Medienspiegel 23. November 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Gesuch des Kantons um Nutzung der Containeranlage im Bözingenfeld als Erstaufnahmezentrum für die allgemeine Migration
Der Gemeinderat hat beschlossen, die bis zum 31. August 2023 befristete Ausnahmebewilligung zum Betrieb der Containeranlage im Bözingenfeld als kantonales Erstaufnahmezentrum im Asylbereich (EAZ) auf die allgemeine Migration zu erweitern. Die auf Ersuchen der kantonalen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) erfolgte Zustimmung erfolgt mit der Auflage, dass sämtliche in der Containeranlage im Bözingenfeld untergebrachten Personen jeweils nicht mehr als insgesamt 4 Wochen in dieser verbleiben dürfen. Der Gemeinderat trägt dabei dem zunehmend schlechten Zustand der Anlage Rechnung, anerkennt aber auch die Probleme, die sich mit dem überaus starken Zustrom von Schutz- und Asylsuchenden in den letzten Monaten eingestellt haben. Er hofft damit seinen Beitrag leisten zu können, damit in den bevorstehenden Wintermonaten drohende Obdachlosigkeit von Schutz- und Asylsuchenden vermieden werden kann.
https://www.biel-bienne.ch/de/news.html/29/news/3558
-> https://www.bernerzeitung.ch/biel-stellt-kanton-wohncontainer-fuer-gefluechtete-zur-verfuegung-213813424065



ajour.ch 23.10.2022

Biel gibt grünes Licht: Im Containerdorf können wieder Asylsuchende einziehen

Der Kanton Bern sucht dringend nach Plätzen für geflüchtete Personen. Nun hat die Stadt Biel eingewilligt, in Bözingen nicht nur ukrainische Asylsuchende einzuquartieren.

Carmen Stalder

Der Bieler Gemeinderat hat beschlossen, die Ausnahmebewilligung zum Betrieb der Containeranlage im Bözingenfeld zu erweitern. Konkret soll die Unterkunft anders als ursprünglich angedacht nicht als Erstaufnahmezentrum für ukrainische Flüchtlinge dienen, sondern für solche aus allen Ländern. Das hat der Gemeinderat in einer Medienmitteilung bekannt gegeben.

Der Kanton Bern sucht derzeit händeringend nach Unterbringungsmöglichkeiten für Menschen, die in der Schweiz Asyl suchen. Die Bundesasylzentren sind völlig ausgelastet, entsprechend nehmen die Eintritte in den Kanton stark zu. Bei den geflüchteten Personen handelt es sich aktuell vor allem um Menschen aus Afghanistan und der Türkei.

Stadt stellt Bedingungen

Die Stadt Biel hat auf ein Gesuch der kantonalen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) reagiert. Mediensprecher Gundekar Giebel sagte bereits Anfang Monat gegenüber dem «Bieler Tagblatt», dass viele Unterkünfte explizit für ukrainische Flüchtlinge angeboten worden seien. Der Kanton kläre deshalb ab, ob die Betten nicht für alle Schutzsuchenden zur Verfügung gestellt werden könnten.

Dasselbe gilt für das Containerdorf in Bözingen. Nun ist der Bieler Gemeinderat dem Gesuch des Kantons zwar nachgekommen, er stellt aber Bedingungen. So sollen die in der Containeranlage untergebrachten Personen jeweils nicht mehr als vier Wochen bleiben dürfen. Die Ausnahmebewilligung ist zudem auf Ende August befristet.

Die kurze Aufenthaltsdauer begründet der Gemeinderat mit dem schlechten Zustand der Anlage. «Wir wollen nicht zurück zur früheren Situation, als Familien teils jahrelang hier gelebt haben», sagt Beat Feurer (SVP), Direktor Soziales und Sicherheit.

Wartezeiten überbrücken

Die Unterkunft im Bözingenfeld ist laut Gundekar Giebel primär als Erstaufnahmezentrum bei erneut stark steigenden Eintrittszahlen in den Kanton Bern gedacht. Sie könne nützlich sein, um die Wartezeiten für den Aufnahmeprozess zu überbrücken. Die Container werden erst bei Bedarf in Betrieb genommen – wann dies der Fall ist, sei schwierig zu sagen.

Maximal könnten hier 200 Personen untergebracht werden. Noch ist die Einrichtung der Unterkunft in Bözingen aber nicht abgeschlossen. Zudem muss genügend Personal aufgetrieben werden. «Eine sofortige Inbetriebnahme ist deshalb nicht möglich», so Giebel.
(https://ajour.ch/story/biel-gibt-grnes-licht-im-containerdorf-knnen-wieder-asylsuchende-einziehen/42253)



Weier: Platz für 30 minderjährige Asylsuchende im Emmental
Bis zu 30 unbegleitete minderjährige Asylsuchende sollen künftig im Weier im Emmental untergebracht werden. Das teilten der Kanton Bern und die Standortgemeinde Affoltern i. E. am Dienstag mit.
https://www.neo1.ch/artikel/weier-platz-fuer-30-minderjaehrige-asylsuchende-im-emmental


+++AARGAU
PAUSCHALE FÜR ASYLSUCHENDE WIRD NICHT ERHÖHT: «ERWARTBAR UND DENNOCH ERNÜCHTERND», FINDET DER NETZWERK-ASYL-CHEF
Der Aargau bezahlt weiterhin die tiefste Tagespauschale aller Kantone an Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene. Rolf Schmid, der Präsident von Netzwerk Asyl, ist vor allem von der Mitte enttäuscht.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/grosser-rat-pauschale-fuer-asylsuchende-wird-nicht-erhoeht-erwartbar-und-dennoch-ernuechternd-findet-der-netzwerk-asyl-chef-ld.2377162
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/asylsuchende-erhalten-im-aargau-nicht-mehr-geld-fuer-das-essen?id=12291004


+++ÖSTERREICH
Beschimpfungen, Schläge: Das harte Los schwuler Asylwerber in Massenunterkünften
Unter der Unterbringungskrise im Asylwesen leiden vor allem vulnerable Gruppen von Flüchtlingen. Betroffene berichten von Übergriffen
https://www.derstandard.at/story/2000141086921/beschimpfungen-schlaege-das-harte-los-schwuler-asylwerber-in-massenunterkuenften?ref=rss


+++GROSSBRITANNIEN
Illegale Handy-Durchsuchungen: Britische Regierung muss betroffene Asylsuchende informieren
Das britische Innenministerium hat illegal die Handys von Geflüchteten beschlagnahmt und durchsucht. Ein Verstoß gegen die Menschenrechte, urteilte ein hohes Gericht. Den Betroffenen steht womöglich eine Entschädigung zu.
https://netzpolitik.org/2022/illegale-handy-durchsuchungen-britische-regierung-muss-betroffene-asylsuchende-informieren/


+++GRIECHENLAND
Unterkunft für 1200 Personen – Flüchtlingslager auf Samos: «Es ist ein umstrittenes Konzept»
Vor einem Jahr wurde auf Samos ein neues Lager für Flüchtlinge eröffnet. Das Areal ist abgelegen und Zutritt ist nur durch Sicherheitskontrollen möglich. Heute leben dort 1200 Personen. Rodothea Seralidou hat dieses Flüchtlingslager besucht.
https://www.srf.ch/news/international/unterkunft-fuer-1200-personen-fluechtlingslager-auf-samos-es-ist-ein-umstrittenes-konzept


+++MITTELMEER
Abkommen mit Drittländern, Charterflüge und Inhaftierung: Die Freiheit stirbt im Mittelmeer
Das rassistische Vorgehen gegen migrierende Personen wird immer gewaltvoller: zwischen Isolation, direkten Flügen aus der Abschiebungshaft (CPR*), „blitzartige“ Rückführungen und Zurückweisungen ist Sizilien der geopolitische Dreh- und Angelpunkt der sicherheitspolitischen Regierung.
https://www.borderlinesicilia.it/de/monitoraggio/abkommen-mit-drittlaendern-charterfluege-und-inhaftierung-die-freiheit-stirbt-im-mittelmeer/


+++GASSE
Das Drogeninformationszentrum der Stadt Zürich erhält mehr Geld (ab 04:21)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/zuercher-politik-diskutiert-ueber-moeglichen-wegzug-der-fifa?id=12291274


«Enorm lange Wartelisten»: Obdachlose haben kaum Chancen auf Wohnungen
In der Schweiz gibt es schätzungsweise rund 2200 Menschen, die auf der Strasse leben. Davon auch einige in der Stadt Luzern. Mit dem Konzept «Housing First» will man Obdachlosen wieder ein Zuhause geben. Die Stadt unterstützt den Gedanken, will aber kein eigenes Projekt.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/stadt-luzern-enorm-lange-wartelisten-obdachlose-haben-kaum-chancen-auf-wohnungen-ld.2377050


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
“Vor der Iran Botschaft in Bern findet aktuell ein spontaner Protest statt um das Maßaker in Rojhilat zu verurteilen. Das iranische Regime hat in den letzten 7 Tagen mind. 72 Menschen getötet, davon 56 in Ostkurdistan.
Und berner Bullen kommen gleich mit WaWe…
#IranProtests”
(https://twitter.com/gegen_oben/status/1595423296786468864)


Heute Tag X Demo Rojava verteidigen
Im Rahmen der internationalen Kampagne Rise up for Rojava gehen wir heute auch in Luzern auf die Strasse. Dazu treffen wir uns um 18:00 Uhr auf dem Mühleplatz in Luzern
https://resolut.noblogs.org/post/2022/11/23/heute-tag-x-demo-rojava-verteidigen/


Zürich: Handelskammer Schweiz-Iran markiert
In der Nacht auf den 22.11.2022 haben wir der schweizerisch-iranischen Handelskammer an der Oberen Waidstrasse in Zürich einen Besuch abgestattet. Wer dem Schweizer Kapital hilft im Iran Fuss zu fassen ist Kollaborateur_in des iranischen Regimes. Gut sichtbar prangt nun auf der gegenüberliegenden Strassenseite die Mahnung: «CH-Kapital raus aus dem Iran!», am Haus selber hingegen grüssten wir unsere kämpfenden Genoss_innen im Iran mit «Jin – Jiyan – Azadi». Diese Aktion steht im Zeichen des 25. November – dem internationalen Kampftag gegen Gewalt an Frauen und queeren Personen.
https://barrikade.info/article/5485


Basler Frauenstreik-Demonstrantinnen werden nicht in allen Punkten schuldig gesprochen
Zwei Frauen nahmen im Juni 2020 am Basler Frauenstreik teil und wurden verhaftet. Nun hat das Strafgericht sie für die Störung des öffentlichen Verkehrs schuldig gesprochen. Doch der Hauptvorwurf konnte nicht bestätigt werden.
https://www.watson.ch/schweiz/frauenstreik/969159840-basler-frauenstreik-demonstrantinnen-sind-zum-teil-schuldig
-> https://telebasel.ch/2022/11/23/strafgericht-verurteilt-demonstrantinnen-des-frauenstreiks/?utm_source=lead&utm_medium=grid&utm_campaign=pos%200&channel=105100



bzbasel.ch 23.11.2022

Unbewilligte Demo am Basler Frauenstreik: Zwei Teilnehmerinnen werden verurteilt

Die Demonstration vom 14. Juni 2020 und die Reaktion der Basler Polizei gibt auch zwei Jahre später noch zu reden. Die Verhandlung am Strafgericht wurde zur Solidaritätskundgebung.

Zara Zatti

Am 14. Juni 2020 – am Frauenstreik – wurde auf der Johanniterbrücke eine Gruppe Demonstrierende von der Polizei eingekesselt, anschliessend kam es zu Personenkontrollen. Vorangegangen waren zwei unbewilligte Kundgebungen auf der Mittleren Brücke und vor dem Universitätsspital Basel. Der Polizeieinsatz führte zu breiter Kritik von Politik und Medien. Entsprechend gross war das Interesse am Mittwoch, als zwei Frauen infolge der Demonstration vor dem Basler Strafgericht standen.

