Medienspiegel 4. August 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++SCHWEIZ
Knapp 10 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine arbeiten
3130 Personen mit Schutzstatus S sind derzeit in der Schweiz erwerbstätig. Fast jede vierte davon (23 Prozent) arbeitet im Gastgewerbe, wie die Bundesbehörden am Donnerstag mitteilten.
https://www.swissinfo.ch/ger/knapp-10-prozent-der-gefluechteten-aus-der-ukraine-arbeiten/47803148


+++NIEDERLANDE
Chaos auf dem Dorf
Niederlande: Aufnahmezentrum für Asylsuchende in Ter Apel überfüllt. NGO zieht gegen Staat vor Gericht
https://www.jungewelt.de/artikel/431919.fl%C3%BCchtlingsaufnahme-chaos-auf-dem-dorf.html


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Hinterschlund-Areal kommt aufs Tapet: In Kriens? SP fordert Plätze für Fahrende in Luzern
In der Region Luzern fehlen Standplätze für Fahrende. Die SP fordert die Stadt Luzern nun auf, dies zu ändern. Grossstadtrat Claudio Soldati sieht Potenzial in einem bestimmten Areal – das allerdings nicht auf Stadtgebiet liegt.
https://www.zentralplus.ch/wohnen-bauen/in-kriens-sp-fordert-plaetze-fuer-fahrende-in-luzern-2422069/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Waadtländer Staatsanwalt rekurriert gegen Mormont-Urteile
Im Fall der für nichtig erklärten Strafbefehle gegen Besetzer des Mormont-Hügels zieht der Waadtländer Staatsanwalt Eric Cottier nun vors Bundesgericht.
https://www.nau.ch/news/schweiz/waadtlander-staatsanwalt-rekurriert-gegen-mormont-urteile-66236066


+++POLIZEI DE
Rassismus bei Sicherheitsbehörden: Polizei verschleppt Aufarbeitung
Die Polizei tut sich schwer, in den eigenen Reihen gegen Rassismus und Hetze vorzugehen. Es geht zwar um eine Minderheit – aber die ist gefährlich.
https://taz.de/Rassismus-bei-Sicherheitsbehoerden/!5868214/


+++FRAUEN/QUEER
tagesanzeiger.ch 04.08.2022

HATEPOP AN DEN MUSIKFESTWOCHEN: «AUF WAS SIND SIE GERADE SO RICHTIG SAUER?» – «AUF CIS-DUDES!»

Das Berner Kollektiv kritisiert mit seiner Musik und auch im Interview so ziemlich alles: Yuppies, Adelsgeschlechter – und Männer, die sich als Männer identifizieren. Am Donnerstag tritt Hatepop in Winterthur auf.

Hanna Fröhlich

Der Stil Ihrer Musik ist schwer einzuordnen. Kürzlich haben Sie gesagt, dass Sie keine Rapper und Rapperinnen sein wollen. Weshalb?

Seretid: Rap war der Anfang. Wir haben uns aber als Menschen weiterentwickelt und machen heute eine komplett andere Musik. Mit unseren alten Texten sind wir teils nicht mehr zufrieden.

Artbabe: Man hört in den Texten unseres Debütalbums «Young Fuckups», dass unsere Lebenseinstellung destruktiv und selbstverletzend war. Ich glaube, als wir dieses Album produziert haben, haben wir uns alle selbst gehasst.
-> Debütalbum: https://youtu.be/GuCjJ5kcW-Q

Können Sie denn heute noch hinter Ihren Songs stehen?

Seretid: Es gibt schon Tracks, die gar nicht mehr gehen.

Zum Beispiel?

Artbabe: Wir haben ein Lied ( «Trink») über die dunklen Seiten des Alkoholismus geschrieben, weil es unzählige glorifizierende Trinklieder über Jägermeister und andere Schnäpse gibt. Eigentlich wollten wir die körperlichen Beschwerden, den psychischen Abfuck und die kaputten Beziehungen offenlegen, doch der Song wurde einfach nicht bestimmt genug und klingt immer noch wie ein bescheuertes Trinklied. Deswegen können wir es mittlerweile nicht mehr performen.

