Medienspiegel 30. Juli 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++LUZERN
Psychiater und Luzerner Historiker ordnen ein – Rotes Kreuz warnt: Feuerwerk kann Flüchtlinge traumatisieren
Feuerwerke können für Flüchtlinge eine Belastung darstellen. Ein Fakt, der nicht in allen Fachkreisen thematisiert wird. Das Rote Kreuz sieht die 1.-August-Tradition kritisch.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/rotes-kreuz-warnt-feuerwerk-kann-fluechtlinge-traumatisieren-2419497/


+++ZÜRICH
Viele ukrainische Flüchtlinge ziehen bei Gastfamilien aus
Gemeinden in der Region Zürich-Schaffhausen wie Horgen suchen dringend Wohnungen für ukrainische Flüchtlinge. Preisgünstige, langfristige Unterkünfte zu finden, ist allerdings schwierig.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/viele-ukrainische-fluechtlinge-ziehen-bei-gastfamilien-aus?id=12230683


+++SCHWEIZ
La Suisse s’apprête à expulser sans pitié une femme enceinte avec son mari et ses deux enfants, dont l’un est autiste !
Une femme enceinte de huit mois est menacée d’expulsion vers la Croatie, bien que son médecin de l’hôpital de Fribourg lui ait dit qu’elle ne pouvait pas prendre l’avion dans cet état.
https://pangeakolektif.org/fr/actualites/la-suisse-sapprete-expulser-sans-pitie-une-femme-enceinte-avec-son-mari-et-ses-deux

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pangeakolektif.org 30.07.2022

Die Schweiz bereitet sich darauf vor, eine schwangere Frau mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern, von denen eines autistisch ist, gnadenlos abzuschieben!

Einer Frau, die im achten Monat schwanger ist, droht die Abschiebung nach Kroatien, obwohl ihr Arzt im Krankenhaus in Freiburg ihr gesagt hat, dass sie in diesem Zustand nicht ins Flugzeug steigen könne.

Die Informationen, die wir in unserem Gespräch mit ihnen und aus den von ihnen vorgelegten Dokumenten erhielten, zeigen die zutiefst besorgniserregende Situation der Familie. Die Familie aus Mardin(Türkei) musste aus politischen Gründen aus dem Land fliehen. Die Flucht der Familie war sehr schwierig. Eine schwangere Frau und ihre Kinder mussten tagelang ungeschützt laufen, sie mussten Hunger und eisige Temperaturen erleiden und blieben ohne Nahrung und Wasser auf den Straßen zurück. Auf dem Balkan war die Familie gewaltsamen Abschiebungen ausgesetzt, was die Beobachtungen vieler unabhängiger NGOs bestätigte. In Kroatien wurde die schwangere Mutter wiederholt misshandelt, ebenso wie der Vater. Die Kinder wurden Zeugen der Gewalt. Laut der Familie hat sich das Verhalten ihres autistischen Kindes Demhat seit ihrer Flucht und vor allem nach den Gewalttätigkeiten in Kroatien erheblich verschlechtert.

Ungeachtet der Bedrohungen, denen die Familie sowohl in Kroatien als auch in der Türkei ausgesetzt ist, und ihrer Gefährdung durch Abschiebung weigert sich die Schweiz, ihren Asylantrag in der Schweiz zu prüfen, und versucht, das Dublin-Abkommen* anzuwenden, um sie nach Kroatien zurückzuschicken. Obwohl die Mutter Dilan Adıyaman und der Vater Sedat Adıyaman erklärt haben, dass sie in Kroatien Gewalt erlitten haben, dass Kroatien aufgrund der Beispiele für Zwangsrückführungen in die Türkei kein sicheres Land ist und dass sie diese nicht akzeptieren werden, ignorieren die Behörden diese Einwände der Familie.

Am 25. März 2022 beantragte die Familie Adıyaman Asyl in der Schweiz und befindet sich derzeit im Bundesasylzentrum in Guglera (Giffers) im Kanton Freiburg**. Dieses Asylzentrum, das von der Stadt abgeschnitten ist und von außen einem Gefängnis ähnelt, wurde in der Presse wiederholt wegen fehlender menschlicher Lebensbedingungen erwähnt und war Gegenstand zahlreicher Beschwerden von Asylbewerbern. Zwei Kinder, darunter ein autistisches Kind, eine schwangere Mutter und ein Vater leben mit mehreren anderen Familien in einem Raum, ohne über einen eigenen Privatbereich zu verfügen. Zusammen mit anderen Familien, die von Abschiebung bedroht sind, verbringen sie ihre Tage in der Angst, mitten in der Nacht oder in den frühen Morgenstunden gewaltsam abgeführt zu werden.

Ihrem Kind Demhat, das an Autismus leidet, wird keine besondere Fürsorge zuteil, und das in einem Umfeld, das für die Schwierigkeiten, mit denen es konfrontiert ist, äußerst ungünstig ist. Eine Praxis, die den Status von Menschen mit Autismus und das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das die Schweiz 2014 ratifiziert hat, nicht respektiert. Demhats Gesundheit verschlechtert sich unter diesen Bedingungen von Tag zu Tag.

