Medienspiegel 14. August 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Geflüchtete Ukrainerin engagiert sich im Café Ukraine
Svetlana Solovei ist mit ihrer zweijährigen Tochter im Frühling aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Die 24-Jährige engagiert sich neben ihrer Arbeit in der Lorrainebadi im Café Ukraine auf dem Viererfeld in der Stadt Bern, einem Treffpunkt für Landsleute.  (ab 05:16)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/gefluechtete-ukrainerin-engagiert-sich-im-cafe-ukraine?id=12237432


+++GRIECHENLAND
Migranten auf dem Weg nach Europa: Dutzende Geflüchtete stecken auf Insel vor Griechenland fest
40 Menschen harren seit Tagen auf einer kleinen Insel im griechisch-türkischen Grenzfluss aus – und weder Griechenland noch die Türkei fühlen sich zuständig. Ein Kind sei bereits gestorben, berichten griechische Medien.
https://www.spiegel.de/ausland/vor-europas-grenze-dutzende-gefluechtete-stecken-auf-insel-vor-griechenland-fest-a-a9a4cf8a-46ae-4a49-a9c5-2a44768dc0b0


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Behinderungen im ÖV: «No Fides»-Demo zog durch Bern
Etwa 130 Personen demonstrierten am Sonntagnachmittag gegen eine geplante Übung der Schweizer Armee und der Kantonspolizei Bern. Es kam zu Verkehrsbehinderungen.
https://www.derbund.ch/no-fides-demo-zieht-durch-bern-428667924558
-> Liveticker: https://barrikade.info/article/5338
-> Demoaufruf: https://nofides.noblogs.org/
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/in-bern-protestierten-mehrere-hundert-menschen-gegen-fides-uebung-147508084
-> https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/sonntag-14-august-2022-ganze-sendung-147509806 (ab 00:43)
-> https://twitter.com/i/status/1558839514415628288
-> https://twitter.com/___R___EL/status/1558876704634015744
-> https://twitter.com/___R___EL/status/1558841075204333574


! Kleisterprozess VERSCHOBEN !
Aufgrund zweier Krankheitsfälle im Verteidiger_innen-Team der angeklagten Genoss_innen wird der Prozess in Basel, der Ursprünglich für den 18. und 19. August angesetzt war, bis auf weiteres verschoben werden.
https://barrikade.info/article/5337



+++RECHTSPOPULISMUS
«Lokal verweigerte uns Bedienung, weil wir SVP-Mitglieder sind»
Politisierende der Jungen SVP wollten am Samstagabend in einer Buvette am Rheinufer einkehren. Doch Drinks gab es für die Gruppe keine, «weil wir SVP-Mitglieder sind», so die Betroffenen. Der Inhaber des Fähribödeli bestreitet die Darstellung der SVP.
https://www.20min.ch/story/lokal-verweigerte-uns-bedienung-weil-wir-svp-mitglieder-sind-192554742292
-> https://www.blick.ch/politik/euch-bedienen-wir-hier-nicht-junge-svp-kassiert-in-basler-beiz-eine-abfuhr-id17789660.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/was-geschah-an-der-buvette-faehriboedeli-gestern-abend-in-basel?id=12237441 (ab 01:50)



tagesanzeiger.ch 14.08.2022 (Orignal-BaZ-Artikel)

Wirbel um Basler Buvette Personal weigert sich, Basler SVP-Nachwuchs zu bedienen

Nach einer Delegiertenversammlung bekamen Mitglieder der Rechtspartei nichts zu trinken.  Gäste hätten sich wegen der SVP-Jungmannschaft «unwohl» gefühlt, sagt der Betreiber.

Martin Regenass, Isabelle Thommen

Der Präsident der Jungen SVP Schweiz, David Trachsel, setzt am Samstagabend einen Tweet ab, der es in sich hat: «Die hässliche Seite von Basel …», schreibt der Basler Grossrat und weiter: «Die Buvette Fähribödeli hat uns gerade nicht bedient, weil wir von der Jungen SVP sind.» Den Eintrag auf dem sozialen Netzwerk beendet Trachsel mit den Worten: «So freiheitsfeindlich, so undemokratisch, so intolerant, so woke! Stop woke!!!»

