Medienspiegel 3. Dezember 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
„Ich kann nicht einfach mit dem Zug reisen“
Der öffentliche Raum ist für alle gedacht, aber nicht für alle ist er gleich zugänglich. Es gibt Hürden und Barrieren, um den öffentlichen Raum frei zu nutzen und sich dort wohlzufühlen. Im Beitrag von Simone Keller erzählt Dilan Özçelik wie sie den Zugang zum öffentlichen Raum als asylsuchende Person erlebt. Sie erzählt von den Barrieren, die sie im öffentlichen Raum spürt, an welchen Orten sie gerne ist und warum inwiefern der Zugang zum öffentlichen Raum Freiheit bedeutet.
https://rabe.ch/2022/12/03/ich-kann-nicht-einfach-mit-dem-zug-reisen/


+++NIDWALDEN
Und zwischen uns ein Berg
Mit «Rotzloch» ist Maja Tschumi ein ausserordentlicher Film gelungen, der hoffentlich Bewegung in den platten Asyldiskurs bringt. Am 6. Dezember ist die St.Galler Premiere im Kinok.
https://www.saiten.ch/und-zwischen-uns-ein-berg/


+++GASSE
Auf Reportage bei Suchtbetroffenen in Luzern – «Wo sollen wir hin?»: Das sagen Menschen auf der Gasse
Die Szene der sucht- und armutsbetroffenen Menschen ist zersplittert. Am Kasernenplatz in Luzern werden Drogen konsumiert – im Aldi vor der Bruchstrasse wird in Ruhe ein Prosecco getrunken. Doch wie wohl und willkommen fühlt sich die Szene in dieser Stadt? Wir haben uns dazu gesetzt.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/wo-sollen-wir-hin-das-sagen-menschen-auf-der-gasse-2495925/


Luzern will Bewilligung fürs Betteln
Der Kanton Luzern muss sein Bettel-Verbot lockern. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden. Jetzt soll jeder und jede die betteln will, zuerst eine Bewilligung holen. Während die SVP, die Mitte und auch die SP dafür sind, sind die Grünen klar gegen so eine Bewilligungspflicht.
https://www.tele1.ch/nachrichten/luzern-will-bewilligung-fuers-betteln-149041423
https://www.tele1.ch/nachrichten/luzern-will-bewilligung-fuers-betteln-149041423
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/bettel-bewilligungspflicht-bettel-bewilligungspflicht-sorgt-fuer-kritik-der-kanton-luzern-sieht-gespraechsbedarf-ld.2376274


+++REPRESSION DE
Letzte Generation: Verfassungsschützer warnt vor Unterwanderung der Klimaproteste
Linksextreme könnten die Klimaproteste eskalieren, fürchtet der Chef des Thüringer Verfassungsschutzes. Er warnt aber davor, die Bewegung „politisch zu diskreditieren“.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2022-12/letzte-generation-verfassungsschutz-linksextremismus-unterwanderung


+++KNAST
solothurnerzeitung.ch 03.12.2022

Gefängnis und Solothurner Spitäler AG arbeiten zusammen: «Die Insassen der Justizvollzugsanstalt werden regelmässig begutachtet»

Lutz-Peter Hiersemenzel leitet die forensische Psychiatrie im Kanton Solothurn. Er erklärt, was für die seelische und geistige Gesundheit der Häftlinge getan wird und warum sogar die Freizeitgestaltung zum Stress werden kann.

Daniela Deck

Viele Häftlinge in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Solothurn benötigen psychiatrische Hilfe. Deshalb arbeitet die JVA mit der Psychiatrie der Solothurner Spitäler AG (soH) zusammen. Dafür ist Lutz-Peter Hiersemenzel, Chefarzt der forensischen Psychiatrie, verantwortlich. Er sagt, was geschieht, wenn ein Häftling eine Psychose hat, und wie neue Erkenntnisse umgesetzt werden.

Die JVA ist für die Behandlung von Persönlichkeits- und Sexualpräferenzstörungen eingerichtet, nicht aber für akute Psychosen und Schizophreniefälle. Wie funktioniert die Triage?