Seretid: Wenn an einem Open Air in der ersten Reihe Teenies schreien: «Du musch trinke, ey» (der Songtext), läuft es mir kalt den Rücken runter. Das Lied würden wir nicht mehr so produzieren. Die Intention war, ein Trinklied zu machen, das so scheusslich ist wie das Trinken selber, nicht eines, das dieses verherrlicht.

Drogen sind öfter ein Thema in Ihren Songs. Was ist Ihre Beziehung dazu?

Artbabe: Ich habe körperliche und psychische Schäden von Drogen davongetragen und bereue meinen Konsum. Mittlerweile bin ich relativ clean. Als wir die Texte geschrieben haben, wussten wir alle, was für einen schlechten Einfluss Drogen auf unser Leben haben, und waren trotzdem nicht bereit, uns davon loszureissen.

Arbion: Wenn du offen über Drogen sprichst, bringt es nichts, nur die negativen Seiten zu nennen. Das ist ein genauso verzerrtes Bild, wie wenn du so tust, als wär es das Geilste im Leben.

Auch die Stadt Bern, wo Sie herkommen, spielt in den Songs eine wichtige Rolle. Sie thematisieren die Gentrifizierung und das Adelsgeschlecht von Graffenried, dem auch der Berner Stadtpräsident angehört. Wieso?

Arbion: Bern ist zwar eine linke Stadt, doch das macht sie nicht unproblematisch. Es ist nicht damit getan, sich Gedankengut und Parolen auf die Fahne zu schreiben. Politische Einstellung als Szenencredit zählt nicht. Aktives Handeln ist das Entscheidende. Von Graffenried ist das grosse Berner Geschlecht, das in der Stadt alles besitzt. Das ist problematisch. Grundbesitz ist sowieso die Geissel der Gesellschaft. Auch in Bern zahlt man in Trendquartieren wie der Lorraine, der Breitsch oder der Längass tausend Franken für ein Zimmer.
-> Cypher22: https://youtu.be/1AwldX5Ih0A

Sie spielen mittlerweile nicht nur in Bern Konzerte, sondern auch im Rest der Schweiz. Jetzt kommen Sie an die Winterthurer Musikfestwochen. Wollen Sie berühmt werden?

Arbion: Niemand von uns leistet gerne Dienstleistungsarbeit, deswegen wäre es schon gut, wenn das mit der Musik klappt.

Seretid: Ich würde schon gerne mein Gesicht mal gross auf einer Fassade sehen, habe aber eine ambivalente Einstellung dazu. Wir würden zum Beispiel nie mit Leuten zusammenarbeiten, die unsere Werte nicht teilen, nur um weiterzukommen.

Das klingt destruktiv. Allgemein ist in Ihrer Musik viel Wut drin. Auf was sind Sie gerade so richtig sauer?

Arbion: Zum jetzigen Zeitpunkt auf patriarchale Strukturen, die Auseinandersetzung mit dem Cis-Mannsein, auf Heteronormativität.

Seretid: Allgemein auf Cis-Dudes.

Also auf Männer, die sich mit ihrem von aussen zugeschriebenen Geschlecht identifizieren. Warum?

Arbion: Sie nehmen Raum ein und fördern aktiv Strukturen, in denen andere benachteiligt werden. Sie treten mit einer Arroganz und einer Ignoranz auf, die anödet.

Macht Sie das auch traurig, diese ganze Wut auf das System?

Artbabe: Mein Ziel wäre, ein Mensch zu sein, der einen positiven Einfluss auf sein Umfeld hat und etwas Schönes in die Welt tragen kann. Das gelingt mir aber nicht immer. Mittlerweile machen sich bei mir Resignation und Gleichgültigkeit breit. Nicht dass ich das wirklich gut finde…

Seretid: Ich bin müder geworden.

Artbabe: Ich finde, wir sind alle selbstreflektierter geworden. Uns ging es aber auch früher nie darum, rebellisch zu sein. Wir haben einfach unserer Wut freien Lauf gelassen.

Konzert von Hatepop: Do 11.8., 18.30 Uhr, Steinberggasse, Winterthurer Musikfestwochen, musikfestwochen.ch.