In einem Strafbefehl wird ihnen die Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen, nicht bewilligte Versammlungen und die Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft forderte eine bedingte Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu 30 Franken und eine Busse von 500 Franken. Mit weiteren Gebühren hätten die beiden Frauen, sollten sie den Strafbefehl akzeptieren, eine Summe von 840 Franken bezahlen müssen. Beide erhoben aber Einspruch gegen die Strafbefehle. Grund dafür war, wie vor Gericht klar wurde, weniger die Geldsumme als vielmehr ein politisches Statement.

Solidaritätskundgebung vor dem Strafgericht

Zwei Stunden vor der Verhandlung versammelte sich eine Gruppe von etwa 50 Personen vor dem Gericht, um sich mit den Beschuldigten zu solidarisieren. Mit Musik und mehreren Reden machten sie nochmals auf die Forderungen des Frauenstreiks aufmerksam, wegen denen sie vor zwei Jahren auf die Strasse gingen. Es ging um Gewalt an Frauen und die «Unterdrückung durch das Patriarchat». Die Reaktion der Polizei vor zwei Jahren – so die Meinung der Rednerinnen – sei Ausdruck ebendieses Patriarchats.

Die Verteidigerin und der Verteidiger der beiden Frauen forderten einen vollumfänglichen Freispruch. Sie beriefen sich grundsätzlich auf den Artikel 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention – «Jede Person hat das Recht, sich frei und friedlich mit anderen zu versammeln». Dabei seien friedliche Kundgebungen durch den Artikel geschützt – ob diese bewilligt oder unbewilligt seien.

Die Einkesselung durch die Polizei sei zudem unverhältnismässig gewesen, somit liege ein Amtsmissbrauch des Einsatzleiters vor. Man prüfe eine Anklage, sagte der Verteidiger an der Gerichtsverhandlung.

Ab wann ist man Veranstalterin einer Kundgebung?

Während des Frauenstreiks galt noch die Regelung, dass bei einer Veranstaltung von mehr als 300 Personen ein Corona-Schutzkonzept ausgearbeitet werden und sich eine verantwortliche Person um dessen Umsetzung kümmern muss. Die beiden angeklagten Frauen werden im Strafbefehl als Veranstalterinnen der unbewilligten Kundgebung betrachtet. Der Einsatzleiter der Polizei sagte vor Gericht aus, man sei zu diesem Schluss gekommen, weil die Angeklagten ein Megafon gehalten hätten, Flyer verteilt und Lautsprecher mitgebracht hatten.

Die Publikumsplätze im Gericht waren bis auf den letzten besetzt, weil zusätzlich noch drei Schulklassen dem Prozess beiwohnten, wurde die Verhandlung in einen anderen Raum übertragen. Die beiden Angeklagten verweigerten auf Fragen zu ihrer Identifikation durch vorgezeigte Video die Aussage. Eine der beiden Frauen sagte aber: «Wäre ich auf der Brücke gewesen, wäre ich stolz.»

Die Anwesenheit auf der Johanniterbrücke bestritt sie nicht, «aber ich habe nicht gewusst, dass es sich um eine unbewilligte Demonstration handelte». Beim dritten Vorwurf zur Versammlung vor dem Unispital Basel macht sie auf den Notstand in der Pflege aufmerksam und zitierte Brecht: «Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zu Pflicht.»

Die beiden Frauen wurden wegen Störung von Betrieben zu einer bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu 70 und 80 Franken verurteilt.
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/strafgericht-unbewilligte-demo-am-basler-frauenstreik-zwei-teilnehmerinnen-werden-verurteilt-ld.2377484)



Basler Zeitung 23.11.2022

Nach umstrittenem PolizeieinsatzStrafgericht verurteilt Teilnehmerinnen des Basler Frauenstreiks

Das Basler Strafgericht hat zwei Teilnehmerinnen der Frauenstreik-Demo von 2020 schuldig gesprochen, weil sie den öffentlichen Verkehr gestört haben.

Sebastian Schanzer

14. Juni 2020: Rund 300 demonstrierende Frauen blockieren während einer Stunde den Tramverkehr auf der Mittleren Brücke. Die Polizei ruft sie dazu auf, ihre unbewilligte Demo aufzulösen, woraufhin sich der Zug über Blumenrain und Spitalstrasse auf die Johanniterbrücke begibt. Noch einmal blockieren die Demonstrantinnen unterwegs den Verkehr für etwa zehn Minuten. Auf der Johanniterbrücke greift die Polizei dann durch. Sie errichtet beidseitig Sperren, führt während mehr als zwei Stunden Personenkontrollen durch und verteilt etliche Bussen von 100 Franken an Demoteilnehmerinnen wegen Verstosses gegen die Corona-Verordnung.

Die Vermittlungsversuche der beiden Grossrätinnen Raffaela Hanauer (damals Junge Grüne) und Jessica Brandenberger (SP) sowie der Basler Nationalrätin Sibel Arslan (Grünes Bündnis) führen zwar zu langen Diskussionen, können das Durchgreifen der Polizei aber nicht mehr verhindern. Auch Sibel Arslan wird von der Polizei abgeführt, die Staatsanwaltschaft will später gegen sie ermitteln wegen «Hinderung einer Amtshandlung», scheitert aber an Arslans Immunität als Bundesparlamentarierin.

Anders als die meisten Teilnehmerinnen der Demo werden einige Frauen nicht mit Ordnungsbussen bestraft, sondern bei der Staatsanwaltschaft (Stawa) angezeigt und später mittels Strafbefehl zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 30 Franken sowie einer Busse von 500 Franken verurteilt.  Am Mittwoch standen zwei dieser insgesammt acht als Demo-Veranstalterinnen beschuldigten Frauen vor dem Basler Strafgericht.

Fehlende Beweise

Von der Staatsanwaltschaft vorgeworfen wurde den beiden die Störung des öffentlichen Verkehrs, Widerhandlungen gegen die geltenden Covid-Bestimmungen und die Organisation einer unbewilligten Demonstration. Kundgebungen mit mehr als 300 Teilnehmenden waren laut Covid-Verordnung zu diesem Zeitpunkt verboten. Für Demos mit weniger Personen hätte zudem ein Schutzkonzept erarbeitet und umgesetzt sowie eine verantwortliche Person für dessen Einhaltung bezeichnet werden müssen.

Die Staatsanwaltschaft sah es als erwiesen an, dass an der Demo mehr als 300 Personen teilgenommen hatten. Ein Schutzkonzept sei von den Veranstalterinnen weder erstellt noch umgesetzt worden. Dass die beiden beschuldigten Frauen als «Veranstalterinnen» bezeichnet werden können, leitete die Stawa aus dem Umstand ab, dass diese an der Demo «mitwirkten», etwa durch das Halten einer Rede oder Verteilen von Flyern.

Die Beschuldigten verweigerten während der Verhandlung weitgehend die Aussage. Beide Verteidiger, darunter der renommierte Zürcher Anwalt Bernard Rambert, wiesen die Anklage aber in allen drei Punkten zurück und forderten Freisprüche. Die Teilnahme an der Kundgebung mache die Beschuldigten nicht automatisch zu «Rädelsführerinnen», und dass tatsächlich mehr als 300 Personen teilgenommen hatten, gehe aus den Beweismitteln, vor allem Videoaufnahmen, nicht hervor.

Auf der Johanniterbrücke wurden lediglich 280 Bussen verteilt. Des weiteren, argumentierte die Verteidigung, sei die erfolgte Störung des öffentlichen Verkehrs nicht als schwer zu bewerten, weshalb eine strafrechtliche Verurteilung deswegen ein unverhältnismässiger Eingriff in das Recht der Versammlungsfreiheit wäre. Den Verkehr erst recht blockiert habe indes die Polizei mit ihrer Personenkontrolle, die mehr als zwei Stunden in Anspruch nahm.

Geringes Verschulden

Auch Gerichtspräsident Mehmet Sigirci befand, dass den beschuldigten Frauen zwar die Teilnahme, nicht aber die Organisation der Kundgebung bewiesen werden könne. Er sprach die beiden Frauen deshalb frei bezüglich Widerhandlungen gegen die geltenden Covid-Bestimmungen und Teilnahme an einer nicht bewilligten Demonstration.

Einen Schuldspruch gab es allerdings wegen Störung des öffentlichen Verkehrs. Insgesamt für mehr als eine Stunde sei dieser beeinträchtigt worden. Weil Trams und Busse teilweise umgeleitet werden mussten, erachtete der Richter die Störung als ausreichend für die Verurteilung zu einer bedingten Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu 70 beziehungsweise 80 Franken. Das Verschulden sei als gering zu werten, urteilte Sigirci, zumal die Kundgebung gewaltlos und ohne Sachbeschädigungen vonstatten gegangen sei.

Verteidigung prüft Anzeige gegen Polizisten

Ob die Verteidigung den Schuldspruch akzeptiert, wollte sie am Mittwoch noch nicht entscheiden. Das Urteil kann weitergezogen werden. Zudem stellte der Anwalt Rambert in Aussicht, eine Strafanzeige gegen den Einsatzleiter der Basler Kantonspolizei zu prüfen. Er stellte sich auf den Standpunkt, die «Einkesselung» der friedlichen Demonstrantinnen auf der Johanniterbrücke sei nicht verhältnismässig gewesen. Die Polizei habe durch ihren  «brutalen» Einsatz – etwa das Drohen mit einem Schlagstock – auch panische Reaktionen in Kauf genommen.

Nach dem Urteil vom Mittwoch ist derzeit noch eine Verhandlung in Zusammenhang mit dieser Kundgebung hängig, wie eine der Verurteilten auf Anfrage sagt. Fünf beschuldigte «Veranstalterinnen» hätten den Strafbefehl nicht angefochten. Von den 280 Personen, die lediglich eine Busse erhalten hatten, wurden insgesamt  drei Beschuldigte aus Mangel an Beweisen freigesprochen.
(https://www.bazonline.ch/strafgericht-verurteilt-teilnehmerinnen-des-frauenstreiks-110340802090)


+++MENSCHENRECHTE
Die Menschenrechte im Schweizer Sozialhilfesystem
Das Schweizer Sozialhilfesystem weist aus menschenrechtlicher Perspektive zahlreiche Schwachstellen auf. Strukturelle Mängel und der zunehmende Druck öffentlicher Ausgabenkürzungen führen dazu, dass unterstützungsbedürftige Menschen unter prekären Bedingungen leben und Eingriffen in ihre Grund- und Menschenrechte ausgesetzt sind. Mit den bestehenden rechtlichen Rahmenbedingungen verletzt die Schweiz ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen.
https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/armut-sozialrechte/menschenrechte-schweizer-sozialhilfesystem


+++ANTITERRORSTAAT
Nationaler Terrorausschuss: Bund und Kantone koordinieren die politische Führung in Terrorlagen
Zur Bewältigung einer Terrorlage ist eine effiziente Koordination zwischen Bund und Kantonen entscheidend. Mit dem Nationalen Terrorausschuss (NATA) schafft der Bundesrat zu diesem Zweck ein politisches Koordinationsgremium. Er hat die notwendige Verordnung an seiner Sitzung vom 23. November 2022 beschlossen. Der NATA soll im Terrorfall die zuständigen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger von Bund und Kantonen zusammenführen. Aufgabe des NATA ist die Koordination der politischen Führung und Kommunikation in Terrorlagen. Die Verordnung tritt am 1. Januar 2023 in Kraft.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-91830.html


+++KNAST
LGBTQI* im Gefängnissen – Trans Frau im Männergefängnis
Trans Menschen in Haft stellen den Justizvollzug vor eine neue Herausforderung. Soll eine trans Frau in ein Männer- oder in ein Frauengefängnis? Diese Personen sind im Gefängnis gefährdet: Es droht Diskriminierung und Gewalt. Ein aktueller Fall dokumentiert die Suche nach Lösungen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/lgbtqi-im-gefaengnissen-trans-frau-im-maennergefaengnis
-> Rundschau (ab 32:52): https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/maenner-ausgeschlossen-millionen-fuer-die-papst-garde-transfrau-im-maennergefaengnis?urn=urn:srf:video:d20389af-8ee3-43a7-be9b-fd95ba74fb38