Lutz-Peter Hiersemenzel: Hier muss man immer sorgfältig den Einzelfall anschauen. Die Diagnose allein sagt hierzu wenig. Auch Rechtsbrecher mit einer Schizophrenie, insbesondere, wenn sie medikamentös gut behandelt sind, können sehr von dem hochstrukturierten Setting der JVA profitieren und schätzen es, dass es einen Arbeitsplatz und ein breites Freizeitangebot gibt, was in den forensischen Kliniken meist so nicht angeboten werden kann. Für andere ist das eher überfordernd.

Was geschieht, wenn sich bei einem JVA-Häftling plötzlich eine Psychose manifestiert oder wenn er nach dem Abklingen einer solchen (zurück) in die JVA verlegt werden soll?

Bei ersten Anzeichen einer Psychose versuchen wir, den Patienten für eine angemessene Medikation zu gewinnen. Wenn das nicht gelingt, wird eine Klinik gesucht, die bereit ist, ihn aufzunehmen. Die psychiatrische Klinik der soH hat keine Station, die über eine ausreichende Sicherheit und forensisch ausgebildetes Fachpersonal für die Unterbringung von Straftätern verfügt. Eine Verlegung erfolgt daher in aller Regel in hierfür spezialisierte Einrichtungen, wie beispielsweise die Station Etoine auf dem Areal der UPD Waldau oder die Bewachungsstation der Insel Bern. Andere forensische Kliniken haben kaum je ein Bett für ausserkantonale Krisenfälle verfügbar beziehungsweise lange Wartezeiten.

Die Forensik entwickelt sich stetig. Wie ist das Vorgehen, wenn aufgrund einer solch neuen Erkenntnis eine Massnahme in der JVA angepasst werden soll?

Die Insassen der JVA werden regelmässig begutachtet. In gemeinsamen Fallbesprechungen der Psychiater, Psychotherapeuten und der Vollzugsseite werden allfällig neue Erkenntnisse aufgegriffen sowie bewertet und, falls nötig, der Vollzugsplan angepasst.

Das Gesundheitswesen und besonders die Psychiatrie kämpfen mit Fachkräftemangel. Haben soH und JVA im forensischen Bereich genügend qualifiziertes Personal?

Die Personalfrage ist tatsächlich sehr herausfordernd. Nur mit viel Engagement und Vernetzung gelingt es heute, die Stellen noch zu besetzen. Freiwerdende Stellen können meist nicht sofort wiederbesetzt werden. Aktuell konnte für die derzeit noch letzte freie Psychotherapiestelle eine geeignete Fachperson gefunden werden, sodass ab 1. Februar 2023 im Bereich des Departements Forensik alle Stellen in der JVA mit qualifiziertem Personal besetzt sind. Langfristig sieht es sehr kritisch aus, insbesondere beim Nachwuchs an forensischen Psychiaterinnen und Psychiatern.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/psychiatrie-jva-und-soh-arbeiten-zusammen-die-insassen-der-jva-werden-regelmaessig-begutachtet-ld.2381348)


+++FRAUEN/QUEER
nzz.ch 03.12.2022

Soll die Schweiz das «Heilen» von Homosexuellen verbieten? Darüber soll das Parlament entscheiden

Die medizinische Fachwelt lehnt Therapien ab, die aus gleichgeschlechtlich orientierten Menschen Heterosexuelle machen wollen. Am Montag debattiert nun zuerst der Nationalrat über ein Verbot.

Irène Troxler

Im freikirchlichen Milieu und in konservativ-christlichen Kreisen ist der Gedanke populär, dass Homosexualität heilbar sei. In der Bibel wird sie bekanntlich als Sünde dargestellt. Entsprechend stürzen Angehörige solcher Gruppierungen oft in eine Krise, wenn sie spüren, dass sie sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlen. Hilfe versprechen dann selbst ernannte Therapeuten, die Homosexuelle «umpolen» wollen.

Die Assoziation Schweizer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten verurteilt solche Konversionstherapien als unethisch und gesundheitsschädigend. Homosexualität gilt schon lange nicht mehr als Krankheit. 1990 hat die WHO die gleichgeschlechtliche Liebe von der Liste der Krankheiten gestrichen. In Deutschland, Frankreich, Israel und Griechenland wurden derartige Umpolungsversuche in den letzten Jahren verboten. Auch in der Schweiz plädieren die Berufsverbände von Psychiatrie und Psychologie für ein Verbot. Sie sprechen von weltanschaulicher oder religiöser Indoktrinierung.

