Medienspiegel 20. Oktober 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
In der Stadt Bern soll eine City Card eingeführt werden, mit der es Vergünstigungen und Dienstleistungen gibt für Menschen, die hier wohnen, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Der Gemeinderat spricht für Projektabklärungen 120’000 Franken. (ab 03:00)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/stadt-bern-warb-auf-plakaten-bewerbt-euch-um-kultur-foerdergelder?id=12272899
-> https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/gemeinderat-spricht-projektierungskredit-fuer-city-card-bern



hauptstadt.be 20.10.2022

Unbewohnte Container im Viererfeld

Gut drei Monate nach der Eröffnung leben zurzeit nur 63 Personen im für 1’000 Menschen gebauten Containerdorf auf dem Viererfeld. Warum?

Von Edith Krähenbühl (Text) und Simon Boschi (Fotos)

Spaziert man in diesen Tagen auf dem Gehweg entlang des Berner Viererfeldes, fällt vor allem eines auf: Das Containerdorf, das im Frühsommer für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen aus dem Boden gestampft wurde, wirkt menschenleer.

Auf dem Parkplatz stehen ein paar Autos, zwischen den Wohnreihen wartet ein Dumper auf seinen Einsatz und im hinteren Bereich des Geländes stehen ein Betonmischer und ein Bagger. Durch den teilweise mit einem Netz bespannten Zaun sind die Silhouetten von Bauarbeitern in orangen Hosen erkennbar. Aber wo sind die Bewohner*innen?

Ein Besuch der Temporären Unterkunft Viererfeld, kurz TUV, wie das Containerdorf vom Kanton getauft wurde, ist zurzeit nicht möglich. Die geflüchteten Ukrainer*innen sollen in Ruhe in ihrem vorübergehenden Zuhause ankommen können. So begründet Gundekar Giebel, Mediensprecher der Berner Gesundheits, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI), den abschlägigen Bescheid auf eine Besuchsanfrage der «Hauptstadt».

«Hund» und «Taube» werden gebraucht

Wie das Leben in der grössten oberirdischen Kollektivunterkunft der Schweiz gut drei Monate nach deren Eröffnung abläuft, ist deshalb nur den Antworten der Behörden zu entnehmen. Die Stadt teilt mit, dass Mitte Oktober 63 Personen in Containerreihe 1 wohnen. «Hund» heisst sie und beherbergt 19 Männer, 28 Frauen und 16 Kinder und Jugendliche. Die meisten sind ukrainische Staatsbürger*innen, einzelne kommen aus Drittstaaten, sind aber ebenfalls aus der Ukraine geflüchtet und haben Schutzstatus S erhalten (siehe Box).

Eine zweite und dritte Wohnreihe stehen bezugsbereit leer, Nummer vier und fünf werden zurzeit ausgebaut und sollen ab Ende Oktober bewohnbar sein. Die interne Schule habe den Unterricht aufgenommen. Im Moment werden im Administrationsgebäude mit dem Namen «Taube» neun Kinder unterrichtet, sagt Michael Sahli, Leiter des städtischen Informationsdienstes.

Aktuell ermögliche es die Belegung, dass Familien mit Kindern mehr Platz zugewiesen bekommen, so dass die Kinder, wenn es kälter wird, auch drinnen spielen könnten. Zusätzliche Strukturen für geschützte Freizeitaktivitäten oder Aufenthalte im Warmen seien derzeit in Abklärung und Planung.

Der Aussenbereich der Anlage ist, wie von aussen unschwer zu erkennen, noch nicht fertig, allerdings gibt es Sitzgelegenheiten, und die Spielwiese ist begrünt worden. Bei Regen biete, gemäss Auskunft der Stadt, ein Zelt Platz für Aktivitäten.

Vorerst genügend Platz

Vor der Eröffnung im Juli wurde das Containerdorf für Geflüchtete aus der Ukraine auf dem Berner Viererfeld harsch kritisiert. Die Bauweise, die an eine Haftanstalt oder eine Militärbaracke erinnere, entspreche nicht dem humanitären Mindeststandard, sagte ein Experte für Notunterkünfte. Zudem waren bereits während des Baus im Mai Einsprachen gegen das Projekt eingegangen. Doch diesen entzog Statthalterin Ladina Kirchen im Juli die aufschiebende Wirkung.

Auf die Kritik reagierte der Kanton mit dem Versprechen, die Kapazität der TUV nicht voll auszuschöpfen. Vorerst sollten 100 Menschen in die für 200 Personen konzipierte erste Wohnreihe einziehen. Geplant worden waren die fünf Wohnreihen als Unterkunft für 1’000 Personen, 200 pro Einheit.

Drei Monate, nachdem die ersten Personen eingezogen sind, leben im Containerdorf aber immer noch nur gut 60 Bewohner*innen. Nach dem Grund für die niedrige Belegung gefragt, sagt Gundekar Giebel von der GSI, die TUV werde als temporäre Kollektivunterkunft gebraucht. «Das Ziel ist, dass die geflüchteten Ukrainer*innen schnellstmöglich eine eigene Wohnung finden.»

Vielen ist das offenbar gelungen. Mitte Oktober befinden sich im Kanton Bern gemäss Angaben der Behörden 6’992 geflüchtete Ukrainer*innen. 3’412 Personen, also knapp die Hälfte, haben eigene Wohnungen gefunden, 2’638 Personen wohnen bei Gastfamilien und 942 in einer Kollektivunterkunft.

Asylsuchende aus anderen Ländern erwartet

Nach Einschätzung des Kantons könnten die leerstehenden Wohnreihen im Viererfeld jedoch schon bald gebraucht werden. «Wir erwarten auf die kalte Jahreszeit hin mehr Geflüchtete», sagt Gundekar Giebel. Deshalb auch der Ausbau der vierten und fünften Wohnreihe. Einschliesslich der TUV, in der bei Vollbelegung 650 statt wie ursprünglich geplant 1’000 Menschen leben sollen, stehen im Kanton Bern rund 4’000 Plätze in Kollektivunterkünften zur Verfügung. Zusätzlich seien 4’000 Notbetten bereit, sagt Giebel.

«Der Kanton bereitet sich auf die Szenarien vor, die der Bund entwickelt hat.» Man gehe davon aus, dass im Winter rund 10’000 Geflüchtete aus der Ukraine  im Kanton Bern leben werden. Das wären rund 3’000 Menschen mehr als jetzt. Laut anderen Szenarien könnten es noch mehr sein, daher gelte es, vorbereitet zu sein. Zusätzlich steige die Zahl Asylsuchender aus anderen Ländern zurzeit stark an, ergänzt Giebel.

«Nachholeffekt der Pandemie»

Besonders viele Asylgesuche kommen von Personen aus Afghanistan und der Türkei, gefolgt von Eritrea, Algerien und Syrien. Der Bund rechnet für die Monate Oktober und November mit 2500 bis 3000 Asylgesuchen von Geflüchteten, die nicht aus der Ukraine stammen. Das ist im Vergleich zur entsprechenden Periode im Jahr 2021 fast eine Verdoppelung. Für den Kanton Bern bedeutet das, dass pro Monat zusätzlich zu den Ukrainer*innen 200 Personen einen Platz in einer Unterkunft benötigen.

Als Grund für die Zunahme der Asylgesuche sieht Gundekar Giebel die unsichere Lage in Staaten wie Afghanistan. «Hinzu kommt ein Nachholeffekt, weil nach dem Abklingen der Corona-Pandemie das Reisen wieder besser möglich ist.» Ausserdem erlaubt Serbien, das mit seiner Lage auf dem Balkan ein wichtiges Transitland ist, bestimmten Staatsangehörigen die Einreise ohne Visum. Das hat zur Folge, dass zurzeit eine grosse Zahl von Menschen versucht, über die sogenannte Westbalkanroute nach Europa und auch in die Schweiz zu gelangen, wie das Schweizer Fernsehen kürzlich berichtete.