Neuer Direktor für das Regionalgefängnis Bern
Am 1. Januar 2023 übernimmt Eugen Marty die Leitung des Regionalgefängnisses Bern. Er hat sich aufgrund seiner langjährigen Erfahrung im Dienste der öffentlichen Sicherheit und jener von Privatunternehmen als der am besten qualifizierte Kandidat im Auswahlverfahren durchgesetzt.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=e3583a90-3178-4862-83ea-d5bc8b19d6b2
-> https://www.derbund.ch/eugen-marty-wird-gefaengnisdirektor-655792143104


+++POLIZEI DE
Letzte Generation: Gewerkschaft der Polizei fordert Vorbeugehaft gegen Klimaaktivisten
In Bayern können Menschen bis zu zwei Monate festgehalten werden, um eine Straftat zu verhindern. Die Polizeigewerkschaft will eine solche Regelung für ganz Deutschland.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-11/letzte-generation-polizei-gewerkschaft-vorbeugehaft
-> https://www.rnd.de/politik/strafen-fuer-klimaaktivisten-polizeigewerkschaft-fordert-bundesweite-vorbeugehaft-BHUVXDLEAFHQHOKRWRWVDS4BLY.html


+++FRAUEN/QUEER
Neuer Stadtrundgang: Ein historischer Blick in das queere Bern
Ein neuer Stadtrundgang in Bern führt durch wichtige Orte für die Queere Community. Von ehemaligen Clubs bis zum Marzilibad zeigt dir der Rundgang, wo sich die Community entwickelt hat.
https://www.baerntoday.ch/bern/ein-historischer-blick-in-das-queere-bern-148856731


Theater für Kinder : Die Dragqueen und ¬ das Rotkäppchen
In ihrer aktuellen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zeigt Brandy Butler, wie ein entspannter Umgang mit unterschiedlichen Identitäten aussehen kann.
https://www.woz.ch/2247/theater-fuer-kinder/theater-fuer-kinder-die-dragqueen-und-das-rotkaeppchen/%21NN0TRGAT0AF0


+++RASSISMUS
Antirassistische Schule: «Das wäre unserer Gesellschaft würdig»
Vorurteile, rassistische Schulbücher, unfaire Selektion: Rahel El-Maawi, Mitautorin des Buchs «No to Racism», fordert Schulen zu Reformen auf.
https://www.woz.ch/2247/antirassistische-schule/antirassistische-schule-das-waere-unserer-gesellschaft-wuerdig


Walzenhausen AR: Nach Rassismuseklat wegen Blackfacing – Staatsanwaltschaft eröffnet Verfahren
Ein Video eines schwarzangemalten Jodlers mit Trommel und Bastrock sorgte am Wochenende für Kopfschütteln. Nun eröffnet die Staatsanwaltschaft ein Verfahren wegen Rassendiskriminierung.
https://www.20min.ch/story/nach-rassismuseklat-wegen-blackfacing-staatsanwaltschaft-eroeffnet-verfahren-698360482109
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/appenzellerland/skandal-auftritt-blackfacing-skandal-in-walzenhausen-zieht-konsequenzen-nach-sich-staatsanwaltschaft-leitet-verfahren-ein-ld.2377527?mktcid=smch&mktcval=twpost_2022-11-23


+++RECHTSPOPULISMUS
Anti-Chaoten-Initiative: Geht’s jetzt den Aktivisten ans Portemonnaie?
Wer demonstriert, soll die Rechnung für Polizeieinsätze und verursachte Schäden selbst bezahlen. Das fordert die «Anti-Chaoten-Initiative», welche die Junge SVP des Kantons Zürich gestern eingereicht hat. Vor allem in der Stadt Zürich kommt es regelmässig zu unbewilligten Kundgebungen und illegalen Aktionen. Gefährdet die Initiative das demokratische Recht, politische Anliegen auf die Strasse zu tragen? Oder wird es höchste Zeit, Demonstranten und Aktivistinnen zur Kasse zu bitten? Die kontroverse Diskussion, heute live im «TalkTäglich».
https://tv.telezueri.ch/talktaeglich/anti-chaoten-initiative-gehts-jetzt-den-aktivisten-ans-portemonnaie-148546284


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Oliver Nachtwey: Kritisches Denken oder Verschwörungstheorien?
Die Massnahmen gegen die Corona-Pandemie kamen schnell und waren einschneidend. Sie haben die Gesellschaft gespalten und zu Polarisierung geführt. Der Soziologieprofessor Oliver Nachtwey hat die Bewegung der sogenannten Querdenker untersucht sowie die Radikalisierung der des Kritischen Denkens.
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/oliver-nachtwey-kritisches-denken-oder-verschwoerungstheorien?id=12291058


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Mit einer Volksinitiative: SVP-Brunner will Zürich vom Genderstern befreien
Die Zürcher Gemeinderätin Susanne Brunner lanciert eine Volksinitiative, um den Zürcher Behörden das Gendern zu verbieten. Ihr Kampf gegen die «Sprachpolizei» dauert schon Jahre.
https://www.blick.ch/politik/mit-einer-volksinitiative-svp-brunner-will-zuerich-vom-genderstern-befreien-id18077967.html



nzz.ch 23.11.2022

Die Zürcher SVP-Politikerin Susanne Brunner lanciert eine Volksinitiative gegen den Genderstern: «Rot-Grün missbraucht die Sprache als politisches Instrument für einen Geschlechterkampf», sagt sie

Nonbinären Personen empfiehlt sie, die deutsche Grammatik genauer zu studieren.

Isabel Heusser, Daniel Fritzsche

Die Zürcher SVP-Stadtparlamentarierin Susanne Brunner hat eine Mission: Sie ist eine selbsternannte Kämpferin gegen die «Genderpolizei». Ihr Engagement gründet auf einem Vorfall im Sommer 2019. Damals wies das Büro des Gemeinderats einen Vorstoss Brunners zurück mit der Begründung, er sei nicht gendergerecht formuliert.

Das liess sie nicht auf sich sitzen: Brunner wehrte sich juristisch – und bekam recht. Sprachformale Vorgaben seien keine ausreichende gesetzliche Grundlage für eine Rückweisung, hiess es.

Nun geht Brunner einen Schritt weiter: Am Mittwoch lanciert sie eine Volksinitiative mit dem Ziel, der Stadtverwaltung das Gendern zu untersagen. Titel der Initiative: «Tschüss Genderstern!» Konkret soll in der Gemeindeordnung – der städtischen Verfassung – festgehalten werden, dass die Stadt eine «klare, verständliche und lesbare Sprache» verwendet und in ihren Dokumenten auf Sonderzeichen innerhalb einzelner Wörter verzichtet.

Frau Brunner, Sie kämpfen gegen Gendersternchen, Binnen-I und Glottisschläge in der deutschen Sprache. Nun lancieren Sie sogar eine Initiative, um das Gendern in der Zürcher Stadtverwaltung zu stoppen. Warum dieser Furor?

Bei keinem anderen politischen Thema habe ich so viele Rückmeldungen erhalten wie damals, als ich mich gegen die Gendersprache bei politischen Vorstössen wehrte. Noch lange danach haben mich Leute auf der Strasse angesprochen und sich bedankt, dass ich mich für die deutsche Sprache engagiere. Sogar aus Deutschland oder Österreich habe ich Zuspruch bekommen. Ich habe den Eindruck, dass sich viele Leute machtlos fühlen gegenüber den Eingriffen von Eliten in unsere Sprache. Mit meiner Initiative will ich der Bevölkerung die Möglichkeit geben, Stellung zu dieser wichtigen Frage zu nehmen.

Aber braucht es dazu wirklich einen Eintrag in der Zürcher Gemeindeordnung?

Die Stadtpräsidentin Corine Mauch gendert mittlerweile konsequent, sowohl schriftlich als auch mündlich, sie spricht die Bürger mit «Zürcher*innen» an. Das entspricht nicht der deutschen Rechtschreibung, nicht dem, was an den Schulen gelehrt wird. Wenn man den Genderstern anwendet, führt das zu grammatikalisch falschen Formen: «Ärzt*in», «Bäuer*in» . . . Das ist irreführend. Es gibt keinen «Ärzt» und auch keinen «Bäuer». Man muss sich fragen: Warum kommunizieren die Stadtregierung und die Verwaltung in einer Sprache, die nicht der breiten Bevölkerung entspricht?

Ihre Antwort darauf?

Die rot-grüne Stadtregierung missbraucht die Sprache als politisches Instrument für eine Art Geschlechterkampf und auch, um verschiedene Geschlechtsidentitäten penetrant zu betonen. Aber die Sprache gehört nicht dem Zürcher Stadtrat, sie gehört uns allen.

Sie reden von Geschlechterkampf. Das könnte man auch Ihnen vorwerfen: Sie setzen sich für das traditionelle Verständnis von Geschlechtern ein, jetzt sogar mit einer Volksinitiative.

Was ist denn der Sinn und Zweck von Sprache? Menschen sollen einander verstehen. Sprache muss klar sein. Vor nicht allzu langer Zeit bemühte sich die Stadt mit der sogenannten «Leichten Sprache», behördliche Texte verständlicher zu machen. Nun macht der Stadtrat genau das Gegenteil. Gendern macht die Sprache sperrig und unverständlich, vor allem, wenn man es übertreibt.

Faktisch will Ihre Initiative das Gendern verbieten. Letztlich ist das eine illiberale Haltung.

Das sehe ich anders: Die Initiative befreit die Stadt Zürich vom Genderstern. Sie ist eine Reaktion auf die Revision des Reglements über die sprachliche Gleichstellung, die der Stadtrat im Sommer erlassen hat. Hier hat sich unsere Regierung verrannt. Der deutsche Rat der Rechtschreibung lehnt den Genderstern ab. Die Bundeskanzlei ebenfalls. Er führt zu Rechtsunsicherheiten, das gibt die Stadt sogar selbst zu. Gemäss dem städtischen Reglement darf etwa in Abstimmungstexten, in Weisungen oder Eingaben an Gerichten der Genderstern nicht angewendet werden. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben von Behörden, so zu kommunizieren, dass die Bevölkerung sie versteht. Wenn es nun aber in einer Polizeimeldung heisst: «Die Bankräuber*innen sind geflüchtet» – muss man jetzt Männer oder Frauen suchen?

Trotzdem: Sie haben sich immer gegen Sprachdiktate gewehrt. Nun verordnen Sie selbst eins.

Das erste Sprachdiktat ist dasjenige des Zürcher Stadtrats, der sämtliche Mitarbeiter der Verwaltung zum Gendern zwingt. Meine Initiative soll die Mitarbeiter von diesem Zwang befreien, der nicht demokratisch legitimiert ist.

Sie selber verwenden ja konsequent das generische Maskulinum. Gerade jüngeren Leuten ist das aber nicht mehr geläufig, und Frauen fühlen sich nicht mitgemeint, wenn zum Beispiel bloss von «den Studenten» oder «den Schülern» die Rede ist.

Das generische Maskulinum ist eine saubere, bewährte Lösung. Es schliesst niemanden aus: Frauen, Männer, Transpersonen, alle sind eingeschlossen. Es ist klar, es ist einfach, es ist die inklusivste Form überhaupt.

Sprache befindet sich seit je im Wandel. Die Stadt hat das Gendern eingeführt, weil sie mit ihrer Kommunikation explizit niemanden ausschliessen will. Was ist daran falsch?

Natürlich wandelt sich die Sprache, das ist auch richtig so. Wir reden heute nicht mehr so wie vor hundert Jahren. Aber repräsentative Umfragen haben gezeigt, dass das Gendern die Leute stört. Gendern hat nichts mehr mit einem natürlichen Wandel zu tun, sondern es steckt eine politische Agenda dahinter. Ständig werden Geschlechtsidentitäten betont. Meiner Meinung nach eint das die Gesellschaft nicht, es spaltet sie. In Zürich gehen die Forderungen so weit, dass auf Schulen geschlechtsneutrale Toiletten gebaut oder queere Alterssiedlungen geplant werden sollen. Aus meiner Sicht führt das in die komplett falsche Richtung. Statt Inklusion gibt es mehr Separation.

Fakt ist aber auch, dass sich etwa nonbinäre Personen wie Kim de l’Horizon, soeben ausgezeichnet mit dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis, durch das generische Maskulinum diskriminiert fühlen. Sollten wir nicht auf die Bedürfnisse von Minderheiten Rücksicht nehmen?

