Medienspiegel 2. Dezember 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
«Wir müssen unser Asylsystem völlig neu denken»
Gemäss Schätzungen des Bundes kommen bis Ende Jahr 25’000 Asylsuchende in die Schweiz. Das sind 10’000 Menschen mehr, als 2021. Dabei noch nicht mitgerechnet die Flüchtlinge aus der Ukraine. Deshalb sagt der Berner Migrationsexperte Alexander Ott: «Wir müssen unser Asylsystem völlig neu denken.»
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/wir-muessen-unser-asylsystem-voellig-neu-denken?id=12296458


Asylkrise: Welche Lösungsvorschläge hat schweizerische Flüchtlingshilfe und wie beurteilt sie die Lage? Direktorin Miriam Behrens im Gespräch. (ab 03:28)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/ende-einer-aera-die-armee-verlaesst-die-stadt-freiburg?id=12296653


+++SOLOTHURN
Klinik Allerheiligenberg wird zur Asylunterkunft
Der Kanton Solothurn macht aus der früheren Höhenklinik oberhalb von Hägendorf eine Asylunterkunft mit 200 Plätzen. Im Winter sollen hier vor allem Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine untergebracht werden. Damit bekommen die Gemeinden mehr Zeit, selber Asylunterkünfte einzurichten.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/klinik-allerheiligenberg-wird-zur-asylunterkunft?id=12296539
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/nach-verdeckten-ermittlungen-10-jahre-gefaengnis-fuer-oltner?id=12296797
-> https://www.baerntoday.ch/aargau-solothurn/solothurner-allerheiligenberg-bietet-platz-fuer-fluechtende-149017426


+++SCHWEIZ
«Apropos» – der tägliche PodcastSie arbeitete 20 Jahre für Schweizer Hilfswerke – und erhält dennoch keine humanitäre Hilfe
Als die Taliban in Afghanistan die Macht übernehmen, ersucht eine langjährige NGO-Mitarbeiterin die Schweiz um ein humanitäres Visum. Statt Hilfe erlebt sie eine spitzfindige Bürokratie.
https://www.bernerzeitung.ch/sie-arbeitete-20-jahre-fuer-schweizer-hilfswerke-und-erhaelt-dennoch-keine-humanitaere-hilfe-997041422273


Grosse Mühe mit den Landessprachen: Kantone wollen mehr Geld für Integration der Ukraine-Flüchtlinge
Der Bund zahlt den Kantonen 3000 Franken pro Person, damit ukrainische Geflüchtete eine Landessprache lernen. Den Kantonen genügt das nicht. Dies zeigt ein Zwischenbericht einer Evaluationsgruppe.
https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/schutzstatus-s-grosse-muehe-mit-den-landessprachen-kantone-wollen-mehr-geld-fuer-integration-der-ukraine-fluechtlinge-ld.2381593


+++DEUTSCHLAND
Gesetz für schnelleres Asylverfahren: Zustimmung im Bundestag
Die Ampel will Asylverfahren beschleunigen und beschließt Reformen. Die Resonanz von Asyl-Organisationen ist verheerend.
https://taz.de/Gesetz-fuer-schnelleres-Asylverfahren/!5899898/


+++SPANIEN
Tod an EU-Grenze
Spanien: Medienberichte belegen völkerrechtswidrige Maßnahmen in Melilla. Innenminister winkt ab
https://www.jungewelt.de/artikel/440011.m%C3%B6rderische-abschottung-tod-an-eu-grenze.html


+++GASSE
Reitschule Bern: Illegale Party gesprengt – jetzt leert die Polizei 500 Liter Alkohol weg
Rund einen Monat hatten die rechtmässigen Besitzer des Party-Materials Zeit, es abzuholen. Doch es kam niemand vorbei. Nun wird der bei der Reitschule beschlagnahmte Alkohol von der Polizei entsorgt.
https://www.20min.ch/story/illegale-party-gesprengt-jetzt-leert-die-polizei-500-liter-alkohol-weg-713587942299


Ehemaliger «Schandfleck» Ländiweg in Olten wieder offen
Nach einem Jahr wird der erneuerte Ländiweg in Olten am Freitagnachmittag freigegeben. Der Weg wurde für mehrere Millionen Franken komplett umgebaut. Dank einer Verbreiterung sollen sich Randständige und Spaziergängerinnen nicht mehr in die Quere kommen. Im Sommer wird es zudem zwei Buvetten geben.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/ehemaliger-schandfleck-laendiweg-in-olten-wieder-offen?id=12296467


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Kunsthaus Zürich wappnet sich gegen Schmier-Aktivisten
Taschen und Rucksäcke müssend derzeit im Kunsthaus Zürich abgegeben werden bevor man sich in die Ausstellungsräume begibt. Der Grund: Die dutzenden Protest-Aktionen bei welcher Klima-Demonstranten und Öl-Gegner Kunstwerke beschmierten, um so Aufmerksamkeit zu generieren.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/kunsthaus-zuerich-wappnet-sich-gegen-schmier-aktivisten-149025788


Queere Besetzung an der Gärtner*innenstrasse!
Bleibt der Garten verlassen, wuchert das Unkraut – lasst ihr eure Häuser leerstehen, wuchern wir!
(Basel) – Heute Nacht haben wir – eine wilde Horde von Queers und trans-Personen – die Gärtnerstrasse 35 besetzt.
Wir sind es leid, dabei zuzusehen, wie Menschen aus ihrem Zuhause verdrängt werden und die Hauseigentümer*innen mit Leerstand spekulieren. Dies, während Viele auf günstigen Wohnraum angewiesen sind.
https://barrikade.info/article/5499