Auf ihrem offiziellen Twitter-Kanal doppelt die Junge SVP Basel-Stadt nach. So werde das Fähribödeli unter anderem unterstützt vom Stadtkonzept Basel, ehemals Pro Innerstadt. Gleichzeitig würde der Betreiber aber über Umsatzeinbussen wegen des Wetters jammern. Das gehöre ebenfalls zum Programm wie Mitglieder der Jungen SVP nicht zu bedienen. Dieser Tweet schliesst mit den Worten, dass es sich beim Fähribödeli um einen «merkwürdigen Ort» handle.

Danach folgen zahlreiche Meinungen von Twitter-Nutzern. Ein Befürworter der offenbaren Verweigerungsaktion des Fähribödeli-Personals schreibt: «Somit weiss ich direkt, wo ich wieder mal etwas trinken gehen muss.» Er habe gehört, dass die Junge SVP sich mit anderen Gästen angelegt habe. «Also wurde gerechtfertigterweise vom Hausrecht Gebrauch gemacht.» Wiederum ein anderer Nutzer kontert darauf, dass es sich bei dieser Aussage um «Fake News» handle. «Diese Gesinnungskontrolle geht gesellschaftlich überhaupt nicht.»

Gutes Geschäft ausgeschlagen

Auf Anfrage der BaZ sagt Trachsel, dass er und rund 20 Parteikollegen nach der Delegiertenversammlung in der Buvette einen Apéro haben nehmen wollen. «Als wir ankamen, fragte man uns, woher wir seien. Als wir sagten, wir seien von der Jungen SVP, war die Antwort, man könne uns nicht bedienen. Wir sollen abfahren», sagt der 27-Jährige. Dabei hätte die Gruppe dem Fähribödeli ein gutes Geschäft einbringen können. Sie seien allerdings von der Dienstleistung ausgeschlossen worden.

«Das ist genau diese Kultur, die wir als Junge SVP immer kritisieren, diese Woke- und Cancel-Kultur.» Ein Ausschluss aus einem Gastronomiebetrieb sei undemokratisch und intolerant, klagt der JSVP-Präsident an. Es sei traurig, dass das Meinungsspektrum so eingeschränkt werde und die Leute nicht mehr tolerant seien. «Diese Cancel-Kultur ist schon weit fortgeschritten.» Früher sei das in der Schweiz anders gewesen. Trachsel: «Wir hatten eine freiheitliche Kultur, und die Meinung der anderen wurde akzeptiert.»

Barchef ahnte «unheilvolle Gruppendynamik»

Der Betreiber des Fähribödeli, Roger Greiner, sagt gegenüber der BaZ, dass er persönlich nicht vor Ort gewesen sei. Die Rücksprache mit seinem Barchef habe allerdings ergeben: Im Bereich des Containers habe sich mit Eintreffen der SVP-Gruppe in der «speziell vollen Buvette» eine Dynamik entwickelt, die bei gewissen Gästen zu «Unwohlsein» geführt hätte. «Das hat der Barchef aus Blickkontakten und Rückmeldungen herausgespürt», sagt Greiner. Zwar hätten die Mitglieder der Jungen SVP eine Bestellung für Mojito-Cocktails aufgeben können. Da solche allerdings vom Personal nicht zubereitet würden, hätte man sich auf ein Limettengetränk als Alternative geeinigt.

Greiner: «Dann haben die SVP-Vertreter Kommentare und Äusserungen von sich gegeben, woraus der Barchef geschlossen hat, dass sich eine unheilvolle Gruppendynamik entwickeln könnte. Darauf hat er entschieden, dass das nicht ins Ambiente des Abends passt, und hat sie abgewiesen.»