Hatepop

Das Kollektiv Hatepop, das aus fünf Personen in den 20ern besteht, wurde vor zwei Jahren gegründet und ist bereits fester Bestandteil der Berner Trapszene. In Zürich trat Hatepop bereits mehrmals auf, unter anderem am M4Music-Festival. Ihr Debütalbum «Young Fuckups» erzählt von Drogen, Orientierungslosigkeit, Einsamkeit, Melancholie und Scheitern – also von den dunklen Seiten ihrer eigenen Existenz. Arbion, Artbabe, Seretid, Franco und Jessica Jurassica möchten nicht als Individuen auftreten, sondern als Kollektiv. Seretid und Artbabe bleiben sogar ganz anonym. Nicht weil sie feige seien, sagen die beiden. Sondern weil die Musik zähle und nicht ihre Personen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/auf-was-sind-sie-gerade-so-richtig-sauer-auf-cis-dudes-919022977420)


+++RASSISMUS
aargauerzeitung.ch 04.08.2022

Wer erschoss den Sheriff? Kulturelle Aneignung stand am Anfang des Reggae-Booms

Der weisse Brite Eric Clapton wusste nicht einmal, worum es in dem Lied von Bob Marley geht, das er übernahm. Das Cover verschaffte Marley und dem Musikstil aus Jamaika aber den weltweiten Durchbruch.

Stefan Künzli

Der Begriff der kulturellen Aneignung erhitzt in der Schweiz die Gemüter seit das Konzert der Reggaeband Lauwarm in der Bern Brasserie Lorraine abgebrochen wurde. Dabei wird die kulturelle Aneignung erst problematisch, wenn eine Kultur von privilegierten Menschen zum Nachteil einer Minderheit ausgebeutet wird, wenn sie aus dem historischen Kontext gerissen und als reine Ware für den eigenen Profit verwendet wird. Doch wie war das beim Reggae?
-> https://youtu.be/QJAvMeH9cJU

Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre war Reggae ausserhalb von Jamaika noch recht exotisch. Desmond Dekker war der Erste, der mit «007 (Shanty Town)» (1967) und vor allem «Israelites» (1968) erste Hits ausserhalb der Heimat landete. Es folgten eine Reihe von weiteren Charterfolgen, die ein erstes Aufflackern des Reggae bedeuteten. Sie blieben aber die Ausnahme, auf Grossbritannien und die dortige jamaikanische Diaspora beschränkt und wurden als Eintagsfliegen wahrgenommen. Sie lösten keinen Reggaeboom aus.

Der Film «The Harder They Come» von 1972 mit Jimmy Cliff in der Hauptrolle mit Musik von Cliff, Desmond Dekker, Toots & the Maytals sowie The Melodians gab dem Reggae eine gewisse Tiefe. Mehr als ein Erfolg im Untergrundkino war er aber nicht und auch der Album-Soundtrack kam in den USA nicht über Platz 140 hinaus.
-> https://youtu.be/FkBQc0gQkQI

Bob Marley war in jenem Jahr noch weitgehend unbekannt. In den USA wollte kaum jemand etwas von Reggae und Marley wissen. Und auch in Grossbritannien sah es nicht viel besser aus. Ausserhalb der Jamaika-Community konnte kaum jemand etwas mit den sperrigen Rhythmen anfangen. Rock beherrschte in jenen Jahren Charts und den Pop-Mainstream wie nie zuvor. «Den damaligen Grad an Verachtung von Rockfans gegenüber dem Reggae kann man kaum übertreiben», sagte dazu der britische Musikjournalist Richard Williams.

Das Original von Bob Marley war kein Hit

Als Bob Marleys im Oktober 1973 mit seinen Wailers (Peter Tosh und Bunny Wailer) das Album «Burnin» mit dem Song «I Shot The Sheriff» veröffentlichte, blieb denn auch das Echo bescheiden. Das Album, immerhin mit dem heutigen Reggae-Klassiker «Get Up, Stand Up», kam in den USA nicht über den enttäuschenden Platz 151 hinaus und «I Shot The Sheriff» erreichte in Grossbritannien gerade mal Platz 67.
-> https://youtu.be/sG52YAe8Crg

Das änderte sich erst ein knappes Jahr später mit Eric Clapton. Seine Version von «I Shot The Sheriff» schoss auf Platz eins der amerikanischen Charts und wurde zu einem Welthit, der später auch in die Grammy Hall of Fame aufgenommen wurde. Reggae war plötzlich in aller Munde, erreichte ein weisses Publikum und wurde zu einem wichtigen Musikstil der internationalen Popmusik.