Solidarity with Alfredo Cospito [Bern]
Infos und Diskussion zur Situation von Alfredo Cospito und 41bis. Am
4.12.22 um 14:00, Infoladen Reitschule Bern.
https://barrikade.info/article/5504
-> Soliaktion: https://barrikade.info/article/5505


+++REPRESSION DE
Innenminister contra „Letzte Generation“: Klima-Kleber kriminell?
Die Innenminister der Länder wollen prüfen, ob die Letzte Generation eine kriminelle Vereinigung ist. Die Gerichte sind da bislang milder.
https://taz.de/Innenminister-contra-Letzte-Generation/!5897194/
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169047.staatliche-repression-am-rande-des-rechtsstaats.html
-> https://netzpolitik.org/2022/innenministerkonferenz-fuer-die-vorratsdatenspeicherung-gegen-radikale-klima-aktivistinnen/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/439995.repression-drohung-mit-dem-lagebild.html


+++SPORT
Baselbieter Landrat lehnt Beitritt zum Hooligan-Konkordat ab
Der Baselbieter Landrat lehnt den Beitritt zum erweiterten Hooligan-Konkordat erneut ab. Mit 42 zu 30 Stimmen bei 6 Enthaltungen hat er am Donnerstag eine entsprechende Motion nicht überwiesen. Das Kantonsparlament stimmte somit gegen den Regierungsrat, der eine Entgegennahme befürwortete.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/baselbieter-landrat-lehnt-beitritt-zum-hooligan-konkordat-ab?id=12296455


+++POLIZEI DE
Angeblicher Angriff auf Beamte: Polizisten beim Lügen erwischt
Ein Feuerwehrmann, dem die Polizei Körperverletzung vorgeworfen hatte, ist freigesprochen worden. Ein Video zeigt: Die Vorwürfe waren haltlos.
https://taz.de/Angeblicher-Angriff-auf-Beamte/!5895590/
-> https://taz.de/Umgang-der-Justiz-mit-Polizisten/!5895591/


+++FRAUEN/QUEER
“Das Frauenhaus ist nicht nur ein trauriger Ort”
Seit 2018 ist Bettina Bühler Geschäftsführerin im Frauenhaus beider Basel. Seit 6 Monaten sei das Haus ausgelastet wie noch nie in der 40-jährigen Geschichte. Warum sei schwierig zu sagen. Im Wochengastgespräch spricht Bettina Bühler über die Auswirkungen der Pandemie auf das Tabu häusliche Gewalt, über ihren Alltag im Frauenhaus und über die schönen Seiten ihrer Arbeit.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/das-frauenhaus-ist-nicht-nur-ein-trauriger-ort?partId=12296746


+++RECHTSPOPULISMUS
Landrat will keine «Gesinnungsumfrage» bei Lehrpersonen
Der Baselbieter Landrat will keine Umfrage zur politischen Neutralität an den Schulen. Das Kantonsparlament lehnte am Donnerstag ein entsprechendes Postulat ab. Auch eine Motion zur Verankerung der politischen Neutralität wurde nicht überwiesen. (ab 03:28)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/landrat-will-keine-gesinnungsumfrage-bei-lehrpersonen?id=12296596


Im Talk: Basler Theaterautor verärgert die Zürcher SVP
Mit dem Stück «Ja oder Nein – eine Partei im Kreuzverhör» sorgte der Theaterautor Lukas Holliger in Zürich für einen Eklat. Heute feiert es Premiere in Dornach.
https://telebasel.ch/2022/12/02/im-talk-basler-theaterautor-veraergert-die-zuercher-svp


+++HISTORY
Der Mensch als Wald
Vor 125 Jahren ist das Buch »Ashantee« des Wiener Schriftstellers Peter Altenberg erschienen
Ausgestellte Menschen und der koloniale Blick: Vor 125 Jahren ist das Buch »Ashantee« des umstrittenen Wiener Schriftstellers Peter Altenberg über seine Eindrücke von einer »Völkerschau« und dessen Publikum erschienen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169032.voelkerschau-der-mensch-als-wald.html


Die Schweiz auf Seiten der Völkermörder von Ruanda?
Félicien Kabuga war einer der meistgesuchten Verbrecher der Welt. Er gilt als Financier des Völkermords in Ruanda. 26 Jahre war Kabuga auf der Flucht. Ein Grund dafür ist die Schweiz. Sie hätte ihn 1994 festnehmen können. Warum liess man den mutmasslichen Völkermörder damals laufen?
https://www.srf.ch/audio/international/die-schweiz-auf-seiten-der-voelkermoerder-von-ruanda?id=12295972


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Podiumsdiskussion in der Johanneskirche dreht sich um kulturelle Aneignung
Das Thema kulturelle Aneignung füllte die Debatten im vergangenen Sommer. Entfacht hat die Diskussion ein abgebrochener Auftritt weisser Musiker mit Dreadlocks in der Brasserie Lorraine. Nun war dies das Hauptthema der Podiumsdiskussion in der Johanneskirche in Bern.
https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/podiumsdiskussion-in-der-johanneskirche-dreht-sich-um-kulturelle-aneignung-149025330



derbund.ch 02.12.2022

Podium über kulturelle Aneignung: «Tut mein Fuss weniger weh, wenn jemand unabsichtlich darauf tritt?»

Eine Gesprächsrunde diskutierte die Ricola-Frage «Wer hats erfunden?». Eine Teilnehmerin sagte, was wirklich hinter dem Phänomen der kulturellen Aneignung steckt.

Alexander Sury

Nachdem Moderator Franz Fischlin das Gespräch in der Berner Johanneskirche im Berner Breitenrainquartier geöffnet hatte für das zahlreich erschienene Publikum, meldete sich alsbald in der ersten Kirchenbank SVP-Stadtrat und Rechtsanwalt Alexander Feuz. «Blackfacing» finde er auch nicht gut, also die Darstellung schwarzer Menschen durch dunkel geschminkte Weisse. Aber man müsse sich schon fragen, ob es nicht kontraproduktiv sei, wenn plötzlich überall Verbote herrschten und vor Gericht angebliche Fälle von kultureller Aneignung eingeklagt würden: «Man kann das Fass so auch zum Überlaufen bringen.»