Die Familie Adıyaman macht sich unter den Bedingungen des Lagers, in dem sie sich befindet, vor allem Sorgen um ihren Sohn Demhat, und vor allem befürchtet sie einen Abschiebungsversuch, der ihre Schwangerschaft gefährden könnte. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Schweiz für die unmenschliche Behandlung einer schwangeren Flüchtlingsfrau verantwortlich ist.

Am 27. Dezember 2017 wurde eine im achten Monat schwangere Frau in einem Privatflugzeug nach Italien zurückgeschickt, obwohl ihr die Ärzte eines Zürcher Krankenhauses im November gesagt hatten, dass sie in ihrem Zustand nicht fliegen könne. Um vier Uhr morgens trafen Zürcher Polizisten in der Notunterkunft ein und führten sie und ihre einjährige Tochter ab. Die Mutter und das Kind wurden gemäß dem Dublin-Abkommen nach Italien geschickt. Die Tatsache, dass der Vater des Kindes, der Ehemann der Frau und ihre Schwester in Zürich lebten, änderte nichts an der Entscheidung der Schweiz, die um jeden Preis so viele Asylsuchende wie möglich abschieben wollte. Die Frau fand sich also mit ihrer einjährigen Tochter auf den Straßen Roms wieder, allein, ohne Unterstützung, ohne Familie, ohne Geld … in großer Not, und musste sich um ein Kleinkind und ein Neugeborenes kümmern.

Kurz zuvor hatte es einen ähnlichen Vorfall gegeben, bei dem ein Zollbeamter der fahrlässigen Körperverletzung, des versuchten Schwangerschaftsabbruchs und wiederholter Verstöße gegen die Dienstvorschriften für schuldig befunden wurde. Während des Transports einer im siebten Monat schwangeren syrischen Flüchtlingsfrau zur Grenze ignorierte der Zollbeamte die Beschwerden der Frau über Schmerzen und Blutungen und überhörte ihre Bitten um Hilfe. Ihr Mann bat mehrmals um medizinische Versorgung, doch der Zollbeamte unternahm nichts. Stattdessen setzte er das Paar in einen Konvoi nach Domodossola, wo die Frau ein totes Baby gebar.
Werden die Schweizer Behörden aus diesen tragischen Ereignissen keine Lehren ziehen?

Angesichts solch tragischer Beispiele in der jüngeren Geschichte bestehen die Behörden auf einer Rückführungsentscheidung mit ähnlichen Folgen. Vor vier Tagen wurde die Familie von der SPOMI (Amt für Bevölkerung und Migranten) zu einem Gespräch vorgeladen. Man teilte ihnen mit, dass ihr Asylantrag abgelehnt worden sei, dass sie das Land verlassen müssten, dass sie gemäß dem Dublin-Abkommen nach Kroatien zurückkehren müssten, und drohte ihnen mit einer Zwangsabschiebung.

Diese Entscheidung, die uns so absurd und unverhältnismäßig erscheint, ist eine Schande für die Menschlichkeit der Schweiz. Wir fordern die Schweiz auf, ihr Engagement für die Umsetzung des Dublin-Abkommens unter Beweis zu stellen und zuzugeben, dass sie nicht bereit ist, das Risiko einzugehen, das Leben einer Frau und ihres ungeborenen Kindes zu gefährden. Es ist klar, dass die Grundrechte der Menschen und Kinder, die in diesem Fall verletzt wurden, angesichts einer immer drakonischeren Asylpolitik, die sich gegen die Verletzlichsten richtet, von geringer Bedeutung sind.

Die Familie fordert, dass die Verletzlichkeit ihres autistischen Kindes berücksichtigt wird und dass die Verletzlichkeit ihres Kindes und ihres zukünftigen Kindes berücksichtigt wird, indem eine geeignete Umgebung für ihr autistisches Kind bereitgestellt wird und der Asylantrag der Familie in der Schweiz bearbeitet wird, wie es die Dublin-Verordnung erlaubt, damit Demhat, ihr zukünftiges Baby und sie selbst an einem geeigneten Ort leben können, an dem sie nicht wie in Guglera ständiger Angst und Unterdrückung ausgesetzt sind.

Die Forderungen dieser Familie, die ihr Land aufgrund der politischen Unterdrückung in ihrem Land verlassen musste und die aufgrund der fehlenden Lebensbedingungen aufgrund der politischen Unterdrückung in ihrem Land ihr Land verlassen musste und die die Schweiz erreicht und in der Schweiz Asyl beantragt hat, wobei sie verschiedenen Misshandlungen, darunter Gewalt, ausgesetzt war und auf der Migrationsroute, die sie mit ihren Kindern genommen hat, um ein sicheres Leben zu haben, gestorben ist, sind absolut humanitäre Forderungen.

Sie rufen alle sensiblen Organisationen dazu auf, sie bei der Erfüllung dieser humanitären Forderungen zu unterstützen.

Die Migrantenselbstorganisation PangeaKolektif und das Kollektiv Droit de Rester verfolgen den Prozess der Familie und laden andere Migrantenselbstorganisationen und Solidaritätsorganisationen dazu ein, der Familie zur Seite zu stehen.


PangeaKolektif
29.07.2022

*Das DUBLIN-Abkommen legt fest, welches Land für Ihr Asylverfahren zuständig ist. Wenn die Dokumente, die Sie haben, wie ein Visum oder Ihre ersten Fingerabdrücke, nicht zu dem Land gehören, in dem Sie Asyl beantragen möchten, können Sie in das Land zurückgeschickt werden, in dem Sie die Dokumente und Fingerabdrücke haben.

