Medienspiegel 7. Dezember 2022

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+++AARGAU
150 geflüchtete Männer im Notspital Muri: SVP-Grossrätin macht sich Sorgen um Sicherheit der Bevölkerung
Vor sieben Jahren, als der Kanton in der Geschützten Operationsstelle (Gops) des Spitals Muri rund 180 Geflüchtete unterbrachte, lancierte SVP-Politikerin Nicole Müller-Boder eine Petition dagegen. Heute stellt die Buttwilerin, die inzwischen im Grossen Rat sitzt, der Regierung kritische Fragen zur erneuten Nutzung der Gops als Asylunterkunft.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/widerstand-150-gefluechtete-maenner-im-notspital-muri-svp-grossraetin-macht-sich-sorgen-um-sicherheit-der-bevoelkerung-ld.2384541



aargauerzeitung.ch 07.12.2022

«Hoffentlich ist die Unterkunft nicht voll bis zu den Festtagen»: Kanton hat keine Plätze mehr und belegt Notspital Muri mit Geflüchteten

Ab dem kommenden Montag nutzt der Kanton die Geschützte Operationsstelle (Gops) im Spital Muri als unterirdisches Asylzentrum. Einziehen werden dort bis zu 150 Männer aus Afghanistan, Syrien und der Türkei. Bei der Information gab es kaum kritische Fragen, dafür Hilfsangebote und Verständnis aus der Bevölkerung.

Fabian Hägler

Vor gut sieben Jahren, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise von 2015, belegte der Kanton das unterirdische Notspital in Muri mit rund 180 Geflüchteten. Bevor die Einquartierung startete, gab es eine Infoveranstaltung für die Bevölkerung. Diese fand damals im Festsaal statt, anwesend waren rund 150 Personen. Schon im Vorfeld, als die Pläne des Kantons bekannt wurden, sammelten SVP-Politiker total 367 Unterschriften für eine Petition gegen die Unterkunft in der geschützten Operationsstelle.

Vor rund einem Monat teilte der Kanton mit, dass im Notspital Muri erneut Geflüchtete untergebracht werden sollen. Bis zu 150 allein reisende Männer werden es sein, vornehmlich aus Afghanistan, Syrien und der Türkei. Am Mittwochabend stand eine Infoveranstaltung für die Bevölkerung an, sie fand im Dachtheater statt, das deutlich kleiner ist als der Festsaal, und wurde von rund 30 Personen besucht.

«Niemand findet es cool, 150 Männer unterzubringen»

Gemeinderat Daniel Räber betonte gleich zu Beginn: «Niemand findet es cool und gut, dass wir 150 Männer in der Gops unterbringen müssen.» Die Gemeinde und das Spital hätten diese Aufgabe nicht gesucht, aber es gehe nicht anders. Mitte-Politiker Räber, der sich 2015 selber als Freiwilliger bei der Betreuung der Flüchtlinge in Muri engagiert hatte, hielt aber fest: «Alle Beteiligten wollen dafür sorgen, dass der Betrieb so sicher, reibungslos und menschlich wie möglich abläuft.»

Eine wichtige Aufgabe kommt dabei der Firma ORS zu, die im Auftrag des Kantons die Unterkunft betreibt und die Flüchtlinge dort betreut. Sandro Vescovi, zuständig für kantonale Mandate und Kollektivunterkünfte bei der ORS, kann dabei auf Erfahrungen aus dem Betrieb in den Jahren 2015 und 2016 zurückgreifen.

Auf dem Spitalgelände werden wieder sensible Zonen definiert

12 bis 15 Mitarbeitende der Firma würden eine 24-Stunden-Abdeckung an sieben Tagen pro Woche gewährleisten, sagte er. Geflüchtete sollen möglichst selbstständig leben in der Gops Vescovi sagte, man werde die Geflüchteten beschäftigen: Vorgesehen seien niederschwellige Deutschkurse, Sport, Animation, oder Handwerk. Die Menschen sollten möglichst selbstständig in der Unterkunft leben: «Sie gehen selber einkaufen und kochen selber, sie werden bei der Reinigung der Anlage eingesetzt und können sich mit weiteren Arbeiten ein kleines Taschengeld dazu verdienen», erläuterte er.

Auf entsprechende Fragen aus der Bevölkerung erklärte Vescovi, die künftigen Bewohner der Unterkunft dürften sich frei bewegen, es gebe keine Ausgangszeiten oder definierte Rayons. Auf dem Spitalgelände werde man aber, wie schon 2015/16, sensible Zonen festlegen, wo sich die Geflüchteten nicht aufhalten sollen. «Das hat damals sehr gut funktioniert, wir haben ihnen das beim Eintrittsgespräch erklärt und die meisten hielten sich daran.»

Polizeichef: Nicht mehr Delikte bei der letzten Belegung

Zudem gibt es weitere Regeln für die Gops-Bewohner, die ab Montag einziehen. Alkohol ist in der Unterkunft und auf dem oberirdischen Areal verboten, Rauchen ist nur im Freien erlaubt. Damit sei man bei der letzten Belegung gut gefahren, sagte Vescovi.

Notfalls könnten die ORS-Angestellten, die in Brandschutz, Erster Hilfe und Konfliktmanagement geschult sind, die Regional- oder Kantonspolizei aufbieten. Renato Orsi, Chef der Regionalpolizei Muri, sagte auf eine Frage aus dem Publikum, bei der letzten Belegung habe man keine erhöhte Kriminalität im Umfeld der Unterkunft bemerkt.

Kanton stellt 240 zusätzliche Betten in seine Unterkünfte

Stephan Müller, Leiter Betreuung beim kantonalen Sozialdienst, erläuterte die Situation im Asylwesen. Neben gut 4700 Geflüchteten aus der Ukraine, die im Aargau leben, verzeichnet der Kanton sehr viele Zuweisungen von Menschen aus anderen Ländern. Seit Oktober werden auch Geflüchtete auf die Kantone verteilt, die im Asylverfahren sind und eigentlich in den Bundeszentren untergebracht werden müssten. «Deshalb müssen wir die Gops in Betrieb nehmen, obwohl eine unterirdische Unterkunft nicht optimal ist», sagte Müller.

Die Kapazitäten des Kantons seien ausgelastet, das Erstaufnahmezentrum in Buchs mit 300 statt 200 Personen belegt. Derzeit würden in den kantonalen Unterkünften die Plätze verdichtet, «wir stellen 240 zusätzliche Betten auf», sagte Müller. Auf die Frage, wann die Gops ausgelastet sein werde, antwortete Müller mit einem Satz, der zur Weihnachtsgeschichte passt: «Ich hoffe, dass die Unterkunft bis zu den Festtagen nicht voll belegt ist.»

Auch die Reaktionen der Murianerinnen und Murianer, die am Infoanlass teilnahmen, waren fast alle positiv: Vertreter einer Koordinationsstelle für Freiwillige waren vor Ort, es gab Vorschläge für eine Zusammenarbeit mit «Tischlein, deck dich», oder Fragen zur medizinischen Versorgung der Geflüchteten.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/asylwesen-hoffentlich-ist-die-unterkunft-nicht-voll-bis-zu-den-festtagen-kanton-hat-keine-plaetze-mehr-und-belegt-notspital-muri-mit-gefluechteten-ld.2380804)


+++SCHWEIZ
Anpassung der Wartefrist für Familiennachzüge
Wenn vorläufig in der Schweiz aufgenommene Personen einen Antrag auf Nachzug von Familienangehörigen stellen, ist ab sofort die gesetzliche Wartefrist von drei Jahren nicht mehr strikt und automatisch anzuwenden. Das Bundesverwaltungsgericht passt seine Rechtsprechung an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an.
https://www.bvger.ch/bvger/de/home/medien/medienmitteilungen-2022/warterfristfamiliennachzuge.html


Mit einem Shuttle: Frankreich transportiert Flüchtlinge zurück in die Schweiz
Viele Geflüchtete reisen illegal durch die Schweiz, um zum Beispiel nach Frankreich zu kommen. Doch die Franzosen wollen das nicht einfach so hinnehmen, wie die Aussage eines Grenzpolizisten zeigt.
https://www.blick.ch/schweiz/mit-einem-shuttle-frankreich-transportiert-fluechtlinge-zurueck-in-die-schweiz-id18124007.html
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/frankreich-schickt-fluchtlinge-per-shuttle-zuruck-in-die-schweiz-66360693



derbund.ch 07.12.2022

«Shuttle-Transport» nach Basel: Frankreich schickt Flüchtlinge zurück in die Schweiz

Viele Migranten reisen irregulär nach Westeuropa. Während der Schweiz oft nichts anders übrig bleibt, als sie durchzuwinken, kann Frankreich sie retour transportieren.

Simon Bordier

Ein Montagmorgen im November. Eisenbahngewerkschaften im Elsass haben zum Streik aufgerufen, es fahren nur wenige Züge. Entsprechend gross ist der Andrang auf die paar verbleibenden Verbindungen.

In einem Fall, es handelt sich um einen TER-Regionalzug von Basel nach Strassburg, herrscht pures Chaos: Neben Pendlerinnen und Touristen haben gegen 80 Migranten den Zug bestiegen. Die Zugbegleiter sind überfordert und rufen die Polizei. Diese macht sich zum nächstgrösseren Bahnhof in Mulhouse auf. Dort werden die rund 80 jungen Männer zum Aussteigen gezwungen; die Police nationale hält sie auf dem Perron zurück, bis der TER weg ist. Dann lässt man die 80 Personen gehen.

Der Regionalsender France 3 hat über den Vorfall berichtet und einen Kommandanten der französischen Grenzpolizei dazu befragt. Es handle sich um ein «wiederkehrendes Phänomen», meint dieser. Wegen der hohen Zahl an Migranten setze man Überwachungsteams in Zügen und auf Perrons ein. Das Sicherheitsdispositiv gelte «bei allen Zügen, die aus der Schweiz kommen und nach Frankreich einfahren».

Mit dem «Shuttle» in die Schweiz

Und: «Normalerweise» verweigere man volljährigen Personen, die ohne die nötigen Papiere aus der Region Basel nach Frankreich kämen, die Einreise. «Sie werden dann mit einem Shuttle zurückgebracht und im Bahnhof Basel den Schweizer Behörden übergeben», führt der Kommandant aus.

Ein Rücktransport? Das Vorgehen mag überraschen. Zunächst einmal, weil der Schweiz vergleichbare Möglichkeiten an ihrer Ostgrenze, wo zuletzt besonders viele Migranten irregulär einreisten, fehlen.

Eine Rückführung nach Österreich ist oft nur nach dem sogenannten Dublin-Verfahren möglich. Dieses wird jedoch lediglich eingeleitet, wenn sich die fragliche Person nach zwei Tagen noch in der Schweiz aufhält, weil es sich sonst erübrigt. Viele Migranten ziehen früher weiter. Die Kantonspolizei habe keine rechtliche Handhabe, illegal eingereiste Personen nach der Kontrolle durch den Grenzschutz festzuhalten, erklärt Tabea Rüdin, Sprecherin beim Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG). Viele wollen ohnehin nach Frankreich oder Grossbritannien. (Lesen Sie dazu die Reportage «Sie kommen mit dem Zug – und wollen gleich weiter».)