Kommissionsmehrheit für Verbot

Am Montag, 5. Dezember, steht ein schweizweites Verbot solcher Praktiken im Nationalrat zur Debatte. Die Kommission für Rechtsfragen hat das Thema mit einer Motion auf den Tisch gebracht. Die Kommission hat allerdings zwei Einschränkungen formuliert: Einerseits soll das Verbot nur für Therapien bei Minderjährigen und jungen Erwachsenen gelten. Andererseits fallen ergebnisoffene Auseinandersetzungen mit der eigenen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität nicht darunter. Das bedeutet: Geschlechtsangleichungen sollen weiterhin erlaubt sein, ebenso wie dahingehende Therapien.

Die Mehrheit der vorberatenden Nationalratskommission hat sich bereits für das vorgeschlagene Verbot ausgesprochen. Nur die Vertreter der SVP stimmten dagegen.

Allerdings ist auch der Bundesrat gegen ein Verbot, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt. Sein Einwand: Zuerst müssten die gesetzgeberischen Kompetenzen des Bundes auf diesem Gebiet geprüft werden. Tatsächlich wurden bereits in diversen Kantonen (Zürich, Genf, beiden Basel, Solothurn, Schwyz und Waadt) parlamentarische Vorstösse für ein Verbot eingereicht. Man prüfe nun die Notwendigkeit einer schweizweiten gesetzlichen Regelung, schreibt der Bundesrat. Das Parlament solle doch diesen Bericht abwarten, bevor es entscheide, schlägt die Regierung dem Nationalrat vor.

Zufluchtsort für «Homo-Heiler»

Derweil warnen LGBTQ-Vertreter davor, dass die Schweiz zu einem Zufluchtsort für «Homo-Heiler» werden könnte, wenn sie von einem Verbot absehen sollte. Sie verweisen auf die deutsche «Bruderschaft des Weges», eine Gruppierung homosexueller christlicher Männern, die kürzlich einen Verein mit Schweizer Sitz gegründet hat. Zuvor war die Organisation im schwäbischen Tamm angesiedelt gewesen. Die Bruderschaft ging aus einer Organisation hervor, die für Konversionstherapien bekannt ist. Sie sieht sich durch das neue Gesetz in Deutschland diskriminiert, obwohl sie behauptet, keine solchen Heilungen anzubieten.
(https://www.nzz.ch/schweiz/soll-die-schweiz-das-heilen-von-homosexuellen-verbietenerbot-von-ld.1715333)



aargauerzeitung.ch 03.12.2022

Das Wort «schwul» als Schimpfwort – so denken Aargauer Jugendliche über Homosexualität

Wie tolerant sind Aargauer Jugendliche mit Gleichaltrigen, die nicht heterosexuell sind? Gespräche legen nahe: Vor allem junge Männer haben es schwer. Es braucht wenig bis zur Eskalation.

Livia Häberling

Zu zweit sitzen sie auf dem Stoffsofa des Jugendtreffs. Der Ältere der beiden ist 16-jährig, beginnt im Sommer eine Lehre als Automechaniker, und die Frage an ihn lautet: Wie würdest du damit umgehen, wenn dein Kumpel schwul wäre?

Er deutet also mit dem Zeigefinger auf den Jüngeren, 15-jährig, bald Maurerlehrling, und stemmt die Trophäe eines Halbwüchsigen: «Undenkbar – so viele Mädchen, wie der schon hatte!»

Er halte, offen gesagt, nicht viel «von diesem L-G-B-T-Q», das er einmal einen «Scheiss» nennt und ein anderes Mal nur mit Hilfe buchstabieren kann. Aber sie stünden sich immerhin so nah wie Brüder. «Deshalb kann ich ihn nicht im Stich lassen.»

Mit vollem Namen würde der junge Mann öffentlich nicht zu seinen Aussagen stehen. Deshalb werden sie im Text anonymisiert. Darum soll es bei dieser Recherche schliesslich gehen: um Ehrlichkeit. Was denken Jugendliche aus dem Kanton Aargau tatsächlich über ihre Mitschülerinnen und Mitschüler, wenn diese nicht heterosexuell sind, sondern anders lieben? Und wie gehen sie mit ihnen um?