** Ausführliche Informationen über das Asylzentrum in La Gouglera (basierend auf Beobachtungen von Asylbewerbern) finden Sie unter.
  https://asile.ch/2018/09/18/centre-federal-de-chevrilles-asile-et-barbeles/

(Original auf französisch: https://pangeakolektif.org/fr/actualites/la-suisse-sapprete-expulser-sans-pitie-une-femme-enceinte-avec-son-mari-et-ses-deux)



Rechts und links für grosszügige Rückkehrhilfe, aber erst, wenn die Ukraine sicher ist
Ukraine-Flüchtlinge, die nach Hause zurückkehren, bekommen 500 Franken mit auf den Weg. In Zürich fordern zwei SVP-Politiker, diese Hilfe aufzustocken. Für eine grosszügige Rückkehrhilfe sind auch der SVP-Präsident Andreas Glarner und der SP-Co-Präsident Stefan Dietrich, aber erst, wenn eine Rückkehr zumutbar ist.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/ukrainefluechtlinge-rechts-und-links-fuer-grosszuegige-rueckkehrhilfe-wenn-der-krieg-vorbei-ist-ld.2323022


+++SPORT 1
FC Basel-Fans reisen nun doch nicht nach Luzern
Vergangene Woche haben FCB-Fans angekündigt, trotz des verschobenen Matchs nach Luzern zu reisen. Nun teilt die Fankurve mit, dass es sich dabei um einen Scherz gehandelt habe. Man habe mit dieser Aktion auf den restriktiven Umgang mit Fussballfans hinweisen wollen, so die Muttenzerkurve.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/fc-basel-fans-reisen-nun-doch-nicht-nach-luzern?id=12230662
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/wegen-fahrzeugbrand-20-kilometer-stau-vor-dem-gotthard?id=12230692 (ab 01:56)
-> https://www.muttenzerkurve.ch/
-> https://telebasel.ch/2022/07/30/muttenzerkurve-die-finte-ist-gelungen
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/fussball-nur-ein-witz-die-basler-fans-wollen-doch-nicht-an-die-bundesfeier-in-luzern-kommen-ld.2323253


+++ANTITERRORSTAAT
EU-Gericht kassiert Terror-Gesetz: Keller-Sutter muss zurück auf Feld 1
Im Kampf gegen Terror und Schwerstkriminalität werden weltweit die Daten von Flugpassagieren ausgewertet. Nun hat auch Justizministerin Karin Keller-Sutter ein entsprechendes Gesetz vorgelegt. Doch genau in dem Moment schreiten die EU-Richter ein.
https://www.blick.ch/politik/eu-gericht-kassiert-terror-gesetz-keller-sutter-muss-zurueck-auf-feld-1-id17723728.html
-> https://www.blick.ch/politik/wegen-eu-gericht-schweizer-flugpassagierdaten-gesetz-muss-in-2-runde-id17734320.html


+++RASSISMUS
derbund.ch 30.07.2022

Philipp Fankhauser im Interview: «Über Baumwollfelder zu singen, wäre respektlos»

Der Berner Blueser spricht über seinen Umgang mit kultureller Aneignung und sagt, warum er die Rolling Stones auch schon problematisch fand.

Martin Burkhalter

Philipp Fankhauser, hatten Sie jemals ein ungutes Gefühl dabei, den Blues zu spielen?

Aber natürlich. Die Frage stellt sich mir seit mehr als 40 Jahren. Ich glaube, ich wurde schon nach meinem zweiten Konzert 1989 von jemandem gefragt, ob ein Weisser den Blues singen dürfe.

Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Ich weiss nicht mehr, was ich damals geantwortet habe. Heute, nach jahrzehntelangen Erfahrungen und zahlreichen Begegnungen mit den Pionieren dieser Musik, weiss ich, dass Bluesmusik ein afroamerikanisches Kulturgut ist, das ich «benutzen» darf, um meine eigenen Geschichten zu erzählen. Ich singe weder über Baumwollfelder noch darüber, wie schlecht es mir in den Südstaaten ergeht. Weil das nicht stimmen würde und tatsächlich komplett respektlos wäre. Ich singe über meine Zeit und über mein Leben, über meinen Blues. Wenn mich also jemand fragen würde, ob ich Chicago-Blues spielen darf, würde ich sagen, nein, nicht wirklich, denn ich bin ja nicht aus Chicago.

Mit Verlaub, werden die Geschichten des traditionellen Blues dadurch nicht auch trivialisiert?

Doch, das hat sicher etwas. Aber sehen Sie, ich wusste schon als Zwölfjähriger, dass ich Bluessänger werden wollte. Für mich war immer klar, dass ich, wenn ich die alten Bluessongs mit den alten Geschichten nachsänge, nur etwas nachahmen würde, was nicht mir gehört. Ich muss und will meine eigenen Geschichten erzählen. Dabei war ich selbst relativ militant in jungen Jahren. Wenn mich an Konzerten Leute fragten, ob ich «Sweet Home Chicago» von den Blues Brothers spielen könne, ging ich an die Decke und belehrte sie, dass der Song von Robert Johnson stamme. Heute bin ich milder. Aber ja, es geht darum, den Pionieren Respekt und Anerkennung zu zollen – und zwar immer.