Statusunterschied bleibt bestehen

Auch weiterhin sollen aus der Ukraine Geflüchtete den Schutzstatus S erhalten, während Geflüchtete aus anderen Ländern ein reguläres Asylgesuch stellen müssen. Lukas Rieder, Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM), begründet dies mit der Anzahl der gestellten Gesuche. Der Schutzstatus S sei als Folge des Krieges in Ex-Jugoslawien geschaffen worden, damit die Behörden einer ausserordentlich grossen Anzahl von Asylsuchenden innert kurzer Zeit vorübergehenden Schutz gewähren können. «Eine solche Situation ist mit dem Krieg in der Ukraine eingetreten», sagt Rieder.

Menschen, die in anderen Ländern verfolgt sind, hätten das Recht auf ein Asylverfahren in der Schweiz. «Sie erhalten unseren Schutz, falls sie diesen nötig haben», sagt Rieder. Das gelte auch für die zwei Krisenherde der jüngeren Vergangenheit, Syrien und Afghanistan. In beiden Fällen seien die Asylgesuche in der Schweiz in einem Ausmass geblieben, welches das SEM gut mit den regulären Mitteln und Strukturen bewältigen könne.



Weniger Hilfsanfragen von Ukraine-Flüchtlingen aus Drittstaaten

Ende April berichtete die «Haupstadt» über «Society Moko». Die Bernerin Nadra Mao hatte die schweizweite Freiwilligenorganisation mitgegründet, weil Geflüchtete aus der Ukraine ohne ukrainischen Pass nicht gleich behandelt wurden wie Ukrainer*innen: Ukraine-Flüchtlinge aus Drittstaaten, die legal in der Ukraine gelebt hatten, aber vom Staatssekretariat für Migration (SEM) als in ihrem Herkunftsland nicht gefährdet eingestuft werden, erhielten in der Schweiz den Schutzstatus S nicht. «Society Moko» hatte es sich zum Ziel gemacht, diese Menschen nach ihrer Ankunft in der Schweiz zu unterstützen und sich politisch für sie einzusetzen.

Nun hat sich die Organisation aufgelöst. «In den letzten drei Monaten hatten wir nur noch zwei Anfragen von Geflüchteten aus Drittstaaten», sagt Nadra Mao auf Anfrage der «Hauptstadt». Eine davon am 10. Oktober von einem nigerianischen Staatsbürger, der laut eigenen Angaben in der Ukraine in die Schule ging und gelebt hat. Er schreibt, er habe im April einen Asylantrag gestellt, der im Oktober abgelehnt worden sei. «Society Moko» leite solche Anfragen nun weiter, beispielsweise an die «Noir Society» in München, die sich ebenfalls gegen Diskrimierung von People of Color einsetzt.

Die Asylpraxis an sich wurde nicht geändert. Aus der Ukraine geflüchtete Schutzsuchende aus Drittstaaten müssen in der Schweiz nach wie vor beweisen, dass sie nicht in Sicherheit dauerhaft in ihre Heimatländer zurückkehren können, wenn sie den Schutzstatus S beantragen. «Das ist kompliziert, weil viele gar nicht an solche Beweise herankommen, auch wenn sie an Leib und Leben bedroht sind in der Heimat», sagt Nadra Mao. Sie wisse von 43 abgelehnten Gesuchen. Allerdings habe es auch erfolgreiche Rekurse gegeben. Einige der Abgewiesenen seien untergetaucht und lebten unter prekären Bedingungen. «Die Vorstellung, zurück in das Ursprungsland zu gehen, ist schlimmer, als in einem Keller zu leben.» (kra)
(https://www.hauptstadt.be/a/unbewohnte-container-im-viererfeld)


+++AARGAU
Strengere Regeln bei der Sozialhilfe für ukrainische Flüchtlinge: Was bringen diese? (ab 09:11)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/19-jahre-und-zwei-monate-gefaengnis?id=12273148


+++LUZERN
Herausforderung für Gemeinde und Militär – Asylunterkunft Emmen: Das sagen Armee und Gemeinde
Aufgrund der steigenden Flüchtlingszahlen entsteht in der Mehrzweckhalle der Kaserne Emmen eine temporäre Flüchtlingsunterkunft. Wie sehen Betroffene die Flüchtlingsunterkunft auf dem Areal?
https://www.zentralplus.ch/politik/asylunterkunft-emmen-das-sagen-armee-und-gemeinde-2473231/


+++SCHAFFHAUSEN
Schaffhausen öffnet Zivilschutzanlage für Asylsuchende
Neben Ukrainerinnen und Ukrainern flüchten derzeit auch viele Menschen aus anderen Regionen in die Schweiz. Doch in den Bundesasylzentren fehlt der Platz. Der Bund greift deshalb auf Notunterkünfte zurück. In der Stadt Schaffhausen sollen Asylsuchende schon bald in der Zivilschutzanlage unterkommen. (ab 03:35)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/schaffhausen-oeffnet-zivilschutzanlage-fuer-asylsuchende?id=12272878
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/weihnachtsbeleuchtung-light-in-zuerich?id=12273229


+++SOLOTHURBN
Umgang des Kantons Solothurn mit Flüchtlingen: Wo bleibt die Menschlichkeit?
Miakhel Nak flüchtete aus Afghanistan in die Schweiz: Er ist integriert und hat einen Vollzeitjob – darf seine Familie aber nicht herholen, weil er 187 Franken im Monat zu wenig verdient. Ein Entscheid, bei dem die Solothurner Behörden viel Ermessensspielraum hatten. Dabei aber Menschlichkeit vermissen liessen.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/kommentar-umgang-des-kantons-solothurn-mit-fluechtlingen-wo-bleibt-die-menschlichkeit-ld.2360449


+++SCHWEIZ
Strafanzeige von Gabriel Püntener ist vom Tisch
Die Bundesanwaltschaft muss der Strafanzeige des Berner Anwalts gegen unbekannte Richter der beiden Asylabteilungen des Bundesverwaltungsgerichts nicht weiter nachgehen. Das Bundesstrafgericht ist auf eine Beschwerde von Püntener nicht eingetreten, weil er nicht beschwerdeberechtigt ist.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/204153/
-> Entscheid Bundesstrafgericht: https://bstger.weblaw.ch/files/20220915_BB_2022_73.pdf
-> https://www.derbund.ch/sem-erwartet-dieses-jahr-22-000-asylgesuche-702719094937


OLAF-Frontexbericht: Fragen und Forderungen an die offizielle Schweiz
Die europäische Antibetrugsbehörde OLAF ermittelte über ein Jahr gegen Frontex. Nun wurde der gesamte OLAF-Bericht geleakt. 129 Seiten zeigen, dass Frontex direkt und indirekt in illegale Machenschaften und Pushbacks verwickelt ist. Diese Woche hat das EU-Parlament deshalb die Entlastung des Frontex-Budgets verweigert. Zuvor musste bereits Frontex-Chef Leggeri zurücktreten. Er wusste von allem und unternahm nichts.
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/10/20/olaf-frontexbericht-fragen-und-forderungen-an-die-offizielle-schweiz/


SEM rechnet mit mindestens 22 000 neuen Asylgesuchen im Jahre 2022
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat den Sonderstab Asyl (SONAS) an der 14. Sitzung darüber informiert, dass 2022 insgesamt rund 22 000 Asylgesuche in der Schweiz gestellt werden dürften. Dies sind rund 7000 Gesuche mehr als im Vorjahr. Die durch die Ukraine-Krise ohnehin schon stark belasteten Kantone und Gemeinden wie auch der Bund arbeiten intensiv daran, genügend Unterbringungsplätze und personelle Ressourcen für die Betreuung der Asylsuchenden und der Schutzsuchenden aus der Ukraine bereit zu stellen. Das SEM hat zudem Massnahmen ergriffen, um die Asylverfahren weiter zu beschleunigen und die Zahl von Asylentscheiden pro Monat zu erhöhen.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90797.html
-> https://www.blick.ch/politik/mindestens-22000-asylgesuche-bund-korrigiert-asyl-prognose-erneut-nach-oben-id17979333.html



nzz.ch 20.10.2022

Die Schweiz bereitet sich auf eine Rekordwelle von Flüchtlingen vor

Im äussersten Fall könnte sich die Zahl der Ukraine-Flüchtlinge bis Ende Jahr praktisch verdoppeln. Hinzu kommen immer mehr Asylsuchende aus klassischen Herkunftsländern. Die Herausforderungen für die Schweiz sind riesig.