Doch, selbstverständlich. Allerdings empfehle ich auch diesen Gruppen, einmal die deutsche Grammatik genauer zu studieren. Vielleicht braucht es hier Nachhilfeunterricht.

Wie würden Sie Kim de l’Horizon in einer Korrespondenz ansprechen?

Da will ich mich nicht festlegen, weil diese Frage weder juristisch noch sprachlich gelöst ist.

Beide Geschlechter zu nennen, gilt auch als feministisches Anliegen. Sie sind eine erfolgreiche Politikerin und selbständige Unternehmerin – eigentlich der Prototyp einer Feministin. Ist aus Ihrer Sicht die Gleichstellung so weit erreicht, dass man sie nicht mehr in der Sprache zum Ausdruck bringen muss?

Sprache kann zur Gleichstellung nichts beitragen. Gleichstellung erreicht man nur durch Verfassung und Gesetze. In der Schweiz haben wir Gleichstellung der Geschlechter, und das ist gut so. Allerdings gibt es in Zürich politische Kräfte, die glauben, Gleichstellung sei nicht erreicht. Dann kommen sie mit Anliegen wie Gratis-Tampons in öffentlichen Toiletten oder Menstruationsferien für Verwaltungsangestellte. Sonderbehandlung für Frauen ist jedoch das Gegenteil von Gleichstellung. Und interessanterweise diskriminieren dann ausgerechnet diese Parteien ihre Männer und lassen sie nicht mehr an Wahlen teilnehmen. Dass grosse Medienhäuser wie SRF bei dieser Scheindebatte mitmachen, halte ich für falsch. Das ist ein Einknicken vor dem vermeintlich allumfassenden Zeitgeist.

Sie reichen Ihre Genderstern-Initiative allein ein und nicht im Namen der SVP. Mit Absicht?

Hinter der Initiative steht ein überparteiliches Komitee, etwa mit der Stadtparlamentarierin Isabel Garcia (GLP), dem früheren Statthalter Hartmuth Attenhofer (SP) oder dem ehemaligen CVP-Gemeinderat Markus Hungerbühler. Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass ich nicht nur Zuspruch aus bürgerlichen Kreisen bekomme, sondern auch von anderen Seiten. Meine Absicht war, die Initiative gesellschaftlich noch breiter abzustützen. Ich habe deshalb verschiedene Unternehmer in der Stadt Zürich angefragt. Alle fanden mein Anliegen gut, haben aber abgewinkt, weil sie sich bei diesem Thema nicht exponieren wollen. Das ist für mich ein Alarmzeichen.

Mit Ihrer Initiative setzten Sie sich im urbanen, rot-grünen Zürich einem Risiko aus. Es könnte sein, dass das Anliegen abgelehnt wird. Das wäre dann ein klarer Volksentscheid für den Genderstern.

Ja, dieses Resultat müsste ich dann akzeptieren. Ich bin aber sicher, dass ich mit meiner Initiative auf offene Ohren und Herzen stossen werde.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-svp-politikerin-will-genderstern-mit-initiative-stoppen-ld.1713287)
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/stadtzuercher-komitee-lanciert-initiative-gegen-genderstern-00199379/


+++HISTORY
Kanton Bern setzt Zeichen der Erinnerung
In enger Zusammenarbeit mit Gemeinden, Schulbehörden, kirchlichen Organisationen und im Dialog mit Betroffenen und Opfern erinnert der Kanton Bern an die Zeit fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Fünf Teilprojekte ermöglichen die Beschäftigung mit einem schwierigen Kapitel der Geschichte und richten gleichzeitig den Blick nach vorne, damit sich solches Unrecht nie wieder ereignet. Das Berner Zeichen der Erinnerung wird am 25. Mai 2023 lanciert.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=b1cdc172-9d24-40d3-b5c4-81c6a6037bee
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/gratis-buch-aktion-walliser-regierung-macht-rueckzieher?id=12291040 (ab 01:20)


+++HISTORY
tagblatt.ch 23.11.2022

«Verwahrlost», «liederlich», «arbeitsscheu»: Historikerin untersucht Zwangsvormundschaften im Thurgau

Die Historikerin Karin Bauer zeigt, wie es im Thurgau den Bevormundeten erging. Im Lauf des 20. Jahrhunderts wurden viele Jugendliche zwangsversorgt. In einer untersuchten Gemeinde kam es aber nach 1990 nicht mehr vor, dass die Behörden angeblich Arbeitsscheue oder Lasterhafte entmündigten.

Markus Schär*

«Man soll mich einmal in Ruhe lassen», fordert Georg Strasser von seiner Thurgauer Gemeinde. Zwanzig Jahre zuvor drohte ihm die Kirchenvorsteherschaft, sie weise ihn in die Zwangsarbeitsanstalt Kalchrain ein, wenn er weiter im Übermass trinke, seine Arbeitsstellen wechsle und nicht für seine Familie sorge. Deshalb liess sich Georg Strasser freiwillig bevormunden.

Doch die Behörden sprachen eine Zwangsentmündigung aus und sperrten ihn mehrmals in der Anstalt ein, um ihm seine «Arbeitsscheu» auszutreiben.

Unter solchen Zwangsmassnahmen litten in der Schweiz im 20. Jahrhundert Zehntausende, vor allem Jugendliche, die als «liederlich» oder «verwahrlost» galten. Ihre Schicksale gaben im letzten Jahrzehnt in der Politik zu reden: Ein «runder Tisch» arbeitete ab 2013 das Leid der Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen auf.

Und der Bund erliess ein Gesetz als Gegenvorschlag zur 2014 lancierten «Wiedergutmachungs-Initiative», um den ehemaligen Verdingkindern «Gerechtigkeit widerfahren zu lassen».

Bisher keine Untersuchung zur Deutschschweiz im 20. Jahrhundert

Dabei stützte sich die Politik auf die Untersuchungen von Historikerinnen und Historikern. Sie fragten seit den Studien des französischen Philosophen Michel Foucault zur Entstehung der Gefängnisse und der Irrenanstalten danach, wie Gesellschaften mit Menschen umgehen, deren Verhalten nicht der herrschenden Norm entspricht.

Und sie fanden reiche Quellen in den Geschichten der Kinder und der Jugendlichen, die in Anstalten versorgt oder in Verdingfamilien gesteckt wurden, weil sie als schwer erziehbar galten.

Dagegen gab es bisher in der Deutschschweiz keine Untersuchung zur Vormundschaft im 20. Jahrhundert, also zur Frage, ob die Behörden jene Erwachsenen, denen sie die Mündigkeit absprachen, vor ihrer eigenen Unvernunft schützten oder einfach zum angepassten Verhalten zwangen.

Für diese Studie sorgte die Frauenfelderin Karin Bauer, die aus einer Bauernfamilie auf dem Seerücken kommt, an der Pädagogischen Maturitätsschule Kreuzlingen lehrt und den Historischen Verein des Kantons Thurgau führt: Ihre Dissertation, die jetzt als Buch vorliegt und sich, da vom Nationalfonds gefördert, auch kostenlos von der Website des Chronos-Verlags herunterladen lässt, zeigt die Vormundschaft «im Spannungsfeld privater Anliegen und öffentlicher Interessen», dies anhand der Akten der Gemeinde Felden von 1962 bis 2012.

Einen Ort dieses Namens gibt es im Thurgau bekanntlich nicht, es handelt sich um ein Pseudonym. Die Historikerin wollte untersuchen, wie die Gemeinden zwischen 1912, der Einführung des Zivilgesetzbuches, und 2013, der Ablösung durch das Kindes- und Erwachsenenschutzrecht, die Vormundschaft handhabten. Für solche heiklen Akten, bei denen es um zumeist noch lebende Personen geht, gilt aber eine Schutzfrist von hundert Jahren.

Staatsarchivar André Salathé, der sich um mehr Licht in den dunklen Winkeln der Kantonsgeschichte bemüht, machte seiner Nachfolgerin im Präsidium des Historischen Vereins den Bestand dennoch zugänglich.

Fiktive Ortschaften zur Wahrung der Anonymität

Dies jedoch nur mit strikter Anonymisierung: Die Betroffenen und die Beteiligten dürften sich in ihren Geschichten wiedererkennen, und die Rätselfreunde könnten den Namen der «urban und industriell» geprägten Gemeinde herausfinden, zumal es im Thurgau nur eine kleine Auswahl gibt – der Persönlichkeitsschutz aber bleibt gewahrt.

So kann Karin Bauer in ihrer Dissertation auch aufschlussreiche Fallgeschichten einstreuen. Zum Beispiel jene von Madeleine Wachter: Sie litt als Säugling unter einer Hirnhautentzündung und schaffte deshalb nur die Sonderschule. Mit zwölf wurde sie missbraucht, mit siebzehn geschwängert und nach der Geburt unterbunden. Als Volljährige stimmte sie ihrer Bevormundung zu.

Aber sie kämpfte um die Heirat mit einem Albaner, selbst als er sich als Familienvater mit drei Kindern erwies, und mit einem Türken, der sie in die Heimat mitnehmen wollte. Dabei erklärte ihr sogar der Berater des «Beobachters», an den sie sich wandte, ihr Vormund gestehe ihr die persönliche Freiheit zu, wo immer er es verantworten könne.

Guter Helferwille und gesunder Menschenverstand

Die Doktorandin muss sich zwar auch am akademischen Diskurs abarbeiten, wie das System gemäss Michel Foucault über die Individuen herrscht. Aber sie kann vor allem mit den Lebensgeschichten aus den Bundesordnern veranschaulichen, dass die Verantwortlichen ihre schwierigen Aufgaben mit gutem Helferwillen und gesundem Menschenverstand lösten.

So erläuterte der Vormund von Elsi Schneider, die sich immer wieder in Schulden stürzte, weil sie ja in einem freien Land lebe, das Grundproblem des Zusammenlebens klarer als in jedem Philosophieseminar: «Es gilt für jeden von uns: Freiheit in der Ordnung und Ordnung in der Freiheit. Das heisst nichts anderes, als dass man sich auch in der Freiheit zumindest so zu verhalten hat, dass man durch sein eigenes Leben und seine Moral andern keinen Schaden zufügt.»

Insgesamt stellt die Historikerin so den Behörden von Felden ein gutes Zeugnis aus. Die Zahl der Fälle, die die Vormundschaftsbehörde führte, ging trotz Bevölkerungszunahme von 87 im Jahr 1964 auf 23 im Jahr 2000 zurück.

Dabei handelte es sich in der grossen Mehrheit um Menschen, die aufgrund ihrer Geistesschwäche nicht selbstständig leben konnten. Dass die Behörden «Arbeitsscheue» oder «Lasterhafte» per Entmündigung in die bürgerliche Ordnung zwingen wollten, kam nach 1990 nicht mehr vor.

Nur noch die Kesb beurteilen die komplexen Fälle

Seit 2013 dürfen nicht mehr Politiker über Vormundschaften entscheiden, nur noch Profis in den Kesb, weil angeblich nur sie die komplexen Fälle beurteilen können.

Karin Bauer zeigt aber, dass mit dem Ausschalten der Laien, die sich meist wohlwollend um ihre Mündel kümmerten, auch etwas verloren ging. Und sie stellt fest: «Die Frage, ob es ‹früher›, also mit dem Vormundschaftsrecht und den Laienbehörden, nicht doch besser war als mit dem neuen Recht, dürfte die Bevölkerung weiter beschäftigen.»



Buchhinweis

Karin Bauer, Im Spannungsfeld öffentlicher Interessen, Vormundschaft im Kanton Thurgau 1962–2012. Chronos, Zürich 2022. 312 Seiten.



