Medienspiegel 13. August 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++ZÜRICH
Ukraine Krieg: Flüchtlinge dürfen nicht nach Schaffhausen zügeln
Zwei Flüchtlinge kommen aus dem Ukraine-Krieg nach Zürich. Job und Wohnung finden Sie in Schaffhausen – doch der Kanton will sie nicht. Die Gastgeberin erzählt.
https://www.nau.ch/news/schweiz/ukraine-krieg-fluchtlinge-durfen-nicht-nach-schaffhausen-zugeln-66239098


+++SCHWEIZ
Afghanische Flüchtlinge: Viele Afghanen hoffen vergeblich auf ein humanitäres Visum
Im laufenden Jahr haben bisher 54 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen ein humanitäres Visum erhalten. Andere Länder seien grosszügiger, sagen Kritiker.
https://www.tagesanzeiger.ch/viele-afghanen-hoffen-vergeblich-auf-ein-humanitaeres-visum-899321301065


+++GRIECHENLAND
„Man ist ja vieles von der EU gewöhnt, aber das kann ich immer noch nicht realisieren: seit Tagen sitzt auf einer Sandbank im Evros auf der griechischen Seite eine Gruppe von ca. 40 Geflüchteten fest. Ein 5-jähriges Mädchen ist bereits an einem Skorpionstich gestorben(!).“
Mehr: https://twitter.com/KeremSchamberg/status/1558347123141255169


Seenotretter über Pushbacks und Hetze: „Diese Praxis ist bewiesen“
Kritiker*innen illegaler Pushbacks macht die griechische Regierung zur Zielscheibe von Hetze. Iasonas Apostolopoulos kennt das aus Problem.
https://taz.de/Seenotretter-ueber-Pushbacks-und-Hetze/!5873771/


+++FREIRÄUME
Kantonsrat David Roth kämpft gegen leerstehende Häuser
Der Luzerner SP-Kantonsrat David Roth will unnötige Hausräumungen verhindern. Deshalb fordert er in einem Postulat den Regierungsrat auf, bei Räumungen genauer hinzuschauen und damit Immobilienspekulation zu verringern.
https://www.zentralplus.ch/news/kantonsrat-david-roth-kaempft-gegen-leerstehende-haeuser-2428657/


+++GASSE
derbund.ch 13.08.2022

Zoff am Buskers:  Polizei wirft grüne Stadträtin vom Festivalgelände

Weil sie Unterschriften sammelte, wurde Stadträtin Lea Bill von der Polizei weggeschickt. Diese macht Sicherheitsgründe geltend.

Andres Marti

Empörung beim Grünen Bündnis Bern: Die Polizei verwies die Stadträtin Lea Bill am Donnerstagabend vom Buskers-Gelände. Laut eigenen Angaben sammelte Bill am Eingang Münstergasse zusammen mit zwei anderen Aktivistinnen Unterschriften für das kantonale Referendum «Megastrassen stoppen». Man sei nur mit Kleinplakaten und Klemmbrettern unterwegs gewesen. Ein Stand wurde nicht aufgebaut.

Zuerst sei ihnen von einer Polizeipatrouille gesagt worden, dass das Sammeln von Unterschriften auf dem ganzen Gelände verboten sei. Später seien zwei Polizisten in Zivil angerückt und hätten sie und die anderen Unterschriftensammlerinnen weggeschickt. Die Begründung der Polizisten laut Bill: Die Stadt und die Festivalleitung hätten im ganzen Gelände das Sammeln von Unterschriften verboten. Für Bill ist der Vorfall ein «Skandal», wie sie sagt. «Es kann nicht sein, dass wegen eines Strassenfests politische Grundrechte eingeschränkt werden.»

Bei der Stadt war am Samstag niemand für eine Stellungnahme erreichbar. Für Christine Wyss, Festivalleiterin des Buskers, verbreitet Bill mit dieser Aussage hingegen «Fake News», wie sie Freitagabend am Telefon sagt. «Das Unterschriftensammeln in der Altstadt ist selbstverständlich auch während der Dauer des Buskers erlaubt.» Vorausgesetzt, die Sicherheit der Besucherinnen und Besucher werde dadurch nicht beeinträchtigt.

Sie würde es begrüssen, so Wyss, wenn Sammlerinnen und Sammler von Unterschriften oder andere Aktivisten im Vorfeld des Festivals mit der Festivalleitung Kontakt aufnehmen würden. So könnten Aktionen in gegenseitiger Absprache koordiniert werden.

Sicherheit geht vor

Auch bei der Polizei heisst es auf Anfrage, dass das Sammeln von Unterschriften anlässlich des Buskers nicht per se verboten sei. «Wir halten aber fest, dass dies gerade an neuralgischen Punkten mit hohem Besucheraufkommen, etwa in Zugangsbereichen, mit Blick auf die Sicherheit heikel sein kann.» Umso mehr, wenn unter Umständen auch noch Infrastrukturen aufgestellt würden oder Besucherströme durch die Unterschriftensammlung umgelenkt oder gestört würden.

Es sei deshalb möglich, dass die Polizei entsprechende Personen auf diesen Umstand hinweise und diese auffordere, ihre Tätigkeiten ausserhalb des Geländes fortzusetzen.