Was Elvis Presley in den 1950er-Jahren mit dem Rock ’n’ Roll schaffte, wiederholte sich mit dem Engländer Eric Clapton und dem Reggae. Ein weisser Musiker transportierte einen Musikstil einer afro-amerikanischen Minderheit in den weissen Pop-Mainstream. Ein klarer Fall von kultureller Aneignung.
-> https://youtu.be/L0xLLPJ0bOw

Marley wurde zum Messias der weissen Jugendlichen der Nach-Hippie-Ära

Eric Claptons Version von «I Shot The Sheriff» war runder und geschliffener als das wilde, schroffe und raue Original von Bob Marley. Clapton gab dem Song einen eleganteren, funky Touch. Dazu sang er sehr zurückhaltend, mit relativ wenig Druck und Gefühl, wie wenn ihn der dramatische Inhalt des Songs nichts angehen würde. Aber seine Interpretation traf den Geschmack des weissen Massenpublikums.

Der Erfolg von Claptons Version verschaffte seinem jamaikanischen Urheber einen enormen Popularitätsschub. Türen, die vorher verschlossen waren, öffneten sich und Marley wurde von einem weissen Rockpublikum und vom weiss dominierten Pop-Mainstream plötzlich wie ein Messias empfangen und gefeiert. Der charismatische Sänger des Roots-Reggae wurde zum Heilsbringer mit spiritueller und politischer Botschaft, zu einer Identifikationsfigur mit revolutionärem Potenzial und Reggae zum ersten Musikstil aus einem Drittweltland, das sich in der internationalen Popmusik etablierte.

Was die kulturelle Aneignung betrifft: Im Gegensatz zu Elvis, der den Rhythm and Blues der schwarzen Vorbilder genau studierte und verinnerlichte, hatte Clapton vor der Aufnahme von «I Shot The Sherriff» gar nichts mit Reggae am Hut. Der Gitarrengott hatte mit seinen Rockbands Cream, Blind Faith und Derek & the Dominos Weltruhm erlangt, war aber in den frühen 70er-Jahren in einer denkbar schlechten Verfassung. Drei Jahre war er abgetaucht, spielte kaum Gitarre, konsumierte umso mehr Heroin. Man musste Schlimmstes befürchten.

Clapton kannte weder Marley noch Reggae

Was sich in der Musikszene abspielte, wusste Clapton kaum. Gemäss dem deutschen Musikhistoriker Ernst Hofacker kannte er weder Bob Marley noch die Reggae- und Rastafari-Kultur. Es war der US-Studiomusiker George Terry, der ihm «I Shot The Sheriff» vorstellte und als Song für sein Comeback-Album «461 Ocean Boulevard» vorschlug. Clapton kannte nicht einmal die dramatischen, hochpolitischen Hintergründe des Songs. Mit dem Sheriff, der da erschossen wurde, meinte Marley nämlich nicht die Ordnungshüter im Wilden Westen, sondern die jamaikanische Obrigkeit. Tatsächlich soll Clapton den Urheber von «I Shot The Sheriff» erst Monate danach persönlich gefragt haben, worum es im Song eigentlich geht.

Doch Eric Clapton war mit seiner Ignoranz in guter Gesellschaft. Die Losung Reggae, Rasta und Rebellion wurden von weissen Jugendlichen der Nach-Hippie-Ära romantisiert und verklärt. Marihuana rauchen wurde zum revolutionären Akt stilisiert und Dreadlocks zu einem trendigen Modeschick. Kaum jemand beschäftigte sich ernsthaft mit den Hintergründen des Rastafarismus. Kaum jemand wusste um die zutiefst patriarchalen, schwulen- und lesbenfeindlichen Postulate der Bewegung.