Von den Rolling Stones gibt es die berühmte Geschichte, dass sie 1965 erst bereit waren, in der amerikanischen Fernsehsendung «Shindig!» zu spielen, wenn der Bluesmusiker Howlin’ Wolf und Urheber vieler Songs auch auftreten dürfte, und ihn damit erst ins Rampenlicht rückten. Haben Sie Ähnliches getan?

Gerade als ich meine ersten Platten veröffentlichte, habe ich an meinen Konzerten dem Publikum jeweils gesagt, sie sollen nicht meine Alben kaufen, sondern die Platten von Albert King oder Freddy King. Das hat meine Plattenfirma natürlich so gar nicht lustig gefunden. Aber ich hatte einfach einen unglaublichen Respekt vor den wirklichen Vätern und Müttern dieser Musik. Deshalb war mir wichtig, dass sie ihre Anerkennung erhalten.

Aber reicht das? Schliesslich geht es um Geld.

Natürlich geht es auch darum. Man darf nicht vergessen, dass Musikerinnen und Musiker wie Margie Evans und Johnny Copeland, von welchen ich lernen und mit denen ich zusammenarbeiten durfte, letztendlich auch dank mir Tourneen in der Schweiz spielen konnten und dafür relativ viel Geld erhielten. Und natürlich bekommen sie und ihre Nachkommen für Songs, die ich auf meinen Alben verwende, immer auch entsprechende Tantiemen.

Cultural Appropriation wird oft missverstanden. Es bedeutet ja nicht, dass man als Kulturschaffender keine fremden Einflüsse aufnehmen darf. Sondern dass es verwerflich ist, mit kulturellen Errungenschaften einer benachteiligten Minderheit eine Menge Geld zu machen. Wie garantieren Sie Fairness?

Gegenfrage: Wie würde man es nennen, wenn der Konsument die Musik dieser Minderheiten gratis oder für ein paar wenige Rappen streamt, herunterlädt, einfach so konsumiert? Financial income appropriation? Intellectual property theft? Wenn für den Musikkonsum Geld bezahlt wird, bekommen die Autoren, die Urheber und Erfinder der Musik auch das Geld, welches ihnen als Inhaber ihres Eigentums von Gesetz her zusteht.

Wann wurden Sie zum ersten Mal mit dem Begriff der kulturellen Aneignung konfrontiert?

Schon sehr früh in meiner Karriere. Ich erinnere mich an eine bestimmte Episode. Wir waren damals mit Margie Evans auf Europa-Tournee. Und erhielten danach eine Anfrage, ein Konzert in Little Rock, Arkansas, zu spielen. Margie Evans war geradezu empört. Sie meinte, dass es in Arkansas Hunderte von guten schwarzen traditionellen Bluesmusikern gebe und sie sich grad frage, wieso da jetzt eine weisse Band aus der Schweiz eingeflogen werden soll. Und da wurde mir die Ungerechtigkeit und Absurdität in diesem Geschäft vielleicht zum ersten Mal bewusst. Gerade Margie Evans hat mich immer wieder sensibilisiert.

Dann sind Sie nicht nach Little Rock geflogen?

Nein, natürlich nicht.

Was raten Sie jungen Musikern, wie zum Beispiel dem Blueser Lucky Wüthrich, den Sie ja unter Vertrag haben?

Lucky ist wirklich das Beispiel eines authentischen jungen Menschen, der nicht etwas zu sein versucht, was er nicht ist. Seine Themen, seine Songs kommen aus seiner eigenen Lebenswelt. Er ist einfach ein junger Schweizer, dessen Seele so ist und dessen Blut so fliesst, dass er den Blues spielen muss. Er macht niemandem etwas vor.

Es geht um Authentizität.

Ja. Authentizität ist das Wichtigste. Das Tolle am Blues ist ja, dass all diese Urväter und Urmütter auch nur ihre eigenen, persönlichen Geschichten erzählt haben. Wenn ich dann Mick Jagger irgendwelchen romantischen Südstaaten-Blues singen höre, passt das nicht.

Sie finden die Stones problematisch?

In den Anfängen waren sie es wohl. Aber sie waren jung und waren so begeistert von dieser Musik, dass sie sie einfach spielen mussten und sich wohl nicht allzu viele Gedanken dazu machten. Es ging mir ja ähnlich.

Wie meinen Sie das?

Ich habe am Anfang meiner Karriere einen auf Amerikaner gemacht, immer Sonnenbrille getragen und zum Beispiel im Bierhübeli mit den Leuten nur Englisch gesprochen. Das ist natürlich im Nachhinein wahnsinnig peinlich. Aber ich wusste es damals einfach nicht besser. Ich wollte einfach so unglaublich gerne wie eines dieser Originale sein. Aber irgendwann musste ich mir eingestehen, dass ich halt «nur» der Fankhauser aus Trub bin. Da führt nichts daran vorbei und das ist auch gut so.

Finden Sie es richtig, dass das Konzert in der Brasserie Lorraine abgebrochen wurde?