Daniel Gerny, Matthias Venetz

Es wird immer deutlicher, dass sich die Schweiz in den kommenden Monaten nicht nur auf die drohende Energiekrise vorbereiten muss, sondern zusätzlich auch auf stark steigende Flüchtlingszahlen. Im September sind innert eines Monates so viele Gesuche gestellt worden wie seit der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016 nicht mehr, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) diese Woche feststellte. 2681 Asylgesuche wurden registriert, 31 Prozent mehr als im Vormonat. Für 2022 rechnet das SEM mit insgesamt 22 000 Asylgesuchen, 7000 mehr als im Jahr zuvor. Gegenüber früheren Schätzungen hat der Bund die Prognosen damit deutlich nach oben korrigiert.

Und die Fluchtbewegung von Ukrainerinnen und Ukrainern Richtung Schweiz ist dabei noch nicht einmal eingerechnet. Im September, ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn, gab es noch immer praktisch gleich viele Anmeldungen von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine wie reguläre Asylgesuche: 2664 Personen registrierten sich im letzten Monat für ein Gesuch um den Schutzstatus S. Welche gigantischen Summen dabei zusammenkommen, zeigt sich im Vergleich: In keinem Jahr seit 2010 wurden mehr neue Asylgesuche gestellt als 2015, nämlich fast 40 000. Addiert man aber die vom SEM für dieses Jahre erwarteten Asylgesuche und die Schutzstatus-Anträge, so ist für dieses Jahr mit einem Zustrom von mehr als 100 000 Personen zu rechnen.

Die Bundesasylzentren stossen deshalb an ihre Belastungsgrenzen. Im Empfangszentrum in Chiasso, wo viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) untergebracht sind, kam es kürzlich zu einem Hungerstreik von Asylbewerbern aus Afghanistan. Eine der Ursachen ist der Mangel an Sozialpädagogen für die Betreuung. Das SEM reagiert nun auf die angespannte Situation. Zur Entlastung der mit der Betreuung beauftragten Dienstleister in den Bundesasylzentren wird die Armee künftig Transportdienste leisten. Zudem soll das Bundesamt für Polizei (Fedpol) Personal zur Überprüfung von Identität und Herkunft der Asylsuchenden zur Verfügung stellen. Dies teilte das SEM im Anschluss einer Sitzung des Sonderstabs Asyl (Sonas) mit. Das Gremium vereinigt verschiedene Stellen der Kantone und des Bundes und wurde von Bundesrätin Karin Keller-Sutter kurz nach Beginn des Ukraine-Krieges eingesetzt.

Bis zu 120 000 Personen aus der Ukraine

Steigt die Zahl der Asylgesuche allerdings auf deutlich über 2500 pro Monat, reichen solche Massnahmen nicht mehr aus. Dann bleibt nach Ansicht des SEM nichts anderes übrig, als Asylsuchende noch vor Abschluss des beschleunigten Verfahrens und einem allfälligen Vollzug der Wegweisung auf die Kantone zu verteilen. Für die Kantone stellte ein solcher Schritt eine erhebliche Zusatzbelastung dar, nachdem sie schon mit der Bewältigung des Ansturms aus der Ukraine an ihre Grenzen gestossen sind.

Auch in Bezug auf die Ukraine rechnet das SEM weiterhin mit hoher Dynamik. Der Bund geht davon aus, dass bis Ende Dezember insgesamt 80 000 bis 85 000 Anträge gestellt werden. Ob es wirklich dabei bleibt, ist allerdings völlig unberechenbar und hängt von zahlreichen Faktoren wie dem Kriegsverlauf oder der Versorgungslage in den Nachbarländern der Ukraine ab. Das SEM schliesst deshalb auch deutlich höhere Zahlen nicht aus – so dass gemäss Extremszenario bis Ende Jahr bis zu 120 000 Personen in der Schweiz Schutz suchen könnten. Weil praktisch alle Anwärter den Schutzstatus S erhalten – im September betrug die Ablehnungsquote weniger als 3 Prozent –, würde sich die Zahl der Ukraine-Flüchtlinge in diesem Fall im Vergleich zu heute praktisch verdoppeln.

Corona treibt die Flüchtlingswelle an

Während die Gründe für die Flucht aus der Ukraine auf der Hand liegen, sind die Ursachen für die steigende Zahl von Gesuchen aus den klassischen Asylländern vielschichtiger. Mit Abstand am meisten Gesuche stellen derzeit Personen aus Afghanistan (777, plus 243 Gesuche gegenüber August) und der Türkei (473, plus 169 Gesuche gegenüber August). Eine Ursache sieht das SEM in Corona: Mit dem Ende der Einschränkungen sind Reisen wieder einfacher geworden, gleichzeitig sind viele Volkswirtschaften als Folge der Pandemie geschwächt. Mit dem Ukraine-Krieg steigen die Preise zusätzlich, wie das SEM auf Anfrage der NZZ erklärt. Insbesondere in der Türkei würden diese Effekte für zusätzlichen Abwanderungsdruck sorgen.

Noch komplizierter ist die Lage in Afghanistan. Nach Aussagen des SEM führte die Machtübernahme der Taliban im August 2021 vor allem zu Fluchtbewegungen innerhalb des Landes. Sie hatte aber keine direkten Auswirkungen auf die Wanderung der afghanischen Asylsuchenden. Das SEM erklärt die Zunahme der Asylgesuchen aus Afghanistan deshalb nicht in erster Linie mit Ursachen im Herkunftsland. Die Schweiz sei für Afghaninnen und Afghanen ohnehin nicht primäres Zielland. Das SEM führt den Anstieg vor allem auf die wirtschaftliche Lage in Ländern wie Griechenland oder der Türkei zurück. Dies sowie die Aussicht auf bessere Perspektiven in Westeuropa und Hoffnungen auf eine vorläufige Aufnahme als Folge der Machtübernahme der Taliban verstärken die Wanderungsbewegung auch Richtung Schweiz.

Plötzlich viele Gesuche aus Burundi

Als wäre dies allein nicht genug, verschärfte Serbien mit einer liberalen Visa-Praxis die Lage im Flüchtlingsbereich zusätzlich. Das Land erleichterte es Staatsangehörigen aus Indien, Tunesien, Burundi und Kuba, ohne Visum nach Serbien zu gelangen und von dort weiterzureisen. Der Effekt lässt sich auch in der aktuellen Asylstatistik der Schweiz ablesen: So haben sich die Gesuche von Personen aus Burundi gegenüber dem Vormonat mehr als verdoppelt.

