Medienspiegel 24. August 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Hotel Kreuz in Wilderswil bleibt noch bis 2023 Asylunterkunft
Das frühere Hotel Kreuz in Wilderswil bleibt als temporäre Asylunterkunft länger als geplant im Betrieb. Im Haus können bis zu 50 Flüchtlinge aufgenommen werden.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/hotel-kreuz-in-wilderswil-bleibt-noch-bis-2023-asylunterkunft-147636797


I 103-2022 Junker Burkhard (Lyss, SP) Videoüberwachung in Rückkehrzentren. Antwort des Regierungsrates
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=b2e1efbb943246079f7c255db57936e2


+++LUZERN
Meggen errichtet ein Container-Dorf für Geflüchtete
Um die ihr vom Kanton zugewiesenen Flüchtlinge unterbringen zu können, errichtet die Gemeinde Meggen eine Container-Siedlung. Diese soll im November den Betrieb aufnehmen und Platz für rund 100 Personen bieten.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/meggen-errichtet-ein-container-dorf-fuer-gefluechtete?id=12243891


+++ST. GALLEN
Zwei Fälle mit Rachendiphtherie im Bundesasylzentrum Altstätten
Im Bundesasylzentrum (BAZ) in Altstätten SG ist bei zwei Personen Rachendiphtherie festgestellt worden. Die Ergebnisse von weiteren Tests bei Asylsuchenden und Mitarbeitenden stehen noch aus.
https://www.watson.ch/schweiz/st%20gallen/866545983-zwei-faelle-mit-rachendiphtherie-im-bundesasylzentrum-altstaetten
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/rachendiphterie-im-bundesasylzentrum-altstaetten-00191969/
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/diphtherie-ausbruch-im-bundesasylzentrum-in-altstaetten-147654089


+++SCHWEIZ
derbund.ch 24.08.2022

Abschiebungen von Asylsuchenden: Trotz Chaos im Land weist die Schweiz Geflüchtete nach Sri Lanka aus

Sri Lanka erlebt eine schwere Wirtschaftskrise. Die Lage sei «katastrophal», sagt die Weltorganisation gegen Folter. Das Staatssekretariat für Migration ignoriert die Warnungen.

Nina Fargahi

«Schlichtweg katastrophal.» So beschreibt die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) die Situation in Sri Lanka in einem offenen Brief an Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Sie forderte die Schweiz Ende Juli zu einem Abschiebungsstopp auf. Die aktuelle Krise lasse es nicht zu, dass Personen nach Sri Lanka zurückgeschickt würden. Die Rückführung von Asylsuchenden sei «sowohl menschlich unvertretbar, als auch ein Verstoss gegen die rechtlichen Verpflichtungen der Schweiz auf internationaler Ebene».

Doch das Staatssekretariat für Migration (SEM) winkt ab und sagt, dass trotz der besorgniserregenden Lage vor Ort «bereits abgeschlossene Verfahren nicht von Amtes wegen neu beurteilt werden». Rechtskräftig weggewiesene Personen hätten allerdings die Möglichkeit, ein Folgegesuch zu stellen. «Jedes Asylgesuch wird individuell und vor den tatsächlichen Gegebenheiten vor Ort geprüft», so das SEM. Derzeit befinden sich in der Schweiz 443 sri-lankische Staatsangehörige im Wegweisungsvollzug.

Das rief den UNO-Antifolterausschuss auf den Plan, der sich am 17. August an die Schweiz wandte. Der Bund solle die Ausweisung einer Tamilin aussetzen, die seit 2018 in der Schweiz lebt und einen negativen Asylentscheid erhalten hat. Es handelt sich um eine aus politischen Gründen Geflüchtete, die in Sri Lanka verhaftet und gefoltert wurde. Das SEM reagierte umgehend und setzte letzte Woche den Wegweisungsvollzug in diesem Fall aus. Aber nur in diesem Fall. Der Bund hält weiterhin an seiner Wegweisungspraxis fest, weil «in Sri Lanka gegenwärtig keine Situation allgemeiner Gewalt herrscht», so das SEM. Der Bund plant in den nächsten Wochen mehrere Zwangsausweisungen nach Sri Lanka, wie aus Menschenrechtskreisen zu vernehmen ist.