Die Stimme der Betroffenen im Staatsarchiv

Bis vor wenigen Jahren gab es in der Schweiz «fürsorgerische Zwangsmassnahmen». Mehrere 100’000 Menschen wurden ihrem Umfeld entrissen, in Heime gesteckt oder als günstige Arbeitskräfte ausgebeutet. Viele von ihnen erlitten Gewalt und Missbrauch. Diese Erfahrungen wirken ein Leben lang nach – bis heute. Ab Oktober 2022 sind Erfahrungsberichte auf der Online-Plattform Gesichter der Erinnerung erlebbar. Die Geschehnisse werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, multimedial aufbereitet und in den historischen Kontext gestellt. Parallel dazu finden Veranstaltungen mit Betroffenen und Projektbeteiligten statt, so auch am Mittwoch, 24. November, 18 Uhr, im Thurgauer Staatsarchiv in Frauenfeld (Moderation Verena Rothenbühler).
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/vormundschaftswesen-mit-dem-ausschalten-der-laien-ging-auch-etwas-verloren-ld.2376220)


+++BRIAN
Brian alias «Carlos» – Kommt er je frei?
Im «Club» spricht Brian alias «Carlos» über die neuesten Wendungen in seinem Fall und über sein Leben in Haft. Erneut gibt der Fall Anstoss zur Diskussion, wie die Schweiz mit Inhaftierten umgehen soll.
Ist Einzelhaft notwendig und ab wann wird sie zur Folter? Und wo liegt die Priorität: auf Prävention oder Resozialisierung?
https://www.srf.ch/play/tv/club/video/brian-alias-carlos—kommt-er-je-frei?urn=urn:srf:video:ec3704b5-cc9b-47cf-9781-6026c61d6471
-> https://www.blick.ch/schweiz/brian-ueber-seine-vermeintliche-freilassung-ich-weiss-nicht-wieso-die-so-angst-vor-mir-haben-id18077279.html
-> https://www.20min.ch/story/brian-sitzt-wegen-33-vorfaellen-wieder-in-u-haft-666797518950
-> https://www.baerntoday.ch/zuerich/darum-sitzt-straftaeter-brian-wieder-in-u-haft-148868333
-> https://www.watson.ch/schweiz/justiz/469169820-fall-brian-verteidigung-veroeffentlicht-akten-zur-untersuchung
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/srf-club-brian-spricht-uber-seine-zeit-in-den-gefangnissen-66346955
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/zuercher-fall-carlos-das-gefaengnis-macht-keinen-menschen-besser


Darum soll Brian Keller hinter Gittern bleiben
Die Staatsanwaltschaft hat für den berühmten Gefangenen erneut U-Haft beantragt. Es geht um 33 Vorfälle im Gefängnis – und um 33 Zeichen der Verzweiflung.
https://www.republik.ch/2022/11/23/am-gericht-darum-soll-brian-keller-hinter-gittern-bleiben
-> https://twitter.com/FreeBrianK



tagesanzeiger.ch 23.11.2022

Die Vorwürfe – und was die Verteidiger sagen: Warum Brian wieder in U-Haft sitzt

Diese Zeitung hat Einblick in die Akten erhalten. Sie offenbaren einen erschütternden Kreislauf aus Gewalt, Verzweiflung und Ohnmacht.

Liliane Minor

Es war ein Hin und Her, wie es die Schweizer Justiz noch selten gesehen hat. Am 1. November beschloss das Zürcher Obergericht, den prominenten Gefangenen Brian auf freien Fuss zu setzen. Doch daraus wurde nichts. Nur eine Woche später ordnete das Zürcher Zwangsmassnahmengericht auf Antrag des Staatsanwalts erneut Untersuchungshaft an.

Nun ist klar, was die Staatsanwaltschaft dem 27-Jährigen vorwirft. Brian und seine Anwälte haben dieser Zeitung, der NZZ und der «Republik» Einblick in sämtliche Akten der laufenden Strafuntersuchung gegeben – «im Sinne der Transparenz», wie Verteidiger Thomas Häusermann sagt. Dazu gehören Protokolle von Einvernahmen von Zeugen und Geschädigten, Journaleinträge von Aufsehern, Rapporte. Die Akten offenbaren einen erschütternden Kreislauf aus Gewalt und Ohnmacht.

Nach Monaten in Einzelhaft kommt der Knall

Das schwerste Delikt soll Brian im Januar 2019 begangen haben. Zu diesem Zeitpunkt sitzt er bereits seit mehr als fünf Monaten in einer pink gestrichenen Zelle in Einzelhaft. Die ersten vier Monate ist sein Fenster mit einer lichtdurchlässigen Folie abgedeckt. Kontakte zu Mitgefangenen hat er nicht. Wenn überhaupt, so darf er nur eine Stunde pro Tag aus der Zelle in einen speziell abgesicherten Spazierhof. Allein, in Hand- und Fussfesseln.

Es ist eine Haftform, die gemäss internationalem Recht höchstens für ein paar Tage zulässig ist, weil sie schwere psychische und physische Schäden verursachen kann. Der Zürcher Psychologe Reto Volkart, der unter anderem Pöschwies-Gefangene befragt und mehrere Studien zur Einzelhaft verfasst hat, sagt: «In Einzelhaft können sehr schnell heftige psychische Auswirkungen auftreten.»

Manche Gefangene verwandelten sich innert Stunden in ein ängstlich-depressives Häufchen Elend. Bekannt sei aber auch das Gegenteil: der sogenannte Zuchthausknall, eine Explosion von Gewalt und Randale. Langfristig könnten sich unzählige weitere emotionale Beschwerden einstellen, auch Verfolgungswahn, Halluzinationen und extreme Reizbarkeit, Denk- und Sprachstörungen sowie körperliche Symptome wie Schlafstörungen und Schwindel.

Auch an Brian geht das harte Haftregime nicht spurlos vorbei. Die Wochenjournale, in welchen die Aufseher Vorkommnisse festhalten, sind voll von Vorfällen, die zeigen, in welch schlechter Verfassung er ist. An manchen Tagen betätigt der junge Mann unzählige Male den Zellennotruf, äussert wüste Beschimpfungen wie «Hurensöhne» und bizarre Drohungen, etwa «Ich werde eure Kinder essen» oder «Ich bin ein Killer». Bekommt er seine Mahlzeiten, versucht er gemäss den Akten mitunter, durch die Klappe nach seinen Aufsehern zu greifen.

Der Zugang zu seiner Zelle ist doppelt gesichert. Durch eine dicke Stahltür, die nur mit einem winzigen Fensterchen versehen ist, betritt man einen kleinen Vorraum. Die eigentliche Zelle ist durch ein massives, mit Sicherheitsglas versehenes Stahlgitter davon abgetrennt. Zwei Versorgungsklappen, eine auf Hüft- und eine auf Fusshöhe, ermöglichen es, dem Häftling Essen zu reichen und ihm Fuss- und Handfesseln anzulegen, bevor er seine Zelle verlassen darf.

Am Mittwochabend hat der SRF-Club ein Interview mit Brian Keller ausgestrahlt. Dass sich dieser öffentlich und vor der Kamera äussert, kommt nicht häufig vor.
Quelle: SRF
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv446960h.mp4
-> https://www.srf.ch/play/tv/club/video/brian-alias-carlos—kommt-er-je-frei?urn=urn:srf:video:ec3704b5-cc9b-47cf-9781-6026c61d6471
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In jenem Januar 2019 tritt Brian so lange gegen das Sicherheitsglas, bis dieses in tausend Stücke zerbricht. Dann spritzt er das Fensterchen in der Aussentüre mit Milch voll und wirft Toilettenpapier dagegen, damit man von aussen nicht mehr hineinsehen kann. So steht es in den Untersuchungsakten. Als drei Aufseher die Tür ein paar Zentimeter öffnen, um einen Wischmopp durch den Spalt zu schieben und so das Fensterchen zu reinigen, knallt es plötzlich. Dann hat einer der drei Männer blutige Kratzer am Kopf. Brian hat ein handtellergrosses Teil der zerbröselten Scheibe gegen die Tür geworfen. Ein Stück davon trifft den Aufseher.

Für Staatsanwalt Ulrich Krättli ist das versuchte schwere Körperverletzung. «Der Beschuldigte wusste, dass er (…) einen Aufseher allenfalls am Gesicht oder Hals treffen und lebensgefährlich oder bleibend schwer schädigend verletzen konnte», heisst es im Haftantrag. Verteidiger Thomas Häusermann sieht das anders, wie er dieser Zeitung sagt: «Dafür müsste man ihm zuerst die Tat an sich und noch dazu einen Vorsatz nachweisen können. Da die Tür lediglich wenige Zentimeter offen stand und mein Mandant die Aufseher nicht einmal sehen konnte, ist es unmöglich, dass er einen von ihnen hätte verletzen wollen.»

Wie auch immer der Vorfall zu werten ist, eines wird aus den Akten klar: Brian läuft am Limit. Und für die Aufseher ist die Lage ungemütlich. In den Einvernahmen geben sich die Männer überzeugt, dass Brian gefährlich sei. «Wenn er die Möglichkeit hat, wird er uns etwas antun», wird einer von ihnen zitiert.

Ein anderer sagt, er habe sich schon überlegt, einen Bart wachsen zu lassen, sollte Brian freikommen. Und nach Zürich würde er dann für eine Weile nicht mehr gehen, weil er eine Begegnung fürchten würde.

Zweifel an ihrer Arbeit äussern die Aufseher nicht. Zur Frage des Verteidigers, ob Brians Ausraster möglicherweise eine Reaktion auf die scharfen Haftbedingungen sein könnten, wollen die Männer entweder gar nichts sagen, oder sie schieben die Verantwortung ab. «Ich habe nicht die Kompetenz, das zu beurteilen, und das ist nicht meine Entscheidungskompetenz», sagt einer von ihnen, ein anderer antwortet schlicht: «Ich bin kein Psychologe.»

Dass sie irgendetwas besser hätten machen können, um die Situation zu entschärfen? Das glauben die Aufseher nicht. Dass sie ihrerseits Brian provoziert haben, etwa mit Aussagen wie «Deine Haare sehen aus wie eine Klobürste», diesen Vorwurf weisen die Aufseher zurück. Sie hätten stets professionell gehandelt: «Wir machten, was wir machen mussten und durften, nach Vorschriften.» Ihre Arbeit zusammen reflektiert haben sie nicht.

Das gilt auch für die beiden Scharmützel, welche in den Jahren 2019 und 2020 zu einer Strafanzeige gegen einzelne Aufseher führten. In beiden Fällen schlägt Brian mit gefesselten Händen gegen die Schutzschilder seiner Aufseher, die immer zu sechst und in Vollmontur auftreten, wenn sie ihn für einen Hofgang oder einen Besuch aus der Zelle holen. In beiden Fällen bringen sie ihn «zu Boden», wie es in Polizeisprache heisst – mit anderen Worten drücken sie Brian mit Händen und Knien so lange auf den Boden, bis er sich nicht mehr wehrt. Beide Male hat Brian nachher eine blau geschwollene Nase.

Gemäss den Aussagen der Aufseher hat sich Brian die Verletzungen selbst zuzuschreiben. Die Männer betonen, sie seien dafür ausgebildet, jemanden zu überwältigen. Auf die Frage, ob sie Vorkehrungen getroffen hätten, damit Brian dabei nicht verletzt werde, sagt einer: «Ich weiss nicht, was Sie damit meinen. Ein Mätteli ausbreiten oder was? Nein, so etwas habe ich nicht gemacht.»

Und so nimmt die Spirale aus Gewalt und Ohnmacht ihren Lauf. Mit der Zeit werden die schweren Vorfälle seltener. Brian beschränkt sich grösstenteils auf verbale Ausfälligkeiten, die Journale sind voll davon. Mehr als einmal notieren die Aufseher bloss «die üblichen Beleidigungen».

Brians psychische Verfassung schwankt. Mal singt er unmotiviert, dann wieder ist er völlig ausser sich, kaum ansprechbar, mitunter schlägt er sich auch selbst und sagt, er sei bereit zu sterben. Im Oktober 2020 demoliert er die Zelle, die eigens für ihn gebaut worden ist. (Lesen sie zum Thema: Kanton Zürich baut für Brian Gefängnis um)

Am Ende sind es 32 Vorfälle, in denen sich Brian strafbar gemacht haben soll. Neben der versuchten schweren Körperverletzung stehen folgende Vorwürfe im Raum, meist mehrfach begangen: einfache Körperverletzung, Drohung, Gewalt und Drohung gegen Beamte und Sachbeschädigung.

Ist er gefährlich, oder hat er «nur» rebelliert?