Ambivalenz von kultureller Aneignung

Die Geschichte des Reggae und insbesondere die Geschichte von «I Shot The Sheriff» ist ein Musterbeispiel für die Ambivalenz von kultureller Aneignung sowie den Mechanismen der internationalen Musikindustrie. Reggae und Marley haben zweifellos von Clapton und seiner Version profitiert. Erst dank des englischen Gitarristen wurde ein Massenpublikum auf die Musik aus Jamaika und Bob Marley aufmerksam.

Das Beispiel hat aber natürlich auch seine problematischen Seiten. Es zeigt, wie die Macht im Business verteilt ist. Clapton und seinen Produzenten ging es nicht um Förderung von Reggae. Es ging ihnen nicht darum, einem Musikstil aus der Dritten Welt zum internationalen Durchbruch zu verhelfen. Einziges Ziel war, einen Hit zu landen und ein kommerziell erfolgreiches Album aufzunehmen. Der Song war eine Ware, der Urheber egal.
-> https://youtu.be/A_qWNjPH19c


+++RECHTSPOPULISMUS
Debatte um Neutralität – Initiativen könnten der Schweiz engere Fesseln anlegen
Gleich zwei Initiativen wollen die Schweizer Neutralität neu ausrichten. Eine stammt aus der Feder von Christoph Blocher, die andere von Corona-Massnahmengegnern. Beide wären bei einer Annahme eine deutliche Weichenstellung für die Schweizer Neutralitätspolitik.
https://www.srf.ch/news/schweiz/debatte-um-neutralitaet-initiativen-koennten-der-schweiz-engere-fesseln-anlegen


+++RECHTSEXTREMISMUS
Ukraine: Russische Rechtsextreme im Kampf gegen Kiew
Auch die rechtsextreme „Russische Reichsbewegung“ kämpft im Donbas gegen die Ukraine. Am „Partizan“, ihrem paramilitärischen Trainingslager bei Sankt Petersburg, hat sie Neonazis aus ganz Europa ausgebildet – und auch das russische Neonazi-Paramilitär „Rusitsch“.
https://www.belltower.news/ukraine-krieg-russische-rechtsextreme-im-kampf-gegen-kiew-136285/


Böhse-Onkelz-Fans in Frankfurt: «Er rief ‹Sieg Heil›»
Betroffene berichten von rassistischen und antisemitischen Übergriffen von Fans der Rockband Böhse Onkelz, darunter der Comedian Oliver Polak.
https://www.watson.ch/international/deutschland/832378495-boehse-onkelz-fans-in-frankfurt-er-rief-sieg-heil


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
derbund.ch 04.08.2022

Nach der Corona-Pandemie: Massnahmen-Gegner träumen von einer Parallel-Welt

Ein Vereins-Netzwerk plant eine alternative Gesellschaft mit eigenen Schulen und neuer Medizin. Esoterik-Expertinnen warnen.

Hans Brandt

Gemeinsam Brot backen, Kräuter sammeln, einen Garten pflegen – die Aktivitäten, welche die Vereine Graswurzle und Urig anbieten, hören sich unverfänglich, geradezu harmlos an. Aber dahinter steckt ein Netzwerk von Ortsgruppen in der ganzen Deutschschweiz, das umstrittene Theorien verbreitet und eine Alternative zum Staat errichten will. Ein «neues Paradies auf Erden», wie es in einem Urig-Video heisst. Oder wie es Prisca Würgler, Mitbegründerin von Graswurzle, formuliert: «Ein Versuch, parallele Strukturen aufzubauen.»

Würgler betreibt die Graswurzle-Geschäftsstelle in Altdorf UR. Sie spricht von bis zu 5000 Menschen, die ihrem Netzwerk verbunden sind. Auf einer Karte auf der Website der Organisation ist die Ostschweiz mit blauen Markierungen übersät; jede soll eine Ortsgruppe anzeigen. Das Urig-Netzwerk hingegen ist undurchsichtiger, hat seine Zentrale aber ebenfalls im Kanton Uri, in Erstfeld. Wie viele Mitglieder sich in lokalen Gruppen zusammengefunden haben, ist nicht zu erkennen. Ob die beiden Gruppen kooperieren, ist ebenfalls unklar.