Mehr Sichtbarkeit bietet Angriffsfläche

Was die Gesetzeslage betrifft, haben die vergangenen Monate für Personen aus der LGBTQ-Gemeinschaft einige Verbesserungen gebracht. Im Februar 2020 haben die Stimmberechtigten die geltende Strafnorm gegen Rassismus an der Urne erweitert: um den Tatbestand der Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung. Seit Januar 2022 ist es möglich, Geschlecht und Vorname im Personenstandsregister unbürokratisch zu ändern. Und im September 2021 hat das Stimmvolk Ja gesagt zur «Ehe für alle». Seit 1. Juli 2022 können gleichgeschlechtliche Paare auch in der Schweiz heiraten.

Umsonst gab es diese Rechte selbstredend nicht. Um sie zu etablieren, brauchte die LGBTQ-Gemeinschaft eine Stimme, die in der Gesellschaft gehört wird. Und mehr Sichtbarkeit bietet Angriffsfläche. Bei der LGBTIQ-Helpline, die von einem Dutzend LGBTQ-Dachverbänden getragen wird, gingen im vergangenen Jahr 92 Meldungen ein. Doppelt so viele wie 2020. Fast die Hälfte der gemeldeten Fälle ereignete sich während der Abstimmungskampagne für die «Ehe für alle» – mitunter auch gegen Heterosexuelle.

Bereits enge Hosen und Regenbogensujets provozieren

Von physischen Gewalttätigkeiten gegenüber ihren Mitschülerinnen und Mitschülern berichten die beiden Jungs aus dem Jugendtreff nicht. Aber die Präsenz, die LGBTQ-Themen in der Gesellschaft und im Schulalltag erhalten, ärgert sie:

Es nervt, wenn Spieler an der Fussball-WM in Katar meinen, sie müssten «One Love»-Armbinden tragen.

Es nervt, wenn die Lehrerin im Matheunterricht Infoblätter über sexuelle Minderheiten verteilt.

Es reizt, wenn die Mitschülerin ihr Schulzeug in einer Regenbogentasche mit LGBTQ-Aufdruck transportiert, statt in einem unauffälligen Rucksack.

Es provoziert, wenn der Mitschüler eines Tages nicht mehr dieselbe Umkleidekabine benützen will, weil er sich als Mädchen fühlt.

Es provoziert noch mehr, wenn er dazu enge, leggingsartige Hosen trägt, bei denen man «alles sieht». Wenn er sich darin extra grazil bewegt «wie ein Mädchen». Oder wenn er «in künstlich erhöhter Stimmlage» spricht.

«Nichts gegen Schwule, Lesben oder trans Personen», sagen die beiden. Aber das gehe auch leiser, unauffälliger. Sie empfinden die Sichtbarkeit dieser Menschen als Provokation.

An mehreren Schulen formten sich LGBTQ-Gegenbewegungen

«Die LGBTQ-Thematik lässt in der Oberstufe wohl niemanden kalt», sagt Rico Plüss. Seit sechs Jahren arbeitet er als Schulsozialarbeiter in Brugg. Mit der AZ redet er als Vorstandsmitglied des Vereins Schulsozialarbeit Aargau (VESSAG), dem rund 200 Schulsozialarbeiterinnen und -arbeiter angehören. Sie alle seien eigenständig unterwegs, wie er betont. Gleichwohl dürften seine Aussagen durchaus als kantonale Tendenzen verstanden werden.

«Grundsätzlich stellen wir eine Tendenz zu mehr Pluralität und Anderssexualität fest», sagt Plüss. Sowohl die Sichtbarkeit als auch die Toleranz hätten nicht zuletzt durch die sozialen Medien zugenommen. Gleichzeitig spricht Plüss auch von gegenteiligen Erfahrungen. Zwei Fälle aus seinem Berufsalltag schildert er, es gäbe weitere.

Einmal suchte ein Junge Hilfe, dem in den sozialen Medien massive Gewalt angedroht wurde, nachdem er sich als homosexuell geoutet hatte. In einem anderen Fall formten sich Jugendliche aus mehreren Klassen zu einer Art LGBTQ-Gegenbewegung. Es kam zu homophoben Sprüchen. Ähnliche lose Zusammenschlüsse hätten auch in anderen Regionen im Aargau stattgefunden, sagt Plüss.