Seit dem 18. Juli hat die Debatte um kulturelle Aneignung auch in der Schweiz zu teils hitzigen Wortgefechten geführt. Europaweit für Schlagzeilen sorgte ein in der Pause abgebrochenes Konzert der Berner Reggaeband Lauwarm in der Brasserie Lorraine. Der Grund: Einige Zuhörerinnen und Zuhörer hatten ihrem Unwohlsein Ausdruck verliehen angesichts der von jungen Schweizern gespielten Musik und der Dreadlocks-Frisuren.

Ein Podiumsgespräch im kirchlichen Rahmen sollte nun mehr Substanz in die bisweilen fast hysterische Diskussion bringen, sie gleichsam etwas herunterkühlen. Theresa Beyer, Angebotsverantwortliche bei SRF Kultur, erinnerte daran, dass noch in den 1990er-Jahren in der Popmusik die Aneignungsfreude und das Hybride hoch im Kurs gewesen seien, «heute sehen wir fast das Gegenteil, jetzt ist das damals Gefeierte verwerflich».

Eine Machtfrage sei es auch, dass die Musikgeschichte oft als Kette Innovationen weisser Sänger, von Elvis bis Eminem, dargestellt werde, «noch heute sind über 80 Prozent der Produzenten Weisse». Für Theresa Beyer ist die Haltung entscheidend. «Wenn ich mich mit anderen Kulturen auseinandersetze, muss ich mich mit den Hintergründen beschäftigen und Respekt zeigen.»

Keine Checklisten

Was denn mit den Dreadlocks sei, fragte Moderator Franz Fischlin, diesen Symbolen des Widerstands. Mark Bamidele Emmanuel, Gründer des 2018 auf Sendung gegangenen Fernsehkanals Diaspora TV Switzerland, deutete auf seinen kahlen Kopf und meinte lachend, er habe auch mal Dreadlocks getragen. «Mir gefiel es, und ich habe mich ehrlich gesagt nicht gross mit den Hintergründen in Jamaika beschäftigt.» Im Kongo gebe es auch Menschen, die ihre Haare glätten und weiss färben würden, «sie werden auch nicht mit dem Vorwurf der kulturellen Aneignung konfrontiert.»

Der Theologe und Ethiker Frank Mathwig meinte, im Raum stünde auch immer die meist nicht zu beantwortende Frage aus dem Ricola-Werbespot: «Wer hats erfunden?». Er holte sodann aus und zeigte, dass die Dreadlocks keine Erfindung der Rastafaris, sondern in der Geschichte der Menschheit in verschiedenen Kulturen zu beobachten gewesen seien, etwa in der Antike oder im Judentum.

Mona Lisa Kole, Projektleiterin Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen, war das zu allgemein. Wer heute Dreadlocks trage, würde sich auf Jamaika beziehen, wo die ehemalige britische Kolonialmacht abwertend von «dreadful locks», schrecklichen Locken, gesprochen habe.

Bei Rassismus gebe es mittlerweile Strafnormen und klare Richtlinien, stellte Franz Fischlin fest und fragte: «Geht das auch bei der kulturellen Aneignung?» Mona Lisa Kole schüttelte lachend den Kopf: «Wir können das Publikum nicht mit Checklisten oder Rezepten versorgen.»

Kulturelle Aneignung sei plötzlich in aller Munde, sagte sie, «aber was weniger präsent ist und eigentlich dahintersteckt, ist die Frage des strukturellen Rassismus». Vorstellungen, Annahmen, Bilder in der Populärkultur, in Kinderbüchern oder Filmen, all das wirke unterschwellig stark. «In der Schweiz müssen wir diesen Blick für den strukturellen Rassismus noch ausgiebiger trainieren», fand Mona Lisa Kole. Auch wenn ihr jemand unbewusst auf den Fuss trete, «tut mein Fuss dann weniger weh?»

Rückfall in die Vormoderne?

Theologe Frank Mathwig nahm das Bild mit den Füssen auf und benannte aus seiner Sicht die Pointe der Diskussion: «Wir können uns gar nicht vorstellen, dass es dem anderen wehtut.» Seine Schlussfolgerung daraus: «Wir müssen akzeptieren, dass wir einander nicht verstehen.» Entlastend sei dies einerseits und mache andererseits den Blick frei für die Frage, «wie wir möglichst schmerzfrei miteinander klarkommen würden».

Überhaupt, so diagnostizierte der Ethiker, hätte der Mensch Mühe damit, Ambivalenz zu ertragen, gerade auch in der Diskussion um kulturelle Aneignung. Wenn sich Kulturen aber wieder abgrenzen würden, ginge dies in Richtung einer «völkischen Reinheit». Mit dieser strengen und künstlichen Trennung laufe man jedoch Gefahr, Stereotype zu reproduzieren: «So fallen wir wieder in die Vormoderne zurück.»

Fazit: Es ging in der Kirche anständig und gesittet zu und her, nicht zuletzt auch deshalb, weil – wie Franz Fischlin sagte – bewusst darauf verzichtet worden sei, «Extrempositionen» einzuladen. «Ich nehme aus dieser Diskussion mit», bilanzierte Fischlin, «dass es wichtig ist, offen zu sein und Fragen zu stellen.» Mona Lisa Kole meldete nach diesem Schlusswort noch kurz Widerspruch an: «Nein, zuerst ‹zuelose›.»
(https://www.derbund.ch/tut-mein-fuss-weniger-weh-wenn-mir-jemand-unabsichtlich-darauf-tritt-410586084784)


+++RASSISMUS
nzz.ch 02.12.2022

Brandy Butler bringt Kinder und Dragqueens zusammen – und gerät deshalb ins Visier von Neonazis

Über eine Frau, die sich weigert zu sein, was andere in ihr sehen.