Schweiz riskiert erneut, das Folterverbot zu verletzen

Marine Zurbuchen, Leiterin der Asylorganisation Elisa-Asile, vertritt die Betroffene, deren Abschiebung aufgrund der UNO-Intervention ausgesetzt wurde. Sie zeigt sich erleichtert, sagt aber: «Nicht alle haben die Möglichkeit, ihren Fall mit einem 50-seitigen Dokument vor den UNO-Antifolterausschuss zu tragen und einen Wegweisungsstopp zu erwirken.» Die Schweiz dürfe nicht erst die Notbremse ziehen, wenn sich die UNO oder eine andere internationale Instanz melde. «Wir müssen völkerrechtliche Verpflichtungen umsetzen, auch ohne Druck von aussen.»

Die Schweiz wurde innerhalb des letzten Jahres dreimal vom UNO-Antifolterausschuss gerügt. Bereits 2013 hat der Bund mit der Ausschaffung eines Tamilen das Folterverbot verletzt und wurde dafür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Damit es nicht erneut zu einer Schelte kommt, fordert Zurbuchen: «Die Schweiz muss allen sri-lankischen Staatsangehörigen von Amts wegen eine vorläufige Aufnahme gewähren, solange sich die Lage nicht eindeutig stabilisiert.»

Auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ist besorgt und fordert einen Rückführungsstopp: «Aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise sind Ernährungssicherheit und medizinische Versorgung gefährdet, hinzu kommt die problematische politische und menschenrechtliche Situation.» Ähnlich sieht es SP-Nationalrat Christian Dandrès. Auch er fordert einen generellen Wegweisungsstopp und warnt: «Die Schweiz muss damit rechnen, dass nach Sri Lanka ausgewiesene Personen an Leib und Leben gefährdet sein werden.»

Der Inselstaat Sri Lanka erlebt zurzeit eine schwere Wirtschaftskrise, die Nahrungsmittel, Treibstoff, Medizin und Importgüter unerschwinglich macht. Nach monatelangen Massenprotesten ist der Präsident kürzlich ins Ausland geflohen. Kaum vereidigt, liess sein Nachfolger das Protestlager mit Gewalt auflösen und verhaftete die Schlüsselfiguren der Widerstandsbewegung. Das Schweizer Aussendepartement EDA rät derzeit von Reisen nach Sri Lanka ab und schreibt: «Es muss mit einer Verschlechterung der Lage gerechnet werden.»
(https://www.derbund.ch/trotz-chaos-im-land-weist-die-schweiz-gefluechtete-nach-sri-lanka-aus-331873761781)



SEM sieht bei künftiger Zahl der Geflüchteten viele Unsicherheiten
Das Staatssekretariat für Migration rechnet bis Ende Jahr bis zu 120’000 Schutzsuchenden aus der Ukraine. Die Prognose sei allerdings noch sehr unsicher.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/sem-sieht-bei-kunftiger-zahl-der-gefluchteten-viele-unsicherheiten-66249697


Einzigartige Zusammenarbeit zwischen Behörden und zivilen Organisationen
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) arbeitet seit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und der damit verbundenen Fluchtbewegung auch in die Schweiz eng mit den nationalen und kantonalen Behörden zusammen. Im Mittelpunkt steht dabei die private Unterbringung der zahlreichen ukrainischen Kriegsgeflüchteten. Das Bundesmandat für die Koordination der direkten Platzierung von ukrainischen Geflüchteten in Gastfamilien weist der SFH dabei eine zentrale Rolle zu. Für Direktorin Miriam Behrens fällt die Bilanz über den Umgang der Schweiz mit den Geflüchteten aus der Ukraine und über das Gastfamilien-Angebot nach den ersten Monaten positiv aus.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/einzigartige-zusammenarbeit-zwischen-behoerden-und-zivilen-organisationen


Ukrainekrieg: Erfolge und Herausforderungen in der Krisenbewältigung
Heute vor 6 Monaten ist der Krieg in der Ukraine ausgebrochen. Millionen von Menschen sind seither geflüchtet, Zehntausende von ihnen in die Schweiz. Die Schweiz hat die damit verbundenen Aufgaben bisher gut gemeistert, es bleiben aber auch Herausforderungen: Der Status S muss weiterentwickelt werden, es braucht weiterhin nachhaltige Lösungen im Bereich der Unterbringung und einheitlichere Regeln zwischen den Kantonen.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/ukrainekrieg-erfolge-und-herausforderungen-in-der-krisenbewaeltigung