Esoterik-Expertinnen warnen vor dem Netzwerk, das hier entsteht. Es handle sich um «zwei schnell wachsende weltanschauliche Gemeinschaften», bei denen «eine Hinwendung zu gefährlicher Alternativmedizin, Verschwörungsmythen und eigenen Bildungssystemen» zu erkennen sei, heisst es in einer Mitteilung von Relinfo, einer Informationsstelle für Sekten, die von der reformierten Kirche betrieben wird.

«Eigene, freie Räume schaffen»

«Das sind Menschen, die nach der Corona-Pandemie das Gefühl haben, dass ihr Widerstand nichts gebracht hat, und als Alternative ein eigenes System errichten wollen», sagt Julia Sulzmann von Relinfo. Der Versuch, eine Parallelgesellschaft zu bilden, sei problematisch. «Da gibt es Schulen, die den Kindern umstrittene Inhalte vermitteln und sie nicht qualifizieren für ein Leben ausserhalb der Parallelgesellschaft.» Zudem sei eine Vielzahl an zweifelhaften Angeboten zu beobachten, etwa alternative Medizinsysteme, die für Leute, die sich darauf einlassen, durchaus lebensgefährlich sein könnten.

Anhänger von Graswurzle und Urig sind Corona-Massnahmen-Gegner, die sich in den Pandemiejahren seit 2020 ausgegrenzt und verfolgt fühlten. Die Primarlehrerin Prisca Würgler wurde von ihrer Schule entlassen, als sie sich weigerte, eine Maske zu tragen. Sie veröffentlichte Auszüge aus Tagebüchern von Impf- und Massnahmengegnerinnen im Zeitpunkt-Verlag des «systemkritischen» Verlegers Christoph Pfluger. Danach, so erzählt sie in einem Interview auf dessen Website, habe sie das Bedürfnis gehabt, «eigene Räume zu schaffen, in denen wir uns frei bewegen können, ohne uns dem Masken- und Impfzwang zu unterwerfen».

Zusammen mit Pfluger gründete sie Mitte 2021 die Graswurzle-Organisation. Die Kooperation mit Pfluger und dessen Online-Angeboten bleibt eng. So ist Würgler immer wieder im massnahmenkritischen Videoangebot von Pflugers «Transition TV» zu sehen. Weder Würgler noch Pfluger waren trotz mehrfacher Anfrage für eine Stellungnahme zu erreichen.

Kochen, wandern und sich bewaffnen

Die Zahl der Menschen, die für solche Inhalte empfänglich sind, ist in der Schweiz im Zuge der Corona-Pandemie zurückgegangen, wie eine neue Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften ZHAW ergeben hat. Der Anteil der Bevölkerung, «die sich eher zustimmend zur Verschwörungsmentalität äussert», sei im Vergleich zur Zeit vor Corona von 35,9 auf 27,1 Prozent gesunken, schreibt Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention. Allerdings finden die Forscher auch Hinweise auf eine zunehmende Radikalisierung jener Schweizerinnen und Schweizer, die weiterhin von umstrittenen Erzählungen überzeugt sind.

Eine Radikalisierung ist auch bei den Graswurzle-Angeboten zu beobachten: Sie gehen weit über Kochkurse und Waldwanderungen hinaus. Es gibt Vorträge, die vor der «Neuen Weltordnung» warnen, die angeblich alle Menschen einer Herrschaft undurchsichtiger internationaler Eliten unterwerfen will, die durch eine gezielt herbeigeführte weltweite Krise eingeleitet werden soll. Wer diese unbeschadet überstehen wolle, so heisst es, müsse sich durch Selbstversorgung, Notvorräte und Bewaffnung darauf vorbereiten

Mehrere private Schulen, gegründet von Massnahmengegnern, suchen auf der Graswurzle-Website nach Schülerinnen und Schülern. Dabei sind die Bildungsmethoden des Russen Michail Schetinin verbreitet, die auch in völkischen und Querdenker-Kreisen in Deutschland beliebt sind.