In einer gemeinsamen Aktion haben die Schweiz und Österreich Serbien inzwischen scharf kritisiert und unter Druck gesetzt. Ende September haben sich Justizministerin Karin Keller-Sutter und der österreichische Innenminister Gerhard Karner in Zürich auf einen gemeinsamen Aktionsplan geeinigt. Vor allem wirkte die EU-Kommission auf Serbien ein, so dass die Regierung nun angekündigt hat, einzulenken und die Visa-Praxis zu überarbeiten. Auf die Flüchtlingszahlen in der Schweiz wird sich dies nur begrenzt auswirken – doch es zeigt, dass an internationaler Kooperation angesichts der Herausforderungen im kommenden Winter kein Weg vorbeiführt.
(https://www.nzz.ch/schweiz/schon-jetzt-asylzahlen-wie-bei-der-fluechtlingskrise-2015-so-bereitet-sich-die-schweiz-auf-die-neue-rekord-welle-vor-ld.1708227)


+++ÖSTERREICH
Zelte für Asylwerber in Tirol schaffen Platz für rund 100 Personen
Vermutlich ab Freitag sollen die Zelte, die weit abgelegen vom Absamer Dorfzentrum stehen, bezogen werden. Weitere Zelte in Tirol seien nicht ausgeschlossen
https://www.derstandard.at/story/2000140152793/asyl-zelte-in-tirol-schaffen-platz-fuer-rund-100-personen?ref=rss


+++FREIRÄUME
Forderungen bleiben bestehen – Besetzung Kellerstrasse: Aktivistinnen verlassen das Haus
Die Ultimatumsfrist bei der Besetzung an der Kellerstrasse 28a läuft aus. An einer Medienkonferenz teilen die Aktivisten mit, das Haus zu verlassen. Der politische Aktivismus gehe jedoch weiter.
https://www.zentralplus.ch/wohnen-bauen/besetzung-kellerstrasse-aktivistinnen-verlassen-das-haus-2473729/
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/frist-fuer-die-hausbesetzer-abgelaufen-148440219
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/stadt-luzern-das-ultimatum-ist-verstrichen-besetzergruppe-verlaesst-das-kellerhaus-ld.2360793
-> https://www.20min.ch/story/kollektiv-raeumt-besetztes-haus-und-ruft-zu-demo-auf-940888862276



ajour.ch 20.10.2022

Dank Einigung mit Chessu in letzter Minute: Grosse Zustimmung für neues Gesundheitszentrum

Direkt hinter dem Bieler Bahnhof wird ein Gesundheitszentrum gebaut. Auch, weil die Finanzdirektorin auf den letzten Drücker doch noch eine Vereinbarung mit dem Chessu präsentieren konnte.

Lino Schaeren

Letztlich ist es ein Glanzresultat: Der Bieler Stadtrat stellt sich ohne eine einzige Gegenstimme hinter den Bau eines neuen Gesundheitszentrums hinter dem Bieler Bahnhof. Dafür muss an der Aarbergstrasse 72 das ehemalige X-Project weichen. Die dortige kulturelle Nutzung hatte im Vorfeld der Debatte im Parlament das gesamte Vorhaben gefährdet: Weil die Stadt Biel bis kurz vor der Sitzung keine Anschlusslösung für das Autonome Jugendzentrum (AJZ) präsentieren konnte, drohten linke Kräfte, das Geschäft zu verschieben oder gar an die Stadtregierung zurückzuweisen.

Finanzdirektorin Silvia Steidle (PRR) war es als Versäumnis ausgelegt worden, dass trotz zweijährigen Verhandlungen für das Gesundheitszentrum die Lösung für den Chessu zu kurz gekommen sei. SP-Fraktionspräsident Levin Koller nannte den Umgang der Magistratin mit dem Kollektiv Anfang Woche gar «katastrophal». Tatsächlich konnte Steidle bis zuletzt keine zu Ende verhandelte Anschlusslösung für das AJZ präsentieren, im Bericht an den Stadtrat des Gemeinderats wird das AJZ mit keinem Wort erwähnt.

Erst, nachdem die Juso Ende der vergangenen Woche mit dem Referendum gegen das Gesundheitszentrum drohte, kam Dynamik in die Sache: Steidle lud die Parteien – das AJZ, die Investorin Kimball AG, das Spitalzentrum – zur Sitzung. Und tags darauf führte die Finanzdirektorin persönlich die AJZ-Vertretenden durch die Räume der ehemaligen Neumarktpost, welche die Stadt dem Kollektiv als neue Zwischenlösung bis zum Abschluss des Chessu-Umbaus anbietet. Das Ziel: Eine unterzeichnete Vereinbarung bis zur Stadtratssitzung vom Donnerstag, damit das Projekt nicht abliegt.

Stadt zahlt Umzug

Und das Kunststück ist Steidle in der Hauruck-Übung gelungen: Gestern Mittag, sechs Stunden vor dem Zusammentreten des Stadtrats, konnte sie das unterzeichnete Papier tatsächlich präsentieren. Dieses sieht vor, dass das AJZ die ehemalige Neumarktpost als Lager, für Versammlungen oder für Märkte nutzen kann – und zwar vorerst von Dezember 2022 bis Dezember 2023. Für grössere Veranstaltungen stellt die Stadt dem AJZ zudem das Volkshaus am Guisanplatz zur Verfügung. Und: Das Kollektiv muss hinter dem Bahnhof nicht bereits Ende 2022, sondern erst Ende Januar 2023 ausziehen, erhält also einen Monat Gnadenfrist.

Das AJZ einquartiert im «roten» Volkshaus, welches das linke Biel repräsentiert wie kaum ein anderes Gebäude? Das passt irgendwie. Ob und wie oft darin jedoch Partys und Konzerte stattfinden werden, bleibt offen. Die Stadt sichert dem Kollektiv in der Absichtserklärung jedoch zu, nach Verfügbarkeit im Volkshaus Einzelveranstaltungen, aber auch Festivals durchführen zu können. Dabei ist klar: Die am Markt geforderte Miete für das Volkshaus wird das AJZ nicht bezahlen können. «Die Nutzung wird nicht ganz kostenlos sein, aber auch nicht zu den üblichen Tarifen», sagt dazu Stadtpräsident Erich Fehr (SP). Das AJZ darf zudem sein eigenes Catering und damit seine eigene Preispolitik machen.

Weiter kommt die Stadt dem Chessu entgegen, indem sie sich logistisch und finanziell am Umzug von hinter dem Bahnhof in die Neumarktpost beteiligt. Und indem sie in der ehemaligen Post sanitäre Anlagen einbaut. Kritik aus dem Stadtrat, auf den letzten Drücker gehandelt zu haben, wies Finanzdirektorin Steidle weit von sich. Der Aktivismus in dieser Woche sei nur nötig geworden, weil die Ratslinke eine schriftliche Bestätigung verlangt habe für eine Anschlusslösung, die von langer Hand vorbereitet, aber noch nicht finalisiert worden sei.

100 000 Konsultationen

Bei all der Diskussion um die Jugendkultur und mögliche Versäumnisse ging im Stadtrat fast etwas unter, worin sich ausnahmslos alle einig waren: Das geplante Gesundheitszentrum direkt beim Bahnhof ist eine gute Sache und eine grosse Chance für Biel. Ins «Haus für die Gesundheit und die Prävention» soll vordergründig das Spitalzentrum Biel einziehen, aber nicht nur. Auch Pro Senectute, die Spitex oder eine Kita sollen im Gesundheitszentrum Unterschlupf finden.