Nein. Aber ich kenne auch nicht alle Hintergründe. Ich weiss zum Beispiel nicht, ob sie Songs von Bob Marley oder Peter Tosh covern und diese dann auch richtig deklarieren, was ich dann eben sehr wichtig fände. Aber ich bin sicher froh über die Diskussion, die daraus entstanden ist, weil es ein Thema ist, das mich schon mein ganzes Leben lang umtreibt. Wunder nähme mich in dem Zusammenhang auch, ob das Tragen von Dreadlocks eine Verbeugung vor der Rastafari-Religion sein soll? Dann täten sich da ganz viele neue Fragen auf. Ich befürchte aber, dass nächste Woche schon das nächste Thema wartet und die Aufregung verpufft.

Denken Sie das wirklich?

Ich bin ganz ehrlich. Problematisch ist doch vor allem, dass die ganz grosse Masse sich wenig für die Künstlerinnen und Künstler interessiert. Die meisten geben ja auch kein Geld mehr für Musik aus und foutieren sich deshalb wohl auch um das Thema kulturelle Aneignung. Vielleicht müssten die Konsumentinnen und Konsumenten einmal darüber nachdenken, wie sie den Musikerinnen und Musikern mehr Anerkennungen zollen – nämlich dadurch, dass sie für Musik auch bezahlen.
(https://www.derbund.ch/ueber-baumwollfelder-zu-singen-waere-respektlos-476976133061)
-> https://www.watson.ch/!117274857


+++RECHTSPOPULISMUS
Vorbild USA: Die Junge SVP kämpft gegen Wokeness – funktioniert das in der Schweiz?
Eine kleine linksalternative Szenebeiz gerät wegen eines abgebrochenen Reggaekonzerts in einen Shitstorm. Weshalb und lässt sich mit dem Kampf gegen Wokeness in der Schweiz Wählerinnen und Wähler gewinnen?
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/vorbild-usa-die-junge-svp-kaempft-gegen-wokeness-funktioniert-das-in-der-schweiz-ld.2322833


+++SPORT
Basler Zeitung 30.07.2022

Vorfälle nach dem Luzern-Spiel: Warum wurde ein Basler Fan so schwer am Auge verletzt?

Nach dem letzten FCB-Spiel in Luzern wurde ein Basler Fan schwer verletzt. Er äussert sich hier erstmals zu einem Abend der widersprüchlichen Darstellungen. Eine Aufarbeitung.

Tilman Pauls

Am Sonntag hätte der FC Basel beim FC Luzern spielen sollen. «Hätte», denn die Partie ist nicht bewilligt. Am Sonntag findet in Luzern eine Bundesfeier statt, und die Polizei teilt mit: «Es ist für die Polizei nicht möglich, die Sicherheit von gleich zwei grösseren Ereignissen rund um den Bahnhof Luzern zu garantieren.»

Ein Teil der FCB-Fans will sich davon aber nicht abhalten lassen. Am Montag teilte die Muttenzerkurve mit, dass man trotzdem anreisen werde. Wenn schon nicht zum Auswärtsspiel, dann halt zur Feier. Denn für die Fans ist die Spielverschiebung «in vielerlei Hinsicht absurd».

Doch man muss die Nichtbewilligung in einem grösseren Rahmen betrachten: Nach dem letzten FCB-Spiel in Luzern kommt es am 30. Januar 2022 zwischen den Fans und der Polizei zu «Scharmützeln», so heisst das ja dann immer. Die Polizei setzt Gummischrot ein, die Fans beschädigen Busse, es kommt zu Übergriffen.

Bis heute ist nicht geklärt, was passiert ist. Die Polizei spricht davon, dass die Fans Pyrofackeln sowie Böller geworfen hätten und eine Polizeikette gewaltsam durchbrechen wollten. Die Fans widersprechen dem und sagen, der Gummischroteinsatz der Polizei sei der Auslöser gewesen.

Klar ist inzwischen: Ein Basler Fan wurde an diesem Abend schwer am Auge verletzt. Die «Basler Zeitung» hat in den vergangenen Wochen mit ihm, mehreren Matchbesuchern, Involvierten sowie mit der Luzerner Polizei gesprochen und liefert den Versuch einer Aufarbeitung.

1) Die Vorgeschichte

Man kann unmöglich am 30. Januar 2022 anfangen mit dieser Geschichte, man muss weiter zurückgehen. Am besten geht man sogar mehr als zehn Jahre zurück, um alles einordnen zu können, zumindest ein Stück weit.

Im Juli 2011 wird die Swissporarena eröffnet. Doch fast so lange wie das Stadion gibt es Beschwerden von Auswärtsfans, die sich über den Gästesektor, den Einlassbereich oder das Vorgehen der Polizei sowie des Sicherheitsdienstes beklagen.

Schon ein halbes Jahr nach der Eröffnung protestieren FCZ- und YB-Fans gegen die schlechte Sicht innerhalb des Sektors sowie den engen Einlass. Beide Fangruppen kaufen sich Tickets für den Bereich nebenan, wo sonst die Heimfans sitzen.
Am 4. Februar 2012, da ist die Arena in Luzern erst seit ein paar Monaten offen, boykottieren die FCZ-Fans den Gästesektor.

Trotz baulicher Anpassungen ändert sich an der generellen Kritik nicht viel. Im April 2018 schreibt die Zürcher Südkurve: «Seit zu vielen Jahren sind die Auswärtsspiele in Luzern von einer Polizeistrategie geprägt, die auf Wasserwerfer, Schrot und Pfeffer setzt.»