Für Unterschriftensammler ist das Buskers von jeher ein einträglicher Jagdgrund. Über 75’000 Besucherinnen und Besucher zählten die Veranstalterinnen beim Buskers 2019. Nach zweijähriger Zwangspause dürften heuer ähnlich viele Gäste das dreitägige Strassenmusikfest besucht haben.

Für einigen Wirbel sorgte ein Vorfall von 2011: Die Kantonspolizei verhaftete damals einen GSoA-Aktivisten, der beim Zytglogge Unterschriften sammelte. Ein weiterer Aktivist begleitete den Festgenommenen auf die Wache, wo sich beide nackt ausziehen mussten. Schon damals machte die Polizei Sicherheitsgründe geltend.
(https://www.derbund.ch/polizei-wirft-gruene-stadtraetin-vom-festivalgelaende-912496973356)
-> https://twitter.com/LeaBillBern/status/1558101398830649346
-> https://www.baerntoday.ch/bern/gruene-stadtraetin-weggeschickt-147495178


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
AntiRep Sitzung „Marsch für’s Läbe“ 2021
Einige haben Strafbefehle gekriegt, einige erhielten bereits Vorladungen. Lassen wir uns von der Repression nicht vereinzeln.
Darum laden wir zur Sitzung ein, wo wir politische und juristisch-technische Fragen gemeinsam angehen.
Wann: Freitag, 26.08.22 um 19 Uhr
Für den Ort schreibe an se_bu@riseup.net
https://barrikade.info/article/5333


+++KNAST
Inhaftierte Person im Gefängnis Winterthur tot aufgefunden
Im Gefängnis Winterthur ist am Montagabend eine inhaftierte Person reglos in ihrer Zelle aufgefunden worden. Der Arzt konnte nur noch den Tod des 74-jährigen Mannes feststellen.
https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/inhaftierte-person-im-gefaengnis-winterthur-tot-aufgefunden-00190863/


+++RASSISMUS
Eklat an Street ParadeDJ sagt Auftritt ab – wegen mutmasslich rassistischer Deko
Eigentlich hätte DJ Jenny Cara an der Lethargy-Party in der Roten Fabrik auflegen sollen. Nun soll sie wegen einer aufgestellten Puppe den Auftritt abgesagt haben.
https://www.tagesanzeiger.ch/dj-sagt-auftritt-ab-wegen-mutmasslich-rassistischer-deko-392114537227
-> https://www.20min.ch/story/rassistische-deko-an-lethargy-party-djane-sagt-auftritt-ab-318560606625
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/street-parade-djane-sagt-auftritt-nach-rassismus-eklat-ab-66242025


+++RECHTSPOPULISMUS
Make Switzerland great again!
Die aussenpolitische Neutralität erfüllte immer den Zweck, das Schweizervolk zusammenzuhalten. Jetzt wird sie missbraucht, um es zu spalten.
https://www.republik.ch/2022/08/13/make-switzerland-great-again


+++FUNDIS
Bericht belastet Schweizer Missionswerk schwer – Läderach-Patron predigt trotzdem weiter
Mannigfaltiger Missbrauch und Vergewaltigungen: Im freikirchlichen Missionswerk Kwasizabantu herrschte bis kurz nach der Jahrtausendwende ein unmenschliches Regime, wie ein neuer Bericht zeigt. Zu der Zeit war «Schoggikönig» Jürg Läderach in der Kirche aktiv. Er ist es auch heute noch.
https://www.watson.ch/!967577916


+++FREIRÄUME
hauptstadt.be 13.08.2022

Der Marathon zur Schütz der Zukunft

Seit Jahrzehnten denkt die Stadt Bern darüber nach, was sie aus der Schützenmatte machen will. Jetzt ist klar: Sie soll ab 2028 ein offener Platz werden, dessen Hauptzweck darin besteht, dass die Benutzer*innen ihn sich aneignen können. Was heisst das?

Von Sandro Arnet

Angesichts der Schützenmatte müsste Immobilien-Investor*innen, die Bern nicht so gut kennen, eigentlich das Wasser im Mund zusammenlaufen: ein unbebautes Stück städtischen Bodens, hauptsächlich genutzt als Parkplatz, an bester Lage, fünf Minuten vom Bahnhof und vom beschaulichen Aarespaziergang entfernt. Ein Ort, prädestiniert dafür, zum dicht bebauten, profitablen Business-Standort zu werden.

Das ist in Bern nicht passiert. Und wird es auch nicht. Seit ein paar Wochen weiss man, dass die Schützenmatte zwar vom Parkplatz zum Begegnungsort umgestaltet, aber unbebaut bleiben wird. Wie ist es dazu gekommen, dass man seit Jahrzehnten über die Schütz nachdenkt und am Schluss doch fast nichts passiert?

Ein zentraler Aspekt: Die Schützenmatte war und ist ein Schauplatz politischer Auseinandersetzungen in Bern. Allerdings nicht wegen ihr selbst, sondern wegen der angrenzenden Reitschule.

Parkplatz und Gewalt

Die Reitschule  stand Anfang der 80er-Jahre leer, wurde während der Berner Jugendunruhen 1981 besetzt und 1982 mit einem grossen Polizeieinsatz wieder geräumt. 1987 stimmte der Gemeinderat erstmals einer provisorischen Nutzung der Reitschule als Kulturzentrum zu. 1988 lehnte das Stadtberner Stimmvolk die Initiative «Sport statt AJZ» – wobei AJZ für autonomes Jugendzentrum stand – ab. Das Volksbegehren hatte  den Abbruch der Reitschule zum Ziel.