Schulniveau weniger entscheidend, Religion sehr wohl

Bei Konflikten rund um Anderssexualität hat sich für Rico Plüss das schulische Leistungsniveau der Schülerinnen und Schüler nicht als entscheidend erwiesen. Er betreut rund 600 Jugendliche aus der Bezirks-, Sekundar- und Realschule und er sagt, zu jeder Stufe kämen ihm Fälle in den Sinn.

Hingegen spiele häufig ein religiöser Hintergrund in den Konflikt hinein, sagt Plüss. Dieser könne fundamental-christlich, aber auch islamisch geprägt sein. Was ihm weiter auffällt: Sowohl Täter als auch Opfer sind in der Regel männlich. Plüss deutet das als Ausdruck eines Machtgefüges: «Wer sich in einer Hierarchie zuoberst sieht, der sieht sich auch in der Deutungshoheit darüber, wer mit seiner Verhaltensweise okay ist – und wer nicht.»

Das Wort «schwul» benützen sie als Schimpfwort

Die beiden jungen Männer im Jugendtreff betonen, sie hätten nichts gegen Homosexuelle. Und doch fühlen sie sich bereits von einer vermeintlich aufreizenden Bewegung oder einer zu hohen Stimme provoziert. Beide müssen auf Nachfrage eingestehen, dass sie das Wort «schwul» ab und zu als Schimpfwort benutzen, dass sie einen homosexuellen Kumpel bitten würden, seinen Freund ausserhalb ihres Blickfelds zu küssen. Würden sie mit ihm die Freizeit verbringen, dann nur, wenn er sich unauffällig, also möglichst heteronormativ, verhielte. «Sonst leide ich darunter, wenn es nachher heisst: ‹Wieso hängst du mit einem Schwulen ab?›»

Gewiss, zur Verallgemeinerung sind diese Aussagen ungeeignet. Sie widerspiegeln nicht den Querschnitt der Jugend, sondern lediglich die Einstellung von zwei Altersgenossen. Für einen breiteren Blick bietet sich die Arbeit von Patrick Weber an. Der 39-Jährige ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Im Rahmen seiner Dissertation hat er ein Modell entwickelt, um homonegatives Verhalten bei Jugendlichen zu untersuchen. Es handelte sich um die zweite Studie dieser Art und um die erste in der Deutschschweiz. Dazu befragte er 2210 Schülerinnen und Schüler in elf Kantonen.

Drei Viertel der Jugendlichen zeigen homophobe Mikroaggressionen

Es zeigte sich, dass sich ein Viertel der Teilnehmenden in den zwölf Monaten vor der Befragung gegenüber mindestens einer Person negativ verhalten hat, weil diese schwul ist oder weil angenommen wurde, dass sie es sei.

Fast die Hälfte der Jugendlichen zeigte negatives Verhalten gegenüber Gendernonkonformität bei Jungen. Etwa, wenn dieser sich vermeintlich wie ein Mädchen verhält, in dem er hautenge Hosen trägt.

Indirektes negatives Verhalten gegenüber Homosexualität ist bei den befragten Jugendlichen noch stärker ausgeprägt, wie die Studie ergab. Mehr als drei Viertel der Befragten legten mindestens einmal in den zwölf Monaten vor der Befragung ein solches Verhalten an den Tag. Weber nennt es auch «Mikroaggression». Darunter fällt etwa die Bezeichnung «schwul» als Schimpfwort. Solche Aussagen, schreibt er, würden sich zwar nicht direkt gegen eine schwule Person richten, allerdings wird dadurch die männliche Homosexualität abgewertet.

Bei sämtlichen Arten von negativem Verhalten gegenüber Homosexualität war der Anteil von Jungen höher als von Mädchen.

Ein voller Aufgabenköcher

Machen die Schulen heute genug, um Minderheiten zu schützen? Für Patrick Weber ist im Hinblick auf die Studienergebnisse klar, dass in den Schulen Handlungsbedarf besteht. Workshops, wie sie heute teils besucht werden, reichten bei weitem nicht aus, sagt er, vielmehr brauche es eine umfassende Sensibilisierung, die auch die Aus- und Weiterbildung der Lehrpersonen beinhalte.