Für Biel ist das Projekt vorab auch die Möglichkeit, beim geplanten Umzug des Spitalzentrums nach Brügg zumindest die ambulante Versorgung auf Stadtboden zu halten. Es wird damit gerechnet, dass das «Haus für die Gesundheit» dereinst von immerhin mehr als 100 000 Personen jährlich konsultiert werden wird.
(https://ajour.ch/story/dank-einigung-mit-chessu-in-letzter-minute-grosse-zustimmung-fr-neues-gesundheitszentrum/35364)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Heute in einem Monat beginnt die WM: Juso Aktion vor FIFA-Museum sorgt für Verwirrung
Im November beginnt die Weltmeisterschaft im Männerfussball in Katar. Die Juso hat am Donnerstag in einer Aktion vor dem FIFA-Museum auf die Menschenrechtssituation im Gastgeberland aufmerksam gemacht und Forderungen gestellt. Diese stossen nicht überall auf Verständnis.
https://www.watson.ch/schweiz/fifa/691198007-die-juso-fordert-dass-diesen-winter-keine-wm-publicviewings-stattfinden


+++SPORT
Biel: Auseinandersetzung anlässlich Fussballspiel verhindert
Am Mittwochabend hat die Kantonspolizei Bern in Biel am Rande des Fussballspiels zwischen dem FC Biel-Bienne und dem FC Baden eine Auseinandersetzung zwischen Fans verhindern können. Es mussten Zwangsmittel eingesetzt werden, damit die beiden Fangruppierungen nicht aufeinandertreffen konnten.
https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=b735ac33-b823-4d2c-8eaf-c500b9c09266



ajour.ch 20.10.2022

FC Biel gegen FC Baden: Polizei schritt nach Match mit Gummischrot ein wegen Fan-Auseinandersetzung

Nach dem gestrigen Fussballmatch des FC Biel ist es zu wüsten Szenen gekommen: Die Polizei ging mit Gummischrot vor, um eine Auseinandersetzung zwischen «Fan-Gruppierungen» zu unterbinden.

Redaktion ajour

Nach dem gestrigen Fussballmatch in der Tissot Arena in Biel haben «Fangruppierungen der beiden Clubs» – FC Biel-Bienne und FC Baden – die Konfrontation gesucht. Das vermeldet die Kantonspolizei Bern heute. Die Szene fand ausserhalb des Stadions in der Südwest-Zone statt.

Umgehend hätten die Einsatzkräfte der Kapo interveniert und die Angehörigen der beiden Gruppierungen dazu aufgefordert, sich zu distanzieren. Diesen Aufforderungen seien sie nicht nachgekommen, die gegenseitige Provokation ging weiter. Die Polizei ging mit Zwangsmitteln vor: «Damit die beiden Fangruppierungen nicht aufeinandertreffen konnten, mussten Gummigeschosse eingesetzt werden», schreibt die Kantonspolizei.

Nach diesem Einsatz von Zwangsmittel gingen die Anhänger des FC Badens zu ihrem Car. Eine Auseinandersetzung habe verhindert werden können durch die Polizeipräsenz, schreibt die Kantonspolizei.

Verletzt wurde beim Einsatz niemand, so der aktuelle Kenntnisstand gemäss Polizei.

Auch vor dem Match war es nicht ruhig: Gegenseitige Provokationen hätten stattgefunden und Pyrotechnik sei ausserhalb des Stadions gezündet worden.
(https://ajour.ch/story/fc-biel-gegen-fc-baden-polizei-schritt-nach-match-mit-gummischrot-ein-wegen-fanauseinandersetzung/35337)


++++MENSCHENRECHTE
UNO-Frauenrechtskonvention: Schweiz erstattet Bericht über Fortschritte und Herausforderungen bei der Umsetzung
Die Schweiz stellt morgen Freitag, 21. Oktober 2022, in Genf dem zuständigen Fachausschuss der Vereinten Nationen ihren Bericht über Fortschritte und Herausforderungen im Kampf gegen die Diskriminierung der Frau vor. Auf dieser Basis wird der Ausschuss Handlungsempfehlungen für die Schweiz formulieren.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90787.html


+++POLIZEI DE
Beschwerde gegen Racial Profiling: Erfolgreich durchgeklagt
Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs stärkt Opfer von polizeilicher Diskriminierung. Nach einer Kontrolle klagte ein Berliner Polizeikritiker.
https://taz.de/Beschwerde-gegen-Racial-Profiling/!5889571/


+++FRAUEN/QUEER
Drei Geschlechter für Drittklässler
In einer Primarklasse in Zollikon konnten die Kinder bei einer Englisch-Aufgabe zwischen drei Geschlechtern wählen: Mädchen, Junge oder nonbinär. Ist dies eine Überforderung für 9-Jährige – oder ist es einfach zeitgemäss?
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/drei-geschlechter-fuer-drittklaessler-148440363


+++RECHTSEXTREMISMUS
Neonazis störten Drag-Kinderlesestunde in Zürich
Rauchfackeln, Transparente und brüllende, vermummte Männer: Neonazis störten eine Lesestunde von Dragqueens in Zürich. Die Aktion erinnert an Attacken, die aus Wien und den USA gemeldet wurden.
https://www.queer.de/detail.php?article_id=43563
-> https://www.20min.ch/story/dragqueens-lesen-kindern-vor-dann-beginnen-neonazis-zu-randalieren-709534702517
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/zuercher-filmfestival-soll-oekologischer-werden?id=12272206 (ab 03:20)


+++HISTORY
Die Ems Chemie und der Zweite Weltkrieg – Rendez.vous
Eine aufwendige Recherche zeigt erstmals, dass die Vorgängerfirma der Ems Chemie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur Kunststoffe und Kunstfasern herstellte, sondern auch Waffen entwickelte. Zum Beispiel einen Brandkampfstoff, quasi die Schweizer Version von Napalm.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/die-ems-chemie-und-der-zweite-weltkrieg?partId=12272908
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/psychologie-des-kaufrauschs?id=12273241 (ab 14:01)



nzz.ch 19.10.2022

Entwicklungshilfe aus dem «Dritten Reich»: Die Ems-Chemie hat eine bewegte Geschichte – mit ein paar ungelösten Fragen

Die Historikerin Regula Bochsler erzählt die atemberaubende Entstehungsgeschichte der heutigen Ems-Chemie – samt Nazis, Nylon und Napalm.

Marc Tribelhorn

Werner Oswald, der Chef der Holzverzuckerungs-AG (Hovag), ist begeistert von der neuen Wunderwaffe. Kurzerhand lädt er eine Delegation des Eidgenössischen Militärdepartements in sein Reich nach Ems, Graubünden. Er will sein «verbessertes Napalm» demonstrieren. Am 20. Oktober 1952 treffen zwei Munitionsspezialisten des Bundes auf dem Fabrikgelände ein, wo ihnen drei Stunden lang Experimente mit «Opalm» vorgeführt werden – im Labor und im Freien. Um Bombenabwürfe zu simulieren, werden Plastiksäcke mit 70 Kilogramm Brandstoff in eine Sandgrube geworfen und gezündet. Auch auf dem Abwasserbach des Werks wird emsig «Opalm» abgefackelt.

Doch der Bund will nichts wissen von der Schweizer Variante des amerikanischen Napalms, mit dem im Koreakrieg gerade ganze Landstriche bombardiert und verkohlt worden sind: zu teuer im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz. Und so wird das zerstörerische Produkt aus Ems bald auf verschlungenen Wegen an Abnehmer aus der ganzen Welt geliefert, nach Burma, Pakistan, Indonesien oder Ägypten. Samt Bombenhüllen und Zündern.