Die Berner*innen stellten sich in Volksabstimmungen insgesamt fünfmal hinter das Kulturzentrum. Das letzte Mal 2010 bei einer durch die junge SVP eingereichten Initiative –  mit 68 Prozent Stimmanteil pro Reitschule.

Trotzdem wäre die Schützenmatte 1997 fast Teil eines städtebaulichen Coups geworden. Damals wurde in der Stadt Bern über den Schanzentunnel für den Motorfahrzeugverkehr abgestimmt. Die Bundesstadt wäre von der Belpstrasse bis an die Schütz untertunnelt worden. Ziel: ein verkehrsfreier Bahnhofsplatz. Doch das Vorhaben wurde an der Urne abgelehnt.

Was sollte aus der Schützenmatte werden, wenn nicht ein Portal zu einem Strassentunnel? Bis eine ernsthafte und strukturierte Diskussion darüber in Gang kam, sollte es noch zwölf Jahre dauern.

Und so war die Schütz vor allem eines – ein Parkplatz mit etwas erhöhtem Gewaltpotenzial.

Schlussendlich wird die Umgestaltung noch weitere zwei Jahrzehnte beanspruchen, wie die folgende Chronik nachzeichnet.

***

Der Weg zur umgestalteten Schütz

November 2009

SP und Grünes Bündnis fordern in zwei Motionen die Umgestaltung der Schützenmatte. Der Stadtrat erklärt diese für erheblich und löst damit  den Planungsprozess aus.

Juni 2012

Für die Aufgleisung des Planungsprozesses spricht der Stadtrat einen Kredit.

Mai 2013

Die Umgestaltung soll in Form eines ergebnisoffenen und partizipativen Verfahrens erarbeitet werden. Der Stadtrat bewilligt die Erhöhung des Kredits.

Januar 2014

Im Sinne der Partizipation wird bei der Umgestaltung ein Begleitgremium eingesetzt. Es besteht aus Grundeigentümer*innen, direkten Anrainer*innen, Nutzer*innen, Interessensgruppen, Fachverbänden und politischen Parteien.

Fazit der ersten Sitzung: Für die  Mehrheit sind Parkplätze auf der Schütz unerwünscht.

September 2014

Das «Labor Schützenmatte» findet statt: Während vier Tagen kann sich die Öffentlichkeit in den Umgestaltungsprozess einbringen. Dazu wird in der grossen Halle ein Forum mit einem 10 x 7 Meter grossen, begehbaren Modell der Schütz abgehalten. Auf der während dieser Zeit autofreien Schütz gibt es ein Partizipationsprogramm. Dadurch werden rund  300 verschiedene Ideen und Vorschläge gesammelt.

Mai 2015

Das Begleitgremium verabschiedet das Nutzungs- und Entwicklungskonzept (NEK). Die Schützenmatte soll zu einem vielfältig nutzbaren Begegnungsort aufgewertet werden. Wichtigste Voraussetzung dafür: Die Aufhebung der Parkplätze auf der Schütz.

Sommer 2015

Unter dem Namen «Neustadt-lab» werden während zwei Monaten 130 Veranstaltungen, Kurse und Ausstellungen auf der Schützenmatte organisiert. Die im NEK erwünschte multifunktionale Nutzung soll damit erprobt werden. Während diesen zwei Monaten sind die Parkplätze aufgehoben.

Sommer 2016

Zweite Ausgabe des «Neustadt-lab».

November 2016

Der Gemeinderat beschliesst die vollständige Aufhebung der Parkplätze für Personenwagen auf der Schützenmatte. Die Carparkplätze sollen aber bestehen bleiben. Wirtschaftsverbände legen Beschwerde gegen diesen Entscheid ein.

Zudem bewilligt der Stadtrat das NEK und erhöht den Schützenmatte-Kredit nochmals; eine konkrete Vorstudie zum Projekt soll ausgearbeitet werden.

Sommer 2017

Dritte Ausgabe des «Neustadt-lab».

Januar 2018

Der Gemeinderat und die Beschwerdeführenden einigen sich im Parkplatzstreit. Rund ein Drittel der Parkplätze soll für die gewerbliche Nutzung weiterhin zur Verfügung stehen.

Mit diesem Entscheid werden die restlichen zwei Drittel der Schütz, als Zwischennutzung auf drei Jahre limitiert, für die Bevölkerung frei.

Die vollständige Aufhebung der Parkplätze ist bis heute nicht erfolgt.

Sommer / Herbst 2018

Der Stadtrat bewilligt den Kredit für die dreijährige Zwischennutzung auf der Schützenmatte.

Die Schützenmatte wird in einem symbolischen Akt durch den Stadtpräsidenten Alec von Graffenried und der damaligen Gemeinderätin Ursula Wyss an die Bevölkerung übergeben.

Der Verein «PlatzKultur» übernimmt das Management der Zwischennutzung.

April 2020

Die Zwischennutzung wird vorzeitig beendet, da für den Weiterbetrieb die auf der Schützenmatte vorhandene Infrastruktur ausgebaut werden müsste. Das dafür nötige Baugesuch wird durch Einsprachen blockiert, weil unter dem Bahnviadukt immer wieder illegale Veranstaltungen organisiert wurden, die zu Lärmbelastungen in den umliegenden Quartieren geführt haben. Der Lärm stammt nicht aus der Zwischennutzung.