Eine schlagartige Besserung tritt erst ein, als Brian nach dreieinhalb Jahren in Einzelhaft im Januar dieses Jahres ins Gefängnis Zürich überstellt wird. Vom ersten Tag an darf er sich ohne zusätzliche Sicherheitsmassnahmen in der Gruppe bewegen, seine Zellentüre ist acht Stunden am Tag offen. Und Brian bewährt sich, die Führungsberichte, die dieser Zeitung vorliegen, sind sehr positiv. Nur einmal schubst er einen Mitgefangenen weg – weil dieser, ohne zu fragen, die Gewichte an der Kraftmaschine verstellte, an welcher Brian gerade trainierte. Das führt zu Dossier 33 in der Strafuntersuchung. Mutmasslicher Tatbestand: Tätlichkeit.

Trotz des positiven Verlaufs beantragt Staatsanwalt Ulrich Krättli unmittelbar nach dem Entscheid des Obergerichts, Brian freizulassen, Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr. Er stützt sich unter anderem auf ein Aktengutachten aus dem Jahr 2019. Darin kommt der Forensiker Henning Hachtel zum Schluss, Brian leide an einer schwer behandelbaren Persönlichkeitsstörung. Zwar bestehe kaum die Gefahr, dass er seine blutig-bizarren Drohungen in Tat umsetze, dazu seien sie zu wenig konkret. Dennoch sei die Rückfallgefahr hoch. Davon zeugten auch die zahlreichen dokumentierten Vorfälle.

Die Anwälte halten dagegen. Sie haben am Montag beim Obergericht Beschwerde gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts eingelegt. Ihr Hauptargument: Es bestehe keine Wiederholungsgefahr. Brians Gewaltausbrüche seien mit der Einzelhaft erklärbar. «Er hat ganz einfach gegen eine unrechtmässige Situation rebelliert», sagt Bernard Rambert. Der renommierte Strafverteidiger bildet zusammen mit Verteidiger Häusermann und dem Staatsrechtler Philip Stolkin das Team, das Brian rechtlich vertritt.

Psychologe Reto Volkart hält die Argumentation der Verteidigung für plausibel. Er sagt, jeder Mensch drehe in Einzelhaft früher oder später durch: «Die Frage ist nur, wie.» Brian sei in der Pöschwies ganz extremen Einschränkungen unterworfen gewesen, was zum Gefühl des Kontrollverlusts führe: «Und Ohnmacht ist eine der stärksten Antriebskräfte für den Menschen.»

Und was sagt Brian zu all dem? Aussagen von ihm finden sich in den Akten nicht. Der Staatsanwalt hat ihn bisher nicht befragen können. Denn Krättli besteht darauf, Brian für die Einvernahmen von der Sondereinheit Diamant in sein Büro bringen zu lassen. Das heisst, von sechs Personen in Vollmontur, an Händen und Füssen gefesselt.

Krättli schreibt in einem Mail, das sich ebenfalls in den Akten befindet, er sei «nicht bereit, die Sicherheit der Mitarbeitenden aufs Spiel zu setzen, indem Brian nur von zwei Beamten der Kantonspolizei Zürich zur Einvernahme begleitet wird».

Für Brians Anwälte ist das nicht akzeptabel. «Seit Monaten hat er sich im Gefängnis Zürich bewährt, und nun soll er wie Hannibal Lecter vorgeführt werden?», fragt Anwalt Stolkin im Gespräch mit dieser Zeitung. «Das ist eine erneute, nicht hinnehmbare Demütigung.» Die Staatsanwaltschaft nimmt dazu keine Stellung, Fragen zum Verfahren beantwortet sie nicht.

Da Brian als Beschuldigter in einem Strafverfahren die Aussage verweigern darf, wird die Staatsanwaltschaft nun wohl Anklage erheben, ohne dass sich der 27-Jährige erklärt hat. Dass ihm das schadet, glaubt Verteidiger Häusermann nicht: «Das ist sein gutes Recht. Und die Fakten sprechen ohnehin für unseren Mandanten.»



Die Verfahren im Fall Brian: Ein Überblick

– Die Fesselung: Im Frühherbst 2011 wird der noch nicht ganz 16-jährige Brian nach einem Suizidversuch in die Psychiatrische Uniklinik eingeliefert. Weil er dort eine Zelle demoliert, lassen ihn die Ärzte zwei Wochen lang ans Bett fesseln und sedieren ihn mit Medikamenten. Eine erste Strafanzeige führt zu nichts. Im August 2020 stehen die drei verantwortlichen Psychiater dann doch vor Gericht, unter anderem wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung, werden aber freigesprochen. Im November 2021 bestätigt das Obergericht die Freisprüche. Dagegen ist eine weitere Beschwerde beim Bundesgericht hängig.

– Das Messer: Im August 2015 muss sich Brian vor dem Bezirksgericht Dietikon verantworten, weil er einen Mann mit einem 20 Zentimeter langen Messer bedroht haben soll. Der Prozess endet mit einem Freispruch: Bilder einer Überwachungskamera belegen, dass es kein Messer gab. Der Staat muss Brian für sechs Monate unrechtmässige U-Haft entschädigen.

– Der Kinnhaken: Im März 2016 bricht Brian einem Kickbox-Kollegen nach einem Streit mit einem Kinnhaken den Kiefer. Er habe sich bedroht gefühlt, sagt er im März 2017 dem Richter am Bezirksgericht Zürich. Er wird zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt; davon hat er zum Zeitpunkt der Verurteilung bereits ein Jahr abgesessen. An der Verhandlung wird bekannt, wie Brian im Gefängnis Pfäffikon misshandelt worden ist. Unter anderem musste er auf dem Boden schlafen und bekam keine Kleidung.

– Der Angriff: Im Juni 2017 geht Brian auf einen Aufseher in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies los – nur wenige Wochen vor seiner Entlassung. Grund: Er soll in die Sicherheitsabteilung versetzt werden. Im November 2019 steht er deshalb vor dem Bezirksgericht Dielsdorf. Aber nicht nur deshalb: Die Anklageschrift listet 19 Vorwürfe auf, zumeist Drohungen und Beschimpfungen gegen Gefängnispersonal. Der Staatsanwalt fordert erstmals die Verwahrung für Brian, die Verteidigung verlangt einen weitgehenden Freispruch. Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilt Brian zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis. Das Obergericht erhöht die Strafe im Juni 2021 auf sechs Jahre und vier Monate. Doch das Bundesgericht hebt dieses Urteil im Dezember auf. Das Obergericht habe die Vorwürfe der Verteidigung, Brian sei in der Pöschwies unter folterähnlichen Bedingungen inhaftiert, zu wenig gewürdigt. Das Verfahren ist nun wieder am Obergericht hängig, ein neuer Prozesstermin steht noch nicht fest. Weil Brian schon länger in Haft sitzt, als die Strafe voraussichtlich dauern wird, ordnet das Obergericht am 1. November 2022 seine Freilassung an.

– Die Einzelhaft: Von August 2018 bis Januar 2022 lebt Brian in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies nahezu durchgehend in Einzelhaft. Experten, unter anderem der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, qualifizieren die Haftbedingungen als Folter. Aber erst als das Bundesgericht am 17. Dezember 2021 eine Anpassung der Haftbedingungen verlangt, reagieren die Behörden: Brian wird ins Gefängnis Zürich verlegt, wo er im ganz normalen Haftalltag integriert wird. Brians Anwälte haben wegen der langen Einzelhaft Strafanzeige gegen die Verantwortlichen eingereicht. Weitere Beschwerden sind unter anderem beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hängig.

– Die Aufseher I: Im April 2019 kommt es beim Hofgang zu einem Gerangel zwischen Brian und sechs Aufsehern in Schutzmontur. Der an Füssen und Händen Gefesselte wird dabei umgerissen und mutmasslich geschlagen. Die Folgen sind unter anderem eine blaue, geschwollene Nase. Brians Eltern erstatten deswegen Strafanzeige. Eine weitere Strafanzeige folgt nach einem Vorfall vom Juli 2020. Erneut trägt Brian Verletzungen im Gesicht davon. Die zuständige Staatsanwältin nimmt in beiden Fällen erst auf Anweisung des Obergerichts Ermittlungen auf, stellt diese aber im Herbst 2022 ein. Brians Anwälte legen beim Obergericht Beschwerde ein.

– Die Aufseher II: Auch ein Aufseher der Strafanstalt Lenzburg muss vor Gericht. Dort ist Brian im Juni 2019 für kurze Zeit untergebracht und geht gegen Aufseher los. Einer davon schlägt zurück: Er verpasst dem gefesselten und am Boden liegenden Brian zwei Fusstritte und zwei Boxschläge. Dafür wird er im Juli 2021 vom Bezirksgericht Lenzburg zu einer Strafe von 90 Tagessätzen verurteilt. Im September 2022 bestätigt das Aargauer Obergericht den Schuldspruch. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, der Verteidiger des Aufsehers hat das Urteil ans Bundesgericht weitergezogen.

– Die U-Haft: Als das Obergericht am 1. November 2022 Brians Freilassung per 7. November anordnet, reagiert der Staatsanwalt umgehend. Er beantragt erneute Untersuchungshaft. Grund: Wiederholungsgefahr. Das Zwangsmassnahmengericht bewilligt die Haft am 8. November 2022. Gegen diese Bewilligung ist eine Beschwerde beim Obergericht hängig. (leu)
(https://www.tagesanzeiger.ch/brian-uhaft-akten-gewalt-verzweiflung-172307611247)



nzz.ch 23.11.2022

Brian: «Wieso habe ich ein blaues Auge?» – Aufseher: «Wieso haben Sie uns angegriffen?»

Eigentlich sollte der Straftäter freigelassen werden. Doch er sitzt weiter im Gefängnis. Warum? Einblick in die Untersuchungsakten.

Fabian Baumgartner, Giorgio Scherrer (Text), Anja Lemcke (Illustration)

Das Glasstück trifft den Aufseher an der Stirn.

Frustriert hat der Insasse Brian es gegen die schwere Metalltüre seiner Zelle geworfen. Die steht gerade einen Spaltbreit offen, weil der Aufseher das Sichtfenster mit einem Wischmopp reinigen will. Mit Milch und Toilettenpapier ist das Fenster beschmutzt, das Sicherheitsglas dahinter ist zertrümmert. Ein Bruchstück davon prallt nun – abgelenkt von der Metalltüre – gegen den Kopf des Aufsehers.

Es ist der frühe Nachmittag des 26. Januar 2019, und der Vorfall in der Sicherheitszelle ist einer von vielen Auseinandersetzungen zwischen der Justiz und dem Häftling. Es sind Wochen und Monate voller Konflikte, Gehässigkeiten und gegenseitiger Provokationen zwischen Brian und den Gefängnisaufsehern.

Die Glasscherbe hinterlässt Spuren: zwei kleine Schnittwunden und Kopfschmerzen beim Aufseher. Für Brian dagegen hat der Vorfall schwerwiegende juristische Folgen.

Der Vorwurf: zu gefährlich für die Freiheit

Knapp vier Jahre später sorgen diese Vorfälle, sorgt vor allem dieses Stück Glas dafür, dass Brian nicht auf freiem Fuss ist, sondern weiterhin im Gefängnis. Staatsanwalt Ulrich Krättli hat Brian deswegen erneut in Untersuchungshaft versetzen lassen. Der Antrag kam nur wenige Tage nachdem das Zürcher Obergericht die Freilassung des Häftlings verfügt hatte – nach über fünf Jahren in Untersuchungs- und Sicherheitshaft.

Insgesamt 33 Gründe gegen die Freiheit listete der Staatsanwalt beim Zürcher Zwangsmassnahmengericht auf – von einer versuchten schweren Körperverletzung über Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte bis hin zu Sachbeschädigungen. Begangen haben soll sie Brian in einem Zeitraum von rund dreieinhalb Jahren. Fast alle fanden innerhalb der Mauern der Pöschwies statt.