Auch für Schulsozialarbeiter Rico Plüss ist klar, dass der Ort Schule wesentlich von der dort vorhandenen und gelebten Kultur geprägt wird. Er betont aber auch: «Der Umgang mit sexueller Vielfalt ist einer von derzeit vielen Brennpunkten, die sich in der Schule zeigen.» Entscheidend für eine gelingende Auseinandersetzung mit der Thematik sei zudem, dass auch Eltern in ihrer Rolle und Verantwortung in den Dialog miteinbezogen würden.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/lgbtq-jugendlicher-ueber-homosexualitaet-bei-kumpels-sonst-heisst-es-nachher-wieso-haengst-du-mit-einem-schwulen-ab-ld.2379666)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Satanismus-Vorwürfe: Klinik Littenheid kündigt Massnahmen an
«Wir haben sicher Fehler gemacht und wollen die Mängel umfassend aufarbeiten», sagt Klinik-Direktor Daniel Wild gegenüber SRF. Die vom Kanton Thurgau geforderten Massnahmen seien eingeleitet. Der Kanton hat mit seinem Untersuchungsbericht die Satanismus-Vorwürfe gegen die Klinik bestätigt.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/satanismus-vorwuerfe-klinik-littenheid-kuendigt-massnahmen-an?id=12296992



nzz.ch 03.12.2022

Systemkritik für Paranoiker – Verschwörungstheorien operieren mit dem Werkzeug der Aufklärung und stillen die Sehnsucht nach Vereindeutigung in einer komplexen Welt

Auch in der einigermassen rational aufgestellten modernen Welt lässt sich nicht alles, was geschieht, begründen und erklären. Genau dies aber tun zu können, ist die Behauptung von Verschwörungstheorien. Wahn wird hier zu Aufklärung und Aufklärung zu Wahn.

Robert Misik

Wenn nichts mehr zu glauben ist, dann ist auch alles irgendwie möglich. Die gut begründete Selbstkritik der Aufklärung mündete im Postulat, dass die Vernunft auch nur eine Illusion sei. Medien wiederum, die sich als Blödmaschinen betätigen, machen Fakten fragwürdig. Es könnte schliesslich das eine oder das andere wahr sein, und eine Politik als Show-Politik, in der Spin-Doktoren die Realität zu einem für sie günstigen Narrativ hinbiegen, hat längst schon jeden darauf trainiert, allen Aussagen zu misstrauen, auch den wahrhaftigen.

Erst hat das Fernsehen die Welt in ein Simulacrum verwandelt und dann das Internet in ein Geschichten-Tohuwabohu, an dem alle mitstricken können, mit deutlichen Vorteilen für Lügner und Manipulatoren. Wer noch auf die Wahrheit, Fakten und auf den Sinn für Komplexitäten setzt, ist ein naiver Trottel, der mit den Richtigstellungen nicht mehr nachkommen wird.

Wir sind angeschlossen an eine grosse Maschine, und, wie Pasolini in einer Art witternden Vorgefühls vor 37 Jahren sagte, selbst «nurmehr komische Maschinen, die aufeinanderprallen». Eine solche Situation ist den groteskesten Behauptungen günstig. Die Verschwörungstheorien schiessen ins Kraut. Dieses Problem wird regelmässig in aufklärerischer Absicht behandelt. Aber selten wird nach der sozialpsychologischen Eigenheit von Verschwörungstheorien gefragt, danach, was sie so attraktiv macht.

Nichts ist mehr zufällig

Heute sind Verschwörungstheorien meist mit politischem Extremismus verbunden, vornehmlich mit rechtem Extremismus, manchmal mit einem ideologisch unklaren Extremismus des Dagegenseins, der rechten und linken Jargon verbindet, seltener mit linkem Extremismus.

Dabei müssen Verschwörungsmythen gar nicht notwendigerweise mit Radikalisierung einhergehen. In den siebziger Jahren waren Ufo-Sichtungen beliebt, garniert mit Konspirationsgeraune («Die Mächtigen halten die Informationen vor uns geheim»), ebenso wie die vielen Enthüllungen darüber, wer Kennedy wirklich ermordet haben soll (CIA, Mafia, der militärisch-industrielle Komplex, Castro, der Kreml . . .). Doch nicht der Radikale war einst der paradigmatische Verschwörungsgläubige, sondern eher der Verschrobene. Überschneidungen waren möglich, aber nicht zwingend.

