was auf sie wartet, oder die gut ausgerüstete und aufdatierte Sondereinheit, die nachrückt?
(https://www.derbund.ch/die-schweigsame-truppe-mit-dem-schweren-geschuetz-838781739180)


+++SCHWEIZ 2
derbund.ch 27.12.2022

Hoffnung auf Asyl: Verloren in der Schweiz – Zwei Russen auf der Flucht vor Putin

Dmitry (19) und Andrey (31) sind russische Kriegsverweigerer. Nun suchen sie ihr Glück bei uns. Wie geht es ihnen hier? Woran leiden sie? Was erfreut sie? Wir waren mit beiden über Wochen in Kontakt.

Catherine Boss, Anielle Peterhans

Dmitry nimmt seinen abgelaufenen Pass hervor, wirft ihn vor sich auf den Tisch und sagt: «This is garbage!» – Das ist Müll! «Niemand will uns Russen. Wo sollen wir hin?»

Es ist Anfang November. Vor etwas mehr als einem Monat hat Präsident Putin die Mobilmachung ausgerufen. 300’000 Wehrfähige sollen in den Krieg gegen die Ukraine ziehen. Seither sind Hunderttausende russische Männer in alle Himmelsrichtungen geflüchtet. Einige auch in die Schweiz.

Der 19-jährige Dmitry sitzt in einem Zürcher Anwaltsbüro neben einer Einkaufstasche mit Pasta, Tomatensauce und Putzmittel. Er lebt seit ein paar Tagen in einer Wohnung zusammen mit ukrainischen Flüchtlingen. Seine Augenringe lassen ihn noch fragiler wirken, als er schon ist. Er trägt einen schwarzen Kapuzenpulli, olivgrüne Hosen und schwarze Springerstiefel. Fast könnte man ihn für einen Soldaten halten. Doch vor diesem Status ist der Student aus Moskau geflohen. Dmitry will in der Schweiz Asyl beantragen.

Auch der 31-jährige Datenwissenschaftler Andrey aus St. Petersburg will keine Ukrainerinnen und Ukrainer töten. Er ist bereits im September für ein wissenschaftliches Projekt in die Schweiz gereist und wurde hier von der Mobilmachung überrascht. Seither sind wir mit ihm im Chat-Kontakt.

Dmitry und Andrey erzählen ihre Geschichte anonym, weil sie vom russischen Staat nicht erkannt werden wollen. Ihr Schicksal verbindet sie: Sie haben ihre Heimat verloren, und sie wissen nicht, wo ihre Zukunft liegt.

Andrey, der Wissenschaftler, bleibt im Oktober nach Ablauf seines Visums für die Schweiz noch ein paar Tage illegal hier. «Ich habe mich dann dagegen entschieden, in der Schweiz um Asyl zu bitten», schreibt er im Chat. «Ich fürchte, dass ich ausgeschafft werde, wenn mein Antrag abgelehnt wird. Oder dass mein Asylantrag irgendwie nach Russland durchsickert.»

Erst reist er nach Serbien, weil dort Englisch und Russisch gesprochen und kein Visum verlangt wird. Als Erstes muss er sich ein Bankkonto beschaffen. «Ohne eine Bankkarte zu leben und zu reisen, ist ziemlich schwierig», schreibt er. Weil er Russe sei, zögen die meisten Banken in Belgrad seinen Antrag schon gar nicht in Betracht. Erst nach Wochen gelingt es.

Solche Möglichkeiten hat der 19-jährige Dmitry nicht. Ihm fehlt das Geld. Und die Kraft.

Plötzlich herrschte Krieg

Ende 2021 lebte Dmitry zusammen mit seiner Mutter in Moskau und studierte Marketing. Er war damals 18 Jahre alt und erhielt den obligaten Brief vom Militär: die Einladung zur Aushebung. Dmitry ignorierte sie – und machte sich damit strafbar. Er bezeichnet sich als Pazifist, er will nicht wissen, wie man mit einer Waffe umgeht und Befehle befolgt.