Giorgio Scherrer

Als Brandy Butler sechs Jahre alt war, sah sie ein Kreuz brennen und lernte: «Manche Menschen hassen mich – nicht wegen dem, was ich tue, sondern wegen dem, was ich bin.»

Das Kreuz stand auf einem Feld irgendwo in der amerikanischen Provinz. Neben dem Feld fand eine grosse Party statt, zu der Butler und ihre Eltern eingeladen waren. Sie und ihr Vater waren die einzigen Schwarzen unter vielen weissen Gästen. «Meine Eltern waren ein gemischtrassiges Paar – damals, in den 1980er Jahren, war das dort nicht gern gesehen.»

Männer mit Ku-Klux-Klan-Kapuzen hätten ihre Anwesenheit mitbekommen, erinnert sich Butler. «Deshalb haben sie das Kreuz angezündet.» Die Bilder des Abends sind ihr bis heute geblieben: die Angst auf dem Gesicht ihrer Eltern, die Betretenheit der Gäste, die rasche Heimfahrt durch die dunkle Nacht.

Vierzig Jahre später, auf einem anderen Kontinent, sieht Brandy Butler erneut rauchende Fackeln in den Händen von Rechtsextremen. Sie lernt: «Ich bin auch in der Schweiz ein Ziel.»

Es ist der 23. Oktober, Brandy Butler hält im Tanzhaus eine Vorlesestunde für Kinder, als eine Gruppe vermummter Neonazis den Weg blockiert und die «Drag Story Hour» zu stören versucht. «Wir konnten nicht nach draussen, der Rauch machte uns Angst, manche Eltern waren in Panik», sagt Butler. «Ich habe einfach funktioniert: beruhigt, die Tür gesichert, die Polizei gerufen, geschaut, dass die Kinder möglichst wenig merken.»

Wenige Tage nach der Aktion geht ein Bekennervideo der Gruppierung «Junge Tat» online, in dem zwei Neonazis mit Namen und Gesicht zur Aktion stehen – und Butler zum Feindbild erklären. Brandy Butler sagt: «Da habe ich erst richtig realisiert, was passiert ist: Sie fühlen sich hier sicher und geschützt – ich nicht. Danach bin ich zusammengebrochen.»

Butler – schwarze Locken, grosse Brille, gestikulierende Hände – steht vor einer Entscheidung: «Was ist wichtiger: meine Angst – oder die Freude, die ich den Kindern bescheren kann?» Will sie weitermachen – oder wegfahren und flüchten wie damals vor dem brennenden Kreuz?

Brandy Butler und die magische Welt

Wie andere sie sehen und wie sie sich selbst sieht – das klafft bei Brandy Butler oft weit auseinander.

Als Kind sei sie ein Nerd gewesen, sagt sie, schüchtern, ein Fan des Science-Fiction-Franchise «Star Trek». «Das verstand damals niemand. Schwarze, weibliche Nerds – das konnte man sich nicht vorstellen.» Von ihr wurden andere Interessen erwartet: Prinzessinnen etwa oder die Musik schwarzer Sängerinnen.

Als Jugendliche in den USA habe sie sich nie nur als Schwarze verstanden. «Mein Vater war schwarz, meine Mutter war weiss – dass das speziell war, dass ich als mixed-race galt, war mir immer klar.» Im Zürcher Vorort Bonstetten, wohin sie mit 23 als Au-pair kam, sei sie dagegen als Schwarze schubladisiert und mit stereotypen Vorstellungen konfrontiert worden. Man habe Expertise über Afrika oder gute Tanzkenntnisse von ihr erwartet. «Wenn ich den Leuten sagte: ‹Ich komme aus den USA›, dann hiess es: ‹Nein, aber woher kommst du wirklich?›»

Als Erwachsene nahm sie an der Talentsendung «The Voice of Switzerland» teil. Dort habe man ihr gesagt: «Sing mehr wie Aretha Franklin – lauter, höher! Du mit deinem Körper kannst das doch.» Doch das sei einfach nicht ihr Stil. «Ja, ich bin eine schwarze, fette Amerikanerin», habe sie sich gesagt. «Aber das heisst nicht, dass ich auch immer diese Rolle spielen muss.» Sie tat es nicht – und schied bald aus.

Zuschauen statt urteilen

Zu sein, wer man ist – auch wenn die Umgebung etwas anderes erwartet: Das ist die Mission von Brandy Butler. Nicht nur bei sich selbst. Butler will auch andere von Vorurteilen, Stereotypen und sozialen Normen befreien – besonders Kinder.

«Ich sehe mich als purveyor of magic», sagt sie. «Ich will den Kindern zeigen: Die Welt ist magisch – komm, wir entdecken sie zusammen!»

Deshalb organisiert sie seit vier Jahren die nun berühmt gewordene Vorlesestunde, in der Dragqueens und Dragkings – Erwachsene, die sich im Stil des jeweils anderen Geschlechts verkleiden – aus Kinderbüchern vorlesen. Das Format ist inspiriert von ähnlichen Ideen in den USA und richtet sich an Drei- bis Zehnjährige. Die Anschubfinanzierung leistete sie selbst, später wurde sie von der Stadt Zürich finanziell unterstützt. Heute ist die Veranstaltung fixer Teil des Tanzhaus-Programms.

«Nie hätte ich gedacht, dass ausgerechnet das mich zum Ziel von Neonazis machen würde», sagt sie. «Die ‹Drag Story Time› ist doch kein Skandal – sie ist der cutest shit ever!»