+++GRIECHENLAND
Athen verschärft Grenzschutz am Fluss Evros und in der Ägäis
Der 40 Kilometer lange Grenzzaun soll über die gesamte Länge der Grenze ausgebaut werden. Der Einsatz zusätzlicher Patrouillenboote und Flugzeuge ist in Planung
https://www.derstandard.at/story/2000138509199/athen-verschaerft-grenzschutz-am-fluss-evros-und-in-der-aegaeis?ref=rss


+++DROGENPOLITIK
Kifferinnen und Kiffer gesucht: Stadt Biel will sich an Cannabis-Pilotprojekt beteiligen
Die Universität Bern untersucht die Auswirkungen eines regulierten Cannabisverkaufs in Apotheken – so auch in Biel.
https://www.derbund.ch/stadt-biel-will-sich-an-cannabis-pilotprojekt-beteiligen-988818842191
-> https://www.biel-bienne.ch/de/news.html/29/news/3359


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
La bière solidaire contre la répression
Le crew de la bière solidaire s’est fixé pour objectif de contrer la répression étatique persistante contre les structures antifascistes. Avec “Solidarität”, un instrument financier a été créé pour soutenir les antifascistes dans leur lutte et pour atténuer les campagnes d’intimidation lancées contre le mouvement antifasciste.
https://renverse.co/infos-locales/article/la-biere-solidaire-contre-la-repression-3613


Nach Vorwürfen durch Organisatoren – Demos in Zug: Stadtrat Raschle verspricht Aufarbeitung
Nach den Vorwürfen in Zusammenhang mit verschiedenen Demonstrationen in Zug äussern sich die Demo-Organisationen und die Behörden. Offen bleibt die Frage, wie die zuständigen Instanzen auf den Verdacht des Amtsmissbrauchs reagieren.
https://www.zentralplus.ch/politik/wie-geht-es-weiter-mit-den-zuger-demonstrationen-2433399/


+++SPORT
bernerzeitung.ch 24.08.2022

Nach Prügelei vor Cuba-Bar: Auf YB-Fans wartet eine heikle Reise

Vor einer Woche attackierten YB-Fans in Bern Anhänger des RSC Anderlecht. Für die rund 500 nach Belgien reisenden Berner erweist sich die Aktion als Bärendienst.

Michael Bucher

Am Donnerstagabend erwartet die Young Boys im belgischen Anderlecht eine schwierige Partie. Im Rückspiel der Conference-League-Playoffs müssen sie die 0:1-Heimniederlage vom letzten Donnerstag in einen Sieg ummünzen. Auch für die eingefleischten YB-Fans, die ans Auswärtsspiel pilgern, könnte es ein angespannter Ausflug werden. Denn auf die Berner Gäste dürften die Anderlecht-Ultras derzeit nicht gut zu sprechen sein.

Grund ist ein Vorfall vom letzten Mittwoch, dem Tag vor dem Hinspiel in Bern. Um kurz nach 23 Uhr kam es bei der Cuba-Bar am Kornhausplatz zu einer wüsten Keilerei, beteiligt waren gemäss Kantonspolizei Bern Fangruppen von YB und Anderlecht. Ein Video zeigt, wie Vermummte Stühle durch den Raum schmeissen.
-> https://unityvideo.appuser.ch/video/uv446073h.mp4

Laut dem Cuba-Bar-Betreiber Samuel Güven ging sogar eine Scheibe aus Panzerglas zu Bruch. Er rechnet mit einem Sachschaden von 10’000 bis 15’000 Franken. Rund 30 bis 40 Anderlecht-Fans hätten bei ihm auf der Terrasse etwas getrunken. «Dann ist plötzlich die Hölle losgegangen», sagt der Wirt. Etwa 40 maskierte Leute seien aufgetaucht und hätten die Gäste mit Gläsern und Stühlen attackiert. So etwas habe er noch nie erlebt. Laut Kantonspolizei wurden dabei mehrere Personen leicht verletzt.

Vorfall wird aufgearbeitet

Die Kapo publizierte im Nachgang einen Zeugenaufruf, gefasst wurde bislang jedoch niemand, wie es auf Anfrage heisst. Die Attacke hat innerhalb der Fanszene für heftige Diskussionen gesorgt, wie etwa ein Blick ins YB-Fanforum «1898.ch» zeigt. Auch clubintern kamen die wüsten Szenen aufs Tapet. «Wir sind daran, die Vorfälle aufzuarbeiten», sagt YB-Mediensprecher Albert Staudenmann. Dies geschehe zusammen mit der Polizei und der Fanszene.