«Das Entlastende» an Konspirationstheorien sei, sagt Ulrike Schuster, «dass es keinen Zufall mehr gibt». Schuster wirkt in Österreich in der Bundesstelle für Sektenfragen, einer Beratungsstelle, die Angehörigen hilft, wenn die Nächsten abdriften. Wer in einen Tunnel gerät, dessen Denken nurmehr obsessiv um eines kreist, der wird den anderen fremd, auch jenen, die ihm am nächsten stehen. Die Selbstbestärkung-Feedback-Schleifen der Verschwörungstheorie-Milieus sind den psychologischen Spiralen im Sektenwesen durchaus ähnlich. Opium fürs Volk sind sie dennoch nicht, sondern eher das Aufputschmittel.

Verschwörungstheorien sind auch Formen, mit einer komplexen, unübersichtlichen Welt umzugehen. Was immer geschieht, es lässt sich zumindest erklären. Es gibt Täter, Hintermänner, die die Fäden ziehen. Wer in der realen Welt «nicht weiss, wie ihm geschieht», der weiss in der Phantasiewelt der Konspirationstheorie genau, was geschieht – und wo das Böse sitzt, gegen das vorgegangen werden müsste. Verständlich, dass das attraktiv sein kann. Komplexität macht leicht handlungsunfähig, Komplexitätsreduktion kann zumindest das Gefühl der Handlungsfähigkeit zurückgeben.

Gestus des Enthüllens

Rein phänomenologisch faszinierend ist, wie Verschwörungserzählungen Elemente des kritischen Denkens und des aufklärerischen Geistes gekapert haben. Etwa den Gestus des detektivischen Enthüllens. Den gesunden Verdacht gegenüber der Macht. Nüchtern gesehen ist es erstaunlich, wie gut es gelingt, Motive des Aufklärerischen, des Emanzipatorischen in den Dienst der Verblendung und des Fanatismus zu stellen.

Der Systemkritiker hat die Eliten und ihre Herrschernetzwerke unter Generalverdacht, und er macht sich, von diesem Verdacht ausgehend, auf Entdeckungstour. Er recherchiert, stöbert in den unterdrückten Nachrichten, kommt unbekannten Verbindungen auf die Spur, verdeckten Geheimnissen, die von der herrschenden Macht unterdrückt werden. Er sieht, wie das alles zusammenhängt, wie die Etablierten ihre Macht absichern, die normalen Menschen ausbeuten, er entschliesst sich, ihre Machenschaften aufzudecken.

Der Systemkritiker ist erregt ob seiner Entdeckungen, fühlt sich aber auch erhaben, weil er ein Wissen hat, das die anderen nicht haben, die Angepassten, die von der Macht gegängelt sind, die in einem raffinierten Kokon von Komplizenschaft gefangen sind, der die Unterdrückten noch zu Kumpanen ihrer eigenen Unterdrückung macht. Ein bisschen ist der Systemkritiker wie ein Detektiv, der Puzzlesteine zusammenfügt, eine Art Hercule Poirot, insofern ist das Systemkritisieren auch eine äusserst lustvolle, geradezu unterhaltsame Tätigkeit.

Dass die Täter unentdeckt bleiben, ist übrigens gänzlich ausgeschlossen, was ein glückliches Ende der Unternehmung von vorneherein garantiert. Die Täter werden immer entlarvt. Dass V den W kennt, der wiederum den X kennt, der an einer Firma beteiligt ist, die einstmals Geschäfte mit einer Firma machte, an der neuerdings auch der Y beteiligt ist – so etwas lässt sich immerzu beweisen. Und schon ist alles geklärt.

Leicht nachvollziehbar ist, dass Verschwörungstheorien an die psychische Gesamtverfassung der paranoiden Person famos anzudocken verstehen. Die bewunderungswürdigsten und zugleich bemitleidenswertesten Paranoiker können zugleich anprangern, wie Putin den Westen unterwandert hat und wie der Westen konspirativ eine Weltherrschaft etablierte, die Putin in ein armes Opfer verwandelt.

Der paranoide Stil der Politik mit Verschwörungserzählungen ist evident, zugleich aber auch sonderbar, insbesondere dann, wenn sich die Verschwörungstheorie mit faschistischen, rassistischen, autoritären Ideologien paart. Letztgenannte sind ja immerhin auch durch Gigantomanie, Superioritätsgefühle, die Überzeugung von der Überlegenheit einer Kultur oder einer Rasse begleitet.