Und doch haben sie die Neonazis der «Jungen Tat» als Ziel in ihrem Kampf gegen eine angebliche «Gender-Ideologie» auserkoren. Die Zürcher SVP machte sich deren Forderung zu eigen und verlangte von der Stadtregierung, die Vorlesestunde zu stoppen.

Ihre Kritiker sehen in der Veranstaltung den Versuch, Kinder zu früh mit Themen wie Sexualität und Geschlecht zu konfrontieren. Brandy Butler lädt sie ein: «Schaut euch an, was hier passiert – bevor ihr urteilt.»

Der Junge und der Lipgloss

Ein Einhorn, ein Kürbis und ein Haifisch stolzieren durch einen rosa erleuchteten Saal. Ein Vater und sein Sohn probieren zusammen farbige Perücken aus. Ein Ritter verlangt mehr Glitzer im Gesicht. Und ein Junge im Prinzessinnenröcklein trägt vor dem Spiegel konzentriert Lipgloss auf – direkt auf die Stirn.

Einen Monat nach der rechtsextremen Aktion glitzern im Tanzhaus goldene Girlanden – und die «Drag Story Time» findet statt, wie wenn nichts gewesen wäre.

Zwanzig Kinder und ihre Eltern rennen farbig verkleidet durch einen Saal. «Ich bin ich», singen sie, angeleitet von Brandy Butler. «Ich habe mich gern, so wie ich bin!»

Mehr Gold und Glitzer: Das ist Butlers Antwort auf die Kritik an ihr.

Und doch ist an diesem Morgen nicht alles gleich wie vor dem Angriff der Neonazis. Eine Stunde vor Veranstaltungsbeginn trifft sich die Crew im Foyer des Tanzhauses. Butler trägt einen knallgelben Pulli und rosa Latzhosen mit Smileys darauf. Ihr Gesicht aber ist ernst. «Wenn etwas passiert, wenn ihr euch unwohl fühlt, meldet euch sofort», sagt sie. Bei den drei Security-Mitarbeitenden, bei der Leiterin des Tanzhauses oder bei der Polizei, die alle extra vor Ort sind.

Sie sei vor Veranstaltungen immer nervös, sagt Butler danach, während sie kiloweise Kostüme, Plastikketten und Schminkzeug auf Tischen drapiert. Aber dieses Mal ist doch etwas anders. Wenn ein Ballon zerplatzt, drehen sich die Köpfe. Und als jemand Neues zur Gruppe stösst, sagt er: «Ich bin keiner der Bösen!»

Es ist nur so halb ein Witz.

Zürich statt Philadelphia

Dass Brandy Butler mit Kindern arbeitet, ist kein Zufall. Ihre Eltern waren Lehrer – ihr Vater in einem Jugendgefängnis, ihre Mutter im Kindergarten. Zu Hause, in ihrer Heimatstadt Philadelphia, hatte die Familie Pflegekinder. «Am Begräbnis meiner Mutter sagten mir viele: ‹Sie hat mich inspiriert, meinen Weg zu gehen.› So einen Einfluss zu haben, die Kinder so zu empowern – das ist auch mein Ziel.»

Dass Butler dieses Ziel nun in Zürich umsetzt, ist dagegen ein Zufall. Mit Anfang zwanzig arbeitete sie nach ihrem Musikstudium als Lehrerin in Philadelphia und wünschte sich eine Auszeit. Online suchte sie einen Platz als Au-pair, in Bonstetten war gerade einer frei – und so kam sie in die Schweiz. Später begann sie als Sängerin aufzutreten, nahm Alben auf und begleitete Stars wie Sophie Hunger auf Tour. Sie bildete sich als Musikpädagogin weiter, gab Kurse und ist seit drei Jahren auch Ensemblemitglied im Zürcher Neumarkt-Theater.

Sie fühle sich voll und ganz als Zürcherin, sagt Butler. Hier habe sie ihre Stimme, ihre Berufung gefunden. Hier habe sie herausgefunden, dass sie nicht nur Frauen lieben könne, sondern auch Männer. Hier habe sie geheiratet, eine Tochter bekommen, sich scheiden lassen.

«Als ich hierherkam, fragte ich mich: Wie lange soll ich hierbleiben?», sagt Butler. «Und meine Antwort war: So lange, wie es gut ist.»

«King Joe» und die Kinder

Ist es das noch? Ja, findet Butler, solange sie weiter das tun kann, was sie an diesem Sonntag im Tanzhaus tut. Sie sitzt vor den fast fünfzig Kindern und Erwachsenen, die in ihre Vorlesestunde gekommen sind, und erklärt: «Drag-Performerinnen sind Erwachsene, die sich gerne verkleiden. Jetzt kommt eine von ihnen und liest euch eine Geschichte vor.»

Dann rufen die Kinder lautstark ihren Namen: «King Joe!» Und die Tür geht auf.

«King Joe» trägt eine dunkle Jacke, klobige schwarze Schuhe, einen aufgeschminkten Bart – und einen knallroten Pompon auf dem Kopf. «Guten Morgen, Kinder!», ruft er und springt in den Raum. Die Kinder reagieren unterschiedlich: Manche rücken näher, andere beachten den Neuankömmling nicht. Nur ein Kind scheint richtig unglücklich zu sein. «Ich muss aufs WC!», sagt es zu seiner Mutter.

Dann ruft Brandy Butler die Kinder heran – und das Vorlesen beginnt. Im heutigen Kinderbuch geht es um ein Mädchen mit einem ungewöhnlichen Wunsch: Sie will Grossvater werden. Sie bastelt sich ihr eigenes Opa-Kostüm und ist damit glücklich, obwohl die Erwachsenen sie zuerst für ihren Wunsch auslachen. «Na, ist das nett von ihnen?», fragt Butler. «Nein!», rufen die Kinder.