«Wir verurteilen alle Art von Gewalt aufs Schärfste», sagt Staudenmann weiter, «aber als Club ist es nicht möglich, die Verantwortung für Handlungen einzelner Fans oder von Gruppen ausserhalb des Stadions zu übernehmen.» Für deren Anhaltung und Identifizierung sei die Polizei zuständig. «Erhalten wir entsprechende Meldungen zu Personen, die sich nicht an die Regeln gehalten haben, werden diese mit mehrjährigen Stadionverboten belegt», so Staudenmann. Wie viele YB-Fans derzeit mit einem Stadionverbot belegt sind, will er nicht sagen. In den letzten Jahren bewegte sich diese Zahl zwischen 40 und 60 Personen.

Dass es rund um Fussballspiele zu Ausschreitungen kommt, daran hat man sich in Europa schon lange gewöhnt. Trotzdem: Der Angriff auf gegnerische Fans mitten in der Stadt, bei dem auch noch das Mobiliar einer Bar zerlegt wird, wirkt aussergewöhnlich. Nicht zuletzt, weil die meisten Prügeleien abseits der öffentlichen Wahrnehmung stattfinden. So vereinbaren etwa verfeindete Hooligan-Gruppen häufig einen abgelegenen Treffpunkt, wo sie sich nach dem Spiel prügeln können. Dabei gibt es einen Kodex: Keine Gewalt gegenüber Unbeteiligten, keine Waffen, keine Überzahl, kein Nachtreten, wenn jemand am Boden liegt.

«Erhöhtes Risiko»

Was bedeutet die belastende Vorgeschichte nun für die rund 500 YB-Fans, die ihre Mannschaft in Anderlecht unterstützen wollen? «Der Vorfall von letzter Woche trägt natürlich zu einem erhöhten Risiko bei», sagt YB-Fanarbeiter Lukas Meier. Dem trage man bei der Spieltagsvorbereitung Rechnung. «Wer nicht auffallen möchte, trägt ausserhalb des Treffpunkts und Matches keine Fanartikel», steht deshalb im von der YB-Fanarbeit herausgegebenen Guide für die Auswärtsreisenden.

Dieser Ratschlag ist allerdings weniger aussergewöhnlich, als er klingt. «Bei internationalen Auswärtsspielen empfehlen wir den YB-Fans grundsätzlich, nicht in Fankleidern durch die Stadt zu laufen», hält YB-Mediensprecher Staudenmann fest. Eine weitere Realität in der populären Fussballwelt.
(https://www.bernerzeitung.ch/auf-yb-fans-wartet-eine-heikle-reise-941061294558)


+++POLIZEI CH
Le livre Comment la police interroge et comment s’en défendre est pensé comme un outil d’autodéfense contre la pratique policière de l’interrogatoire.
Un interrogatoire n’est pas un échange harmonieux entre deux individus. C’est un conflit. Dans ce conflit, notre ignorance fait leur force.
https://renverse.co/analyses/article/4-8-le-chantage-affectif-3640


+++DREADLOCKMANIA/WINNETOUWHINING
derbund.ch 24.08.2022

Interview zu kultureller Aneignung: «Aneignung ist zunächst einmal etwas Tolles»

Dürfen Kinder nicht mehr Indianer spielen? Müssen weisse Dreadlockers zum Coiffeur? War Elvis Presley ein Rassist? Der deutsche Poptheoretiker Jens Balzer weiss Rat.

Jean-Martin Büttner

Mehreren weissen Musikern wurde in Bern und Zürich der Auftritt abgesagt oder unterbrochen, weil sie Dreadlocks tragen oder Reggae spielen. Auffällig ist, dass die Leute, die dieses Unbehagen formulierten, anonym blieben.

Genau. Wobei das Verhalten spezifisch auf die Deutschschweiz und auf Deutschland zutrifft. In den USA zum Beispiel, wo es in den letzten zehn Jahren viele solcher Fälle gab, standen die Leute mit dem Namen zu ihrer Haltung. Die Anonymität der Leute, die Sie ansprechen, finde ich ärgerlich, aber auch: dass sie nicht argumentiert haben. Wir wissen also nicht, wie sie ihr gefühltes Unbehagen begründen. Denn ein Gefühl ist kein Argument.