An der Westgrenze präsentiert sich die Lage etwas anders. Zwischen Frankreich und der Schweiz gibt es ein spezielles Rückübernahmeabkommen. Dieses ermöglicht ein vereinfachtes Verfahren. BAZG-Sprecherin Rüdin erklärt in Rücksprache mit dem Staatssekretariat für Migration: «Falls die betroffene Person innerhalb der Grenzzone aufgegriffen wird, kann das Rückübernahmegesuch in Absprache mit den zuständigen lokalen Dienststellen auf vereinfachte Weise gestellt werden.» Sprich: Das jeweils betroffene Land kann irregulär Reisende zurückschicken, ohne zwei Tage abwarten zu müssen. Frankreich habe zuletzt tatsächlich von diesem Eilverfahren Gebrauch gemacht, bestätigt Rüdin. Mit Österreich oder Deutschland gibt es kein vergleichbares Abkommen.

Und was hat es mit dem eingangs erwähnten Shuttle (französisch Navette) auf sich? Handelt es sich um einen Transporter der Polizei? Oder um den Pendelzug zwischen Basel und Strassburg?

Das BAZG kann dazu keine Auskunft geben, man möge bei den französischen Kollegen nachfragen. Diese hüllen sich ihrerseits in Schweigen. Die Grenzpolizei der Zone Est verweist gleich auf die Pressestelle der Police nationale. Und in der Pariser Zentrale kann oder will man Fragen zu den Modalitäten der Rückführung nicht beantworten.

Viele Wege nach Frankreich

Nur so viel: «Die Vorgehensweise der französischen Polizei hängt unter anderem davon ab, wo die Migranten abgefangen werden», lässt eine Sprecherin der Police nationale wissen. Am Basler Bahnhof und in den Zügen zwischen Basel und Mulhouse würden die Personen «nicht ins Land gelassen und in die Schweiz zurückgeschickt».

Die Polizei ist unter anderem im französischen Sektor des Bahnhofs Basel SBB präsent, wie man in den letzten Wochen unschwer erkennen konnte. Ob die Kontrollen lückenlos verlaufen, steht auf einem anderen Blatt. Als wir Ende November zu Reportagezwecken von Basel nach Mulhouse fahren, kommen wir im Zug mit drei indischen Migranten ins Gespräch. Die drei Jugendlichen geben an, nach Paris zu wollen, um dort zu arbeiten. An den fünf französischen Grenzbeamten in Basel sind sie offenbar vorbeigekommen. Im Zug selber und in Mulhouse ist von Kontrolle keine Spur.

Eine französische Polizeigewerkschaft hat diesen Herbst einen Mangel an Ressourcen für effektive Grenzkontrollen beklagt. Und der oberste Schweizer Grenzschützer, Christian Bock, meinte unlängst im Interview mit dieser Zeitung: Von Frankreich würden an der Grenze «nur wenige» Migranten aufgegriffen und rücküberführt. Zudem bleibt der Schweiz auch bei diesen Personen oft nichts anderes übrig, als sie nach der Kontrolle durch den Grenzschutz wieder laufen zu lassen. Die jungen Afghanen, Nordafrikaner und Inder können ihr Glück dann erneut per Zug oder auf anderen Wegen versuchen.

Laut der Sprecherin der französischen Police nationale sind die Massnahmen auf «Abschreckung» ausgelegt, «um die Migrationsrouten zu stören». «Die Kontrollen dienen auch dazu, die Passagiere in den Zügen und die Menschen in den Bahnhöfen vor dieser immer grösser werdenden Bevölkerungsgruppe zu schützen.» Weiter versuche man, gegen Schleuser vorzugehen.
(https://www.derbund.ch/frankreich-schickt-fluechtlinge-zurueck-in-die-schweiz-905308689543)



Aktionstage in Genf: «Das UNHCR gibt sich besorgt – alles Lügen»
Die Bewegung Refugees in Libya protestiert in Genf gegen das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR). Ihr Sprecher David Yambio erhebt schwere Vorwürfe gegen die Behörde.
https://www.woz.ch/2249/aktionstage-in-genf/aktionstage-in-genf-das-unhcr-gibt-sich-besorgt-alles-luegen/%21CPQSV41SVH4T


+++DEUTSCHLAND
Schengen-Beitritt von Kroatien: Deutsche Regierung darf Koalitionsvertrag nicht ignorieren
Auf dem EU-Innenministertreffen soll Kroatiens Schengen-Beitritt beschlossen werden. Eine Zustimmung von Bundesinnenministerin Faeser würde das Versprechen des Koalitionsvertrags brechen, Pushbacks an den EU-Außengrenzen zu beenden. Das Centre for Peace Studies und PRO ASYL fassen die Menschenrechtsverletzungen an Kroatiens Grenzen zusammen.
https://www.proasyl.de/news/schengen-beitritt-von-kroatien-deutsche-regierung-darf-koalitionsvertrag-nicht-ignorieren/


+++POLEN
»Der Unterschied an beiden Orten war enorm«
Rassismus und Propaganda: Über die Ungleichbehandlung von Geflüchteten an den Grenzen zu Polen. Ein Gespräch mit Miriam Tödter
https://www.jungewelt.de/artikel/440355.migrations-und-asylpolitik-der-unterschied-an-beiden-orten-war-enorm.html


+++EUROPA
Instrumentalisierte Flüchtlinge: EU will Asylrecht aufweichen
Mehrere Staaten haben Flüchtende genutzt, um die EU unter Druck zu setzen. Die will sich mit einer Verordnung wehren – doch NGOs kritisieren das.
https://taz.de/Instrumentalisierte-Fluechtlinge/!5901939/


+++FREIRÄUME
EWZ-Kesselhaus: Ein selbstverwalteter Ort für Kultur und Politik
Ende Oktober besetzten Aktivist:innen das Kesselhaus, das dem Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) gehört und das seit Jahren leer steht. Das grosse alte Werkhaus grenzt direkt an den Limmatkanal beim Letten und hat die Hausnummer Wasserwerkstrasse 101 in Zürich Wipkingen.
https://al-zh.ch/blog/2022/12/ewz-kesselhaus-ein-selbstverwalteter-ort-fuer-kultur-und-politik/


+++GASSE
Wohncontainer für Obdachlose – Neues Sozialprojekt in Biberist
In Biberist steht ein Holz-Häuschen. Gedacht ist es für Obdachlose. Ausgestattet ist der Container mit Bett, Lavabo, WC/Dusche, Kühlschrank und Herdplatte. Einziehen wird zuerst eine suchtkranke Frau, die bis jetzt in Notunterkünften Platz fand. Das Ziel: Dank mehr Ruhe eher raus aus der Sucht. (ab 09:03)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/wohncontainer-fuer-obdachlose-neues-sozialprojekt-in-biberist?id=12298981



solothurnerzeitung.ch 07.12.2022

Ein kleines Zuhause für Suchtkranke: Perspektive will in den Gemeinden Wohncontainer aufstellen – der Erste steht in Biberist

An der Solothurnstrasse in Biberist, eingekeilt zwischen Strasse und Bahngleisen, hat die Perspektive einen Wohncontainer für eine obdachlose Person hingestellt. Ein zweiter soll noch vor Weihnachten folgen. Man hofft, dass sich auch andere Gemeinden solidarisch zeigen.

Urs Byland

Irgendwie ausgestellt präsentiert sich der hübsch verkleidete Container für Obdachlose an der viel befahrenen Solothurnstrasse in Biberist. Die Szenerie erinnert an die eines Neubaus mit einem Schotterweg zur Eingangstüre und einem kahlen Garten. Das Pilotprojekt der Perspektive Region Solothurn-Grenchen ist im Schnellzugstempo unterwegs und kann, gut acht Monate nachdem der Gemeinderat Biberist seine Zustimmung gab, gestartet werden.

Der Container, gebaut von Suchtkranken in der bernischen Stiftung Terra Vecchia, ist mit einer Holzfassade, schiebbaren Fensterläden und einem Vordach ausgestattet. Das Dach ist wie bei einer Aufrichte mit einem kleinen Tannenbaum verziert. Im Innern gefällt der Holzboden. Ein Bett und eine Kochgelegenheit, eine Tischplatte und ein Stuhl bilden das Mobiliar. WC und Bad im hinteren Teil sind mit einer Holzwand abgetrennt. Es ist gemütlich warm.

Biberist erhält zwei Container

Zu viel Wohnraum könne für viele Randständige eine Überforderung sein, sagt Thomas Blum von der Perspektive. «Sie haben Mühe, diese in Schuss zu halten.» Die Containerwohnung sei daher eine ideale Lösung.

Bei einem Container soll es nicht bleiben. Auf dem Kantonsland, das die Gemeinde im Baurecht hält, stand bis 2016 die Asylunterkunft, die wegen eines technischen Defekts abbrannte. Nun ist bereits alles vorbereitet für einen zweiten Container. Dabei soll es dann bleiben. Karin Stoop, Geschäftsleiterin Perspektive erklärt: «Mehr Leute an einem Ort kann zu einer Unruhe führen.»

In der Region Solothurn will die Perspektive, die von den Gemeinden finanziert wird und Angebote für suchtkranke Menschen bereitstellt, insgesamt sechs Container platzieren. «Dezentral. Heute finden sich nur in Solothurn und Grenchen Angebote. Suchtkranke Menschen ziehen aus den kleinen Gemeinden in die anonymen Städte.» Mit dem Resultat, dass man suchtkranke Menschen nur in den Städten erlebt. «Auf dem Land heisst es dann schnell, wir haben gar kein Problem.»

Mit dem Pilotprojekt zeige Biberist, so Stoop: «Wir sind solidarisch mit Solothurn, auch inhaltlich, und bieten Raum für Suchtkranke.»

Bedingungslos ein Dach über dem Kopf erhalten

Als sie vor 20 Jahren die Notschlafstelle in Solothurn einrichtete, erzählt Stoop, sei diese bald wieder geschlossen worden. Die Menschen konnten in Wohnungen untergebracht werden. Auch heute sei der Betrieb einer Notschlafstelle nicht gerechtfertigt, zu wenige sind obdachlos. «Aber es gibt einige wenige, die Nacht für Nacht den Stress haben, eine Schlafgelegenheit zu finden», so Stoop.

Die Perspektive entscheidet in Absprache mit den regionalen Sozialdiensten, wer in einen Container ziehen kann. Hier in Biberist soll eine Person aus dem Wasseramt Platz finden. «Bedingungslos», sagt Stoop. Es gebe klare Regeln, aber die künftigen Nutzer müssen keine Programme absolvieren, sie müssen nicht an einem gemeinschaftlichen Leben teilnehmen, sie müssen nicht arbeiten oder abstinent werden.

«Auch Leute am Rande der Gesellschaft brauchen eine Infrastruktur»

«Wir dürfen unsere Augen nicht vor der Problematik verschliessen, auch wir Gemeinden sind in der Pflicht. Es wäre falsch zu sagen, das sei eine gute Sache, aber nicht bei uns», erklärt Gemeindepräsident Stefan Hug an der Eröffnung. Und: «Ich bin der Meinung, dass auch für Leute am Rande der Gesellschaft eine Infrastruktur gebaut werden muss. Hier erwarte ich auch eine Solidarität der Gemeinden.»