Ein Weiterbetrieb der Zwischennutzung wäre aber laut Gemeinderat aufgrund der Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus sowieso nicht möglich gewesen.

Sommer 2021

Die Bevölkerung kann ihre Ideen zur umgestalteten Schützenmatte in einem sogenannten «OpenOffice-Container» erneut einbringen. Diese Ideen fliessen in die Vorstudie.

Juni 2022

Vorstellung der Vorstudie zur Schützenmatte. Diese wurde erneut zusammen mit einem Begleitgremium ausgearbeitet, das aber verkleinert wurde und grösstenteils aus den Anrainer*innen besteht.

Da es bis zur konkreten Umsetzung noch Jahre dauern wird, werden einige dringende Umbauten schon im Sommer 2022 umgesetzt.

ab 2023

Konkrete Projektierung. Unter Einbezug des Feedbacks auf die Vorstudie bestimmt das Tiefbauamt der Stadt die Massnahmen zur Umgestaltung der Schütz. Danach behandelt der Stadtrat den Ausführungskredit. Je nach Finanzierungsbedarf wird das Stadtberner Stimmvolk aber wohl das letzte Wort haben.

Ab 2023 wird das vorderste Viertel der Schützenmatte zudem als Lagerungsort für die Grossbaustelle «Zukunft Bahnhof Bern» genutzt. Deswegen ist die Umsetzung der Umgestaltung nicht vor 2028 möglich.

ab 2028

Die Schützenmatte wird umgestaltet.

***

Wo steht die Schütz heute?

Obwohl die Parkplätze zu zwei Dritteln weg sind, konnte sich die Schütz bis heute nicht als Begegnungsort etablieren. Christoph Ris vom Verein «PlatzKultur» und zudem von der Stadt für die «Koordination und Bewartung Schützenmatte» angestellt, erklärt: «Das Problem ist, dass man am Tag nicht auf der Schütz verweilen will, weil es zu heiss oder zu laut ist. Abends wird sie zu einem Durchgangsgebiet, das man so schnell wie möglich durchqueren möchte.»

Diese Konstellation würde die immer wieder auftauchenden Probleme mit Gewalt und mangelnder Sicherheit auf der Schütz weiter befeuern, so Ris. Der Gemeinderat hat deshalb im April entschieden, dass zusätzlich zur Umgestaltung ein Sicherheitsdienst auf der Schützenmatte eingesetzt werden soll.

Wer nun die Vorstudie zur Schützenmatte anschaut, könnte dazu neigen, etwas enttäuscht zu sein. Denn auffällig ist vor allem, dass viele neue Bäume gepflanzt werden sollen. Doch wo liegt hier nach über einem Jahrzehnt Partizipation und Arbeit der grosse Wurf?

«In der ersten Phase wurde auch kurz über ein Hochhaus oder eine Markthalle debattiert, doch die Mehrheit des Begleitgremiums war ganz klar für einen Begegnungsort Schützenmatte», sagt Christoph Ris. Es sei nicht im Interesse des Begleitgremiums gewesen, aus der Schütz das nächste grosse Leuchtturm-Bauprojekt der Stadt zu machen.

Neues Feeling

«Der Platz soll so umgebaut werden, dass seine Benutzer*innen sich diesen aneignen und selber gestalten können – wenn, dann liegt der grosse Wurf also in den Details», ergänzt Ris.

Wird man von der so zurückhaltenden Umgestaltung überhaupt etwas merken? Nadine Heller, Bereichsleiterin Gestaltung und Nutzung sowie Co-Projektleiterin der Schütz-Umgestaltung beim städtischen Tiefbauamt, erklärt: «Der Platz wird ein anderes Gesicht bekommen und sich anders anfühlen.»

Anders als heute, da man sich auf dem Platz schnell verloren vorkomme, würden die Fussgänger*innen in Zukunft geleitet. Im provisorischen Plan der Vorstudie führen breite Durchgänge die Fussgänger*innen über die Schütz.

Die neue Schütz werde zudem bepflanzt mit Bäumen, die Schatten spenden sollen. «Ganz allgemein sollen grosse Teile des Platzes entsiegelt werden», sagt Heller. Ein positiver Nebeneffekt davon sei, dass der Lärm besser absorbiert werde.

Die umgestaltete Schütz soll dereinst  in zwei Teile unterteilt sein. Diese sollen zwar klar definiert werden, aber viel Platz zur Aneignung durch die  Benutzer*innen lassen. Der linke Teil ist für Veranstaltungen gedacht. So hat es dort Platz für unterschiedliche Nutzungen wie beispielsweise eine Bühne. Auf dem rechten Teil bleibt Raum für Kleinbauten. «Das gibt uns die Möglichkeit den Platz von der Schützenmattstrasse abzugrenzen und die derzeit ungenügende WC-Situation zu verbessern», so Heller. Ausserdem sollen dort eine Abfallentsorgungsstelle und verschiedene Spiel- und Sitzelemente entstehen.

Ein weiterer nicht zu unterschätzender Aspekt sei das  überarbeitete Lichtkonzept. «Wenn man zur Zeit abends auf der Schützenmatte ist, wird man von den Flutlichtern geblendet und man fühlt sich unsicher. Und in anderen Bereichen der Schütz ist es schlicht zu dunkel», erklärt Heller.