Im Mai 2022 kam noch ein Brief: einen Strafbefehl, weil er dem Militär ferngeblieben ist. Putin hatte inzwischen die Ukraine angegriffen, und Dmitry flog wegen der Dienstverweigerung von der Uni. Als er Wochen später die erste Vorladung für den Strafprozess erhielt, packte er einen Rucksack mit Kleidern, wenig Geld, etwas Essen und floh, ohne Plan – und ohne seine Mutter oder seine Freundin einzuweihen.

Per Autostopp kam er nach Weissrussland, flog von da nach Georgien. Um Geld zu sparen, ass er jeden zweiten Tag nichts. An solchen Tagen bewegte er sich so wenig wie möglich, scrollte meist stundenlang auf Telegram-Kanälen rum. So fand er die Russin Natalia Lechbinskaya und ihre Schweizer Rechtshilfe-Plattform für Flüchtlinge «Seep». Lechbinskaya flüchtete selbst vor vierzehn Jahren in die Schweiz. Heute berät die 58-Jährige Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, kostenlos.

Als sie mit Dmitry in ihrem Anwaltsbüro sitzt, sagt Natalia Lechbinskaya: «Zwei Dinge sind für mich nicht verhandelbar: Krieg ist böse, und jeder hat eine Wahl. Dmitry will nicht Teil dieses Krieges sein, er hat also die richtige Wahl getroffen – und ich helfe ihm dabei», sagt sie.

185 Asylgesuche aus Russland

Lechbinskaya schickte ihm auf der Flucht Geld über ihre Bekannten. So konnte er sich einen Flug in die Türkei, dann nach Bosnien leisten. Dmitry schaffte es mit dem Bus und teilweise mehrere Tage zu Fuss bis nach Ljubljana. Er schlief bei winterlichen Temperaturen draussen, mal alleine, mal lernte er andere Flüchtlinge kennen: Afghanen, Pakistaner, Syrer. Er gelangte über Mailand nach Zürich. Dort holte ihn Lechbinskaya mit dem Zug ab.

Dmitry sagt beim Treffen mehrmals, dass er müde sei – körperlich und emotional. «Nicht nur von der Reise. Ich habe kein Zuhause. Ich hatte nie eins. Das realisiere ich erst jetzt.» Sein Ziel sei die Schweiz gewesen, weil er wissen wollte, wie Menschen «im demokratischsten Land der Welt» leben, sagt er.

Jedes Asylgesuch von Russen wird einzeln geprüft, denn die Geflüchteten müssen beweisen können, dass sie bei ihrer Rückkehr verfolgt oder übermässig hart bestraft würden, heisst es beim Bundesamt für Migration. «In Russland herrscht derzeit kein Zustand allgemeiner Gewalt», man sei sich jedoch der schwierigen Situation russischer Deserteure und Militärdienstverweigerer bewusst, schreibt ein Sprecher. Von März bis Ende November 2022 haben laut dem Bundesamt 206 russische Staatsangehörige Asyl beantragt. Im selben Zeitraum wurden 109 Gesuche erledigt, 22 Personen erhielten Asyl, fünf wurden vorläufig aufgenommen.

«Ich hatte Glück», chattet Wissenschaftler Andrey. «Wäre ich bei der Mobilmachung nicht in der Schweiz, sondern noch in Russland gewesen, hätte ich ebenfalls in Panik meine Sachen gepackt, wahnsinnig überteuerte Tickets gekauft oder in Angst ein paar Tage an der Grenze ausgeharrt.»

Reden und lachen gegen die Angst

Manchmal habe er sich in der Schweiz aber ziemlich einsam gefühlt, als er das gute, normale Leben seiner Freunde sah. Er erinnert sich, wie er sich mit Freunden nach dem Kriegsausbruch in St. Petersburg versammelt hat: «Um zu reden, Ängste zu teilen und mit einem dunklen und verzweifelten Sinn für Humor zu lachen», schreibt er. «Das hat mir damals wirklich geholfen, aber jetzt sind wir alle sehr weit voneinander entfernt.»