In der Gemeinderatsdiskussion sei erwähnt worden, dass in einer Gemeinde wie Biberist mit ihren 9000 Einwohnerinnen und Einwohnern auch Randständige eine Heimat haben sollen. «Wir können nicht so tun, als ob es diese Randständigen nicht gibt, und froh sein, dass sich die Städte um diese Menschen kümmern.»

Spendengelder ermöglichen das Pilotprojekt

Das Projekt ist befristet bis Juni 2024. Dann läuft der Baurechtsvertrag aus. Laut Hardy Jäggi, Vereinspräsident Perspektive, wird das Projekt nicht aus dem «normalen Kässeli» finanziert, sondern mit Spendengeldern von Klubs, der Wirtschaft und Kirche. Das Budget für das Pilotprojekt in Biberist beträgt rund 80’000 Franken. Für Biberist fallen keine Kosten an. Auch der Baurechtszins wird von der Perspektive übernommen.

«Ich habe Freude, ist das Pilotprojekt hier», sagt Gemeindepräsident Hug. Nach dem positiven Entscheid des Gemeinderates habe er keine Rückmeldung erhalten, weder positive noch negative. «Sollte ein Problem entstehen, ist es mir wichtig, dass man miteinander spricht. Hier hoffe ich auf die Solidarität der Bevölkerung und den Goodwill der Anwohner.»
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/lebern-bucheggberg-wasseramt/pilotprojekt-ein-kleines-zuhause-fuer-suchtkranke-perspektive-will-in-den-gemeinden-wohncontainer-aufstellen-der-erste-steht-in-biberist-ld.2384519)



In der Region Luzern fehlt es an Wohnraum für Randständige
Menschen mit Sucht- oder psychischen Erkrankungen haben es häufig nicht leicht, eine Wohnung zu finden. In der Region Luzern fehlt es an niederschwelligem Wohnangebot. Wie sich die Situation präsentiert, das zeigt ein Besuch in der Notschlafstelle Luzern und bei der kirchlichen Gassenarbeit. (ab 06:50)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/in-der-region-luzern-fehlt-es-an-wohnraum-fuer-randstaendige?id=12299065


Basler Bettelnde mit Hund werden im Winter intensiver kontrolliert
In den Wintermonaten müssen Bettlerinnen und Bettler in Basel häufiger mit Kontrollen rechnen. Das Veterinäramt und die Polizei haben «zugunsten des Tierwohls» ihre Kontrollen verstärkt.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/tierschutz-basler-bettelnde-mit-hund-werden-im-winter-intensiver-kontrolliert-ld.2384517
-> https://telebasel.ch/2022/12/07/hunde-von-bettelnden-wegen-tierschutzverstoss-eingezogen
-> https://www.bs.ch/nm/2022-betteln-mit-hunden-tierschutz-muss-beachtet-werden-gd.html


Basler Unterstützung für Hilfsprojekte in Rumänien
Der Grosse Rat hat Gelder für zwei Roma-Projekte in Rumänien bewilligt. Es handelt sich um Beiträge in der Höhe von 1,16 Millionen Franken.
https://telebasel.ch/2022/12/07/basler-unterstuetzung-fuer-hilfsprojekte-in-rumaenien



Basler Zeitung 07.12.2022

Hilfe vor Ort statt Betteln erlauben: Basel versucht jetzt, Roma-Mädchen vor dem Schulabbruch zu bewahren

Als Begleitmassnahme zum neuen Bettelverbot setzt sich der Kanton in Rumänien für die Bildung und das Image der Roma ein. Der Grosse Rat hat dafür am Mittwoch etwas mehr als eine Million Franken gesprochen.

Katrin Hauser

Die Basler Polizei ist noch immer mit den Bettlerinnen und Bettlern im Kanton beschäftigt. Vermehrt hat sie es mit Personen zu tun, die mit Hunden zusammen auf der Strasse sitzen und Passanten um Geld bitten. «Kontrollen ergaben, dass dabei gesetzliche Tierschutz-Vorgaben nicht immer eingehalten werden», teilen Polizei und Gesundheitsdepartement am Mittwoch mit. Mehrere Hunde hätten in der Vergangenheit durch das Veterinäramt eingezogen werden müssen.

Die Situation ist jedoch kein Vergleich zu jener im Herbst 2020, als das alte Bettelverbot gerade erst aufgehoben worden war, die Zahl der Bettelnden in Basel laufend stieg und sich haufenweise verärgerte Leute beim Kanton über das Betteln beklagten. Im Dezember 2022 – eineinhalb Jahre nach der Einführung des neuen Bettelverbots – halten sich geschätzt 40 Bettelnde im Kanton auf, wie das Justiz- und Sicherheitsdepartement auf Anfrage mitteilt.

Die scharfen Töne gehören der Vergangenheit an

Auch die politische Debatte ums Betteln in Basel wird längst nicht mehr in jenen scharfen Tönen geführt, die 2020 noch im Grossen Rat zu hören waren. Das merkt man an diesem Mittwoch, als es um das Engagement des Kantons für die Roma in Rumänien als Begleitmassnahme zum neuen Verbot geht. Die Politiker sprechen über eine Million Franken für die beiden Projekte, ohne dass sie überhaupt darüber diskutieren.

Wer in Basel-Stadt Steuern zahlt, unterstützt nun Roma-Schülerinnen in den südlich gelegenen Städten Giurgiu und Mizil. Beispielsweise finanziert man die Ausarbeitung eines Protokolls für das «Eingreifen in Fällen von Schulabbruch». Weiter will man rumänische Beamte bei der Sozialhilfe, der Polizei sowie dem Kindesschutz schulen, um sie auf die schwierige Situation von Roma-Mädchen zu sensibilisieren. Das Projekt kostet pro Jahr 145’000 Franken.

Image der Roma soll verbessert werden

Ziel der Basler Regierung ist es, namentlich die Schulabbruchquote bei Roma-Mädchen zu reduzieren. Denn nur 64 Prozent der Roma-Frauen können lesen und schreiben. Bei den Männern liegt die Quote bei 76 Prozent. Die dafür zuständige Regiokommission im Grossen Rat begrüsst dieses Engagement, weist jedoch darauf hin, dass «für eine nachhaltige Veränderung auch die Schulung und Sensibilisierung von Roma-Knaben von zentraler Bedeutung ist».

Ausserdem habe es bei der Beratung skeptische Voten über den Nutzen dieser Massnahmen gegeben. So fragte man sich etwa, ob der Druck auf die Roma-Mädchen nicht sogar erhöht werden könnte.

Beim zweiten vom Regierungsrat vorgeschlagenen Projekt geht es hauptsächlich um eine Verbesserung des Images der Roma. Mittels Workshops, Treffen und Debatten sollen Roma-Hochschulstudierende zu Vorbildern für die Kinder und Jugendlichen der ethnischen Minderheit in Rumänien werden. Dafür wird beispielsweise eine «Roma-Leadership-Akademie» für 20 Studierende pro Jahr gegründet. Die akademische Elite soll dort lernen, zu einer aktiven Stimme ihrer Bevölkerungsgruppe zu werden.

Des Weiteren will man das Bild der Roma mit einer Social-Media-Kampagne in der breiten Öffentlichkeit verbessern. Sie wird Kurzfilme über den Holocaust, die Sklaverei und die Zeit des Kommunismus aus der Perspektive der Roma beinhalten. Auch dieses Projekt ist mit 145’000 Franken pro Jahr budgetiert.

Hier lebende Roma profitieren wahrscheinlich nicht

Der Sprecher der vorberatenden Regiokommission, Niggi Rechsteiner (GLP), wies im Parlament auf das Problem hin, dass die in Basel bettelnden und entsprechend auch lebenden Roma nur sehr indirekt von diesen Hilfeleistungen profitieren könnten. Die meisten der Roma, die in Basel betteln, wollen nämlich nicht nach Rumänien zurückkehren. Die Kommission spricht sich trotz der geäusserten Vorbehalte grossmehrheitlich für die Beiträge aus.

Die beiden Projekte sind auf vier Jahre befristet. Der Grosse Rat hat die Gesamtkosten von 1,16 Millionen Franken (je 290’000 Franken pro Jahr) am Mittwoch genehmigt. Ein erster Zwischenbericht ist Ende 2023 fällig.
(https://www.bazonline.ch/basel-versucht-jetzt-roma-maedchen-vor-dem-schulabbruch-zu-bewahren-133728324020)


+++BIG BROTHER
Überwachung mit «Safe City»: Es gibt keinen Ort, um sich zu verstecken
Ob in Ghana, Serbien oder Ecuador: Das vernetzte Kamerasystem des chinesischen Techkonzerns Huawei kontrolliert Städte auf der ganzen Welt. Ermöglicht es den Regierungen bald eine lückenlose Überwachung inklusive Gesichtserkennung?
https://www.woz.ch/2249/ueberwachung-mit-safe-city/ueberwachung-mit-safe-city-es-gibt-keinen-ort-um-sich-zu-verstecken


+++FRAUEN/QUEER
Gefährliches Fremd-Outing im Basler Ausgang: Eine Transfrau wehrt sich
Am Sonntag geht ein Instagramvideo einer jungen Frau viral. Sie schildert unschöne Erfahrungen, die sie als queere Person in einem Basler Club gemacht hat.
https://www.watson.ch/schweiz/lgbtqia%2b/913976943-von-basler-tuersteher-geoutet-transfrau-erhebt-schwere-vorwuerfe


+++RECHTSPOPULISMUS
Cancel Culture : SVP-Drohungen gegen ein Theater
«Ihre Stiftung finanziert das Sogar Theater mit menschenfeindlichen, antisemitischen Texten», so beginnt eine Mail, die mehrere Kulturstiftungen Ende November erhalten haben und die der WOZ vorliegt. Absender: der Zürcher SVP-Gemeinderat Johann Widmer. Attackiert wird im Mail das Stück «Ja oder Nein – eine Partei im Kreuzverhör», das im Sogar-Theater zu sehen war. Im Stück werden in polemischer Manier menschenverachtende und rassistische Aussagen wiedergegeben, die von SVP-Politikern gemacht oder in Kampagnen der Partei vermittelt wurden (siehe WOZ Nr. 48/22).
https://www.woz.ch/2249/cancel-culture/cancel-culture-svp-drohungen-gegen-ein-theater/%216AAF5F30QK0Y


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Was weiter geschah: Chefärztin entlassen
Den Anfang machte im Dezember 2021 die Ausstrahlung einer SRF-Dokumentation zur sogenannten Satanic Panic in der Schweiz. Im Februar kam dann eine WOZ-Recherche zum Schluss: Der Glaube an global vernetzte satanistische Kulte, die Kinder missbrauchen und mittels «mind control» programmieren, ist keinesfalls ein evangelikales Randphänomen – die Verschwörungstheorie wird vielmehr von renommierten Fachleuten aus der Psychotraumatologie vertreten. Allen voran in der Privatklinik Clienia Littenheid, deren Oberarzt Matthias Kollmann im SRF-Film auftrat.
https://www.woz.ch/2249/was-weiter-geschah/was-weiter-geschah-chefaerztin-entlassen/%2169SDSCN7TWXB