Da die Schütz durch die Grossbaustelle «Zukunft Bahnhof Bern» zu etwa einem Viertel belegt werden wird und so frühestens 2028 umgestaltet werden kann, hat die Stadt einige Sofortmassnahmen veranlasst. Dazu gehören etwa zusätzliche WC-Anlagen sowie Veloständer. «Ausserdem soll der ohnehin schon durch Graffitis verzierte Viadukt der SBB nun ein legaler Graffitiplatz werden», sagt Ris.

Die heikle Parkplatzfrage

Noch nicht abschliessend geklärt ist die Parkplatzfrage. Das Begleitgremium war seit Planungsbeginn dezidiert für eine Aufhebung aller Parkplätze, und so sind in der Vorstudie auch keine mehr vorgesehen. Allerdings einigte sich die Stadt 2016 mit den Wirtschaftsverbänden auf den heute noch geltenden Kompromiss, dass ein Drittel der Parkplätze für den Wirtschaftsverkehr bestehen bleibe. Man sei aber daran, mit den Einsprechenden von 2016 Gespräche zu führen, heisst es von Seiten der Stadt.

Auch wenn bis zur Umgestaltung der Schütz noch einige weitere Jahre ins Land gehen werden, scheinen alle Beteiligten zufrieden mit der partizipativen Planung. «Ich finde, so geht Planungskultur heute», meint Nadine Heller vom Tiefbauamt.

Auch David Böhner von der Druckerei Reitschule, der fast täglich über den Platz geht, ist grösstenteils zufrieden mit der Vorstudie. «Einzig, dass das Potenzial für eine neue Verkehrsführung um die Schützenmatte und die Reitschule nicht genutzt wurde, finde ich etwas ernüchternd.» Auch hoffe er, dass die Umgestaltung nun von der Vorstudie bis zum fertigen Projekt nicht abgeschwächt werde.
(https://www.hauptstadt.be/a/der-marathon-zur-schuetz-der-zukunft)


+++KNAST
Strafvollzug: «Meine grösste Sorge sind die Drogen»

Als neuer Direktor der Strafanstalt Witzwil hatte Balz Bütikofer einen steilen Einstieg: Die Pandemie war im Gang und die Hälfte der Gefangenen in Container umziehen.

Brigitte Jeckelmann

Mitten im Grossen Moos bei Ins zwischen Gemüsefeldern liegt die Strafanstalt Witzwil mit angeschlossenem Landwirtschaftsbetrieb. Auf einer Fläche von 825 Hektar wachsen Kartoffeln, Getreide, Obst und vielerlei Gemüse. Auf den Weiden grasen Kühe, Schweine und Pferde. Rund 100 Fohlen, die Privatpersonen gehören, können hier bis zum Alter von drei Jahren artgerecht aufwachsen. Balz Bütikofer, der Direktor von Witzwil, führt durch den Betrieb und zeigt die verschiedenen Bereiche: Neben der Landwirtschaft hat es mehrere Handwerksbetriebe: Spenglerei, Malerei, Maurerei, Schreinerei, Werkstätten für elektrische Geräte und Landwirtschaftsmaschinen.

In all diesen Bereichen arbeiten Gefangene mit, wie auch in der Küche, der Bäckerei, der Metzgerei, der Gärtnerei, der Wäscherei, in der Reinigung und im Verkaufsladen, wo die betriebseigenen Produkte verkauft werden. Die rund 140 Mitarbeitenden in Witzwil sind Fachleute auf ihrem Gebiet. Zudem haben sie eine Ausbildung für Arbeitsagogik im Strafvollzug. So ist es für Gefangene in Witzwil auch möglich, eine Berufslehre zu absolvieren. Die Anstalt bietet Platz für 166 Männer. Auf dem Gelände ist ein Gefängnisneubau mit weiteren 250 Plätzen geplant, der 2032 in Betrieb gehen soll. Dieser wird das marode Regionalgefängnis in Biel ersetzen.

Balz Bütikofer hat seine neue Stelle in Witzwil vor zwei Jahren angetreten. Wie sein Vorgänger Hans-Rudolf Schwarz, der heute Direktor der Strafanstalt Thorberg ist, war Bütikofer zuvor als Berufsoffizier bei der Armee tätig. Es war Schwarz, der die Arbeitsagogik in Witzwil eingeführt hatte. Bütikofer sagt, es sei die Kombination von Landwirtschaft, Handwerk und Justizvollzug nach arbeitsagogischen Grundsätzen gewesen, die ihn gereizt habe. Sein Zwischenfazit: «Ich habe es noch keine Sekunde lang bereut.» Die Vielseitigkeit habe ihn fasziniert.

Bütikofer bleibt bei den jungen Pferden stehen. Die sensiblen Tiere erspüren die Gemütslage von Menschen sofort, für die Gefangenen sind sie daher sehr wertvoll, wie Bütikofer weiss. Häftlinge, die das Vertrauen in die Menschen verloren haben, könnten es über die Tiere wieder aufbauen und so ihr Selbstvertrauen stärken.

Balz Bütikofer, in Witzwil wird der offene Vollzug praktiziert. Was ist darunter zu verstehen?

Die Gefangenen leben in Wohngruppen. Tagsüber arbeiten sie entweder auf dem Feld, in einer Werkstatt oder im Stall bei den Tieren. Die Nacht verbringen sie eingeschlossen in ihren Zellen. Für ihre Arbeit bekommen die Gefangenen einen Lohn. Der offene Vollzug ist eine Brücke zwischen Gefangenschaft und Freiheit; die Menschen sollen im Leben wieder Fuss fassen können.