Später fragt Butler sie, was sie selbst werden wollen. «Grafiker!», sagt ein Junge. «Mami!», ruft ein Mädchen. Ein drittes Kind hat ganz andere Pläne: «Ich will eine Glace werden!»

«Wer nicht?», sagt Brandy Butler.

Lustprinzip statt Geschlechterrollen

Die Vorlesestunden folgen einem fixen Ablauf: Erst singt Brandy Butler mit den Kindern ein Lied. Dann liest eine Dragqueen oder ein Dragking aus einem Kinderbuch vor. Dort geht es mal um zwei schwule Pinguine, mal um eine Tiergruppe, die andere Tiere ausschliesst, und mal um einen Jungen, der sich als Meerjungfrau verkleiden will.

Manchmal wird dann noch diskutiert: Wen darf man eigentlich lieben? Können Mädchen auch Superman sein?

Dann dürfen sich die Kinder und ihre Eltern mit Brillen, Kostümen und Schminke verkleiden. Es gehe ihr darum, den Kindern einen Ort zu geben, wo sie das sein könnten, das sie wollten, sagt Butler. «Von klein auf sind Kinder mit Geschlechterbildern konfrontiert: Das ist für Mädchen, das ist für Knaben. Das darfst du, das darfst du nicht.» Dem wolle sie etwas entgegensetzen und den Kindern vermitteln: «Es zählt, worauf du Lust hast – und nicht, was andere erwarten.»

Und wofür braucht es da eine Drag-Performerin?

Weil diese Expertinnen darin seien, sich zu verkleiden und Geschlechterrollen spielerisch zu hinterfragen, sagt Butler. «Und weil wir eine Möglichkeit für Kinder schaffen wollen, Menschen kennenzulernen, die ihre Geschlechtsidentität so ausleben.» Mit Sexualisierung habe das rein gar nichts zu tun.

Dass Männer in Frauenkleidern als Gefahr für Kinder dargestellt werden, findet Butler zutiefst problematisch. «Das bedient doch nur homophobe Stereotype. Mit unserer Veranstaltung hat das nichts zu tun.» Zumal es dort nie um Sex gehe und stets Eltern anwesend seien.

Die Väter und der Lippenstift

Je mehr sich die Kinder und Eltern im Tanzhaus-Saal verkleiden, desto weniger fällt «King Joe» unter ihnen auf. Je bunter die Kostüme werden, desto mehr verschwinden die Unterschiede. Wie an einer Modeschau stolzieren die Kinder schliesslich in Richtung Spiegel. «Sagt euch: Ich sehe super aus», ruft Brandy Butler ihnen zu. «Und dann klatschen wir alle!» Während sie es tun, tönt aus den Boxen ein Pop-Song: «You are perfect, perfect, perfect, perfect, baby.»

Und Brandy Butlers Vater – gerade aus den USA zu Besuch – schaut zu und brummt: «This is Brandy magic happenin’ right here.»

Dann ist die Stunde zu Ende. Draussen schminken drei weitere Dragkings und -queens alle Erwachsenen, die Lust auf etwas Lippenstift und Nagellack haben. Danach sitzen etliche Väter mit roten Lippen im Tanzhaus-Foyer und bestellen sich einen Cappuccino.

Im Vorlesezimmer ziehen derweil die Kinder widerwillig ihre Verkleidungen aus. Dazwischen steht Brandy Butler. Sie wirkt müde. Dann kommt eine Mutter mit Sohn zu ihr und sagt: «Das war das erste Mal, dass er sich getraut hat, sich zu verkleiden!»

Da lacht Butler und sagt: «Das ist doch tausend Mal mehr wert als alle Angst und jeder Hass.»
(https://www.nzz.ch/zuerich/brandy-butler-ist-das-ziel-von-neonazis-und-macht-doch-weiter-ld.1713752)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Bericht bestätigt Vorfälle in Clienia Littenheid
Vor einem halben Jahr geriet die Thurgauer Privatklinik für Psychotherapie Clienia Littenheid in Verruf. Dies weil ein Oberrarzt in einem SRF-Dokfilm schockierende Aussage zu Verschwörungstheorien und Satanistischen Zirkeln machte. Ein Untersuchungsbericht bestätigt nun die Vorwürfe.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/bericht-bestaetigt-vorfaelle-in-clienia-littenheid?id=12296590
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/appenzell-innerrhoden-plant-spezialpflegezentrum?id=12296794
-> https://www.toponline.ch/news/thurgau/detail/news/satanismus-vorwuerfe-gegen-thurgauer-psychiatrie-privatklinik-00200258/
-> https://www.watson.ch/schweiz/thurgau/355110757-satanismus-vorwuerfe-gegen-thurgauer-psychiatrie-privatklinik
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/satanismus-vorwurfe-gegen-thurgauer-psychiatrie-privatklinik-66356259
-> https://www.derbund.ch/satanismus-vorwuerfe-gegen-thurgauer-klinik-558662467858
-> 10vor10: https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/untersuchung-gegen-klinik-littenheid-bestaetigt-vorwuerfe?urn=urn:srf:video:f47898c4-d302-4ef0-879b-cc561003c839
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/psychiatrische-therapien-satanistische-verschwoerungen-strafanzeigen-im-fall-littenheid
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/rituelle-gewalt-nach-vorwuerfen-von-satanistischen-verschwoerungstheorien-kanton-thurgau-ergreift-massnahmen-gegen-clienia-littenheid-ag-ld.2382021



tagblatt.ch 02.12.2022

Der Teufel war kein Detail – Untersuchungsbericht belastet Arzt und Klinik

Die Verschwörungstheorie von der «rituellen satanischen Gewalt» ist in den Traumatherapie-Stationen der Clienia Littenheid vorhanden. Zu diesem Schluss kommt eine externe Untersuchung im Auftrag des Kantons. Dieser hat aufsichtsrechtliche Massnahmen ergriffen – einem Arzt wurde die Bewilligung zur Berufsausübung entzogen.