Die Gruppe à 20 Personen sei zu gross gewesen und hätte den Durchgang blockiert, was auch wegen möglicher Notfälle eine Schwierigkeit dargestellt hätte. Greiner: «Wenn zwanzig Leute in ein Restaurant einlaufen, dann brauchen sie eine Reservation. Mit der Politik der SVP hat die Abweisung gar nichts zu tun. Wir sind ein offener Ort.» Greiner stehe hinter dem Entscheid des Barchefs. «Er hat aus eigenem Ermessen und präventiv gehandelt. Das war das Beste für beide Seiten.»

Der Darstellung Greiners widerspricht David Trachsel vehement: «Wir wurden nicht bedient, weil wir von der SVP sind. Der Barkeeper meinte, er könne dies nicht mit seinem Gewissen vereinbaren. Es ist feige, nun zu behaupten, man habe uns nur nach der Reservation gefragt. Es wäre so einfach, nur Entschuldigung zu sagen.»

* In einer früheren Version war Buvetten-Betreiber Roger Greiner für eine Stellungnahme nicht erreichbar.
** Der Text ist am Sonntagabend, 19.35 Uhr, nochmals aktualisiert worden.
(https://www.tagesanzeiger.ch/personal-weigert-sich-basler-svp-nachwuchs-zu-bedienen-982363077792)


+++BIG BROTHER
beobachter.ch 24.06.2022

Zwei Millionen Fichen, null Kontrolle: Die Datensammelwut der Migrationsämter

Die Migrationsämter führen über jede Ausländerin und jeden Ausländer ein Dossier mit sensiblen Daten. Auch dann noch, wenn sie eingebürgert sind.

Von Anina Ritscher und Lukas Tobler

Karim Bennani* (Name geändert) ist zum ersten Mal im Leben so richtig verliebt, als er in Ausschaffungshaft kommt. Aber dort, im Flughafengefängnis Kloten, trennen ihn dicke Betonmauern von seiner neuen Partnerin. Die beiden tauschen Briefe aus. Romantische – und sexuell aufgeladene Nachrichten.

Es fällt Bennani nicht leicht, darüber zu reden. Seine Liebesbriefe geben Einblick in den intimsten Teil seiner Persönlichkeit. Doch die Macht, zu entscheiden, wer diese Briefe lesen darf, hat er längst verloren.

Gemeinsam mit dem investigativen Rechercheteam Reflekt und dem Beobachter ersucht er beim Migrationsamt um Einsicht in seine Akten. Sein Verdacht bestätigt sich: Alle Briefe, alle Informationen über seine Sexualität sind in seinem Dossier hinterlegt. Es umfasst mehr als 400 Seiten.

In der Schweiz leben über zwei Millionen Ausländerinnen und Ausländer. Über jede einzelne Person, die ohne Schweizer Pass hier lebt, wird eine Akte geführt. Die kantonalen Migrationsämter legen dort alles ab, was sie über die Person wissen. Eine unvorstellbare Datenmenge über die ausländische Wohnbevölkerung in der Schweiz.

Wir haben mehrere Personen bei ihrem Gesuch um Akteneinsicht unterstützt und ihre Dossiers einsehen können. Manche enthalten nur wenige Seiten, zum Beispiel bei einem deutschen Staatsbürger gerade mal den Geburtsschein. Andere sind weitaus umfassender, es finden sich Gesprächsprotokolle, Betreibungsregisterauszüge, Informationen über Familienmitglieder, Polizeirapporte und Gesundheitsdaten.

Alles zur Sexualität

Karim Bennani hat immer mit seiner Sexualität gehadert. Er wuchs in den Neunzigerjahren in Marokko auf – und merkte früh, dass er auch auf Männer steht. Im Asylverfahren in der Schweiz traut er sich aber nicht, das als Fluchtgrund anzugeben. «Ich habe immer versucht, den Teil von mir zu verstecken.» Mit gutem Grund: In Marokko ist Homosexualität illegal.

2016 wird sein Asylantrag abgelehnt. In seiner Verzweiflung schreibt er Briefe ans Migrationsamt. Erklärt, dass er keinesfalls zurück nach Marokko könne, weil er schwul sei. Zu spät: Karim Bennani wird ausgeschafft. Auf Level 4, das heisst: am ganzen Körper gefesselt, Spuckschutz im Gesicht, mit voller Härte zurück auf Feld eins.