Die Schweizer Vorfälle gaben bis nach Berlin und Hamburg zu reden. In Ihrem neuen Essay über die kulturelle Aneignung weisen Sie darauf hin, wie heftig die Debatte seit Jahren geführt wird.

Meine erste Reaktion auf den Entscheid des Berner Szenelokals und die aggressiven Reaktionen darauf war: Da haben sich zwei Seiten gefunden. Die einen in der alternativen Szene entscheiden Unfug. Und die anderen, die sich sonst weder für die alternative Szene noch für Reggae interessieren, fallen über sie her. «Woke-Wahnsinn», nannte das die «Bild»-Zeitung.

Ebenso heftige Kritik kam auch von links. Man fand solche Verbote politisch verbohrt und kulturell absurd.

Da wird es wirklich interessant, oder sagen wir mal: Das ist das, was mich an der Debatte interessiert. Einerseits: Wir wollen kulturelle Traditionen gegen Ausbeutung verteidigen, und das heisst auch: Kulturelle Identität bewahren. Andererseits wollten sich Linke doch auch immer vom Konzept der Identität selber befreien: Nur wer sich nicht festlegen lässt, ist wirklich frei. Wie kriegen wir das zusammen?

Auffällig an der Debatte ist ihre Einseitigkeit. Die linke Verbotskultur wird breit kritisiert, ihre rechte Verhöhnung weitgehend ignoriert.

Das hat meiner Meinung damit zu tun, dass es in letzter Zeit tatsächlich auffällig viele Versuche der sogenannten Woke-Kultur gegeben hat, Stellungnahmen oder Auftritte verbieten zu wollen, die man als rassistisch oder sexistisch wahrnahm. Dabei ging immer wieder vergessen: Jede Kultur ist aus der Aneignung anderer Kulturen entstanden. Der Reggae zum Beispiel entwickelte sich aufgrund jamaikanischer, karibischer und amerikanischer Einflüsse, weissen wie schwarzen. Die Vorstellung einer rassenreinen Kultur ist grotesk. Oder andersherum gesagt: Aneignung ist zunächst einmal etwas Tolles.

Aber?

Sie wird problematisch, wenn sich in ihr ein asymmetrisches Machtverhältnis abbildet. Wenn eine Gruppe sich auf Kosten der anderen profiliert. Das klassische, glücklicherweise überholte Beispiel dafür ist das sogenannte Blackfacing: als sich weisse Amerikaner das Gesicht schwarz anmalten, um sich die schwarze Kultur anzueignen – und sich damit über ihre Schöpfer lustig zu machen.

Um eine spezifisch deutsche kulturelle Aneignung anzusprechen, mit der Ihr Essay einsetzt: Ihre Kindheitserinnerung an das Indianerspielen nach den Büchern von Karl May, der den Indianer zum edlen Wilden verklärte. Da war die Absicht ja unschuldig.

Natürlich, und darum unterscheidet sie sich auch vom Blackfacing in den USA, einem Land, in dem die schwarze Minderheit während Jahrhunderten ausgebeutet und verhöhnt wurde. Und sich bis heute bedroht sieht. In Deutschland identifizierten wir Kinder uns mit den edlen Wilden oder den edlen Whitemännern, die ihnen zur Seite standen. Trotzdem muss man festhalten, dass selbst in dieser Hommage ein kolonialistischer Blick steckt. Das haben auch Mitglieder der sogenannten First Nations so gesehen, also amerikanische Ureinwohnerinnen und Ureinwohner. Ihnen ist das Redfacing genauso unangenehm wie den Schwarzen das Blackfacing. Weil es für sie nicht den Indianer als einzigen Typen gibt, sondern eine Vielzahl von Stämmen und Kulturen.

Sie sehen in der Verklärung des edlen Wilden auch etwas spezifisch Deutsches: Ein Tätervolk identifizierte sich mit einem Opfervolk, um von seinem Schuldgefühl über den Holocaust abzulenken.