Volksabstimmung abgesagt: Verschwörungstheorien brechen «SaferPhone» das Genick
Die Volksinitiative «SaferPhone» ist gescheitert, bevor die Sache wirklich angefangen hat. Ein Mediengewitter und Verschwörungstheorien verhinderten die Grünen-Initiative für weniger Strahlenbelastung.
https://www.zentralplus.ch/news/verschwoerungstheorien-brechen-saferphone-das-genick-2500393/


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Dreadlocks, Reggae, Winnetou – Was bleibt von der Debatte um kulturelle Aneignung?
Kulturelle Aneignung war das Reizthema des Sommers. Das verrate viel über die Schweiz, bilanziert ein Rassismusforscher.
https://www.srf.ch/radio-srf-1/dreadlocks-reggae-winnetou-was-bleibt-von-der-debatte-um-kulturelle-aneignung


+++HISTORY
Rückführung von Schepenese wird geprüft
Der Administrationsrat des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St. Gallen will nach der Kritik des Regisseurs Milo Rau eine Rückführung der Mumie Schepenese prüfen. Mit den zuständigen ägyptischen Behörden werde Kontakt aufgenommen, heisst es in der Mitteilung.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/rueckfuehrung-von-schepenese-wird-geprueft?id=12299047
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/schepenese-rueckfuehrung-rueckt-naeher-149108731
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/streit-um-stgaller-mumie-jetzt-also-doch-katholischer-konfessionsteil-prueft-rueckfuehrung-von-schepenese-nach-aegypten-ld.2384454
-> Abo: https://www.tagblatt.ch/kultur/ostschweiz/milo-raus-kunstaktion-billiger-populismus-und-verwerfliche-aktion-stgaller-museumsdirektor-schaltet-sich-mit-scharfen-worten-in-die-mumien-debatte-ein-ld.2384695



tagblatt.ch 07.12.2022

«Billiger Populismus» und «verwerfliche Aktion»: St.Galler Museumsdirektor schaltet sich mit scharfen Worten in die Mumien-Debatte ein

Peter Fux, Direktor des Historischen und Völkerkundemuseums St.Gallen, meldet sich mit einer pointierten Stellungnahme zu Wort. Sie folgt kurz nach der Meldung, dass der katholische Administrationsrat die Rückführung der Stiftsbibliothek-Mumie nach Ägypten prüft. Bei Theatermacher Milo Rau hingegen herrscht «grosse Freude».

Christina Genova

Interpellationen im St.Galler Stadt- und Kantonsrat, ein zweiter offener Brief in Namen der ägyptischen Zivilgesellschaft, Faktenchecks, Stellungnahmen und zahlreiche Medienartikel: Seit der St.Galler Theatermacher Milo Rau Mitte November mit seiner «St.Galler Erklärung» die Diskussion um die Rückgabe von Schepenese, der ägyptischen Mumie der Stiftsbibliothek St.Gallen, lanciert hat, geht es in der Debatte Schlag auf Schlag.

Nun folgt mit einer Medienmitteilung des Eigentümers der Mumie, des Katholischen Konfessionsteils des Kantons St.Gallen, ein weiteres Kapitel. Dessen Administrationsrat hat am 6. Dezember beschlossen, eine mögliche Rückführung der Mumie nach Ägypten zu prüfen. Dazu wolle man mit den zuständigen ägyptischen Behörden zusammenarbeiten und mit diesen Kontakt aufnehmen. Administrationsratspräsident Raphael Kühne lässt sich wie folgt zitieren: «Es ist mir ein Anliegen, dass mit Schepenese seriös und differenziert umgegangen wird, auch mit Bezug zu ihrem Herkunftsland.»

Hat der Administrationsrat vor Milo Rau gekuscht?

Hat sich der Administrationsrat bei diesem Beschluss unter Druck setzen lassen von Milo Rau und seinen Unterstützerinnen und Unterstützern? Über die Medienmitteilung hinaus äussert sich Raphael Kühne nicht weiter zum Fall Schepenese. Mediensprecher Roger Fuchs nimmt wie folgt Stellung: «Wir sind nicht eingeknickt vor den Forderungen Milo Raus.»

Der Administrationsrat habe permanent die Bereitschaft zum Dialog signalisiert. Jetzt nehme er das Heft in die eigene Hand, indem er eine mögliche Rückführung nach Ägypten prüfe – mit offenem Ausgang.

Auch Stiftsbibliothekar Cornel Dora will sich vorläufig nicht mehr zur Schepenese-Debatte äussern und verweist auf den Administrationsrat. Er sagt einzig: «Wir werden jetzt auf eine würdevolle Diskussion einbiegen.»

Freude über «Umdenken» bei Milo Rau

Offenbar versucht man mit diesem Schritt, Milo Rau und seinem Komitee etwas Wind aus den Segeln zu nehmen. Dieser fühlt sich denn auch durch die neuste Entwicklung bestätigt. «Natürlich freuen wir uns sehr, dass unsere Kritik und Denkanstösse zu einem so schnellen Einlenken, beziehungsweise Umdenken geführt haben», schreibt Rau auf Anfrage.

Man sei der genau gleichen Meinung wie der Administrationsrat: Es gehe darum, die Überführung von Schepenese seriös und differenziert zu prüfen und durchzuführen in Zusammenarbeit mit den zuständigen ägyptischen und Schweizer Stellen. Wichtig sei zusätzlich, dass der allgemeine Wunsch nach einer würdigen Ausstellungspraxis schnell realisiert werde. «Global aber: grosse Freude über die Professionalität und die Grösse von Kirche und Stiftsbibliothek. Respekt.»

Pointierte Stellungnahme

Gar keine Freude über die Entwicklungen im Fall Schepenese herrscht hingegen bei Peter Fux, dem Direktor des Historischen und Völkerkundemuseums St.Gallen. «Die Debatte macht mich sehr betroffen und stimmt mich traurig.»

Nachdem Fux bisher geschwiegen hat, meldet er nun unter dem Titel «Ein Angriff auf die Kulturgesellschaft» mit einer persönlichen und pointierten Stellungnahme ausführlich zu Wort. Fux leitet seit Juni 2021 das grösste kulturhistorische Museum der Ostschweiz. Als Archäologe war er 20 Jahre lang international tätig und hat über die internationale Praxis in der Archäologie und den internationalen Kulturgüterschutz promoviert.

Ausserdem standen viele von Fux’ Projekten in Zusammenhang mit dem 2003 erlassenen Schweizer Kulturgütertransfergesetz, das er als vorbildlich bezeichnet. Die Schweizer Praxis im Bereich von Kulturgüterstreit- und -besitzfragen funktioniere: «Da braucht es keinen Theatermacher, der sich unkundig des Themas bedient.»

Eine Rückgabe der Mumie an Ägypten wäre nach Ansicht des Museumsdirektors ein sehr schlechter Schritt: «Altägyptische Objekte gehören ganz wesentlich zur Kulturgeschichte Europas.» In der Stiftsbibliothek sei Schepenese nicht nur durchaus sinnvoll kontextualisiert und sorgfältig aufbewahrt, sondern auch mustergültig erforscht.

«Verwerfliche und populistische Aktion»

Fux wählt deutliche Worte. Er fühle sich als ausgewiesene Fachperson direkt angegriffen von einer «in allen Aspekten verwerflichen und populistischen Aktion». Schamlos und aus grenzenloser Selbstverliebtheit heraus werde eine der wertvollsten Kulturinstitutionen angegriffen. Damit werde unserer Kultur ganz grundsätzlich der Kampf angesagt: «So geht es nicht. Es ist höchste Zeit, dieser Wokeness-Welle entschieden entgegenzutreten.»

Milo Rau bediene sich aller gerade gängigen Reizthemen. Würde man ihm auf derselben Ebene entgegen wollen, müsste man sagen: «Da bedient sich ein selbstverliebter Mann an einer hilflos da liegenden Frau.» Man habe sich gegen eine ehrliche Auseinandersetzung und für den effekthascherischen Weg der Hetze entschieden. Dies alles gehe auf Kosten einer ernst gemeinten Auseinandersetzung mit tiefgreifenden kulturellen Fragen. Es müsse allen klar sein:  «Es geht nicht um Schepenese, es geht um Milo Rau. Wichtig ist ihm einzig seine Publicity.»
(https://www.tagblatt.ch/kultur/ostschweiz/milo-raus-kunstaktion-billiger-populismus-und-verwerfliche-aktion-stgaller-museumsdirektor-schaltet-sich-mit-scharfen-worten-in-die-mumien-debatte-ein-ld.2384695)


+++RECHTSEXTREMISMUS
Reichsbürger und Staatsverweigerer: Wie verbreitet sind ihre Ideen in der Ostschweiz? (09:32)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/rueckfuehrung-von-schepenese-wird-geprueft?id=12299047


Albtraumwelten – „Unter Reichsbürgern“ von Tobias Ginsburg: Raus ins Reich
Tobias Ginsburg hat sich zu Reichsbürgern gesellt. Einzusteigen war leichter als auszusteigen. Seine Undercover-Recherche erinnert an die Reportagen Günter Wallraffs
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/raus-ins-reich


Rechtsextremismus – „Reichsbürger“ von Andreas Speit: „Kraftbaum“ vorm Kopf
Reichsbürger sind mehr als skurrile, langzeitarbeitslose Gestrige, mehr als provinzielle Esoteriker. Der Sammelband „Reichsbürger – Die unterschätzte Gefahr“ lehrt, all die Spinner lieber ernst zu nehmen
https://www.freitag.de/autoren/mladen-gladic/kraftbaum-vorm-kopf