Zumindest fast: Bennanis Partnerin, eine Schweizerin, fliegt nach Marokko und hält um seine Hand an. Die beiden heiraten dort. Es stünde ihm damit eigentlich offen, in die Schweiz zurückzukehren. Doch das Zürcher Migrationsamt sieht das anders. Es vermutet eine Scheinehe; ein schwuler Mann könne keine Frau heiraten. Bennani sagt: Erst seit er seine heutige Partnerin kennt, weiss er, dass er bisexuell ist. Das Konzept kannte er davor nicht.

Jetzt liegt es an ihm und seiner Partnerin, zu beweisen, dass ihre Beziehung aufrichtig ist. In Absprache mit seinem Anwalt muss er Dokumente einreichen, übergibt dem Migrationsamt die erotischen Briefe, die er im Gefängnis mit seiner heutigen Frau ausgetauscht hat. Zudem müssen ehemalige Sexualpartner und -partnerinnen in der Schweiz gegenüber den Behörden bestätigen, dass sie mit ihm ins Bett gegangen sind. Er, der so lange damit haderte, zu seiner Sexualität zu stehen, wird zu einem offenen Buch.

Allwissende Software

Einer, der Zugriff auf Hunderttausende solcher Informationen hat, ist Markus Haltiner, stellvertretender Leiter des Bündner Migrationsamts. Er lädt ein nach Chur, zeigt seine Datenverwaltungssoftware. Sie erlaubt Zugriff auf die Dossiers aller Ausländerinnen und Ausländer, die in Graubünden gemeldet sind oder waren.

Früher war alles auf Papier. Heute ist alles volltextdigitalisiert, das Verzeichnis lässt sich digital nach Stichworten durchsuchen. Per Knopfdruck kann man eine Liste aller marokkanischen Staatsbürger in Graubünden zusammenstellen. Oder man findet alle Ausländer, in deren Dossier das Stichwort «schwul» vermerkt ist.

Direkten Zugriff auf die Software haben Mitarbeitende des Migrationsamts. Aber auch Strafverfolgungsbehörden können um Daten anfragen, falls das ihren Ermittlungen dient. «Selbstverständlich wird jedes Gesuch der Strafverfolgungsbehörden sorgfältig geprüft», sagt Markus Haltiner. Etwa eine Anfrage der Kantonspolizei, die im Vorfeld des WEF in Davos nach einer Liste aller in Graubünden gemeldeten Personen «aus Staaten mit Terrorpotenzial» gefragt habe. Für Haltiner ist es ein Leichtes, dieser Anfrage nachzukommen. Er erachtet sie als zulässig. Begründete Gesuche, die auf einer gesetzlichen Grundlage beruhen, würden nicht abgelehnt.

Die rechtliche Basis für die bei den Migrationsämtern gespeicherten Daten legen das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) sowie die Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE). Beide sehen unter dem Artikel «Amtshilfe und Datenbekanntgabe» den Austausch von Informationen zwischen Migrationsämtern und anderen Behörden vor; in beide Richtungen. Informationen müssen etwa dann weitergegeben werden, wenn sie den Bezug von Sozialleistungen oder Straftaten betreffen; aber auch Disziplinarmassnahmen von Schulbehörden sind meldepflichtig. Das Amt legt die Mitteilungen dann im Dossier der betreffenden Person ab.

Mehrere Dossiers, die der Beobachter und Reflekt einsehen konnten, zeigen: Behörden leiten den Migrationsämtern teils deutlich mehr Daten weiter, als sie müssten – etwa ganze Scheidungsakten oder Verkehrsbussen.

Über Schweizerinnen und Schweizer werden Informationen allenfalls bei der entsprechenden Behörde abgelegt. Bei einer Person ohne Schweizer Pass werden sie aus allen Lebensbereichen zentral gespeichert und miteinander verknüpft.