Relinfo-Mitarbeiterin Julia Sulzmann besuchte mit einer Kollegin einen Vortrag zur «Germanischen Neuen Medizin» in Zürich, der von Graswurzle angeboten wurde – im Zuge eines «alternativen Gesundheitssystems». Dabei handelt es sich um eine Methode, die alle Krankheiten als Ergebnis traumatischer Erlebnisse betrachtet. Die Behandlung selbst von Krebs soll durch die Klärung solcher Traumata erfolgen. Der Erfinder dieses Ansatzes, der deutsche Arzt Ryke Geerd Hamer, sei bekannt als antisemitisch, homophob und rassistisch, schreiben Sulzmann und ihre Kollegin. Hamer wurde mehrfach zu Haftstrafen verurteilt, weil Patienten in seiner Obhut gestorben waren.

Unpolitisch und weltoffen, aber nur nach aussen

Graswurzle und Urig betonen ihre friedlichen Absichten, man habe den Kampf gegen das «alte System» aufgegeben. Von politischem Engagement ist zumindest öffentlich keine Rede. Es gehe um den «Aufbruch in die Zukunft», heisst es bei Graswurzle. Bei Urig klingt das so: «Wir verlagern unsere Zeit, Aufmerksamkeit und Energie weg von den Strömungen der Angst, des Leides, der Wut, des Hasses, der Rache, der Bestrafung und der Zerstörung der alten hin zum Aufbau der neuen Welt.»

«Sie wollen sich durch das Aufbauen einer Parallelgesellschaft dem Diskurs entziehen», meint dazu Julia Sulzmann. «Das sieht anfangs wie eine Entpolitisierung aus. Aber es wird offen gesagt, dass durch die Parallelgesellschaft das alte System obsolet wird. Das hat dann schon eine politische Dimension.»

Graswurzle will demnächst eine eigene Zeitschrift mit dem Titel «Die Freien» herausgeben, unter der Leitung von Prisca Würgler. Als Autorinnen und Autoren werden mehrere prominente Personen aus der Corona-kritischen Szene aufgeführt. Michael Bubendorf etwa, früher Sprecher der Freunde der Verfassung, jener Organisation, die durch ihr rapides Wachstum unter Massnahmengegnern zwei Referenden gegen das Covid-19-Gesetz zustande brachte. Nachdem Bubendorf mehrfach den Aufbau einer Parallelgesellschaft gefordert hatte, wurde er Ende 2021 aus dem Vorstand der Verfassungsfreunde ausgeschlossen.

Auch der Satiriker und Komiker Andreas Thiel, der seit Beginn der Corona-Pandemie zu den bekanntesten Sprechern der Massnahmenkritiker gehörte, wird als Autor der neuen Zeitschrift geführt, ebenso Daniele Ganser, ein Basler Historiker, der mit Verschwörungserzählungen etwa zum 11. September 2001 eine Gefolgschaft im deutschsprachigen Raum aufgebaut hat. Sowohl Graswurzle als auch Urig geben zwar an, für alle Interessierten offen zu sein. Aber beide Gruppen prüfen genau, wen sie in ihre Kreise aufnehmen. Grosse Teile der Websites beider Gruppen sind nur Mitgliedern zugänglich, Zeit und Ort von Veranstaltungen werden oft nur kurzfristig und registrierten Teilnehmern bekannt gegeben.

Im geschützten Umfeld soll auch ein Austausch möglich sein, der Angebote wie die Betreuung von Kindern oder Seniorinnen oder die Vermittlung von Unterkünften beinhaltet. Den Aufbau eines ähnlichen Online-Marktplatzes haben auch die Freunde der Verfassung ins Auge gefasst. «Ein Ziel ist es, dass unsere Kreise ihre Dienstleistungen anbieten können», sagte Mark Steiner, Vorstandsmitglied der Freunde der Verfassung, in einer Onlinediskussion. «Ich möchte das Geld nicht in die alte Gesellschaft investieren.»
(https://www.derbund.ch/massnahmen-gegner-traeumen-von-einer-parallel-welt-593643359794)


+++HISTORY
Offene Sympathien
Als Nazis die Ostschweiz aufmischen wollten
Als in den dreissiger Jahren die Nazis in Deutschland lautstark ihre Ideologie verbreiteten, wurden auch viele in der Schweiz hellhörig. Die einen fürchteten, bald sei Hitler ihr Landesherr, andere hofften es.
https://www.dieostschweiz.ch/artikel/als-nazis-die-ostschweiz-aufmischen-wollten-wo8Vjp1