Reichsbürger wollten Reichstag stürmen – 25 Festnahmen, darunter bekannte AfD-Politikerin
In der deutschen sogenannten Reichsbürgerszene soll sich eine terroristische Vereinigung gebildet haben, die mutmasslich den Umsturz des politischen Systems im bvölkerungsreichsten EU-Land vorbereitet hat.
https://www.watson.ch/international/deutschland/219673271-reichsbuerger-wollten-reichstag-stuermen-25-rechtsextreme-festgenommen
-> https://www.tagesschau.de/investigativ/razzia-reichsbuerger-staatsstreich-101.html->
-> https://www.blick.ch/ausland/putsch-in-deutschland-geplant-grossrazzia-gegen-reichsbuerger-id18122305.html
-> https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2022/12/razzia-berlin-deutschland-terroristische-vereinigung-reichsbuerger-querdenker-umsturz.html
-> https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-12/razzia-rechtsextreme-verschwoerung-reichsbuerger-marco-buschmann
-> https://taz.de/Razzia-gegen-Reichsbuerger/!5901832/
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/nancy-faeser-sieht-abgrund-terroristischer-bedrohung-razzien-gegen-reichsbuerger-a-1632c6da-9997-4263-8fad-4333f6680aae
-> https://www.sueddeutsche.de/politik/reichsbuerger-razzia-terror-festnahmen-staatsstreich-bundestag-1.5710821
-> https://taz.de/Polizeieinsatz-gegen-rechte-Verschwoerer/!5901826/
-> https://www.srf.ch/news/international/razzia-in-deutschland-grossrazzia-im-reichsbuerger-milieu-25-festnahmen
-> https://www.der-postillon.com/2022/12/reichsbuerger-letzte-generation.html
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/razzia-reichsbuerger-russische-botschaft
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/razzia-im-reichsbuerger-milieu-russland-bestreitet-verbindung-zu-rechtsextremem-terrornetz-a-871eb781-120a-48fa-8506-fc9a693e40c6
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/deutschland-razzia-gegen-reichsbuerger?partId=12298945
-> https://www.derstandard.at/story/2000141600433/reichsbuerger-planten-putsch-in-deutschland?ref=rss
-> https://www.derstandard.at/story/2000141592024/reichsbuerger-razzia-auf-der-hut-bleiben?ref=rss
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/reichsbuerger-razzia-das-sagt-der-generalbundesanwalt-livestream-a-64665bbe-da7b-4fcf-b287-eab48d89a398
-> https://twitter.com/ARDKontraste/status/1600379685330116610
-> https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-12/razzien-reichsbuerger-generalbundesanwalt-untersuchungsgaft
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/ideologie-der-reichsbuerger-radikal-gegen-den-staat,TPKkJDg
-> https://www.belltower.news/patriotische-union-prinz-afd-richterin-und-hauptkommissar-planten-den-staatsstreich-143887/
-> Medienkonferenz Generalbundesanwalt: https://www.youtube.com/watch?v=CShVp93GyuA
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/razzia-reichsbuerger-prinz-heinrich-terror-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/briefing/reichsbuerger-razzia-ampel-zdfheute-update-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/razzia-reichsbuerger-umsturz-terrorverdacht-100.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/interview-mit-peter-neumann-terrorismusexperte-king-s-college-dlf-6c55f10c-100.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/razzien-gegen-reichsbuerger-netzwerk-plante-staatsumsturz-dlf-cae52c47-100.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/razzia-gegen-reichsbuergerszene-und-rolle-der-medien-100.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/razzia-gegen-reichsbuergerszene-und-rolle-der-medien-100.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/bundespraesident-steinmeier-liberale-demokratie-muss-wehrhaft-sein-100.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/generalbundesanwalt-mehrere-verdaechtige-nach-grossrazzia-bei-reichsbuergerbewegung-in-untersuchungs-100.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/wir-verurteilen-solche-bestrebungen-afd-vorsitzende-distanzieren-sich-100.html
-> https://www.tagesschau.de/inland/reaktionen-auf-reichsbuerger-razzien-103.html
-> https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/razzia-reichsbuerger-staatsstreich-geplant-101.html
-> https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/reichsbuerger-chronik-101.html
-> https://www.derstandard.at/story/2000141596430/wie-gefaehrlich-sind-die-reichsbuerger-auch-fuer-oesterreich?ref=rss
-> https://www.spiegel.de/panorama/justiz/razzia-gegen-reichsbuerger-prinz-reuss-gilt-als-wirrkopf-und-sonderling-a-64e07979-2872-408d-ac50-8fe4fedd262e?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter#ref=rss
-> https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/deutsche-behoerden-muessen-gegen-menschenfeindliche-einstellungen-vorgehen
-> https://www.zeit.de/politik/2022-12/reichsbuerger-razzia-rechtsterrorismus-nachrichtenpodcast
-> https://taz.de/Umsturz-Verdaechtige-Malsack-Winkemann/!5901879/
-> Echo der Zei: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/deutschland-razzia-gegen-reichsbuerger?partId=12299098
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169154.reichsbuerger-klebstoff-versus-sprengstoff.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/440331.rechter-untergrund-plan-f%C3%BCr-rechten-putsch.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169153.reichsbuerger-razzia-und-kaffeetrinken.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169150.razzia-gegen-reichsbuerger-richterin-unter-terrorverdacht.html
-> https://taz.de/Terrorrazzia-gegen-Reichsbuerger/!5896903/
-> https://taz.de/Razzia-bei-Reichsbuergern/!5901865/
-> https://www.blick.ch/ausland/heinrich-xiii-bereitete-sturz-der-regierung-vor-das-ist-der-schwurbler-prinz-von-deutschland-id18124055.html



spiegel.de 07.12.2022

3000 Beamte im Einsatz: Ermittler heben rechtsextreme Terrororganisation aus

Sie wollten wohl den Bundestag stürmen und trainierten mit Waffen: Eine Terrorgruppe aus dem »Reichsbürger«-Milieu soll im Untergrund den Umsturz geplant haben. Jetzt gehen Generalbundesanwalt und BKA mit einem Großeinsatz gegen sie vor. Die Pläne, die Vorwürfe, die Festgenommenen.

Von Jörg Diehl, Matthias Gebauer, Tobias Großekemper, Roman Lehberger, Fidelius Schmid und Wolf Wiedmann-Schmidt

Spezialkräfte der Polizei haben am frühen Mittwochmorgen zeitgleich in elf Bundesländern zugeschlagen: Im Auftrag des Generalbundesanwalts und des Bundeskriminalamts (BKA) nahmen sie nach SPIEGEL-Informationen 25 Männer und Frauen fest, die einer rechtsterroristischen Organisation angehört oder sie unterstützt haben sollen. Mehr als 130 Wohnungen, Büros und Lagerräume wurden und werden durchsucht, darunter auch die Kaserne des Kommandos Spezialkräfte (KSK) im baden-württembergischen Calw.

Insgesamt richten sich die Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung gegen 52 Beschuldigte. Es ist eine der größten Polizeiaktionen gegen Extremisten, die jemals in Deutschland durchgeführt wurden. Auf Anfrage bestätigte die Bundesanwaltschaft den Einsatz.

Koordiniert von der BKA-Abteilung Staatsschutz rückten am Mittwochmorgen mehr als 3000 Polizistinnen und Polizisten aus, darunter Spezialeinheiten der Länder sowie die GSG 9 der Bundespolizei. Schwerpunkte der Aktion lagen in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen, Hessen und Thüringen. Auch in Österreich und Italien waren Beamte im Einsatz.

Die mutmaßlich rechtsterroristische Gruppe um den als Gefährder eingestuften Heinrich XIII. Prinz Reuß, 71, und den ehemaligen Fallschirmjäger-Kommandeur Rüdiger von P., 69, soll sich nach SPIEGEL-Informationen vor allem aus sogenannten Reichsbürgern rekrutiert haben. »Reichsbürger« lehnen die bestehende staatliche Ordnung in Deutschland ab und wollen sie durch ein undemokratisches System ersetzen. Womöglich spielte bei der Radikalisierung der mutmaßlichen Terroristen die Verschwörungsideologie QAnon eine Rolle . Sie hatte Teile eines Mobs in den USA zum Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 in Washington motiviert.

Was die mutmaßlichen Terroristen geplant haben sollen

Nach Erkenntnissen der Ermittler planten die Beschuldigten um Prinz Reuß seit November 2021 einen bewaffneten Angriff auf den Bundestag sowie die Festnahme von Politikern. Offenbar gingen die Männer und Frauen davon aus, dass daraufhin Unruhen in Deutschland ausbrechen würden. In ihrer Vorstellung hätten sich sodann Teile der Sicherheitskräfte solidarisch mit der Terrorgruppe gezeigt, woraufhin es zu einem »Umsturz« gekommen wäre. Allerdings verstrichen nach SPIEGEL-Informationen mehrere Tage, an denen die Gruppe eigentlich hatte losschlagen wollen, ohne dass sie militante Aktionen unternahm.

Die Männer und Frauen sollen nach Erkenntnissen der Strafverfolger verbunden sein durch eine tiefe Ablehnung der staatlichen Institutionen und der Demokratie in Deutschland, weshalb sie mutmaßlich planten, einen Systemwechsel gewaltsam herbeizuführen. Das Verfahren des Generalbundesanwalts soll daher auch klären, ob sich mutmaßliche Terroristen zusätzlich noch der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens schuldig gemacht haben.

Den Ermittlungen zufolge zählt zu der Gruppierung auch Birgit Malsack-Winkemann, 58, eine AfD-Politikerin, die als ehemalige Bundestagsabgeordnete über Ortskenntnisse im Reichstagsgebäude verfügt. Als Sportschützin besitzt die frühere Politikerin, die inzwischen wieder Richterin in Berlin ist , wohl mehrere Schusswaffen. Ihr Anwalt wollte auf Anfrage keine Stellungnahme zu den Vorwürfen abgeben.

Darüber hinaus werden mehrere ehemalige Soldaten der Bundeswehr beschuldigt sowie ein aktiver Stabsfeldwebel, der im KSK als Logistiker dient. Auch ist mindestens ein suspendierter Polizist unter den Festgenommen. Zu der Gruppe zählen weiterhin unter anderem ein promovierter Rechtsanwalt, eine Internistin und ein Pilot. Mehrere Verdächtige sind bei Demonstrationen gegen die Coronamaßnahmen als Aktivisten aufgetreten.

Schießübungen und Pläne für eine Schattenarmee

Den Ermittlungen zufolge plante die Gruppe, eine milizähnliche Schattenarmee aufzustellen, die ihre Umsturzpläne umsetzen sollte. Diese sogenannten Heimatschutzkompanien sollten überall in Deutschland stationiert werden. Auf vielfältige Art und Weise sei versucht worden, so die Ermittler, an Waffen und Ausrüstung zu gelangen. Auch Schießübungen fanden statt. Zudem wurde nach SPIEGEL-Informationen ein gutes Dutzend Satellitentelefone angeschafft. Nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden soll die Organisation über ungewöhnlich viel Geld verfügt haben.

Nach einem gewaltsamen Umsturz wollte die Gruppe demnach eine eigene Regierung einsetzen, an deren Spitze Heinrich XIII. Prinz Reuß gestanden hätte. Dieses Gremium hätte nach Vorstellungen der Verschwörer mit Russland außenpolitische Verhandlungen geführt. Wohl zu diesem Zweck nahm Prinz Reuß über seine Lebensgefährtin Vitalia B., 39, bereits Kontakt zu russischen Stellen auf. Allerdings fanden die Ermittler keine Hinweise darauf, dass diese Stellen auf Prinz Reuß’ Avancen eingegangen wären.

Der »militärische Arm« der Organisation um Rüdiger v. P. soll derweil versucht haben, gezielt Polizisten und Soldaten für die Terrortruppe zu rekrutieren. Es kam zu entsprechenden Treffen und Gesprächen in Baden-Württemberg und Norddeutschland. Auch wurden im Herbst Bundeswehrkasernen im Süden der Republik ausgekundschaftet. Den Ermittlungen zufolge wollten die mutmaßlichen Verschwörer prüfen, ob die Liegenschaften tauglich wären, um darin nach dem Umsturz eigene Truppen unterzubringen.

Die 25 Festgenommenen sollen am Mittwoch und Donnerstag den Ermittlungsrichtern am Bundesgerichtshof in Karlsruhe vorgeführt werden.
(https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ermittler-heben-rechtsextreme-terrororganisation-aus-a-2233c457-4caa-4abb-91e0-3660a3dfcf46)



derbund.ch 07.12.2022

Razzia gegen Reichsbürgermilieu: Der Prinz, der Putsch und der Pöbel

In Deutschland fand am Mittwoch ein «grosser Anti-Terror-Einsatz» statt, 25 Personen wurden festgenommen. Die Spur führt zu einem Mitglied eines früheren Adelshauses und einer früheren AfD-Abgeordneten.