Auf ewig gespeichert

Das Dossier ist ein schier unerschöpflicher Fundus, für den andere Regeln zu gelten scheinen als für vergleichbare Datensammlungen. So ist eine Löschung der Dossiers in Graubünden grundsätzlich nicht vorgesehen – auch nicht nach einem abgeschlossenen Einbürgerungsverfahren. Die Daten bleiben auf unbestimmte Zeit auf den Servern des Migrationsamts.

Andere Kantone kennen etwas strengere Regeln, zeigt eine Umfrage bei Migrationsämtern: In Solothurn und Bern bleiben die Dossiers nach der Einbürgerung zehn Jahre beim Amt, in St. Gallen acht. Im Kanton Uri liegen die Migrationsdossiers nicht digital vor; sie werden nach erfolgter Einbürgerung zehn Jahre lang aufbewahrt.

Auch im Kanton Bern sind die Akten nicht volltextdigitalisiert, somit nicht nach Stichworten durchsuchbar. Nicht alle Kantone haben die gleichen technischen Möglichkeiten wie Graubünden.

In allen diesen Kantonen werden die Informationen mindestens so lange aufbewahrt, wie eine Person ohne Schweizer Pass hier lebt und sich nicht einbürgern lässt. Womöglich also ein ganzes Leben lang. Begründet wird das damit, dass der «Fall» bis zur Einbürgerung oder zum Wegzug nicht abgeschlossen sei. Dass die Aktenstücke im Dossier womöglich längst nicht mehr aktuell sind, spielt offenbar keine Rolle.

Kein Recht auf Vergessen

Wie problematisch das sein kann, zeigt der Vergleich mit dem Strafregister, das einen klar definierten Zweck hat: einen Überblick über vergangene Straftaten zu geben. Nach einer bestimmten Frist muss dort jeder Eintrag restlos gelöscht werden. Es gilt das Recht auf Vergessen – eigentlich. Strafurteile dagegen, die in einem Migrationsdossier abgelegt sind, bleiben dort unter Umständen für immer zugänglich. Dasselbe gilt für Auszüge aus dem Strafregister.

Das Bundesgericht heisst diese Praxis gut. In migrationsrechtlichen Verfahren dürfen den Betroffenen auch weit zurückliegende Strafen angelastet werden, heisst es in einem Urteil von 2009. Urteile, die aus dem Strafregister entfernt wurden, dürften zwar nicht wiederverwertet werden. «Aus den Materialien ergibt sich allerdings, dass der Gesetzgeber nur strafrechtlich überlegt hat», urteilte das Gericht. Den «Fremdenpolizeibehörden» sei es aber erlaubt, selbst längst verjährte Straftaten «in die Beurteilung des Verhaltens des Ausländers» miteinzubeziehen, sofern das verhältnismässig sei.

Verhältnismässigkeit ist aber ein dehnbares Prinzip, zeigen verschiedene Urteile. Das Solothurner Verwaltungsgericht etwa lehnte 2020 den Kantonswechsel eines Mannes ab. Es verwies unter anderem auf eine 13 Jahre zurückliegende Tempobusse. Das Zürcher Verwaltungsgericht entschied im selben Jahr, dass die Aufenthaltsbewilligung eines Mannes nicht verlängert wird und er die Schweiz verlassen muss. Als Begründung erwähnte es unter anderem eine 20 Jahre alte Strafverfügung wegen «Diebstahls im Verkaufsladen».

Nicht verurteilt – aber verzeichnet

In den Migrationsdossiers werden auch Verfahrensschritte wie Polizeirapporte und eröffnete Strafverfahren abgelegt, die gar nie zu einer Verurteilung geführt haben. Damit betreffen sie Unschuldige – und belasten sie potenziell. «Praktisch alle polizeilichen Vorfälle, die Migrantinnen und Migranten betreffen, finden den Weg in die migrationsamtlichen Akten», bestätigt Marc Spescha, einer der renommiertesten Experten für Migrationsrecht. «Ein Polizeirapport, der nicht zur Eröffnung eines Strafverfahrens führte, muss nicht zwingend ans Migrationsamt – nur weil er eine ausländische Person betrifft.»