Christian Kamm

Mit seiner Dokumentation «Der Teufel mitten unter uns – Satanic Panic» hatte Fernsehen SRF die Problematik öffentlich gemacht. Laut TV-Beitrag soll es in der Schweiz ein Netzwerk geben, das an die Verschwörungserzählung «Rituelle Gewalt – Mind-Control» glaubt (Infobox). Befragt wurde unter anderen der Oberarzt einer Traumatherapie-Station der Klinik Littenheid.

Im Anschluss wurde gegen den betreffenden Arzt und die Klinik eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht. Das kantonale Amt für Gesundheit gab darauf bei einer spezialisierten Anwaltskanzlei einen Untersuchungsbericht in Auftrag. Seit Freitag liegt er vor.

Regeln der ärztlichen Kunst verletzt

Dieser Bericht belastet den betroffenen Oberarzt Dr. X, der nicht mehr in Littenheid arbeitet, aber auch die Klinik schwer. Die Untersuchung habe viele Hinweise ergeben, die nahelegten, dass die betreffende Verschwörungserzählung «auf den Traumatherapie-Stationen vorhanden ist». Eine Stichprobe von acht Patientendossiers ist von einem Gutachter analysiert worden. Dieser kam zum Schluss, dass das methodische Vorgehen fachlich nicht korrekt und vermutlich sogar krankheitsfördernd sei. Es handle sich um eine «Verletzung der Regeln der ärztlichen Kunst». Weiter bilanziert der Bericht: «Aufgrund der Untersuchungsergebnisse ist davon auszugehen, dass Dr. X und auch weitere Mitarbeitende der beiden Traumatherapie-Stationen an die Verschwörungserzählung ‹Rituelle Gewalt – Mind-Control› glauben und diese – zumindest teilweise – Eingang in die therapeutische Behandlung von Patientinnen gefunden hat.»

Gemäss Untersuchung lässt sich dokumentieren, dass Dr. X bereits seit 2015 ein besonderes Interesse für das Thema entwickelt hat. Dieses scheine sich über die Jahre verstärkt zu haben «bis hin zu einer Faszination für satanische rituelle Gewalt und Mind-Control». Das belegten unabhängig voneinander gemachte Aussagen von Mitarbeitenden, Hinweisgebern, betroffenen Personen sowie vorliegende Unterlagen. Ausdruck davon seien auch einschlägige Weiterbildungen, die Dr. X organisierte, «und letztlich auch seine eigenen in der SRF-Dokumentation gemachten deutlichen Aussagen». X habe die innere Distanz zum Thema verloren und «sich verrannt».

Versucht, sich «weisszuwaschen»

In der Kritik steht auch die Klinik. Es habe keine lückenlose und sorgfältige Aufarbeitung der Ereignisse im Gefolge der TV-Dokumentation gegeben, hält der Untersuchungsbericht fest. So hätten die eigentlichen Auslöser, die Themen Satanismus, rituelle Gewalt und Mind-Control, keinen Eingang in ein im Dezember 2021 in Auftrag gegebenes Gutachten gefunden – nach Aussage eines der beiden beteiligten Experten auf expliziten Wunsch der Klinik. Dennoch habe Clienia Littenheid dann dieses Gutachten «wider besseres Wissen dazu benutzt, sich gegenüber Behörden und Öffentlichkeit von den in der SRF-Dokumentation erhobenen Vorwürfen weisszuwaschen».

Es kommt noch heftiger: Laut Untersuchungsbericht gibt es zudem Hinweise, dass die Vorgesetzte von Dr. X, die ärztliche Direktorin und Chefärztin für das Zentrum für Psychotherapie und Psychosomatik, «dem Amt für Gesundheit eine um die kritischen Stellen gekürzte Version des Gutachtens zustellen wollte».

Nicht genug interveniert

Der Vorgesetzten von Dr. X sei zudem vorzuwerfen, dass sie nicht genügend interveniert habe, obwohl sie Kenntnis gehabt habe von der zunehmenden Faszination von Dr. X für das Thema rituelle Gewalt. Auf die Frage nach der Aufsicht über den Arzt wird seine Chefin im Untersuchungsbericht wie folgt zitiert: «Die fachliche Verantwortung … eine gute Frage. Am Ende des Tages liegt diese Aufsicht wahrscheinlich bei mir als direkte Vorgesetzte.»

Der Kanton hat als Reaktion auf den Bericht aufsichtsrechtliche Massnahmen eingeleitet. Empfohlen wird ausserdem eine Melde- und eine Ombudsstelle. Die Berufsausübungsbewilligung eines Arztes wurde entzogen und es wurden ein disziplinarischer Verweis sowie diverse Bussen ausgesprochen.