Seit der Mobilmachung sind bald drei Monate vergangen. Während Menschen in der Ukraine unter dem Bombenhagel sterben, irren Russen, die diesen Krieg ablehnen, heimatlos in der Welt herum.

«Ich hadere immer noch mit dem Gedanken, dass dies eine langfristige Auswanderung sein könnte», schreibt Andrey. Doch seit der Mobilmachung neige er dazu, den Krieg in Jahren zu denken, nicht in Monaten. Und Russland sei nicht mehr dasselbe Land, viele seien gegangen, und die Spaltung zwischen «liberalen» und «konservativen» Russen wachse. Er fühle sich «verloren», schreibt er per Chat.

Auf die Frage, warum sich das Volk nicht erhebe, ob es damit eine Mitverantwortung für die Situation trage, reagiert Andrey zuerst irritiert: Diese Frage lasse historische, soziale, wirtschaftliche und geopolitische Aspekte ausser Acht. Darüber hinaus würden die enormen Anstrengungen und Opfer vieler Russinnen und Russen, die sich der Tyrannei in den vergangenen Jahrzehnten und davor widersetzt hätten, in den Hintergrund gedrängt. «Aber im Grossen und Ganzen stimme ich zu, dass jeder Russe eine gewisse Verantwortung für diesen Krieg trägt», schreibt er. «Es gibt und gab zumindest eine gewisse Macht, etwas für die Allgemeinheit zu tun. Aber wir sollten den Fokus nicht von den wirklichen Schurken dieser Geschichte – Putin und die anderen – ablenken.»

Ein paar Wochen später schwingt in seinen Chat-Nachrichten etwas Hoffnung mit: «Die meisten Experten, denen ich in den sozialen Medien folge, sind sich einig, dass Veränderungen in Russland von unten nach oben nur möglich sind, wenn der Staat geschwächt ist. Vielleicht kann das während dieses Krieges geschehen.»

Der 19-jährige Dmitry wirkt viel resignierter. «Die wenigen Menschen, die sich auf die Strasse trauen, werden sofort in Busse gesteckt. Unser Staat kennt nur die Sprache der Gewalt. Was bringt es also?», sagt er. Viele Russinnen und Russen unterstützten den Krieg aus Angst. «Sie verschliessen sich vor der Wahrheit. Selbst meine Mutter versucht ständig, Putin zu verteidigen.»

Und jetzt?

Dmitry hat Angst, zurückgeschickt zu werden. «Am Flughafen würde mich sofort die Grenzpolizei abfangen», ist er überzeugt. «Die Wagner-Gruppe würde mich vielleicht foltern oder direkt ins Kriegsgebiet schicken – auch ohne militärische Ausbildung.»

Mitte Dezember berichtet die Rechtsanwältin Natalia Lechbinskaya, Dmitry habe den Asylantrag gestellt und sei ins Bundesasylzentrum gekommen – aber nicht für lange. Es gehe ihm sehr schlecht und sei nun in die Psychiatrie eingewiesen worden, zur Beobachtung wegen Suizidgefahr. «Er war lange im Überlebensmodus, sein Körper baute sich einen Schutzpanzer auf. Jetzt kommt er zur Ruhe, und damit kommt die ganze Belastung der letzten Monate hoch», sagt die Anwältin.

Und Andrey? Er ist inzwischen nach Thailand gereist. Dort sei es günstig, wärmer und weniger einsam. Nach Asien hat es viele junge Russen verschlagen, die den Dienst verweigern. Online hat Andrey eine Frau aus Osteuropa kennen gelernt. «Wir dachten uns, dass wir für Neujahr vielleicht Mandarinen kaufen, dazu ein traditionelles Gericht zubereiten und online zusammen einen Film anschauen. Ich in Thailand, sie in Europa.»
(https://www.derbund.ch/verloren-in-der-schweiz-zwei-russen-auf-der-flucht-vor-putin-600644656485)