Es ist nur eine irritierende Episode von vielen, die Regula Bochsler in ihrem Buch über die Geschäfte der Emser Werke und deren Gründer Werner Oswald beschreibt. Vier Jahre lang hat die Historikerin zum Thema geforscht und trotz verweigertem Zugang zum Firmenarchiv Erstaunliches zutage gefördert über ein – wie sie schreibt – «fast schon ikonisches Schweizer Unternehmen, das die Aktivdienstgeneration wegen des Ersatztreibstoffs und jüngere Generationen wegen des früheren Besitzers, Altbundesrat Christoph Blocher, kannten». Heute wird die Ems-Chemie von Blochers Tochter Magdalena Martullo-Blocher geführt, noch erfolgreicher als unter ihrem höchst erfolgreichen Vater. Sie leitet inzwischen einen Konzern mit 3000 Angestellten und einem Jahresumsatz von mehr als zwei Milliarden Franken.

Angefangen hat Bochslers Recherche mit zwei Metallkisten und einer verstaubten Archivschachtel, die der Sohn eines ehemaligen Forschungsleiters der Firma der Historikerin zeigte. Darin fanden sich Hinweise auf brisante Geschäfte und Wissenstransfers, die in den bisher erschienenen Auftragsarbeiten schlicht fehlten. Einzig die sogenannte Bergier-Kommission hatte genauer hingeschaut – oder hinschauen wollen, indes nur mit Fokus auf den Zweiten Weltkrieg. Bochsler interessiert sich auch für diese Geschichte, doch ihr geht es vor allem um die ersten Jahrzehnte des Kalten Krieges: «Ich wollte keine Geschichte der Ems-Chemie unter Christoph Blocher schreiben, sondern herausfinden, wie es Werner Oswald gelungen war, das kriegswirtschaftliche Treibstoffwerk zu einem selbsttragenden Chemiewerk umzubauen, und auf welche Netzwerke er dabei zurückgreifen konnte.» Die rund 550 Seiten starke Studie ist aber mehr als eine Rekonstruktion eines Einzelunternehmens, sie erzählt auch ein Kapitel Nachkriegsgeschichte, das geprägt ist von Aufbruchstimmung, Opportunismus und Filz in Politik und Wirtschaft.

Subventionitis in Ems

Der Agraringenieur Werner Oswald, 1904 geboren und aus bestem Haus – sein Vater wird «Kaiser von Luzern» genannt –, gründet 1936 die Holzverzuckerungs-AG. Mit einem chemischen Verfahren will er aus Holz Ersatztreibstoff für Motorfahrzeuge herstellen und damit der Bergbevölkerung ein Auskommen sichern. Angetrieben wird der rechtskonservative Oswald von einer Mischung aus Patriotismus und Profitstreben. Untergebene schildern ihn als herrisch, aufbrausend und misstrauisch. Seine Geschäfte sind von Anfang an undurchsichtig: 1937 gerät Oswald zusammen mit seinem Bruder Victor, der gute Kontakte zu General Franco pflegt, ins Visier der Bundespolizei, wegen vermuteter Waffengeschäfte in Spanien. Die Untersuchung wird zwar eingestellt, aber eine Fiche zu den Oswald-Brüdern angelegt.

Werner Oswald ist ein Macher und Chrampfer, der Neues wagt, gross denkt – und viel verspricht. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist seine Hovag plötzlich gefragt, weil der Treibstoff knapp wird. Mit 15 Millionen Franken aus der Kasse des Bundes und des Kantons Graubünden stampft er in Ems eine Fabrik aus dem Boden – eigentlich ein Irrsinn, abseits der grossen Transitlinien, nur erschlossen durch eine Schmalspurbahn. Es kommt zu Verzögerungen und Pannen, aber das «Emser Wasser», mit dem ab Anfang der 1940er Jahre der importierte Treibstoff gestreckt wird, ist bedeutsam in der Mangellage – und schafft Arbeitsplätze. Nur ist die vielbeschworene Autarkie vor allem Rhetorik im Sinne der geistigen Landesverteidigung. Es braucht für die Produktion auch Rohstoffe aus Franco-Spanien und Nazi-Deutschland.

Oswald inszeniert sich als Heimatschützer und weiss, dass Lobbying entscheidend ist für einen Unternehmer, der am Staatstropf hängt. Geschickt schart er einflussreiche Männer um sich, so Armin Meili, Nationalrat und ehemaliger Direktor der Landesausstellung von 1939, oder den Bündner National- und Regierungsrat Andreas Gadient, der künftig als eine Art Propagandaminister der Hovag tätig ist. Aber auch der Sozialist Robert Grimm, einst Anführer des Landesstreiks und jetzt Präsident der Hovag-Überwachungskommission des Bundes, steht ihm nahe.

Nach 1945 verliert Oswalds unrentable Produktion ihre Existenzberechtigung: Das Benzin fliesst wieder reichlich und zu günstigen Preisen ins Land. Um das Überleben der Hovag zu sichern, räumt der Bund ihr eine zehnjährige subventionierte Übergangsfrist ein, mit garantierter Abnahme des «Emser Wassers». 1946 heisst es im Geschäftsbericht der Hovag, man arbeite «mit vollen Kräften» an der Produktionsumstellung.

Was das konkret bedeutet, hat Regula Bochsler eindrücklich nachgezeichnet, anhand aufwendiger Recherchen im In- und Ausland. Es liest sich stellenweise wie ein Spionageroman, mit schillernden Figuren und zwielichtigen Geschäften. Mitunter ist das Buch auch etwas zu detailverliebt und anekdotisch.

Nazis als Berater

Werner Oswald sucht bei der Neuausrichtung der Hovag Rat bei Ernst Fischer, ehemals Leiter der Mineralölabteilung in Hitlers Reichswirtschaftsministerium und Vertrauter von Reichsmarschall Göring. Die Alliierten fordern zwar seine Auslieferung, aber der Nazi bleibt in der Schweiz unbehelligt, auch dank der Fürsprache von Politikern wie Robert Grimm. Die Zusammenarbeit der Hovag mit Fischer wird laut Bochsler mit äusserster Diskretion behandelt. Ab wann und unter welchen Bedingungen Fischer für Oswald tätig ist, bleibt ungewiss. Sehr wahrscheinlich ist, dass Fischer den Kontakt zwischen dem Hovag-Chef und einem Nazi-Chemiker herstellt, der für die Nachkriegsgeschichte des Unternehmens von zentraler Bedeutung sein wird: Johann Giesen, ein ehemaliger Direktor im I.-G.-Farben-Werk Leuna. Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess gegen die Manager der I. G. Farben ist Giesen nicht angeklagt, sagt dort aber aus: zugunsten von Heinrich Bütefisch, einem Vorstandsmitglied. Bütefisch wird verurteilt – und nach Verbüssen der Strafe ebenfalls von Oswald als Berater angestellt.

Der Schweizer Unternehmer hat einen Plan gefasst: In Ems sollen künftig synthetische Fasern hergestellt werden. Johann Giesen verpflichtet sich, die nötigen Produktionsunterlagen und Spezialisten zu beschaffen. Dank importiertem Wissen und Industriespionage kann viel Zeit gespart werden. Und so werden aus dem kriegsversehrten Deutschland sukzessive Chemiker nach Ems gelotst. Die bürokratischen Hürden sind hoch, vor allem für ehemalige NSDAP-Mitglieder. Die Schweizer Behörden gewichten indes die Interessen der Wirtschaft oft höher als politische Bedenken. Es könne «nicht die Aufgabe der schweizerischen Behörden sein, zuerst die Alliierten zu befragen, ob ein Spezialist nach der Schweiz kommen oder in der Schweiz verbleiben dürfe», heisst es 1947 bei der Fremdenpolizei. Und überhaupt: Machen es die Amerikaner nicht genau gleich, indem sie die besten Nazi-Wissenschafter in die USA bringen, etwa den Raketenbauer Wernher von Braun?