Mit Strafvollzug und der Landwirtschaft hatten sie zuvor nie etwas zu tun. Wie haben Sie sich mit der Materie vertraut gemacht?

Die Landwirtschaft war mir nicht ganz fremd. Als Kind habe ich viel Zeit auf Bauernhöfen verbracht. Der Strafvollzug hingegen war Neuland. Ich habe hier viel von den verschiedenen Spezialisten gelernt. Zudem musste ich mich auch mit dem Strafgesetzbuch auseinandersetzen. Mein Vorgänger Hans-Rudolf Schwarz hatte mich durch den Betrieb geführt und mir einen Tagesplan mit den anstehenden Arbeiten auf den Tisch gelegt. Dann lernte ich nach und nach die einzelnen Bereiche und ihre Mitarbeitenden kennen. Zudem habe ich die anderen Anstalten im Kanton besichtigt und lernte die unterschiedlichen Arten im Vollzug kennen. Auch jene in anderen Kantonen.

Bei Ihrem Stellenantritt mussten Sie sich zwei aussergewöhnlichen Herausforderungen stellen: Die Pandemie war bereits im Gang und dazu kam die Sanierung der Anstaltsgebäude im Herbst. Wie haben Sie diese Situationen gemeistert?

Das war tatsächlich ein steiler Einstieg. Die tägliche Verfolgung der Pandemielage und die entsprechenden Anpassungen, die Absprachen mit der Amtsleitung und die Adaptierung auf unseren Betrieb erforderten eine hoch getaktete Planung. Hinzu kam, Massnahmen den Mitarbeitenden und den Gefangenen zu kommunizieren, zu erklären und die Umsetzung zu kontrollieren. Für Menschen, deren Freiheit bereits begrenzt ist, sind zusätzliche Einschränkungen wie Ausgangs- und Besuchssperren schwer zu akzeptieren. Man kann sich vorstellen, dass es unter solchen Umständen vermehrt zu Konflikten kam. Diese zu managen, war höchst spannend, aber auch anspruchsvoll. Lange blieben wir von positiven Fällen verschont. Erst Anfang dieses Jahres explodierten die Zahlen. Plötzlich hatten wir 24 Corona-Ansteckungen auf einmal.

Im Oktober wurde zudem die erste Etappe der Sanierung der veralteten, über 30 Jahre alten Gebäude in Angriff genommen. 80 Gefangene leben seither im Provisorium in Containern. Wie wirkt sich das auf den Alltag im Gefängnis aus?

Da hat sich einiges verändert. Die Gefangenen haben immer noch eine eigene Zelle – aber ohne eigene Toilette. In den Containern gibt es für 20 Gefangene fünf WC’s. Dies führt teilweise zu absurden Situationen. Um dies zu erklären, muss ich ein wenig ausholen: In Witzwil leben die Gefangenen in Wohngruppen. In jeder Gruppe gibt es einen Gefangenen, der den Hausdienst besorgt. Zu dessen Aufgaben gehört zum Beispiel, die anderen aus der Gruppe dazu anzuhalten, gebrauchtes Geschirr zu spülen und wegzuräumen. Auch die Reinigung von Böden und Treppen obliegt dem Hausdienst und er kontrolliert Sauberkeit und Ordnung in den Gemeinschaftsräumen. In den Containern muss er neu auch die Toiletten putzen. Das hatten die Gefangenen zuvor in ihren Zellen selbst erledigt.

Kommt es zwischen dem Hausdienstverantwortlichen und Gefangenen zu Streitigkeiten, kann es sein, dass die Toiletten in den Containern mit allerlei Sachen verstopft oder absichtlich stark verunreinigt hinterlassen werden. Das führt zu mehr Konflikten als üblich. Entsprechend aufgeladen ist die Stimmung – und die betreuenden Mitarbeitenden wenden viel Zeit auf, die Konflikte in Gesprächen beizulegen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als damit leben zu lernen. Denn nach der ersten Sanierungsetappe, die im Lauf des Novembers beendet sein soll, folgt schon bald die zweite.

Anfang dieser Woche war Witzwil in den Schlagzeilen: Einem 41-jährigen Algerier mit illegalem Aufenthaltsstatus gelang die Flucht, indem er sich durch die Essensklappe zwängte. Offenbar war er ein alter Bekannter in Witzwil. Glauben Sie, dass er erneut hier landen wird?

Gut möglich, dass er inzwischen von sich aus die Schweiz verlassen hat. Für mich ist das ein tragischer Fall. Der Mann sucht sich jetzt wohl irgendwo einen anderen Ort, von dem er glaubt, dort eine Zukunftsperspektive zu haben.

Er wird einer von vielen Menschen in Witzwil mit einem tragischen Schicksal sein.

Das ist so. Es ist aber gerade die menschliche Komponente, die meine Arbeit so spannend macht. Ich kenne jedes Dossier und weiss über die Menschen und ihre Taten Bescheid. Was ich feststelle: Die Gefangenen in Witzwil haben alle einen guten Rechtsbeistand und Möglichkeiten, zu ihrem Recht zu kommen. Zudem wird viel unternommen, um sie auf dem Weg in eine straffreie Zukunft zu unterstützen. Dabei drängt sich mir oft die Frage nach den Opfern auf. Aus meiner Sicht besteht hier ein Ungleichgewicht. Wenn ich in den Akten von den Gewalttaten lese, frage ich mich oft, wie wohl die Opfer heute damit leben.