Florian Flade, Jörg Schmitt

Seine Durchlaucht liess in seiner gut 16-minütigen Rede keine noch so wirre verschwörungsmythologische These aus. Graues, nach hinten gegeltes Haar, hellblauer Anzug, hellblaues Hemd, dezente hellblaue Krawatte, Einstecktuch, so steht Heinrich XIII. Prinz Reuss, 71, Mitte Januar 2019 auf dem Podium des Worldwebforums, eines jährlichen Treffens selbsternannter Vordenker der «digitalen Welt» in Zürich. Sein Vortrag: Eher analog-verschwurbelt. Die Monarchie? Von der jüdischen Finanzindustrie zerstört. Der Erste Weltkrieg? Von ausländischen Freimaurern angezettelt. Deutschland? Kein souveräner Staat. Das Grundgesetz? Keine Verfassung, sondern von den Alliierten geschrieben, um Deutschland zu beherrschen.

Kein Wunder, dass sich inzwischen selbst seine Familie «auf das Deutlichste» von dem früheren Frankfurter Multiunternehmer distanziert. Er sei ein «verwirrter alter Mann», liess das Oberhaupt der Familie Reuss vergangenen Sommer verlauten, der «verschwörungstheoretischen Irrmeinungen aufsitzt». Doch in der rechten Querdenker- und Reichsbürger-Szene ist der Nachkomme des ostthüringischen Adelsgeschlechts seit seinem Zürcher Auftritt eine echte Nummer. Offenbar sind die Heilsrufe aus der rechten Ecke dem «Prinzen» derart zu Kopf gestiegen, dass er seinen wirren Worten auch Taten folgen lassen wollte. Eine Rückkehr zur Monarchie mit ihm als Staatsoberhaupt inklusive?

Am heutigen Mittwoch jedenfalls bekam ihre Durchlaucht in seinem Haus in Frankfurt am Main und seinem Schloss im thüringischen Bad Lobenstein unangemeldeten Besuch. Um sechs Uhr in der Früh rückten Staatsanwälte an, Beamte des Bundeskriminalamts (BKA) – und zur Sicherung der Aktion die GSG 9, die Spezialeinheit der Bundespolizei. In ihrem Gepäck hatten die Ermittler einen Haftbefehl, ausgestellt wegen des Verdachts der «Bildung einer terroristischen Vereinigung». Sie sehen Prinz Reuss als zentrale Figur eines rechten Netzwerks aus Reichsbürgern und Verschwörungsideologen, die sich offenbar zum Ziel gesetzt haben, das politische System der Bundesrepublik zu stürzen. Was die Truppe aus Sicht der Fahnder so gefährlich macht: Unter ihnen sind offenbar mehrere pensionierte Bundeswehroffiziere, darunter auch ehemalige Mitglieder der Fallschirmjäger und der Spezialkräfte KSK.

Eines der wohl grössten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik

Nach Recherchen von SZ, WDR und NDR durchsuchen daher seit dem frühen Mittwochmorgen rund 3000 Beamte insgesamt 137 Wohnungen und Geschäftsgebäude in elf Bundesländern. Das Verfahren richtet sich derzeit gegen 51 Beschuldigte. Auch die Kaserne des Kommandos Spezialkräfte (KSK) im baden-württembergischen Calw soll durchsucht worden sein. Die GSG 9 stürmte die Anwesen ehemaliger Elitesoldaten, bei denen die Ermittler Waffen im Haus vermuteten. 25 Personen sollen vorläufig festgenommen worden sein, darunter auch eine Person in Österreich. Unter denen, gegen die ein Haftbefehl ausgestellt wurde, ist auch die frühere AfD-Bundestagsabgeordnete und Richterin am Landgericht Berlin, Birgit Malsack-Winkemann. Vermutlich ist die Zahl der Verschwörer noch weit höher.

Gegen die Gruppe um Prinz Reuss wird wegen des Verdachts der Bildung einer terroristischen Vereinigung und der Planung einer schweren, staatsgefährdenden Gewalttat ermittelt. Das Verfahren, das der Generalbundesanwalt in Karlsruhe seit dem Spätsommer führt, ist wohl eines der grössten Staatsschutzverfahren in der Geschichte der Bundesrepublik. Die heutigen Razzien seien ein bislang beispielloser Schlag gegen die Reichsbürger-Szene heisst es aus Sicherheitskreisen. Sie stufen den Fall intern als einen «Top-Gefährdungssachverhalt» ein. Von den Verdächtigen war niemand für eine Stellungnahme zu erreichen. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Bereits im Sommer hatte Generalbundesanwalt Peter Frank vor einer Radikalisierung des rechten Milieus gewarnt. Die Szene der Reichsbürger und Verschwörungsideologen werde «immer gewaltbereiter». Seine Behörde werde daher künftig öfter gegen Verdächtige aus diesen Kreisen vorgehen. «Ungeachtet davon wie befremdlich, fernliegend oder absurd man die jeweils dort zugrundeliegende Weltanschauung hält: Es wäre fahrlässig, die davon ausgehende Gefahr abzutun.»

Konkrete Vorbereitungen für einen gewaltsamen Umsturz

Wie real die Gefahr ist, zeigen die aktuellen Ermittlungen. Die Fahnder sind dem Umstürzlernetzwerk schon seit dem Frühjahr auf der Spur. Das Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen war auf Heinrich XIII. Prinz Reuss und seine radikalen Umtriebe aufmerksam geworden, der schon seit Jahren als Reichsbürger eingestuft wird und seither im Visier der Fahnder steht. Die hessischen Verfassungsschützer fanden heraus, dass dieser augenscheinlich ein weit verzweigtes Netz von Gleichgesinnten hat, organisiert grösstenteils über Chatgruppen. Schnell war klar, dass in der Gruppe nicht nur vage Umsturzfantasien zirkulierten, sondern konkrete Pläne, militante Aktionen vorzubereiten. Sie sollen sogar schon Waffen beschafft haben.

Was die Verfassungsschützer bei ihren Beobachtungen zu hören und sehen bekamen, waren – neben dem üblichen Reichsbürger-Geschwurbel – offenbar konkrete Vorbereitungen für einen gewaltsamen Umsturz. Die Hessen informierten daraufhin andere Behörden, insbesondere das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), über die Vorgänge. Die Zahl der Personen, die nun weiter ins Visier gerieten, wuchs von Woche zu Woche.

Im September schliesslich übernahm der Generalbundesanwalt das Verfahren. Der beauftragte das Bundeskriminalamt (BKA) mit den Ermittlungen, Landeskriminalämter wurden eingeschaltet. Die Aktion erhielt den Tarnnamen «Schatten». Seither habe die Beamten die Rechts-Verschwörer engmaschig observiert, Telefon- und Internetüberwachung inklusive.

Offenbar bereits neue Armeeuniformen in Auftrag gegeben

Die Ermittler stiessen auf einen ebenso wahnsinnigen, wie beunruhigenden Plan der Zelle: Die Stürmung des Deutschen Bundestags. Nach Erkenntnis der Sicherheitsbehörden wollte die Gruppe erst im März, dann wohl Anfang September dieses Jahres mit Waffengewalt in das Parlament eindringen, Abgeordnete festnehmen und sie in Handschellen aus dem Plenarsaal führen. Den Zugang zum Bundestag sollte demnach offenbar die frühere AfD-Abgeordnete Malsack-Winkemann sicherstellen. Sie sass zwischen 2017 und 2021 für die Rechtspartei im Bundestag und verfügte allem Anschein nach immer noch über eine Zugangsberechtigung.

Der Umsturz im Regierungsviertel sollte den Ermittlungen zufolge über ein spezielles Codewort im Radio verkündet werden. Am Ende des geplanten Putsches sollte womöglich die Ausrufung einer neuen Regierung stehen, mit Heinrich XIII. Prinz Reuss an der Spitze – und eine neue deutsche Armee. Das Netzwerk soll grob eingeteilt gewesen sein, in «Regierung» und «Militär». Für Letztere sollen bereits neue Uniformen in Auftrag gegeben worden sein. Für die Waffenbeschaffung soll ein ehemaliger AfD-Stadtrat aus Sachsen zuständig gewesen sein, der als Sportschütze auch legal Schusswaffen besitzt.

Die Sicherheitsbehörden sind sich sicher, dass die Umstürzler es geschafft haben, eine ganze Schar an ehemaligen Bundeswehrangehörigen für ihre Idee zu gewinnen. Die Ex-Soldaten sollen sogar regelrechte Verpflichtungserklärungen unterschrieben und «Heimatkompanien» gegründet haben.

Warum der Plan letztlich nicht in die Tat umgesetzt wurde, ist bislang unklar. Den Ermittlungen zufolge war das Vorhaben aber so detailliert vorbereitet, dass die Fahnder sich nun veranlasst sahen, gegen die mutmassliche Terrorzelle vorzugehen. Auch aus Sorge, dass einige der Radikalisierten eventuell alleine zuschlagen könnten. So soll die Gruppe nach Recherchen von SZ, WDR und NDR höchst konspirativ gearbeitet haben. Immer wieder, so heisst es in Sicherheitskreisen, hätten sie beispielsweise Mobilfunknummern gewechselt. Und immer wieder sei vom «Tag X» gesprochen worden.

Reuss’ Rede in Zürich zieht Aufmerksamkeit der AFD auf sich

Aus abgehörten Gesprächen soll hervorgehen, dass die Radikalisierung in der Gruppe ziemlich weit fortgeschritten war. Es soll erwähnt worden sein, dass eine mächtige Organisation im Hintergrund die Pläne des Umsturzes unterstütze und vorantreibe. Die Rede war von der «Allianz».

Nach den bisherigen Erkenntnissen der Ermittler sollen Prinz Reuss und die AfD-Politikerin Malsack-Winkemann die treibenden Kräfte hinter dem geplanten Komplott gewesen sein. Malsack-Winkemann gehörte der ersten Fraktion der AfD im Bundestag an, sass vier Jahre lang im Haushaltsausschuss. 2021 wurde sie nicht wiedergewählt. Als die Berliner Justizsenatorin Lena Kreck sie wegen Zweifel an ihrer Verfassungstreue nicht mehr auf ihrem alten Richter-Posten haben und in den einstweiligen Ruhestand abschieben wollte, klagte sie kürzlich erfolgreich vor dem Berliner Verwaltungsgericht auf Wiedereinsetzung. In der AfD galt sie bislang aufgrund ihrer öffentlichen Äusserungen als vergleichsweise gemässigt. Sie soll jedoch auch Kontakte zu radikalen Köpfen der Partei haben. AfD-Insider sagen, sie habe sich seit ihrem Ausscheiden aus dem Parlament radikalisiert. Ihr Name taucht auch in den Verfassungsschutzgutachten rund um ein mögliches AfD-Verbot wegen ihrer Aussagen zur Geflüchtetenpolitik auf.