So sieht es auch Werner Oswald. Er kann zudem auf einen Freund aus dem Militär zählen, Paul Schaufelberger, inzwischen hoher Offizier im Nachrichtendienst. Dieser hat Kontakte zu einem Schleuserbüro in der Berner Marktgasse, das deutsche Wissenschafter über die grüne Grenze in die Schweiz und dann weiter nach Argentinien bringt. Schaufelberger unternimmt nichts gegen die «Rattenlinie», zapft als Gegenleistung aber das Fachwissen der Forscher ab. Auch Oswald profitiert, indem er auf diesem Weg an Know-how und Spezialisten für die Hovag kommt. Doch damit ist es noch nicht getan: Es braucht auch Pläne für Werkanlagen und Maschinen. Oswald schreckt auch nicht davor zurück, Baupläne zu beschaffen, die in deutschen Betrieben gestohlen wurden.

Nur auf diese Weise ist es überhaupt möglich, dass Oswald schon 1950 ankündigt, in Ems werde nun die erste Kunstfaser hergestellt, die vollständig aus der Schweiz stamme – Markenname Grilon, eine Wortmischung aus Graubünden und Nylon. «Die Grilon-Produktion ist das grösste, ehrgeizigste und auf lange Sicht erfolgreichste Projekt, das er nach dem Krieg in Angriff genommen hat», schreibt die Historikerin Bochsler. Aber sie thematisiert noch weitere Geschäftszweige, die verfolgt werden. Zum Beispiel die Entwicklung einer Flugabwehrrakete, wieder mithilfe ehemaliger Nazis, diesmal von der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, wo die legendäre V2-Rakete entwickelt wurde. Später tüfteln Oswalds Forscher auch an Napalm, Zündern oder Tretminen.

«Das Schweizervolk hereingelegt»

1955 kommt der Bundesrat zum Schluss, die Hovag sei noch immer nicht überlebensfähig und müsse weitere fünf Jahre gestützt werden. Wirtschaftsliberale Kreise empören sich über die «sinnlose» Planwirtschaft. Sie lancieren ein Referendum und siegen im Frühjahr 1956 nach einem äusserst gehässig geführten Abstimmungskampf, in dem die Hovag vor dem drohenden Ruin gewarnt hat.

Doch der prophezeite Untergang der Hovag tritt nicht ein. Im Gegenteil. Nach einem Jahr ohne Bundeshilfe floriert das Unternehmen wie nie zuvor. «Gestehen wir offen: Die Hovag hat das ganze Schweizervolk mitsamt der Regierung hereingelegt», so ärgert sich die «Weltwoche». Die Hovag macht für den Erfolg «einige besonders glückliche Umstände» verantwortlich, etwa gelungene Forschungsprojekte und die gute Konjunktur.

Wie das «Wunder von Ems» tatsächlich zustande gekommen ist, kann die Historikerin Bochsler ohne den Zugang zum Firmenarchiv nicht eindeutig klären. Denn mit dem Ende der Bundeshilfe enden auch die für die Forschung öffentlich verfügbaren Dokumente. Dass in Ems relevante Akten lagern, ist seit den Untersuchungen der Bergier-Kommission bekannt, die über einen exklusiven Zugang verfügte. Es bleibt der Verdacht, dass hier unliebsame Forschung verhindert worden sei. Und so bleibt vieles in dieser Studie zwangsläufig im Vagen. Klandestine Geschäfte und informelle Kontakte sind naturgemäss schwer nachzuweisen. Zumal Werner Oswald gezielt einen raffiniert verschachtelten Konzern errichtet hat, der schon von der Überwachungskommission des Bundes kaum zu durchdringen war.

Klar ist, dass Oswald mit Abermillionen Franken Steuergeldern einen Konzern aufbauen und mithilfe von Forschern aus Deutschland neu ausrichten konnte. Bei seinem Tod im Jahr 1979 bestand dieser aus zwölf Unternehmen und einer Holding, geschätzter Wert: eine halbe Milliarde Franken.

Regula Bochsler: Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2022. 595 S., Fr. 49.90.
(https://www.nzz.ch/feuilleton/ems-chemie-entwicklungshilfe-aus-dem-dritten-reich-ld.1708101)



aargauerzeitung.ch 20.10.2022

«Entartet», «geraubt» – oder doch rechtens gekauft? Das Kunstmuseum Basel stellt Sammlungswerke auf den Prüfstand

Nach Zürich mit Bührle und Bern mit Gurlitt arbeitet nun das Kunstmuseum Basel seine Geschichte auf. Mit den Ankäufen «entarteter Kunst» und der Sammlung von Curt Glaser birgt diese zwei Kapitel, die unterschiedlicher kaum sein könnten.

Anna Raymann

Diese Madonna ist eine Erscheinung. Sich rekelnd – irgendwo zwischen wach und schlafend – wird sie, einst geschaffen von Edvard Munch, das Basler Ausstellungspublikum betören. Oder die «Tierschicksale» von Franz Marc, die längst mit dem Kunstmuseum verbunden scheinen.

Beide Werke sind Glanzstücke der Sammlung, ihr Weg dorthin ist jedoch kriegsbeschattet: Munchs «Madonna» wurde 1933 bei einer Auktion in Berlin erstanden, Franz Marcs «Tierschicksale» sechs Jahre später, 1939, bei einer Auktion in Luzern.

Zu sehen sind sie heute in den Ausstellungen «Der Sammler Curt Glaser» und «Zerrissene Moderne» im Kunstmuseum Basel. Die zwei Schauen öffnen ein Zeitfenster, in der Kunst nicht einfach Kunst war: Sie entsprach der Ideologie der Nationalsozialisten oder war «entartet». Sie war «international verwertbar» oder gehörte zum «unverwertbaren Rest», zu nichts mehr nütze als Feuerholz. Sie war teure Wertschrift oder die letzte Lebensversicherung.

Endlich eine Würdigung für Sammler und Sammlung

Es ist eine Zeit, die Schweizer Museen lange nur zu gern im Dunkeln liessen. In Zürich ist man sich über der Sammlung des Waffenfabrikanten Emil G. Bührle nach wie vor uneinig, ob sich darin Raub- oder Fluchtkunst befindet. In Bern nahm man sich Gurlitts belastetem Erbe an, ein Kunsthändler, der im Auftrag des NS-Regimes wirkte (zu sehen in der vorbildlich aufbereitenden Bilanz-Ausstellung).

Der Fall Curt Glaser in Basel ist anders, aber nicht weniger brisant.

Glaser war kein Nazi-Kollaborateur, sondern Verfolgter. 1933 verlor er seinen Direktoren-Posten an der Kunstbibliothek in Berlin. Noch im selben Jahr (und nicht lange nach dem Tod seiner ersten Frau) liess er grosse Teile seiner umfassenden Sammlung versteigern. Das grösste Konvolut erstand Kunstmuseums-Direktor Otto Fischer.

Es umfasst 200 Arbeiten auf Papier von Munch (die «Madonna»!), Matisse, Oskar Kokoschka, aber auch alter Meister. In den Ausstellungsräumen spiegeln sie heute zusammen mit Leihgaben aus New York, Hamburg oder Köln sauber aufgeschlüsselt das Leben und Wirken eines einflussreichen Kunstkenners.

Warum aber verkaufte Glaser die Werke: Um die Ausreise – die Flucht gar – aus Deutschland zu ermöglichen? Oder doch, weil ihn die Trauer um seine kurz zuvor verstorbene Frau dazu verleitete?

Die Ausstellung selbst ist das Ergebnis der Verhandlungen über diese Fragen. Sie gehört zum Kompromiss, auf den sich die Parteien einigten. Curt Glaser, über Jahre mit der Stadt und dem Kunstmuseum verbunden, bewarb sich 1938 auf den Posten des Museumsdirektors, hatte aber gegen Georg Schmidt das Nachsehen.