Wie schaffen Sie es, die innere Distanz zu wahren?

Hier kümmert sich ein Team von verschiedenen Fachleuten um die Gefangenen. So kann ich mich immer mit jemandem austauschen, wenn mich ein Fall besonders beschäftigt. Das ist hilfreich und es entlastet. Als Direktor bin ich auch nicht direkt operativ zuständig für den Vollzug, dafür gibt es verantwortliche Personen im Betrieb, die mir helfen, den Vollzugsauftrag der einweisenden Behörde, der Bewährungs- und Vollzugsdienste im Amt für Justizvollzug umzusetzen. Ich stehe den Gefangenen aber jederzeit als Ansprechperson zur Verfügung, wenn sie Probleme haben, die für sie nicht lösbar sind.

Sie sagen, Entscheide über die Art des Vollzugs fallen bei den Bewährungs- und Vollzugsdiensten. Wie gut kennen diese Leute die Gefangenen?

In der Regel sehr gut. Für jeden Gefangenen gibt es eine Fall führende Person. Diese kennt die ganze Geschichte des bisherigen Vollzugs, fällt aber die Entscheide nicht alleine. Dafür gibt es von Zeit zu Zeit Besprechungen. Dabei sitzen die Fall führende Person der Bewährungs- und Vollzugsdienste und unsere Fachleute aus dem Vollzugsteam mit dem Gefangenen an einen Tisch. Es wird darüber gesprochen, wie es für ihn weitergehen soll und was das Ziel ist. Dabei wird dem Betroffenen auch klar gemacht, wo allenfalls mehr Engagement von seiner Seite erwartet wird. Letztlich muss der Gefangene bei der Gestaltung seiner Zukunft mitarbeiten. Wenn er nicht will, können wir ihm auch nicht helfen. Das muss er wissen. Im Plenum wird aber auch darüber gesprochen und entschieden, ob zum Beispiel ein Arbeitsexternat geeignet ist.

Arbeitsexternat bedeutet, dass der Gefangene tagsüber ausserhalb des Gefängnisses einer Erwerbstätigkeit nachgeht, abends aber jeweils zum Übernachten zurückkehrt?

Genau. Ein Arbeitsexternat kommt aber nur für Betroffene mit langen Haftstrafen über 18 Monate infrage. Für jemanden, der längere Zeit eingesperrt war, ist das ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zurück in die Freiheit. Für die Arbeitssuche ist der Gefangene in grossen Teilen selbst verantwortlich. Er sucht zum Beispiel aktiv im Internet und den Zeitungen nach offenen Stellen und schreibt Bewerbungen. Natürlich unterstützen wir dort, wo es nötig ist. Sei es, um ein Bewerbungsdossier zusammenzustellen, Vorstellungsgespräche zu üben, oder indem wir auf unser Netzwerk an potenziellen Arbeitgebern zurückgreifen. Denn die Voraussetzung für ein Arbeitsexternat ist ein unterschriebener Arbeitsvertrag. Zudem gibt es einen Vertrag zwischen uns, also der Justizvollzugsanstalt, und dem Arbeitgeber, in dem gewisse Regeln festgehalten sind.

Ist es eher die Ausnahme, dass Gefangene extern eine Arbeit finden?

Das würde ich so nicht sagen. Sicher ist es schwieriger geworden. Es gibt sie, die Arbeitgeber, die sich dazu entschliessen, einem Gefangenen eine Chance zu geben. Man muss sie jedoch suchen. Manche Gefangene nehmen dafür einen längeren Arbeitsweg in andere Kantone auf sich. Es ist immer schön, wenn so etwas zustande kommt. Im Moment sind fünf Gefangene aus Witzwil im Arbeitsexternat. Gibt es etwas, das Ihnen bisher besonders nahe gegangen ist?An einem Morgen im letzten Winter fanden wir einen 28-jährigen Gefangenen tot in seiner Zelle. Die Todesursache steht mit hoher Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit Drogenkonsum. Es sind denn auch die Drogen, die meine grösste Sorge sind.

Können Sie das näher erklären?

Die Bereitschaft der Gefangenen, Drogen zu konsumieren, ist sehr hoch. Die beste Resozialisierung ist dagegen fast machtlos. Wenn ein Süchtiger wieder mit Drogen in Kontakt kommt, können wir bei Null anfangen. Bei Süchtigen ist die Rückfallgefahr sehr gross. Viele von ihnen landen immer wieder in Witzwil. Und kaum sind sie draussen, beginnt das Spiel von vorne: Sie verstossen gegen das Betäubungsmittelgesetz und werden verurteilt. Ein Teufelskreis. Jedes Mal, wenn sie wieder kommen, geht es ihnen sowohl physisch als auch psychisch schlechter als zuvor. Und zwar manchmal so schlecht, dass sie hier fast untragbar werden und eigentlich in eine Psychiatrie gehören. Unsere Arbeit hier ist auch ein täglicher Kampf gegen die Drogen.

Warum gelingt es nicht, die Anstalt drogenfrei zu halten?