2019 protestieren die St. Galler Fans und schreiben: «Die Auswärtsspiele in Luzern sind nicht nur aufgrund der Rivalität zwischen den Fans etwas Spezielles, sondern auch aufgrund des unzumutbaren Gästesektors.» Sie vergleichen sich mit Tieren, die in einem Käfig gehalten werden.

Auch bei FCB-Spielen gibt es Zwischenfälle. Im Dezember 2019 kommt es beim Einlass zu Übergriffen. Es gibt Handgemenge, Provokationen, Sicherheitsdienst und Fans setzen Pfefferspray ein, die Polizei interveniert mit Gummischrot und einem Wasserwerfer. Im Innern zerstören Fans danach die sanitären Anlagen.

Dann der November 2021: Am Rathausquai findet eine Schlägerei zwischen 20 Personen beider Fanlager statt, und aus dem Fanmarsch fliegen Steine auf ein Auto der Polizei. Dabei gehen zwei Scheiben zu Bruch.

2) Der Fanmarsch

Man muss nicht verstehen, warum die FCB-Fans lieber zum Stadion laufen statt mit Bussen zu fahren, wie es mittlerweile alle anderen Fans in Luzern tun (müssen). «Es gehört einfach zum Matchtag dazu», erklärt ein Fan, «in der Schweiz gibt es wohl keinen anderen Club, für den der Fanmarsch so eine Tradition hat.»

Der Weg führt die Basler an einer Stelle direkt am Fanlokal der FCL-Fans vorbei, der Zone 5. Im Dezember 2014 kommt es dort zu «kleinen Scharmützeln» – schon wieder dieses Wort. In den meisten Fällen verlaufen die Märsche jedoch friedlich.

Vor ein paar Jahren sagte der Luzerner Polizeikommandant Adi Achermann: «Die Basler laufen extrem kompakt und zügig und benötigen deshalb kaum länger Zeit als die Busse. Sicherheitstechnisch ist das nicht schlechter.» Und auch der FC Luzern erklärt auf Anfrage, dass sich der FCB-Fanmarsch in den letzten Jahren grundsätzlich bewährt habe.

Vor dem 30. Januar erteilt die Polizei keine Bewilligung für den Fanmarsch, unter anderem mit Verweis auf die Steinwürfe vom November 2021. Die Basler sollen mit den Bussen fahren. Darum ruft die Muttenzerkurve auf, individuell anzureisen. Im Extrazug sitzen nur 148 Personen, der Rest kommt mit Regelzügen oder Autos.

3) Der Abend

Der FCB gewinnt 3:0. «Es kam zu keinen nennenswerten Vorfällen zwischen den Fans des FC Basel 1893 sowie dem Sicherheitspersonal der Swissporarena», teilt der FCL mit. Und auch die Fans, mit denen die BaZ gesprochen hat, bestätigen, dass es bis zum Abpfiff keine Anzeichen gibt für das, was danach passieren wird.

Vor dem Stadion stehen fünf Extrabusse für die 762 Personen aus dem Gästeblock. Damit die Fans nicht in Richtung Bahnhof laufen, bildet die Polizei eine Kette am Ende des schmalen Wegs gleich neben den beiden Hochhäusern am Stadion.

Die Ansage ist klar: alle in die Busse! Doch was ist mit denen, die mit dem Auto da sind? Es macht ja nicht viel Sinn, dass sie erst zum Bahnhof fahren und dann wieder zurück zum Stadion laufen. Aus genau diesem Grund gibt es Diskussionen.

Die Polizei sagt dazu: «Einige Basler Fans beabsichtigten, trotz Verbots zum Bahnhof zu marschieren. Wir haben mittels Durchsagen mehrfach mitgeteilt, dass jene Fans, die mit dem Zug angereist waren, zuerst in die Busse steigen sollen, bevor für die Autofahrenden die Sperre geöffnet wird.»

Es gibt Videos, die genau das zeigen: genervte Fans, die zu den Autos wollen, und Polizisten, die ihre Anweisungen umsetzen. Trotzdem dürfen einige Autofahrer die Kette nach und nach passieren. Die Polizei bestätigt diesen Umstand: «Einzelnen Automobilisten wurde der Durchgang im Übrigen dennoch gewährt.»

Einige Personen laufen hinter der Kette links den Zihlmattweg entlang, wo noch eine zweite Polizeikette positioniert ist. Irgendwann öffnet sich die erste Polizeikette, gibt die Strasse nach links frei und versperrt sie nach rechts. Just in diesem Moment wird die Atmosphäre gereizt.

Die Videos, die man dazu im Internet findet, zeigen keine Würfe von Fackeln oder Böllern. Auf der Strasse liegen keine Gegenstände. Ein gewaltsames Durchbrechen der Kette ist auf den Ausschnitten auch nicht zu erkennen. Laut der Polizei sind die Beamten «bespuckt», «verbal attackiert» und «stark bedrängt» worden.

4) Das Opfer

Sandro sitzt in einem Café im Gundeli und bestellt ein grosses Mineral. Er hat lange mit sich gerungen, ob er seine Geschichte erzählen soll. Soll er wirklich den Weg über die Medien und die Öffentlichkeit gehen? Irgendwann hat er sich gedacht: «Ich mache es!»