Wie genau sich Malsack-Winkemann und der als Rädelsführer der Gruppe geltende Prinz Reuss kennengelernt haben, ist den Ermittlern bislang unbekannt. Allerdings hatte Reuss nach seiner Rede in Zürich im Januar 2019 das Interesse von AfD- und rechtslibertären Kreise auf sich gezogen. Seither sollen mehrere AfD-Politiker Kontakt mit ihm aufgenommen haben.

Die deutschen Sicherheitsbehörden ordnen den «adeligen» Rechtsausleger schon seit einigen Jahren der Reichsbürger-Szene zu. Er soll innerhalb Deutschlands, aber auch in die Schweiz und in Österreich bestens vernetzt sein. Der Verfassungsschutz geht ausserdem der Frage nach, ob der Unternehmer möglicherweise über seine Lebensgefährtin Vitalia B. Kontakte zu staatlichen Stellen in Russland geknüpft hat: Er wurde in diesem Jahr dabei beobachtet, wie er das russische Generalkonsulat in Leipzig besuchte. Wollte sich Prinz Reuss dort Rückendeckung für seinen Putsch holen?

Gezielt Soldaten und und Polizisten rekrutiert

Was die Ermittler in dem Verfahren gegen die Reichsbürger-Zelle besonders beunruhig hat: Zum Kreis der Verschwörer gehören nach ihren bisherigen Erkenntnissen auch ehemalige Elitesoldaten. Darunter der Ex-KSK-Oberst Maximilian E., der 2021 als Fluthelfer im Ahrtal auftrat und auch bei mehreren Querdenker-Veranstaltungen als Gastredner sprach. Offenbar hatten die Möchtegern-Putschisten durch die ehemaligen Soldaten nicht nur Zugang zu Waffen, sondern auch das Know-how um den Bundestag mit Waffengewalt zu stürmen. «Man sollte das KSK mal nach Berlin schicken und hier ordentlich aufräumen. Dann könnt ihr mal sehen, was die können», soll E. während der Corona-Pandemie gedroht haben.

Zu den weiteren Beschuldigten gehört auch Rüdiger von P., ein ehemaliger Oberstleutnant der Bundeswehr, der in den 90er-Jahren Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons in Calw war – ehe dort 1996 das Kommando Spezialkräfte (KSK) gegründet wurde. Er soll der militärische Kopf des geplanten Komplotts gewesen sein und versucht haben, gezielt Polizisten und Soldaten für die Gruppe zu rekrutieren. Der vorbestrafte Ex-Kommandeur war vor der Wende General der Nationalen Volksarmee der DDR – und anschliessend bei den Fallschirmjägern der Bundeswehr unter anderem für die Beschaffung von Waffen aus NVA-Beständen verantwortlich. Ende der 1990er Jahre musste der Mann dann die Bundeswehr verlassen, weil er vor Gericht wegen Verstosses gegen das Waffengesetz und Unterschlagung verurteilt worden war.

Nach seinem Rauswurf aus der Bundeswehr ging Rüdiger von P. nach Brasilien, von wo aus er jedoch weiterhin Kontakte zu ehemaligen und aktiven Bundeswehrsoldaten gepflegt haben soll. Nach Informationen aus Sicherheitskreisen soll sich P. inzwischen regelmässig bei seiner Tochter in Süddeutschland aufhalten, unter rechtsradikalen Bundeswehrsoldaten soll der einstige Fallschirmjäger eine Art «graue Eminenz» sein. Auffällig wurde P. auch durch verschwörungsideologische Inhalte, die er im Internet verbreitet haben soll. Über ein solches Forum geriet er wohl auch in Kontakt mit einem anderen ehemaligen Bundeswehrsoldaten, der nun ebenfalls im Visier der Ermittler steht.

Beamte finden Liste mit Namen von Politikern und Personen des öffentlichen Lebens

Zum militärischen Arm der Terrorzelle sollte wohl auch Peter W. gehören. Auch er hat in den 1990er Jahren bei den Spezialkräften der Bundeswehr gedient. Mittlerweile bietet der Mann in Oberfranken Seminare für das Überleben im Wald an. Bereits im März soll ein Treffen zwischen Peter W. und zwei weiteren verdächtigen Personen im oberfränkischen Waischenfeld stattgefunden haben. Dabei soll auch der Plan eines Angriffs auf das Berliner Parlamentsgebäude besprochen worden sein, mit der Verabredung, dafür Freiwillige zu rekrutieren, insbesondere ehemalige oder aktive Fallschirmjäger und KSK-Soldaten.

Bei dem Treffen im Fränkischen soll auch Sven B. dabei gewesen sein, gegen den der Generalbundesanwalt bereits in einem anderen Verfahren ermittelt: Eine Gruppe Rechtsextremisten und Reichsbürger, die sich «Vereinte Patrioten» nannte, soll geplant haben, Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach während einer Talkshow zu entführen und durch gezielte Anschläge «Blackouts» in Deutschland herbeizuführen. Anschliessend sollte ein Staatsstreich stattfinden und eine neue Regierung von Putschisten durch das Putin-Regime in Russland anerkannt werden, so zumindest die Fantasien der Verschwörer. Sven B. und weitere Beschuldigte sitzen deshalb seit April in Untersuchungshaft.

Auch bei Peter W. war damals durchsucht worden. Die Ermittler sollen dabei auf Waffen, grössere Mengen Munition und andere Ausrüstung gestossen sein. So etwa auf eine Pistole, sechs Magazine für Gewehre, Fesselungsmaterial, NS-Devotionalien. Auf einem Handy entdeckten die Ermittler zudem ein Foto von zwei Maschinenpistolen.

Ausserdem fanden die Beamten bei der Durchsuchung im Frühjahr eine Liste mit Namen von Politikern und Personen des öffentlichen Lebens, dazu zahlreiche Fotos von Regierungsgebäuden, öffentlichen Einrichtungen und Botschaften in Berlin. Die Aufnahmen sollen aus dem August 2021 stammen. Eines der Bilder zeigt das Paul-Löbe-Haus, das zu den Bundestagsgebäuden gehört und in dem etliche Parlamentarier ihre Büros haben. Und noch ein Foto fanden die Ermittler: eines vom Schloss Bellevue, dem Dienstsitz des  deutschen Bundespräsidenten.



Grossrazzia in der deutschen Reichsbürgerszene

Die deutsche Bundesanwaltschaft hat am Mittwochmorgen 25 Menschen aus der sogenannten Reichsbürgerszene im Zuge einer Razzia festnehmen lassen.

Rund 3000 Beamte seien in elf Bundesländern im Einsatz, sagte eine Sprecherin der obersten deutschen Anklagebehörde der Deutschen Presse-Agentur. Sie wirft den Beschuldigten vor, den Umsturz des Staates vorbereitet zu haben.

22 der Festgenommenen sollen Mitglieder einer terroristischen Vereinigung sein, zwei davon Rädelsführer. Drei weitere gelten als Unterstützer. Zudem gebe es 27 weitere Beschuldigte, sagte die Sprecherin. «Wir haben noch keinen Namen für diese Vereinigung», sagte sie. Sie begründe sich wohl auf Verschwörungsmythen.
(https://www.derbund.ch/der-prinz-der-putsch-und-der-poebel-468405745658)



zeit.de 07.12.2022

Reichsbürger-Verschwörung: Der Prinz, die Richterin und ein geplatzter Staatsstreich

Mit bundesweiten Razzien zerschlagen Ermittler eine Verschwörung im Reichsbürgermilieu. Spuren führen in die Bundeswehr und zu einer Ex-Bundestagsabgeordneten.

Von Christian Fuchs, Astrid Geisler und Holger Stark

Mit einer Festnahmewelle sind Ermittler gegen ein bundesweites Netzwerk von Rechtsextremisten und Reichsbürgern vorgegangen, die offenbar einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland geplant haben. Seit den frühen Morgenstunden durchsuchten 3.000 Polizisten mehr als 130 Häuser und Wohnungen in ganz Deutschland. Die Antiterroreinheit GSG9 durchkämmte auf der Suche nach einem Bundeswehrangehörigen und Beweisen eine Liegenschaft des Kommandos Spezialkräfte (KSK) in Calw.

Dem Netzwerk sollen 52 Beschuldigte angehören, 25 Personen wurden festgenommen. Es handelt sich um eines der größten Terrorverfahren seit vielen Jahren. Es unterscheidet sich von ähnlichen Fällen nicht nur durch die Dimension und weitverzweigte Struktur mit diversen Untergruppen, sondern auch durch die Zusammensetzung der Beschuldigten: Zu den Verschwörern sollen mit Heinrich XIII. auch ein Prinz eines alteingesessenen deutschen Adelsgeschlechts sowie die frühere Bundestagsabgeordnete der AfD, Birgit Malsack-Winkemann, zählen, dazu ein ehemaliger Kommandeur einer Eliteeinheit der Bundeswehr. Zudem prüfen die Sicherheitsbehörden Verbindungen nach Russland. Am Mittwochmorgen, nur Minuten vor Beginn der Razzia, postete einer der Verdächtigen auf Telegram noch: „Es wird sich alles drehen: die bisherigen Staatsanwälte und Richter sowie zuständigen Leiter der Gesundheitsämter samt Vorgesetzten werden sich bald auf der Anklagebank in Nürnberg 2.0 wiederfinden…“

Die Ermittlungen werden vom Generalbundesanwalt wegen des Verdachts auf Bildung einer terroristischen Vereinigung geführt, als Rädelsführer gelten der Prinz sowie der ehemalige Bundeswehr-Kommandeur. Nach Erkenntnissen der Fahnder unterteilte sich die konspirative Struktur in einen politischen Flügel, genannt der „Rat“, sowie einen militärischen Flügel, dessen Aufgabe der bewaffnete Umsturz war. Der Gruppe, die sich seit November 2021 getroffen habe, sei klar gewesen, dass diese „nur durch den Einsatz militärischer Mittel und Gewalt gegen staatliche Repräsentanten verwirklicht werden“ könne. Einzelne Verschwörer des militärischen Arms sollen laut Ermittlern unter anderem einen Angriff auf den Bundestag und die Geiselnahme von Abgeordneten erwogen haben.

Elektromagnetische Impulse hätten in dem Szenario zu einem Stromausfall führen sollen, als eine Art Fanal. Damit sollte die Bevölkerung dazu gebracht werden, sich dem Aufstand anzuschließen. Im Herbst hatte eine Gruppe von Umstürzlern bereits den Besuch des Reichstages geplant, mutmaßlich zum Ausspähen des Parlaments. Das hat bei den Sicherheitsbehörden große Unruhe ausgelöst, die Ermittler hatten bereits die Festnahme der Rechtsextremisten vorbereitet. Doch der Besuch fiel aus.

Sogar ein Schattenkabinett stand bereit

Wie eine postrevolutionäre Ordnung aussehen sollte, war unter den Verschwörern noch umstritten. Allerdings waren die Pläne wohl weit fortgeschritten: So hatte man bereits den Prinzen als mögliches neues Staatsoberhaupt auserkoren, dem sogar ein persönlicher Referent zuarbeitete. Weitere Kabinettsposten etwa für „Gesundheit“ oder „Außen“ sollten Paul G., René R., Melanie R. und Ruth L. einnehmen. Als Justizministerin war laut Bundesanwaltschaft die AfD-Frau und Richterin Birgit Malsack-Winkemann, 58, vorgesehen, die 2013 in die AfD eintrat und bis 2021 für die Partei im Bundestag saß. Zuletzt hatte sie Schlagzeilen gemacht, weil die Berliner Justizverwaltung ihr die Tätigkeit als Richterin am Berliner Landgericht untersagen wollte, damit aber vor dem Verwaltungsgericht gescheitert war.