Die Karl-May-Festspiele hatte es schon vor dem Zweiten Weltkrieg gegeben. Aber dass sie danach so populär blieben, hat tatsächlich mit dem Bedürfnis vieler Deutscher zu tun, auf der guten Seite zu stehen – entweder als gute Indianer oder ihnen helfende gute Weisse. Das Volk, das gerade erst einen Genozid an den europäischen Juden verübt hatte, identifizierte sich jetzt mit den Opfern eines anderen Genozids. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr. Ohne daraus zu schliessen, die Indianerspiele der Kindheit müssten aus der Erinnerung gelöscht werden, weil sie rassistisch grundiert waren. Ich finde auch nicht, dass man den Büchern von Karl May Trigger-Warnungen voranstellen muss. Aber man darf sich als Erwachsener trotzdem überlegen, inwiefern man sich als Kind Mythen und Fantasien hingab, die in einer fehlenden Bewältigung der eigenen Vergangenheit gründeten.

Der Ravensburger Verlag hat jüngst Kinderbücher zu einem neuen Winnetou-Film nach «negativen Rückmeldungen» vom Markt genommen. Sie fordern keine Verbote, sondern Reflexion.

Ich will keinem irgendwas verbieten, darin besteht auch nicht meine Rolle. Was nicht heisst, dass ich der konservativen Seite recht gebe, wonach man sich gar keine Gedanken machen muss und alles erlaubt bleiben soll. Das ist genauso geschichtsvergessen, wie die linke Haltung geschichtsbesessen sein kann. In beiden Fällen sollte man sich bewusst werden, auf welcher Tradition die eigenen Annahmen beruhen.

Mir fällt auf, dass Ihr Text nicht auf den Humor eingeht, dem Relativierer jedes Fanatismus.

Das stimmt überhaupt nicht. Ich nenne den Humor zwar nicht als Begriff, stelle ihn aber als positives Beispiel einer kulturellen Aneignung dar. Nämlich in den parodistisch, bewusst schrill übertriebenen Auftritten der Dragqueens, also schwulen Männer in Frauenkostümen, aufgeführt in der Ballroom-Kultur seit den Achtzigerjahren. In Zusammenhang mit ihnen verwendeten auch Feministinnen wie Judith Butler den Begriff der «appropriation» ausschliesslich positiv – als postmodernes Gelächter darüber, dass es so etwas gäbe wie eine unverrückbare Identität. Was wir für natürlich halten, ist kulturell hergestellt. Das ist die Erkenntnis, die gelungene Aneignungen meiner Meinung nach transportieren.

Reden wir wieder von der Musik, die sich wie keine andere Kultur an der Aneignung des Fremden inspiriert. War Elvis Presley ein Rassist? Das jedenfalls behauptet Chuck D., der schwarze Hip-Hop-Intellektuelle, im Song «Fight the Power» von Public Enemy.

Die Behauptung hat er ja inzwischen zurückgezogen. Und gesagt, Elvis sei schon okay gewesen, er habe für ihn mehr als Symbolfigur herhalten müssen. Aber was man sich schon fragen kann: dass ein Musiker wie Elvis Presley, der den Schwarzen so viel verdankte und das zu Beginn seiner Karriere auch offenlegte, 1970 im Oval Office bei Richard Nixon landen konnte. Der damals alles tat, um die Bewegung der Black Panthers zu zerstören.

Elvis wollte damals, vollgedröhnt mit Drogen, von Nixon auch als Drogenberater angestellt werden. Vermutlich spielte Geltungssucht eine entscheidende Rolle.

Mag sein. Wesentlich schlimmer finde ich die Haltung von Eric Clapton. Er hat zwar alles über den Blues von Musikern wie B.B. King oder Robert Johnson gelernt und auch Bob Marley gecovert. Das hielt ihn aber nicht davon ab, sich mit dem englischen Rassisten Enoch Powell zu identifizieren und zu verlangen, die Einwanderung von Commonwealth-Mitgliedern aus Jamaika zu beschränken.

Elvis Presley war im Unterschied zu Eric Clapton auch ein grossartiger Interpret der schwarzen Originale. Er formulierte sie zu etwas völlig Eigenem.

Selbstverständlich. Ich wollte in meinem Buch nur daran erinnern, dass die Debatte über die weisse Aneignung der schwarzen Kultur mit der Kritik an Elvis begann. Darum war es auch Chuck D. gegangen: dass die Geschichte der USA ausschliesslich mit weissen Hauptdarstellern erzählt worden ist. Der afroamerikanische Autor und Musiker Greg Tate sagte es so: Die Weissen wollten alles von den Schwarzen – ausser der Bürde des Rassismus.