Für Krättli ist klar: Brian – heute 27 und unter dem Pseudonym «Carlos» bekannt geworden – ist ein gefährlicher Wiederholungstäter. In seinem Antrag an das Zwangsmassnahmengericht schreibt der Staatsanwalt, es bestehe die ernsthafte Gefahr, dass Brian in Freiheit «andere Personen durch ein gewaltsames Vorgehen körperlich schwer schädigen oder gar töten wird». Er stützt sich dabei massgeblich auf ein psychiatrisches Gutachten, das Brian eine Rückfallgefahr von «bis zu etwa 76 Prozent» innert fünf Jahren bescheinigt. Ein Gutachten, das sich allerdings einzig auf Akten stützt.

Ist Brian zu gefährlich für die Gesellschaft?

Brians Anwälte sagen: Nein. Für sie sind die Vorkommnisse mit dem Kampf eines verzweifelten jungen Mannes gegen seine Isolation zu erklären. Eingesperrt in Einzelhaft, die meiste Zeit fast komplett isoliert von der Umwelt, sei sein Verhalten gerechtfertigt gewesen. Dafür spreche auch, dass er sich korrekt verhalte, seit er Anfang 2022 in das Gefängnis Zürich und in ein offeneres Haftregime verlegt worden sei.

Doch welche Version ist wahrscheinlicher? Und wegen welcher Vorfälle ermittelt der Staatsanwalt in seinem Verfahren?

Antworten darauf liefern die Untersuchungsakten zu den Vorfällen hinter Gittern. Es sind Einvernahmen, Videos und Protokolle, in welche das Verteidigerteam der NZZ, den Tamedia-Zeitungen und der «Republik» Einblick gewährt hat.

Es sind die Schilderungen der involvierten Aufseher und der Staatsanwaltschaft. Etwas fehlt hingegen fast ganz: die Version Brians. Er hat den Gang zu den Einvernahmen verweigert, weil er jeweils von Spezialkräften der Polizei und gefesselt an Händen und Füssen hätte vorgeführt werden sollen. Für ihn eine Demütigung, die er nicht hinnehmen will. Er hat sich deshalb im gesamten bisherigen Verfahren nie eingehend zu den Vorwürfen geäussert.

Die Drohung: «Ich möchte in eurem Blut baden»

Der Glasscherben-Vorfall vom 26. Januar 2019 ist der schwerste, den Staatsanwalt Ulrich Krättli in seiner neuen Untersuchung vorbringt. Mit dem Vorwurf der versuchten schweren Körperverletzung hätte der Staatsanwalt die Grundlage geschaffen, um erneut eine Verwahrung fordern zu können. Wie bereits im vorherigen Verfahren, bei dem es ebenfalls um Delikte hinter Gefängnismauern geht. Dieses liegt nach einer Rückweisung durch das Bundesgericht derzeit beim Zürcher Obergericht.

Ob er die Verwahrung verlangen wird? Dazu will der Staatsanwalt keine Angaben machen.

In der Einvernahme der Polizei schildert der Aufseher nach dem Glasscherben-Wurf, wie es aus seiner Sicht zum Vorfall gekommen war. Brian habe die Scheibe der inneren Sicherheitswand in der Zelle herausgeschlagen. «Wir hatten deshalb den Auftrag, alle 30 Minuten durch die Sichtklappe nachzusehen, wie es dem Gefangen ging und ob er allenfalls noch mehr Sachbeschädigungen machte.» Doch das sei wegen der Verschmutzung nicht möglich gewesen, also habe man das Fenster der Zellentür putzen wollen.

Brian habe dann die Aufseher wie üblich beschimpft und bedroht. «Chömed inne, ihr werdet dann schon sehen», soll er gesagt haben. Den Aufseher und seine Kollegen soll Brian während seiner Zeit in der Pöschwies mehrfach mit dem Tod bedroht haben. Zuletzt wenige Tage vor dem Vorfall mit der Glasscherbe.

«Ich bin ein rachsüchtiger Mensch, ich werde bis zum Tod gehen», soll Brian laut Gefängnisjournal zu einem Aufseher gesagt haben. «Ich möchte in eurem Blut baden», verkündet er einen Tag später durch die Gegensprechanlage. Die Akten sind voll von Vermerken wie diesen:

«21. 01. 2019
21:19 Uhr: Beleidigungen, Morddrohungen ==> Rufunterdrückung.
22:25 Uhr: Beleidigungen, Morddrohungen ==> Rufunterdrückung.
23:37 Uhr: Beleidigungen, Morddrohungen ==> Rufunterdrückung.»

Brian selbst hat auf den Gefängnisalltag eine ganz andere Sicht. In seinem Tagebuch schildert er ständige Provokationen der Aufseher. Sie hätten ihm als Muslim Schweinefleisch unterjubeln wollen, man habe ihm gesagt, er solle dorthin zurück, wo er herkomme. Sie hätten Faxen gemacht – «als wäre ich ein Affe».

Die Konfrontation: Brian gegen die Aufseher

Ist Brian eine tickende Zeitbombe oder ein hilfloser, verzweifelter Mensch?

Das wird eine zentrale Frage im Verfahren sein, die am Ende die Gerichte beurteilen müssen. Die Versionen Brians und der Aufseher gehen dabei weit auseinander.

Zum schwersten Vorwurf sagt Verteidiger Thomas Häusermann: «Brian hat definitiv keine Scherbe auf Aufseher geworfen. Er konnte ja gar nicht sehen, dass hinter der Türe ein Betreuer steht, geschweige denn, wo.» Für Häusermann fehlt es deshalb in jedem Fall am Vorsatz, der für eine versuchte schwere Körperverletzung nötig wäre.

Bei der Einvernahme zum Glasscherbenwurf fragt auch die Polizei den verletzen Aufseher: «Kam von Brian eine Reaktion auf diesen von ihm getätigten Angriff?» Der Aufseher antwortet: «Nein. Ich denke, er weiss gar nicht, dass er erfolgreich gewesen war und mit dem Glasstück einen Angestellten getroffen hatte.»

Brians zweiter Anwalt Philip Stolkin findet, man habe seinen Mandanten in der JVA Pöschwies mit allen Mitteln erziehen wollen, doch das habe nicht funktioniert. Stattdessen habe man ihn dann unnötig gedemütigt. «Das Narrativ des Gewaltstraftäters wird gezielt genährt, um erneut eine Verwahrung ins Spiel bringen zu können.»

In den Einvernahmen kommt die Angst der Aufseher vor Brian immer wieder prominent zur Sprache. Polizei und Staatsanwaltschaft fragen gezielt und ausführlich danach. Auch der durch die Glasscherbe verletzte Aufseher gibt zu Protokoll, er habe Angst vor dem Häftling – und vor dessen Entlassung. «Es ist ein ungutes Gefühl, der Gedanke, dass er freikommen könnte.» Und: «Die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass er eine seiner Drohungen umsetzen könnte.»

Ein anderer Aufseher sagt über eine möglich Entlassung Brians: «Ich würde sicher aufpassen beim Verlassen der JVA. Ich würde nicht mehr nach Zürich gehen. Eventuell würde ich mein Aussehen verändern, mir zum Beispiel einen Bart wachsen lassen.»

Der von der Staatsanwaltschaft beauftragte Gutachter kommt zum Schluss: Die Gefahr, dass Brian seine Drohungen wahr mache, sei «eher gering».

Und doch: Wozu die Angst vor Brian führt, kann man in den Videos, die den Akten beigefügt sind, beobachten. Der Häftling in T-Shirt und Trainerhosen steht dort meist einem halben Dutzend Aufsehern gegenüber. Ausserhalb seiner Zelle ist er an Händen und Füssen gefesselt.

Sie tragen Helme und Schutzschilder.

Er provoziert – spuckt, schimpft, rempelt.

Sie überwältigen ihn – drücken ihn zu Boden, sperren ihn wieder in seine Zelle.

Die Frage ist: Wer trägt die Schuld an dieser Situation? Der Häftling, der nicht spurt, oder die Justiz, die ihn mit ausserordentlich harter Hand anfasst?

Der Vorfall: Spucke, Schläge – und Widersprüche

Wie schwierig es ist, darauf eine klare Antwort zu geben, zeigt sich zum Beispiel am 9. April 2019. An diesem Tag wird Brian von sechs Aufsehern in Vollmontur zum Hofgang geholt – dem einen täglichen Termin, bei dem der Häftling seine Zelle verlassen darf. Umstandslos lässt er sich Hand- und Fussfesseln anlegen. Dann postieren sich die Aufseher in Zweiergruppen hinter ihren Schutzschildern und öffnen die Zelle.

Brian läuft locker heraus in Richtung Treppe, die zum Hof führt. Er dreht sich zu den Aufsehern um und spuckt sie an. Ein Bewacher drängt mit Schild in seine Richtung, Brian schlägt dagegen, dann ziehen ihn die Aufseher vom Treppenhaus zurück in den Gang und fixieren ihn mit Körpereinsatz am Boden – bis er aufhört, sich zu wehren.

Dieser Vorfall wird später sehr unterschiedlich beschrieben. Von einem «zu Boden führen», bei dem «niemand verletzt» worden sei, liest man in den Akten von Polizei und Justizvollzug. Von einem gewaltsamen «Übergriff» mit Verletzungsfolge sprechen Brians Eltern, die wegen des Vorfalls in seinem Namen Anzeige einreichen. Sie können sich dabei auch auf den Gefängnisarzt stützen, der bei Brian Blutergüsse am Arm und ein blaues Auge dokumentiert.

«Wieso habe ich ein blaues Auge und einen geschwollenen Arm?», fragt Brian die Aufseher bei einer Anhörung kurz nach dem Vorfall. Die Antwort: «Wieso haben Sie uns angegriffen?» Darauf wieder Brian: «Ich habe niemanden angegriffen, Sie haben mich einfach überwältigt und zu Boden gedrückt.»

Es ist wie so oft im Fall Brian: Die Justizbehörden sehen einen aggressiven Verbrecher, der zu allem bereit ist. Brian und seine Verteidiger sehen einen Justizapparat, der nur auf eine Gelegenheit wartet, ihn weiter zu bestrafen und zu disziplinieren.

Die Folgen: «Ich bleibe noch lange hier»

Das zeigt sich auch im Nachgang des Vorfalls: Die Aufseher nehmen zu Brians Tätlichkeiten gegen sie ausführlich Stellung – zu den Vorwürfen an ihre Adresse schweigen sie. Die Staatsanwaltschaft eröffnet ein Verfahren gegen Brian – aber nicht gegen die Aufseher. Sie tut es erst, als das Obergericht sie dazu zwingt.

Dass im Rapport von einem unverletzten Häftling die Rede war und es dann doch welche gab, machte das Gericht «hellhörig». Immerhin sei er «an Händen und Füssen gefesselt, bereits am Boden und überwältigt von sechs Sicherheitsmitarbeitenden in Vollmontur» gewesen, als diese entstanden. «So kräftig er auch sein mag – das Kräfteverhältnis war deutlich unausgeglichen.»

Die Fronten zwischen Brian und der Justiz – sie verhärten sich von Vorfall zu Vorfall. Jedes Fehlverhalten Brians verlängert den Katalog an Vorwürfen gegen ihn. Jede Disziplinarmassnahme führt zu neuen Wutausbrüchen. Brian flutet seine Zelle, schreibt mit seinem eigenen Blut «Brian Boss» an die Wand, bespritzt Aufseher mit Urin.

Sein «Hass gegen das System» unterscheide ihn von anderen Häftlingen, sagt ein Aufseher. Ein anderer fürchtet nach einer Beissattacke eine mögliche Ansteckung mit «Aids, Hepatitis etc.».

Und Brian sagt in einer Tonaufnahme mit müder, schwerfälliger Stimme: «Macht euch keine Sorgen, ich bleibe noch lange hier. Alter, ihr habt wirklich ein Problem. Hier drin ficke ich euch noch alle.»

Die Hoffnung: Besserung dank Lockerung

Die Wende kommt erst im Januar dieses Jahres. Brian wird in ein gelockertes Regime im Gefängnis Zürich verlegt. Seither ist es merklich ruhiger geworden um ihn. Das Zürcher Obergericht hält Ende Oktober dazu fest, es sei zu keinen Gewalttätigkeiten mehr gekommen – mit einer Ausnahme: Bei einem Zwischenfall mit einem Mithäftling soll Brian sein Gegenüber weggestossen haben. Auch wegen dieses Schubsers führt der Staatsanwalt ein Verfahren gegen Brian.