Aber die Kehrseite der Gigantomanie ist ihr Gegenteil, nämlich die permanente Angst, existenziell bedroht zu sein. Von Feinden umzingelt. Die widersprüchliche Realität wird zu einer Fiktion und wird in Eindeutigkeit verwandelt, in der der Verschwörungsgläubige tatsächlich fürchtet, er werde ausgerottet, wie in der Fiktion vom «grossen Austausch», die in die Paranoia eines Genozids an den Autochthonen mündet.

Bemerkenswert ist nicht, dass solche Wahnideen existieren. Bemerkenswert ist vielmehr, dass heute zumindest Teile solcher Postulate auch von Populisten, autoritären Konservativen, ja sogar besonnenen Leuten übernommen werden, während sie früher nur in harten neonazistischen Kreisen verbreitet waren.

Zum Schreien komisch

Ebenso bemerkenswert: Es gibt in den Kreisen, die für Verschwörungstheorien ansprechbar sind, sowohl antiautoritäre Grundempfindungen als auch einen Hang zum Autoritarismus. Beide können authentisch, also echt empfunden sein. Ein ferner Autokrat kann zum Widerstandskämpfer gegen eine Weltherrschaft verklärt werden, während man daheim jeder kleinen Amtsperson misstraut. Man kann sich sogar im Widerstand gegen die Macht wähnen und einen Autokraten gross machen.

«Nichts ist, wie es scheint», «Alles ist geplant», «Alles ist miteinander verbunden», das sind für Michael Butter ein paar Grundpostulate der Verschwörungserzählung («Nichts ist, wie es scheint», Suhrkamp-Verlag). Astrid Séville, Professorin an der Münchener Ludwig-Maximilian-Universität, sieht die Attraktivität von Verschwörungserzählungen auch in der Sprache der Macht und einer «verarmten Debattenkultur». Wenn die Vernunft sich zum grossen Konsens in die Mitte drängt, dann ist der Irrsinn die einzige kompromisslose Opposition. Das macht dann Systemkritik anfällig für die Überspanntheiten der Verschwörungsszene.

Klar, all das ist nie ohne Komik. Man denke nur an die Menschen, die handtellergrosse Hochleistungscomputer vor sich haben, mit Touchscreen, Display, unglaublicher Rechenleistung und Speicherkapazität, eine Gerätschaft, die auch noch über Mobilfunk mit einem internationalen Datennetz verbunden ist, und die dieses Ding dann dazu nutzen, um hinauszuposaunen, dass sie der modernen Wissenschaft nicht glauben. Es ist natürlich zum Schreien komisch.

Viele Verschwörungserzählungen sind völlig abgedreht, andere wiederum operieren mit Elementen des Realen, die sie mit Fiktion vermischen und denen sie mit der paranoiden Deutung den richtigen Dreh verleihen. Es gibt auch Verschwörungstheoriepotenzial in der linken und ökologischen Alternativkultur. Die Grenze zwischen der Verschwörungstheorie und der bloss etwas unterkomplexen, versimpelten Gesellschaftskritik ist leider nicht völlig trennscharf.

Dass «neoliberale» Eliten bei sinistren Treffen von Wirtschaftsführern planmässig den Betrug der armen, einfachen, normalen Menschen verabreden und die globale Politik am Gängelband haben – ist das eine Verschwörungstheorie? Oder gar die Wahrheit? Oder irgendetwas dazwischen? Klar ist, dass manche versimpelten Dummheiten auch von Menschen geglaubt werden, die sonst Verschwörungstheorien leidenschaftlich ablehnen.

Man fühlt sich hier an eine Episode aus dem Leben des grossen österreichischen Sozialistenführers Victor Adler erinnert, der sich vor bald 130 Jahren bei einem Vortrag über das Parteiprogramm «in eine Wut» hineinredete, einige «Generalisierungen» auseinandernahm, zeigte, dass die Dinge nicht so einfach sind «wie bei der Äpfelfrau», und sich dann von den eigenen Anhängern anhören musste, er habe jetzt aber nicht über seine Politik, sondern gegen seine Politik gesprochen.
(https://www.nzz.ch/meinung/systemkritik-fuer-paranoiker-es-bluehen-die-verschwoerungstheorien-ld.1701826)