Es geht ihm nicht nur um sein eigenes Schicksal, sondern auch darum, dass eine Diskussion um das Thema entsteht. Denn Sandro steht in einer viel zu langen Reihe von Menschen, die durch einen Gummischroteinsatz schwer verletzt worden sind.

Der Weg von Sandro als Fan ist der altbekannte: aufgewachsen in der Nähe der Stadt, immer schon fasziniert vom FC Basel. Mit dem Vater zum ersten Mal ins Stadion, die erste Dauerkarte, da spielt der Club auf der Schützenmatte. Muttenzerkurve, klar, Sandro fährt zu fast jedem Spiel, er lotet auch die Grenzen aus.

2010 wird er mit einer Pyrofackel erwischt – zwei Jahre Stadionverbot. Den Gewinn des Titels gegen YB im Mai verfolgt er mit anderen, die auch nicht ins Stadion dürfen, in der Berner Innenstadt. Vor dem Spiel gegen Bayern München im Dezember erhält er einen Brief, darin steht, dass er die Schweiz nicht verlassen darf. Ausreiseverbot.

Inzwischen ist Sandro Mitte 30, beruflich mache er «was mit IT», sagt er, und ist vor kurzem zum zweiten Mal Vater geworden. Nicht zuletzt darum haben sich die Prioritäten verschoben. Mit dem älteren Kind war er gerade erst beim Testspiel gegen den Hamburger SV. Der altbekannte Weg…

«Ich war nicht immer ein Kind von Traurigkeit», sagt er. Es ist ihm wichtig, dass das hier steht. «Es soll am Ende nicht heissen: die armen Fans und die böse Polizei. So einfach ist es nicht. Aber am 30. Januar waren nicht die Basler Fans verantwortlich für die Eskalation.»

5) Die Schüsse

Es gibt vom Abend des 30. Januar einen rund achtminütigen Film, in dem alle kurzen Videoschnipsel in eine Reihenfolge gebracht wurden. Es ist ein Zeitstrahl voller verwackelter, dunkler Bilder – auch wenn sich nicht abschliessend überprüfen lässt, ob die Videos wirklich die angegebenen Zeitpunkte wiedergeben.

Auf dem Video ist es 18.51 Uhr, rund 30 Minuten nach Abpfiff, als Schüsse zu hören sind. Die Bilder werden noch verwackelter. Man sieht Polizisten, die sich postieren, und Personen, die auf der Strasse zurück zu den Bussen laufen. Ein Fan, der in einem der Busse wartet, sagt: «Als wir die Schüsse hörten, wurde es hektisch.»

Das Video zeigt eine Chronologie der Ereignisse – auch wenn grosse Sequenzen fehlen und sich nicht überprüfen lässt, ob die Bilder tatsächlich die angegebenen Zeitpunkte abbilden.
Video: zVg
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv445796h.mp4

In den Bussen, das berichten mehrere Fans, vermummen sich nun Personen, und es kommt zu Beschädigungen. Ausserdem soll es als Reaktion auf den Gummischroteinsatz weitere Aggressionen gegeben haben. «Da ist dann schon Zeugs in Richtung der Polizei geflogen», sagt einer. Nur: was für «Zeugs»?

Die Polizei schreibt, dass Videomaterial von geworfenen Böllern der Fans existiere, gefilmt von Anwohnenden. Ein mobiles Videoteam der Polizei filmt die Vorgänge zudem. Einsehen kann man die Bilder jedoch nicht: Die Polizei hat eine Strafanzeige gegen unbekannt eingereicht – und aus einem laufenden Verfahren können keine Videos herausgegeben werden.

Im Anschluss an diese Szenen passiert zudem das, was in den Tagen danach für Empörung sorgt: Eine Einzelperson geht mit erhobenen Händen auf die Polizeikette zu, die sich nun wieder postiert hat. Sie bleibt stehen, geht erneut ein paar Schritte, und wird aus wenigen Metern mit Gummischrot beschossen.

«Das Video zeigt eine Sequenz ganz am Ende der Vorfälle, nachdem zuvor die Polizistinnen und Polizisten (…) mehrfach angegriffen worden waren, die Polizeisperre teilweise durchbrochen und diese dann wieder von uns hergestellt worden war», teilt die Polizei zu der Szene mit.

6) Die Verletzung

Sandro fährt am 30. Januar mit vier anderen Personen im Auto nach Luzern. Sie parkieren in Stadionnähe, gehen dann in die Innenstadt, wie viele andere auch, und treffen vor dem Spiel wieder an der Arena ein.

Er ist einer von denen, die auf die Strasse gelangen, als die Polizeikette den Weg nach links freigibt. 18.50 Uhr. «Wir waren vielleicht 30 Personen auf der Strasse, die auf die zweite Polizeikette zugelaufen sind», sagt er. Sie seien – abgesehen von ihren Corona-Masken – nicht vermummt gewesen und seien nicht gerannt.

Gerade, als Sandro denkt, dass es erneut zu einer Diskussion kommen wird, schiesst die Polizei Gummischrot. «Ich kann mich nicht an eine Warnung erinnern, ich habe nichts gehört», sagt er, während die Polizei festhält: «Die Polizei hat mehrfach die Fans angewiesen, wie sie sich zu verhalten haben, bevor Zwangsmittel eingesetzt werden.» Der erforderliche Abstand sei eingehalten worden.