Rituelle Gewalt – Mind-Control

Gemäss der Verschwörungstheorie «Rituelle Gewalt – Mind-Control» gibt es im Untergrund operierende Zirkel von Satanisten, die in grausamen Ritualen Kinder quälen, sexuell missbrauchen und sogar schlachten. Durch schreckliche Gewalt beziehungsweise rituelle Gewalt würden Kleinkinder in verschiedene Persönlichkeitsteile gespalten, um dann Anteile gezielt für Missbrauch zu «programmieren». (ck)



Ärztliche Direktorin per sofort freigestellt

«Wir haben Fehler gemacht, und das tut uns in aller Form leid», sagte Daniel Wild, Klinikdirektor und stellvertretender CEO der Clienia-Gruppe am frühen Freitagabend an einer kurzfristig einberufenen Medienkonferenz. Stunden zuvor hatte die Klinikleitung einen einschneidenden Personalentscheid gefällt: «Nachdem wir am Donnerstagabend darüber informiert wurden, dass gegen die Chefärztin und ärztliche Direktorin ein Strafverfahren eingeleitet wurde, haben wir uns umgehend von ihr getrennt und sie per sofort freigestellt», sagte Wild. Dies geschah am Freitag kurz vor Mittag, nachdem die Betroffene am Morgen wie üblich ihren Arbeitsalltag in Angriff genommen hatte. Die Bestürzung über die Situation sei gross bei ihr, erklärte Wild auf Nachfrage. «Es ist eine sehr verdiente Person, das macht auch uns betroffen.» Nun geht es an die Aufarbeitung. Wild versichert, die aufgedeckten Mängel gemäss den im Bericht vorgeschlagenen Empfehlungen zu beheben. «Erste wichtige Massnahmen wurden bereits umgesetzt.» So sei der Wechsel der oberärztlichen und der psychologischen Leitung in beiden Traumastationen im Vollzug und die Konzepte seien in Überarbeitung. «Für uns gilt der evidenzbasierte Ansatz in der Therapie.» (hs)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/thurgau-der-teufel-war-kein-detail-untersuchungsbericht-belastet-arzt-und-klinik-ld.2382079)



tagblatt.ch 02.12.2022

Sind die beiden Traumatherapie-Stationen in Littenheid noch tragbar, Urs Martin? – «So wie sie geführt wurden, nicht»

Der Thurgauer Regierungsrat Urs Martin sagt, in Littenheid hätten Kontrollmechanismen nicht funktioniert. «Wir werden nun genau hinschauen, dass hier Personen in die Verantwortung kommen, welche die Therapie basierend auf wissenschaftlichen Fakten sicherstellen.»

Silvan Meile

Sind die beiden Traumatherapie-Stationen in Littenheid für den Kanton noch tragbar?

Urs Martin: So wie sie geführt wurden, nicht. Deshalb haben wir die Empfehlungen aus dem Untersuchungsbericht in Form von verwaltungsrechtlichen Auflagen der Klinik als Entscheid zugestellt, damit sich diese Stationen umgehend gründlich neu aufstellen können.

Sind die im Bericht erwähnten Verantwortlichen noch tragbar?

Personalentscheide sind Sache der Klinik. Wir werden aber beobachten, wie sie sich im Bereich der Traumastationen personell neu aufstellt. Und wir werden genau hinschauen, dass hier Personen in die Verantwortung kommen, welche die Therapie basierend auf wissenschaftlichen Fakten sicherstellen.

An der Zusammenarbeit zwischen dem Kanton Thurgau und der Clienia Littenheid ändert sich nichts?

Man muss klar sagen: In den Bereichen der Traumatherapie-Stationen wird die Zusammenarbeit derzeit neu ausgerichtet. Solange nicht der Beweis erbracht ist, dass man dort völlig neu aufgestellt ist, werden wir unser Gütesiegel nicht geben. Aber in den anderen Bereichen haben wir keine Veranlassung, an dieser Klinik zu zweifeln.

Der Untersuchungsbericht erwähnt, dass angeforderte Akten von der Klinik unterschlagen wurden, kritische Passagen aus Berichten gelöscht worden sind oder fragwürdige Referenten auf einer angeforderten Vortragsliste nicht auftauchten. Wie viel Vertrauen können Sie der Klink noch entgegenbringen?

Es gibt einen Unterschied zwischen der Führung vor Ort in Littenheid und der Führung des Clienia-Konzerns. Beim Konzern wurde mir versichert, dass sie alles daransetzen, um die Situation in Ordnung zu bringen und das Vertrauen wieder herzustellen.

Werden derzeit Thurgauer Patienten in die Traumatherapie-Stationen nach Littenheid überführt?

Ich gehe davon aus, dass man diese Stationen jetzt zunächst völlig runterfährt. Es muss sich auch zeigen, welche personellen Konsequenzen und was für externe Unterstützung nötig sind. Der Rest der Klinik ist solid unterwegs. Man muss aufpassen, dass man eine wichtige Leistungserbringerin im Kanton aufgrund einer sehr bedauerlichen Angelegenheit nun nicht völlig in Verruf bringt.

Auch die Belegschaft war gemäss Untersuchungsbericht stark beeinflusst von Verschwörungstheorien. Reichen nun die Massnahmen, um diese tiefgründigen Missstände zu beheben?

Ich denke, es liegt auch im Interesse der Klinik, nun reinen Tisch zu machen. Offenbar funktionierten Kontrollmechanismen zu wenig. Es gilt jedoch zu sagen, dass wir auch geschaut haben, ob andere Bereiche ausserhalb der beiden Traumatherapie-Stationen ebenfalls betroffen sind, beispielsweise die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das ist nach dem, was wir bisher wissen, definitiv nicht der Fall.

Gab es auch vor den Medienbeiträgen über die Klinik Hinweise an den Kanton, dass in Littenheid seltsame Behandlungen durchgeführt werden?

Nein, das gab es nicht. Das haben wir genau angeschaut. Als wir aber nach dem Erscheinen der Medienbeiträge Hinweise erhielten, gingen wir der Sache gründlich nach. Das war nun eine monatelange Untersuchung eines schwierigen Sachverhalts. Vieles dabei ist weder schwarz noch weiss. Deshalb haben wir auch renommierte Ärzte hinzugezogen, die zu den Vorkommnissen Stellung bezogen haben. Die Untersuchung war für alle anspruchsvoll.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/littenheid-satanistische-verschwoerungstheorien-in-der-trauma-therapie-gesundheitsdirektor-fordert-von-der-klinik-littenheid-personelle-konsequenzen-ld.2382283)