Das ist unmöglich. Wir bewegen uns auf offenem Gelände, es gibt keine Hochsicherheitszäune. Die Gefangenen haben mit der Aussenwelt Kontakt, sie gehen zur Arbeit aufs Feld und sind irgendwann auch ausgangs- und urlaubsberechtigt.

Um welche Drogen geht es?

Das ganze Spektrum: angefangen von Hasch über Kokain, Heroin, Amphetamine und mehr. Es gibt Gefangene, die im Ausgang oder Urlaub immer wieder konsumieren. Oft sind das Menschen, die den Eindruck vermitteln, nichts mehr zu verlieren zu haben. Das ist tragisch.Voll zugedröhnt dürften Gefangene aber nicht zur Arbeit fähig sein.Natürlich nicht. Wir haben häufig mit Gefangenen zu kämpfen, die morgens Mühe haben, aufzustehen. Es liegt dann in unserer Verantwortung zu entscheiden, ob ein Mensch in diesem Zustand Traktor fahren oder eine Bandsäge in der Schreinerei bedienen soll. Aus diesem Grund schreibt der Gesundheitsdienst auch lieber mal einen Mann mehr krank als einen zu wenig. Denn wir haben hier viele gefährliche Maschinen. Wer damit arbeitet, muss voll konzentriert sein.

Wenn man das hört, könnte man denken, dass es zu vielen Arbeitsunfällen bei den Gefangenen kommt.

Im Verhältnis zu den angestellten Mitarbeitern nicht überproportional. Wir haben glücklicherweise sehr wenig Arbeitsunfälle. Dies ist auch dem Umstand geschuldet, dass wir bei der Anschaffung von Geräten besonders auf die Betriebssicherheit achten.

Sie haben vorhin von gefangenen Drogensüchtigen gesprochen, denen alles egal ist, weil sie nichts mehr zu verlieren haben – machen sie den grösseren Teil aus?

Nein, zum Glück nicht. Viele Süchtige in Witzwil wollen hier ihre Chance packen und bekommen eine Drogensubstitution, also ein Ersatzmittel wie Methadon. Manche, die kommen, sind bereits damit eingestellt. Sucht-Anlaufstellen wie Contact in Bern leisten hier wertvolle Arbeit.

Also ist den meisten Eingewiesenen ihre Zukunft doch wichtig?

Die Frage ist, wo sie eine Zukunft haben. Wir wollen die Leute wieder in den Arbeitsmarkt zurückbringen. Aber bei vielen ist die Arbeit in einer geschützten Werkstatt und betreutes Wohnen das maximal Mögliche. So haben sie zumindest ein Dach über dem Kopf, eine Beschäftigung und ein soziales Umfeld. Doch manchmal geht selbst das nicht. Dann bleibt noch der Wechsel in Institutionen wie der Tannenhof in Gampelen (Heim- und Wiedereingliederungsstätte für Menschen mit psychischen und sozialen Problemen, Anm. d. Red.).

Sie sagen, Ziel des offenen Vollzugs sei, in Freiheit wieder Fuss zu fassen. Gilt das auch für Menschen, die schwere Straftaten begangen haben?

Wir haben in Witzwil alle Delikte, auch solche an Leib und Leben. Diese liegen aber weit zurück, die Menschen haben eine entsprechend lange Zeit im Gefängnis verbracht, während der sie laufend Fortschritte gemacht haben. Der offene Vollzug ist die letzte Progressionsstufe vor der Freiheit. Sie sind hier, weil Fachleute das Risiko, dass sie eine ähnliche Straftat wieder begehen, als gering einschätzen, ebenso wie die Fluchtgefahr. Nehmen wir als Beispiel einen Mörder, der aus einem ganz bestimmten Motiv heraus einen Menschen umgebracht hat: Diese Person ist jetzt tot, den Konflikt gibt es nicht mehr. Das Risiko, dass er nochmals irgendeinen anderen Menschen umbringt, ist in seinem Fall praktisch inexistent. Ganz klar: Er muss seine Strafe absitzen, aber es spricht nichts gegen einen offenen Vollzug – wenn die Risikoeinschätzung entsprechend ausfällt. Es gibt solche Beispiele von Menschen, die zehn Jahre und länger in Witzwil sind.

Sie haben jeden Tag mit Menschen mit schweren Schicksalen zu tun, man kann sich vorstellen, dass Abschalten nicht immer einfach ist. Wie gelingt Ihnen das?

Ich kann Privatleben und Beruf gut trennen. Dafür treibe ich Sport, steige zum Beispiel aufs Velo. Zudem habe ich eine Familie, die mich fordert und ablenkt. Dazu lese ich auch gerne mal ein Buch.



Zur Person: Nach Abschluss des Lehrerseminars studierte Balz Bütikofer einige Semester Geografie, Geschichte und Statistik an der Universität Bern. Danach unterrichtete er auf der Sekundarstufe. Später absolvierte er die Militärakademie an der ETH Zürich und erlangte einen Executive MBA an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Chur. Zuletzt verantwortete er den Fähigkeitsbereich Systeme Heer innerhalb der Armeeplanung. Diese Organisationseinheit im Armeestab ist unter anderem zuständig für die Bewaffnung, Motorisierung und komplette Ausrüstung der Truppen. Balz Bütikofer ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Der Kanuslalom ist seine Leidenschaft, die er mit der ganzen Familie teilt.
(https://ajour.ch/story/meine-grsste-sorge-sind-die-drogen/21174)