Mehrere Anwältinnen und Anwälte berichten zudem, dass in den Akten zwar immer die Eröffnung von Strafverfahren abgelegt, ihre Einstellung den Migrationsämtern aber oft nicht mitgeteilt werde – obwohl das gesetzlich vorgeschrieben wäre.

Gemäss Wortlaut des Gesetzes könne bei einer Person ohne Schweizer Pass jede noch so kleine Übertretung potenziell «bewilligungsrelevant» sein, sagt Spescha. Denn damit ihre Aufenthaltsbewilligung verlängert wird, muss sie als integriert gelten. Als integriert gilt unter anderem, wer die öffentliche Sicherheit und Ordnung beachtet. «Wenn jemand mehrere geringfügige Gesetzesverstösse begeht, kann das aus Sicht der Behörden in der Summe als mangelhafte Integration interpretiert werden.»

Auch Dokumente, die keine Straftaten betreffen, können fatale Folgen haben. Im Fall eines Ukrainers landeten Protokolle seines Trennungsverfahrens im Dossier. Auch das Plädoyer des gegnerischen Anwalts, der dem Mann vorwarf, er habe die Beziehung für eine Aufenthaltsbewilligung ausgenutzt.

Die Trennung wurde schliesslich aussergerichtlich geregelt. Trotzdem wollte das Zürcher Migrationsamt dem Ukrainer im Nachgang zum Gerichtsverfahren die Niederlassungsbewilligung entziehen. Dabei stützte es sich auf die unbelegten Behauptungen des Gegenanwalts. Der Anwalt des Ukrainers beschwerte sich darauf beim Migrationsamt. Denn das Trennungsverfahren sei so angelegt, «dass die Parteien nicht verpflichtet sind, bei der objektiven Wahrheit zu bleiben». Das Migrationsamt knickte ein, der Ukrainer durfte bleiben.

Die Dossiers zeigen: Die Migrationsbehörden sammeln offenbar alles, was sie bekommen können – und verwenden es oft vorschnell gegen die Betroffenen. Auf vielen Migrationsämtern herrsche ein «Geist der Abwehr», sagt Spescha. Als potenziell Wegweisungsbetroffene müssten Migrantinnen und Migranten immer beweisen können, dass sie genügend integriert sind.

Eine Verschärfung der Gesetze brauche es nicht, sagt Spescha. In der Verfassung stehe ja: Wer staatliche Aufgaben wahrnimmt, ist an die Grundrechte gebunden und verpflichtet, zu ihrer Verwirklichung beizutragen. «Es wäre die Pflicht der politisch Verantwortlichen, dass die Gesetze grundrechtskonform angewandt werden.»

Hochzeitsfotos inklusive

Karim Bennani ist inzwischen hier angekommen. Er teilt eine Wohnung mit seiner Frau, hat einen Job, ein grosses soziales Umfeld. Seine Ausschaffung liegt weit zurück. Als er sein Dossier sieht, erschrickt er. «Das ist mir zu viel. So viele Erinnerungen.» Vor ihm liegt der Blick auf sein bisheriges Leben in der Schweiz auf 400 Seiten: Liebesbriefe, Hochzeitsfotos, Befragungsprotokolle, Referenzschreiben der Schwiegereltern, Lohnabrechnungen der Ehefrau.

«In Verfahren wegen vermuteter Scheinehen dringen Behörden häufig hemmungslos und unverhältnismässig in die Privatsphäre ein», sagt Marc Spescha. Der Datenschutz im Migrationsrecht werde aber kaum diskutiert. In Bezug auf das Migrationsdossier stünden sich zwei Interessen gegenüber: die persönliche Freiheit und Privatsphäre der Betroffenen – und die Einwanderungskontrolle des Staates.

Bennani hat zwar einen Job und ein geregeltes Leben. Privatsphäre hat er aber schon lange keine mehr.
(https://www.beobachter.ch/burger-verwaltung/zwei-millionen-fichen-null-kontrolle-die-datensammelwut-der-migrationsamter)