Wie sehen Sie in diesem Zusammenhang Jimi Hendrix?

So, wie viele Schwarze ihn sahen: ambivalent. Einerseits war er der brillante Gitarrist, der den Blues dekonstruierte. Andererseits trat er in einer Kombination von Indianerkostümen und einer Uniform der Südstaaten auf.

Sehen wir das richtig, wenn wir zusammenfassend fragen: Nur wer seine eigene Identität als fragmentiert erlebt, also zusammengesetzt, kann die Vielfalt anderer Kulturen überhaupt begreifen?

Ich würde die bewährte Technik der Dekonstruktion empfehlen. Es geht darum herauszufinden: Wie wird eine Kultur aufgebaut? Wie sehr bildet sie in ihren Widersprüchen Machtverhältnisse ab? Wie unbewusst bildet sie das Beherrschen der einen Kultur durch eine andere ab, wie sehr denkt sie darüber nach?



Er hat zu vielen Themen etwas zu sagen. Jens Balzer, geboren im Woodstock-Jahr 1969 und ehemaliger Kulturredaktor der «Berliner Zeitung», hat sich zu einem führenden deutschen Poptheoretiker hochgeschrieben und sich in mehreren Büchern profiliert geäussert. So analysierte Balzer die Siebziger- und Achtzigerjahre, schrieb zu deutschen Texten der Popmusik und zur Popmusik überhaupt. In seinem aktuellen, mit knapp 90 Seiten übersichtlich gehaltenen Essay sucht er beim hoch umstrittenen Thema der kulturellen Aneignung einen abwägenden Mittelweg zwischen linken Verboten und rechter Empörung. (jmb)
(https://www.derbund.ch/aneignung-ist-zunaechst-einmal-etwas-tolles-377917914754)



Kulturelle Aneignung
https://tv.telebaern.tv/barner-rundi/kulturelle-aneignung-147569998
https://tv.telezueri.ch/talktaeglich/kulturelle-aneignung-147264400


Ravensburg stoppt Buchverkauf – «Winnetou» und die Debatte um kulturelle Aneignung
Die Auslieferung von Winnetou-Büchern wird gestoppt, weisse Reggae-Musiker mit Dreadlocks sollen nicht mehr auftreten. Immer wieder ist in Debatten von kultureller Aneignung die Rede. Aber was ist das eigentlich?
https://www.srf.ch/news/gesellschaft/ravensburg-stoppt-buchverkauf-winnetou-und-die-debatte-um-kulturelle-aneignung
-> https://taz.de/Aufregung-um-Winnetou-Buch/!5873631/


Komikerin Nadeschkin wehrt sich gegen Dreadlocks-Kritik
Nadja Sieger trägt für ihre Rolle als Nadeschkin eine Dreadlocks-Perücke. Dafür wird sie nun heftig angefeindet. Sie wehrt sich erneut.
https://www.nau.ch/people/aus-der-schweiz/komikerin-nadeschkin-wehrt-sich-gegen-dreadlocks-kritik-66249533


+++FUNDIS
Privatschulen: Die Staatsfeinde und ihre Kinder
Der Kanton St. Gallen hat eine Privatschule mit Verbindungen zur rechtsesoterischen Anastasia-Sekte bewilligt. Weitere Recherchen zeigen: Demokratiefeindliche Kreise drängen auch andernorts in die Bildung – und die Behörden schlafen.
https://www.woz.ch/2234/privatschulen/die-staatsfeinde-und-ihre-kinder


RESolut fordert Absage der Luzerner Wohlfühl Tage
Vom 1. bis 4. September sollen in der Luzerner Messe Allmend die sogenannten «Wohlfühl Tage» stattfinden. Hinter einem harmlos klingenden Namen verstecken sich Esoterik, Extremismus und Betrügerei. RESolut ruft die Vermieter*innen der Luzerner Messe, die Luzerner Messe AG, dazu auf, ihre Hallen nicht für diese Scharlatane zur Verfügung zu stellen.
https://barrikade.info/article/5353
https://www.facebook.com/


+++HISTORY
“Kulturzeit” vom 23.08.2022: Wie schwarze Frauen gegen die Sklaverei kämpften
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/wie-schwarze-frauen-gegen-die-sklaverei-kaempften-sendung-vom-23-08-2022-100.html