Malsack-Winkemann, die seit Monaten überwacht worden ist, gilt unter Parteifreunden, Bekannten und Parlamentariern als Anhängerin von Verschwörungstheorien mit einer Neigung zur QAnon-Ideologie. Sie stehe der Reichsbürgerideologie nahe und glaube an Esoterik. Zuletzt soll sie innerhalb des Verschwörerkreises darauf gedrungen haben, möglichst bald aktiv zu werden. Am Mittwochmorgen umzingelten vermummte und schwer bewaffnete Spezialkräfte der Polizei ihr Haus am Berliner Wannsee. Malsack-Winkemann wurde festgenommen.

Unterschiedliche Meinungen gab es unter den Umstürzlern offenbar noch, was den geplanten Tag X auslösen sollte. In einigen Diskussionen war zunächst vom Tod der britischen Queen die Rede, in anderen von einer Naturkatastrophe. Mehrere Termine verstrichen. In den vergangenen Wochen haben sich die Stimmen gemehrt, die darauf drängten, endlich loszuschlagen. Unter anderem hatte die Gruppe bereits Satellitentelefone für eine sichere Kommunikation beschafft, die auch im Fall eines Ausfalls des Handynetzes funktionieren.

Mit den Festnahmen und Hausdurchsuchungen wollten die Ermittler verhindern, dass die Gruppe überraschend zuschlägt. Unklar war den Fahndern bis zuletzt, ob sich Teile der Gruppe bereits bewaffnet hatten; mehrere der Beschuldigten haben nicht nur eine aktive Dienstzeit bei der Bundeswehr hinter sich, sondern stehen auch im Verdacht, in der Vergangenheit heimlich Waffen beiseitegeschafft zu haben. Andere sind im Besitz eines Waffenscheins und dürfen damit legal eine Waffe führen.

Dem Netzwerk auf die Spur gekommen sind die Ermittler im April dieses Jahres bei einer Durchsuchung bei Peter W., einem ehemaligen Fallschirmjäger der Bundeswehr und Survival-Experten, der vor einigen Jahren in einem Interview prophezeit hatte: „Schon ein Stromausfall für wenige Tage könnte die öffentliche Ordnung in den Städten zusammenbrechen lassen.“
->  Extremismus: Bundesweite Razzia wegen geplanten Staatsstreichs: https://youtu.be/blWG3-NuSdI

Schusswaffen, Munition, Magazine

Als die Ermittler Mitte April W.s Wohnung bei Bayreuth durchsuchten, stießen sie auf Schusswaffen, Munition, Magazine, einen sogenannten Totschläger und eine Handgranatenattrappe – sowie einen Bekanntenkreis von ehemaligen Bundeswehrsoldaten. Darunter: Rüdiger von P., W.s früherer Vorgesetzter und Oberstleutnant a.D. im Fallschirmjägerbataillons 251 in Calw, einer Elitetruppe der Fallschirmspringer, aus der 1996 das Kommando Spezialkräfte (KSK) hervorging. P. stand schon damals im Verdacht, Waffen beiseitegeschafft zu haben, seinerzeit noch aus dem Bestand der Nationalen Volksarmee der DDR. 1996 schied er aus dem Dienst aus. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt ihn, den militärischen Flügel anzuführen, er gilt als Rädelsführer der Vereinigung.

Nach dem Waffenfund in Peter W.s Wohnung im April dieses Jahres begann das Bundesamt für Verfassungsschutz, sämtliche Erkenntnisse aus dem Umfeld der Ex-Soldaten zusammenzutragen. Operation Kangal, wie die Verfassungsschützer den Fall nannten, förderte diverse Querverbindungen und Kontakte zu weiteren Reichsbürgern zutage. Offenbar war die Szene nicht nur besser vernetzt als zunächst angenommen, sondern auch erstaunlich weit in den Planspielen eines Staatsstreiches. So weit, dass die Verschwörer bereits ungeniert in Kreisen ehemaliger und noch aktiver Polizisten und Soldaten zu rekrutieren begonnen hatten. Laut Bundesanwaltschaft soll Rüdiger von P. einen achtköpfigen Führungsstab eingesetzt haben, der „sich unter anderem mit der Rekrutierung neuer Mitglieder, der Beschaffung von Waffen und anderen Ausrüstungsgegenständen, dem Aufbau einer abhörsicheren Kommunikations- und IT-Struktur, der Durchführung von Schießübungen“ und dem Aufbau sogenannter Heimatschutzkompanien befassen sollte, also bewaffneten paramilitärischen Verbänden.

Im Spätsommer gab der Verfassungsschutz die Ermittlungen an den Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt ab, das eine besondere Ermittlungsgruppe namens Schatten ins Leben rief – benannt nach dem von den Verschwörern eingesetzten Schattenkabinett.

Die GSG9 im Einsatz gegen ein KSK-Mitglied

Zu der Gruppe ehemaliger Bundeswehrsoldaten zählte etwa Maximilian Eder, ein Oberst a.D., der in den vergangenen zwei Jahren durch seine Aktivitäten in der Protestbewegung gegen die Corona-Politik bekannt wurde und dem militärischen Flügel der Putschisten angehören soll.

Seit der Hochwasserkatastrophe im Ahrtal engagierte sich Eder so lautstark im Milieu der Querdenker und Reichsbürger, dass die Bundeswehr laut Medienberichten ein Disziplinarverfahren gegen ihn einleitete. Eder schreckte das nicht ab, im Gegenteil: Zuletzt verbreitete er auf Social Media Umsturzgedanken – es werde „eng für ein verrottetes, missbrauchtes und in die Enge getriebenes System“, schrieb Eder. Noch vor Weihnachten werde man mit dem „Akt der Vergeltung“ beginnen und die „Katharsis“ einleiten. Und dann, raunte er, „werden sich so Etliche warm anziehen müssen, nicht nur wegen fehlendem Gas!!!“

Mindestens ebenso brisant gilt unter Ermittlern der Fall von Andreas M., der noch bei der Bundeswehr beschäftigt ist, in der Logistik der Eliteeinheit KSK in Calw. Seine Verachtung für das demokratische System der Bundeswehr hat M. kaum kaschiert, er gilt als Anhänger des Deutschen Reichs. Aus Angst, er könnte bewaffnet sein und sich bei seiner Festnahme wehren, übernahm die Spezialeinheit der Bundespolizei GSG9 den Zugriff. Eine Eliteeinheit, die GSG9, im Einsatz gegen Angehörige einer anderen Eliteeinheit, des KSK – das hat es in der deutschen Geschichte auch nur selten gegeben.

Die wohl schillerndste Figur unter den Beschuldigten ist freilich Heinrich XIII., Prinz Reuß, ein Nachfahre des Reuss’schen Adelsgeschlechts, das etwa seit dem Jahr 1200 in Thüringen herrschte. Zuletzt pendelte der Prinz, 71, zwischen dem thüringischen Bad Lobenstein, wo ihm ein Jagdschloss gehört, und Frankfurt am Main, wo er eine Immobilienfirma führt.

Der Putsch-Prinz hält die Bundesrepublik für keinen souveränen Staat und schwärmt von der Monarchie. Seit Jahrzehnten pochte er darauf, dass ihm in Thüringen umfangreiche Ländereien und Güter zustehen, dafür hat er Prozess um Prozess geführt, die meisten davon allerdings mit keinem guten Ausgang für ihn. Glaubt man den anderen Adligen der Familie, dann hat sich Heinrich XIII. in den vergangenen Jahren schleichend radikalisiert. Er sei ein „teilweise verwirrter alter Mann, der verschwörungstheoretischen Irrmeinungen aufsitzt“, so sagt es das Oberhaupt des Reuss’schen Adelsgeschlechts, Fürst Heinrich XIV.

Die Gewaltenteilung? „Eine Illusion.“ Kriege und Revolutionen? Finanziert vom jüdischen Finanzkapital und den Freimaurern, Familien wie den Rothschilds. 2019 behauptete der Prinz bei einer Rede mit antisemitischem Unterton in Zürich, das Ziel des Ersten Weltkriegs sei es unter anderem gewesen, die „Verbreitung der jüdischen Bevölkerung voranzutreiben“.

Besuch im russischen Generalkonsulat

Wie der Prinz ins Umfeld der Verschwörergruppe gelangte, ist noch unklar, aber er gilt neben Rüdiger von P. als zweiter Rädelsführer und soll Teile der Ausrüstung mitfinanziert haben. Anfang Juni beobachteten die Ermittler seine russischstämmige Partnerin Vitalia B. dabei, wie sie im russischen Generalkonsulat in Leipzig verschwand. Einige Tage später, am russischen Nationalfeiertag, besuchten der Prinz und seine Partnerin das Konsulat erneut. Offen ist, ob sie dort ein politisches Anliegen hatten oder nur aus persönlichen Motiven vorsprachen, der Verdacht der Ermittler ist, dass auf diese Weise Verbindungen zur russischen Regierung etabliert werden sollten. Laut Bundesanwaltschaft gibt es allerdings keine Belege dafür, dass die russische Regierung positiv reagiert hätte.

Zuletzt hatte eine andere, im Frühjahr festgenommene Gruppe von Rechtsextremisten geplant, Kontakt mit der russischen Regierung aufzunehmen. In Russland hatten sie nach einer geplanten Entführung des Bundesgesundheitsministers Karl Lauterbach (SPD) für eine Anerkennung einer neuen deutschen Reichsregierung werben wollen.

In Sicherheitskreisen gilt die Mischung aus Adligen, einer AfD-Politikerin und ehemaligen und einem noch aktiven Soldaten als hochexplosiv. Das mutmaßliche Verschwörernetzwerk sei die „gefährlichste Form der Reichsbürgerbewegung, die wir uns überhaupt vorstellen konnten“, gab ein Beamter bekannt – jenes Milieus also, das die Bundesrepublik Deutschland in ihrer jetzigen Form ablehnt und sich das Deutsche Reich zurückwünscht. Es handele sich um eine „aufrührerische Dimension ungekannten Ausmaßes“.

Die Übergänge von radikaler politischer Programmatik zu esoterischer Verschwörungserzählung sind in der Gruppe allerdings fließend. So hatten einige der Putschisten bereits nach so bezeichneten Sehern Ausschau gehalten, Spezialisten mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, deren Aufgabe es sein sollte, die Menschen nach dem Umsturz auf Chip-Implantate zu durchleuchten. Denn weite Teile der Bevölkerung, daran gibt es für die Verschwörer kaum Zweifel, würden längst von Bill Gates und der Pharmaindustrie kontrolliert.

Mitarbeit: Luisa Hommerich, Christina Schmidt, Martín Steinhagen, Sascha Venohr

Der Text wurde um eine Stellungnahme der Bundesanwaltschaft aktualisiert.
(https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-12/razzien-rechtsextreme-verschwoerung-putsch-birgit-malsack-winkemann-afd/komplettansicht)