Grosse Kunst geraubt – und gerettet

Georg Schmidt wiederum legte den Grundstein für die zweite der parallelen Ausstellungen. Diese zeigt das System, das hinter dem Einzelschicksal Glaser steckt. Das Regime, das den Sammler aus seiner Heimat trieb, entschied per Gesetz darüber, wie Kunst zu sein hat: «rein» und «völkisch», jedenfalls nicht explizit und unbändig. Wer in expressionistischer, dadaistischer, surrealistischer, kubistischer oder fauvistischer Manier, wer mit jüdischer Biografie den Pinsel schwang – fabrizierte «entartete» Kunst.

Wie Marc Chagall, der den Rabbi beim Studium porträtierte. Wie Paula Modersohn-Becker die Frauen malte, wie Frauen eben aussehen. Wie Ernst Barlach, der einen Schutzengel nach dem Antlitz der ebenfalls verfolgten Grafikerin Käthe Kollwitz formte.

Diese und 18 weitere Werke erwarb Georg Schmidt 1939 rund um die berüchtigte Auktion in Luzern. Hier versuchten die Nationalsozialisten aus dem selbst betiteltem Schund Profit zu schlagen. Das Kunstmuseum und andere internationale Häuser erstanden hier künftige Hauptwerke ihrer Sammlungen der Moderne. Die Ausstellung erzählt diese Geschichte exemplarisch. Listen, Quittungen und Briefe über Preisverhandlungen und lassen sich durchblättern. Und von Raum zu Raum staunt man mehr, wie das kurze Wörtlein «entartet» derart unverfroren über dieses breites Panoptikum der Kunstgeschichte gestülpt werden konnte.
(https://www.aargauerzeitung.ch/kultur/basel/ausstellung-entartet-geraubt-oder-doch-rechtens-gekauft-das-kunstmuseum-basel-stellt-sammlungswerke-auf-den-pruefstand-ld.2360711)



aargauerzeitung.ch 20.10.2022

Zwei Ausstellungen bringen zusammen, was (nicht) zusammengehört

Das Kunstmuseum Basel zeigt parallel «Entartete Kunst» und «Fluchtgut». Beide Konvolute wurden in den 1930er-Jahren in Nazideutschland erworben. Und doch könnten sie unterschiedlicher nicht sein.

Christian Mensch

Otto Fischer und Georg Schmidt, das sind die eigentlichen Protagonisten der aktuellen Doppelausstellung im Kunstmuseum Basel. Nacheinander waren sie Kuratoren des Kunstmuseums Basel, wie die Direktoren damals genannt wurden. Fischer (1928–1939) ist verantwortlich für die Ersteigerung der 200 Zeichnungen aus der Sammlung Glaser, Schmidt (1939–1962) hat für das Museum die 21 Werke erworben, die von den Nationalsozialisten als «Entartete Kunst» auf den Markt geworfen worden waren.

Unterschiedlicher könnte ihre Würdigung nicht ausfallen: Für Erstes plagt das Kunstmuseum heute das schlechte Gewissen, auf Zweites ist das Museum mächtig stolz. Nun werden in seltsamer Kombinatorik die Akquisitionen gemeinsam präsentiert.

Auktion Perl (1933): «Die Gelegenheit war günstig»

Otto Fischer, ein Deutscher aus Reutlingen, war Experte für chinesische Kunst, als er nach Basel berufen wurde. Er kümmerte sich vor allem um die alte Kunst, die damals den Kern des Museums ausmachte. Als er 1933 erfuhr, dass im Auktionshaus Max Perl Bestände des Kunstsammlers Curt Glaser angeboten wurden, reiste er im Einverständnis mit der Kunstkommission persönlich nach Berlin oder wie er im Nachgang schrieb: «Die Gelegenheit war günstig, aus der vorzüglich gewählten Sammlung Manches zu erwerben, was für uns von besonderem Interesse schien.»

Es war kein Thema, dass dies in historischer Nachbetrachtung schändlich war, und die Ausgaben waren auch für damalige Verhältnisse überschaubar: Das Konvolut ersteigerte er für knapp 2300 Reichsmark, damals rund 3100 Schweizer Franken.

Fischer und Schmidt zofften sich wegen des Museumsneubaus

Bedeutend für das Kunstmuseum war Fischer aber aus anderen Gründen: Unter seiner Ägide erhielt Basel einen neuen, italofaschistisch anmutenden Museumsbau. Nur knapp überstand das Projekt eine Referendumsabstimmung. Der grösste Kritiker, der damals für die Kommunisten dagegen auf die Barrikaden stieg: Georg Schmidt, Fischers Nachfolger auf dem Stuhl des Museumsdirektors.

Schmidt war in allem der Gegenentwurf zu Fischer, nicht nur beim Museumsbau. Als Hiesiger war er trotz linker Gesinnung eng mit lokalen Mäzenen und Kunstsammlern verbandelt, als Kunstkritiker und langjähriger Bibliothekar beim Basler Kunstverein lag sein Interesse zudem bei der Moderne. Kaum im Amt, erhielt er von Zwischenhändlern Angebote, Werke zu erwerben, die von den Nationalsozialisten in deutschen Museen als «Entartete Kunst» ausgesondert und in den Verkauf gebracht wurden.

Das Basler Parlament bewilligte einen Sonderkredit

Schmidts Ziel war ein Budget von 100’000 Franken, um auf Einkaufstour gehen zu können. Das Geschäft war von Anfang an politisch aufgeladen und musste den parlamentarischen Prozess durchlaufen.

Als Resultat konnte Schmidt mit einem «Sonderkredit» über 50’000 Franken losziehen, wobei die Argumente, die in der Debatte vorgebracht wurden, je nach politischer Position variierten. Die einen erkannten schlicht die Gelegenheit, zu günstigen Konditionen die Sammlung zu erweitern, die anderen sahen die Möglichkeit, gefährdetes Kulturgut zu retten, die dritten schliesslich stilisierten den Kauf zu einer politischen Demonstration gegen das Dritte Reich.

Schmidt reizte den Finanzrahmen maximal aus, um insgesamt 21 Kunstwerke für das Kunstmuseum zu erwerben. Acht Gemälde für insgesamt 23’400 Franken ersteigerte er an der legendären Auktion der Luzerner Galerie Fischer. Gerne hätte die Kunstkommission dort auch noch einen Picasso und einen van Gogh ersteigert, doch deren Preise lagen deutlich über dem Basler Budget.

Der Versuch eines Tauschhandels mit Deutschland scheiterte

Elf Werke für gut 30’000 Franken kaufte Schmidt über zwei Zwischenhändler direkt in Deutschland, wobei der Kaufprozess über Monate lief und einem eigentlichen Geschacher gleichkam. Schmidt versuchte noch Transaktionen einzuleiten, um Kunst, die den Nazis genehm war, gegen «Entartete Kunst» zu tauschen. Doch mit Kriegsbeginn waren solche Tauschaktionen an der Clearingstelle vorbei nicht mehr möglich.

Während die Glaser-Zeichnungen seit 1933 ein weitgehend unbeachtetes Leben im Kupferstich-Kabinett des Museums fristeten, gelten die 21 Erwerbungen von 1939 als Grundstein für eine Sammlung der Kunst des 20. Jahrhunderts, die heute den exzellenten Ruf des Basler Kunstmuseums in diesem Segment ausmachen. Wie schon zwischen Fischer und Schmidt: Grösser könnte die Diskrepanz nicht sein.
(https://www.aargauerzeitung.ch/basel/basel-stadt/zerrissene-moderne-sammlung-glaser-zwei-ausstellungen-bringen-zusammen-was-nicht-zusammengehoert-ld.2361385)