Das Obergericht hält fest, die positive Entwicklung sei zugunsten Brians zu würdigen. Es lässt aber offen, ob der Beschuldigte seine früher gezeigte Gewaltneigung nachhaltig in den Griff bekommen hat.

Auch die Zürcher Justizdirektion zog diesen Herbst gegenüber der «NZZ am Sonntag» eine vorsichtig positive Bilanz: «Es zeigt sich, dass die Verlegung und die Änderung des Vollzugs- und Betreuungssettings tatsächlich die erhoffte Entspannung der Situation bewirkt haben.»

Staatsanwalt Krättli aber will nicht nur an seinem Strafverfahren festhalten – er hält Brian auch für gefährlich genug, um ihn bis zum neuerlichen Prozess in Haft zu behalten. Damit sitzt Brian nun seit über fünf Jahren in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft, ohne dass ein rechtskräftiges Urteil gegen ihn vorliegt.

Das kritisiert sein Verteidiger Thomas Häusermann. Er bezeichnet das gesamte Strafverfahren als aufgebauscht. «Man stellt die Situation schlimmer dar, als sie ist.» Brian verhalte sich inzwischen seit elf Monaten vorbildlich. «Er hat tagtäglich mit Aufsehern und Mithäftlingen zu tun. Passiert ist nie etwas.»

Auch eine Wiederholungsgefahr stellt Häusermann in Abrede. «Alle Delikte, die Brian vorgeworfen werden, fanden, wenn überhaupt, innerhalb der Gefängnismauern statt und waren gegen Aufseher gerichtet. Weshalb sollte er da eine Gefahr in Freiheit sein?»

Mit diesem Argument blitzten Brians Anwälte vor dem Zürcher Zwangsmassnahmengericht jedoch ab. Brian habe sich in der Vergangenheit auch in Freiheit mehrfach gewalttätig gezeigt, es bestehe durchaus Wiederholungsgefahr, schreibt das Gericht. «Ebenfalls kann das Zwangsmassnahmengericht davon ausgehen, dass der Beschuldigte in beiden noch hängigen Verfahren mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit verurteilt werden wird.»

Dieses Verdikt überrascht nicht: Die Zürcher Zwangsmassnahmengerichte entscheiden gemäss einem Bericht der «Republik» in 94 Prozent der Fälle im Sinn der Staatsanwaltschaft.

Die Zukunft: Kampf um Gutachten – und Gerechtigkeit

Und wie geht es nun weiter im Fall Brian?

Seine Verteidiger haben eine Beschwerde gegen die Untersuchungshaft eingereicht und hoffen, dass ihr Mandant noch vor seinem nächsten Prozess freikommt. Zu diesem Zweck haben sie auch ein Privatgutachten eingereicht, das scharfe Kritik am psychiatrischen Gutachten übt, auf welches sich der Staatsanwalt bezieht. Dieses basiere auf Angaben aus zweiter Hand, blende Verbesserungen aus und berücksichtige den Effekt der Haftbedingungen auf Brians Verhalten zu wenig.

Staatsanwalt Krättli hingegen will sein Gutachten ergänzen lassen, um eine aktuelle Begründung der Wiederholungsgefahr vorzunehmen.

Und Brian selbst? Der bleibt im Gefängnis und hofft, wie er ausrichten lässt, weiter «auf Gerechtigkeit».
(https://www.nzz.ch/zuerich/die-akte-brian-wie-der-kampf-mit-der-justiz-in-zuerich-eskalierte-ld.1712703)

+++BARRIKADE.INFO
bernerzeitung.ch 23.11.2022

Am Internet-Pranger: Warum Opfer von Online-Hetze oft machtlos sind

Ein linksradikales Portal veröffentlicht persönliche Daten einer Polizistin. Die Hürden, um sich dagegen zu wehren, sind hoch. Experten kritisieren deshalb die Behörden.

Andres Marti, Michael Bucher

Online-Hetze ist für die Opfer nicht nur belastend, hinzu kommt oft ein Gefühl der Ohnmacht. Letzte Woche berichtete diese Zeitung vom Fall einer Solothurner Polizistin. Die Frau wurde auf einer einschlägigen linksradikalen Plattform mit vollem Namen, Fotos, Mailadresse und Handynummer an den Online-Pranger gestellt. Der Grund: Die Polizistin besuche in der Freizeit «Orte der linken Berner Szene».

Das anonyme Kollektiv hinter der Webseite bezeichnet sich als «offene Informationsplattform», die sich als «Teil der aktuellen revolutionären Kämpfe in der Deutschschweiz» versteht. Es ist nicht das erste Mal, dass dort Personen an den Pranger gestellt werden. Im Frühling traf es die Chefs der Securitas AG wegen der Rolle der Firma in Asylzentren. Neben der Veröffentlichung von Adressen und Telefonnummern wurden auch deren Häuser versprayt.

Trotz solcher Inhalte existiert die umstrittene Seite seit Jahren. Wieso wird sie nicht gesperrt?

Der Zürcher Rechtsanwalt Martin Steiger hat sich auf Recht im digitalen Raum spezialisiert. Laut ihm gibt es dafür gleich mehrere Hürden. Da wäre zum einen die technische: Für die Betreiber derartiger Seiten ist es heute ein Kinderspiel, ihre Identität im Netz zu verschleiern. «Am besten nimmt man dazu einen Anbieter aus dem Ausland, der sich die Meinungsfreiheit auf die Fahne geschrieben hat», sagt Steiger.

Tatsächlich verweist die IP-Adresse des besagten linksextremen Webportals auf einen Server des kanadischen Providers Koumbit in Montreal – Motto des Internetanbieters: für Freiheit und Solidarität im Netz. Für zusätzlich Anonymität sorgt der Domainname «.info», der von einer Firma in Irland angeboten wird. Wird eine Seite dann doch geblockt, ist eine Netzsperre technisch relativ einfach zu umgehen.

Wenig kooperative Provider

Zu den technischen kommen politische Hürden hinzu: Netzsperren, bei denen einzelne Seiten geblockt werden, sind politisch umstritten. Werden Persönlichkeitsrechte verletzt, sind Netzsperren laut Steiger zwar denkbar, aber gesetzlich nicht ausdrücklich vorgesehen. Internetpranger können mit Netzsperren also kaum verhindert werden.

Dieses Bild vermitteln auch die Antworten des Bundesamtes für Polizei (Fedpol). So muss es sich schon um eine «gewaltverherrlichende und extremistische Webseite» handeln, die «Gewaltpropaganda» verbreitet, damit das Fedpol die Löschung verfügt. Dafür braucht die Behörde die Zustimmung des Nachrichtendienstes. Eine weitere Voraussetzung ist, dass sich der entsprechende Server in der Schweiz befindet.

Anders sieht die gesetzliche Grundlage aus, wenn es sich um Webseiten mit illegaler Pornografie wie auch Phishing- und Malware-Inhalten handelt. Hier kann das Fedpol eigenmächtig Sperren verfügen. «In solchen Fällen sind die Provider rechtlich verpflichtet, den Zugang zu sperren», sagt Martin Steiger. Laut Fedpol sind in der Schweiz aktuell 1035 Webseiten gesperrt, in den meisten Fällen wegen illegaler Pornografie.

Und dann wären da noch die rechtlichen Hürden: Gegen ausländische Provider vorzugehen, ist aufwendig. Und die Zusammenarbeit der Behörden über die Landesgrenzen hinweg bleibt schwierig. Zudem zeigen sich viele Provider laut Steiger im Alltag wenig kooperativ. Google in den USA beispielsweise gibt im Zusammenhang mit Meinungsäusserungen grundsätzlich keine Userdaten heraus.

Was für Opfer eines Online-Prangers erschwerend hinzukommt: Das Veröffentlichen von persönlichen Daten ist per se nicht strafbar. Laut Steiger steht in solchen Fällen eine zivilrechtliche Klage im Vordergrund. Allein: Der Urheber darf dabei nicht anonym sein, denn im Zivilrecht ist eine Klage gegen unbekannt nicht möglich.

Formulieren in der Grauzone

Ab wann ein Online-Pranger auch strafrechtlich relevant wird, erklärt Marcel Niggli, Strafrechtsprofessor an der Universität Freiburg. Nötig dafür sei eine strafbare Absicht dahinter – also etwa wenn ein Aufruf zur Belästigung oder gar zu Gewalt damit verknüpft ist.

Doch genau hier liegt das Problem. Ein derartiger Aufruf muss unmissverständlich sein. Um diese juristischen Kriterien wissen wohl auch die Urheber solcher Posts. Oft heisst es dann lediglich, man solle die angeprangerte Person «besuchen» gehen. Was damit gemeint ist, scheint offenkundig.

In einer rechtlichen Grauzone verortet Niggli den Fall der geouteten Polizistin: «Die Botschaft ist geschickt formuliert, was die Sache aus strafrechtlicher Sicht schwierig macht.» So steht am Schluss der Anprangerung: «Wenn du dieser Polizistin sagen möchtest, wie sehr du sie nicht auf deinen Partys treffen möchtest, sind ihre Kontakte im Internet öffentlich zugänglich.» Danach sind private Mailadresse und Handynummer angegeben. Dazu muss gesagt werden, dass die Kontaktdaten der Frau ausser auf dem besagten Portal online nicht so ohne weiteres zu finden sind.

Deutlich problematischer und eindeutiger bei der Formulierung stuft Niggli die Anprangerung der Securitas-Chefs ein. «Greifen wir die Verantwortlichen an!», steht dort am Schluss. «Zusammen mit den Fotos der versprayten Häuserfassaden ist das ein deutlicher Aufruf zur Nachahmung», hält der Strafrechtsexperte fest.

Auch wenn es schwierig sei, die Betreiber zu identifizieren, rät Niggli in jedem Fall, Strafanzeige gegen unbekannt einzureichen. Denn der Druck auf die Strafverfolgungsbehörden müsse aufrechterhalten bleiben. Er findet, sie würden es sich etwas zu einfach machen, wenn sie behaupten würden, eine Strafverfolgung sei aussichtslos, wenn die anonymen Betreiber ihren Server im Ausland hätten.

«Die Betreiber der Webseite sitzen ja in der Regel in der Schweiz, folglich muss es auch eine Schweizer Korrespondenzadresse geben», so Niggli. Er bestreitet jedoch nicht, dass solche Ermittlungen sehr aufwendig und schwierig seien und sie deshalb aus Gründen der Verhältnismässigkeit oft nicht weiterverfolgt würden.

Die Schweiz im Hintertreffen

Diese Einschätzung teilt auch Jolanda Spiess-Hegglin. Sie ist Geschäftsführerin des Vereins Netz Courage, der Betroffene von digitaler Gewalt berät. Die Erfahrung habe leider gezeigt, dass die Polizei vielerorts oft wenig Willen zeige, konkret gegen Hass im Internet und digitale Gewalt vorzugehen. Auch die Justiz hinkt der Entwicklung hinterher, ist Spiess-Hegglin überzeugt: «In der Schweiz kennen nur drei Kantone eine gesetzliche Möglichkeit, gezielt gegen Online-Stalking vorgehen zu können.»

Wie aufwendig es für Betroffene sein kann, sich gegen anonyme Angriffe zu wehren, illustriert sie mit einem Beispiel: Monatelange Recherchearbeit habe Netz Courage investiert, um den Betreiber einer Internetseite zu identifizieren, der sechs Jahre lang diffamierende Bilder und Texte verbreitet hatte. Nun muss sich der Zürcher in mehreren Prozessen wegen Verleumdung, Verbreitung übler Nachrede, Urheberrechtsverletzungen, Nötigung und Pornografie verantworten.

Dass es noch Luft nach oben gibt, findet auch Rechtsanwalt Martin Steiger. International hinke die Schweiz beim Schutz von Betroffenen von Internetgewalt anderen Ländern hinterher. Er ist überzeugt: «Angesichts der Zunahme von links- und rechtsextremen Drohungen im Netz wird sich die Politik künftig mehr mit dem Thema befassen müssen.»
(https://www.bernerzeitung.ch/warum-opfer-von-online-hetze-oft-machtlos-sind-191180227164)