Sandro spürt, wie Blut über sein Gesicht läuft, er stolpert zurück. «Es ging alles sehr schnell, der Schuss, mein rechtes Auge, es war wie in Trance.» Seiner Erinnerung nach schiesst jetzt auch die erste Polizeikette auf die zurück stürmenden Fans.

Noch am Abend fährt Sandro in Luzern zur Notaufnahme, er will wissen, was mit seinem Auge ist. Keine Zeit verlieren. Am nächsten Morgen besucht er zum ersten Mal das Basler Augenspital und ahnt, dass es der erste von vielen Terminen ist. Die Diagnose: Aderhautruptur und traumatischer Orariss.

Die Netzhaut ist beschädigt, sie ist durch den Aufschlag gerissen. Wenn man sich das Auge wie das Zifferblatt einer Uhr vorstellt, dann am äusseren Rand entlang, von oben um zwölf bis unten um 5 Uhr. Es muss etwas getan werden, damit sie sich nicht weiter abtrennt und Sandro auf dem rechten Auge erblindet.

Anfang Februar der erste Eingriff mit einem Laser, es funktioniert nicht. Eine Woche später die erste Operation unter Vollnarkose, ein Band wird – vereinfacht gesagt – um den Augapfel gelegt, damit sich im Innern der Druck erhöht und die Netzhaut anlegt. Auch das erzielt nicht die gewünschte Wirkung. Ende Februar die zweite Operation, um die Netzhaut anzunähen, wieder Vollnarkose.

Sandro ist zwei Monate lang zu 100 Prozent und einen halben Monat lang zu 50 Prozent krankgeschrieben. Zu Hause liegt er in den Wochen nach der zweiten OP oft mit dem Gesicht nach unten über der Bettkante. So kann ein Gas, das man ihm ins Auge gefüllt hat, in Richtung Hinterkopf steigen und die Netzhaut andrücken.

Inzwischen arbeitet er wieder zu 100 Prozent. Aber auch ein halbes Jahr später hat er noch Probleme mit dem räumlichen Sehen. Besonders beim Autofahren. Auf rund 70 Prozent haben die Ärzte das Sehvermögen des Auges beziffert, zudem ist das Blickfeld am rechten Rand eingeschränkt.

Anfang August folgt der nächste Eingriff, der zweite Eingriff hat den Grauen Star ausgelöst. Durch das starke Trauma und die Schädigung der Aderhaut ist abzusehen, dass es auch damit nicht getan ist. Die Folgen des 30. Januar wird Sandro wohl sein ganzes Leben lang mit sich tragen.

7) Die Aufarbeitung

Bis heute ist nicht klar, was am 30. Januar passiert ist. Die Aussagen von Polizei und Fans widersprechen sich in zentralen Punkten: Die Polizei sagt, die Fans hätten die Polizeisperre stark bedrängt und durchbrechen wollen, sodass diese zum Teil habe aufgelöst werden müssen. Zudem steht in der ersten Mitteilung weiterhin, dass Knallpetarden und pyrotechnisches Material geworfen worden seien.

Die Fans, mit denen die BaZ gesprochen hat, widersprechen dieser Darstellung entschlossen. Die Polizei habe es auf eine Eskalation angelegt, und der Einsatz von Gummischrot sei der Auslöser für die Beschädigungen und Aggressionen gewesen.

Eine Aufarbeitung mit allen Parteien hat bislang nicht stattgefunden. Die Polizei sagt, dass sie ein internes Debriefing durchgeführt habe. Eine Besprechung mit den Clubs, den Fanarbeiten und der Fussballliga gab es aber nicht. «Das Debriefing-Treffen konnte aus terminlichen Gründen nicht im Nachgang stattfinden, wird aber vor dem nächsten Aufeinandertreffen noch durchgeführt», erklärt die SFL auf Anfrage.

Man kann sich schon fragen, wie das sein kann. Wieso kann man ein halbes Jahr später immer noch nicht sagen, was am 30. Januar passiert ist, obwohl alles auf Video dokumentiert wurde? Wieso finden nicht alle Parteien zusammen, wenn man von den meisten Personen hört, dass sie sich eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle wünschen? Und das zu einer Zeit, in der das Fanthema wieder in den Fokus gerät.

Im November dachte die KKJPD über die Einführung von personalisierten Tickets nach. Im Dezember folgte die Absichtserklärung. Und im Juni legte der Bundesrat den Bericht zur «Bekämpfung des Hooliganismus» vor, in dem unter anderem steht, dass die Pandemiemassnahmen flächendeckend weiterzuführen seien. Das heisst: personalisierte Tickets, Aufhebung von Stehplätzen, Restriktionen bei Gästefans.

8) Das Nachspiel

Für Sandro ist das Auswärtsspiel in Luzern noch nicht vorbei, wie könnte es auch? Da sind die gesundheitlichen Probleme. Die Frage nach der Schuld. Und die ziemlich lebensnahe Frage, wer am Ende für die medizinischen Kosten aufkommen wird.

Sandro war in den letzten Wochen nicht nur bei mehreren Ärzten, sondern auch bei mehreren Anwälten. Er hat seine Optionen abklären lassen. «Ich weiss gar nicht, ob die Polizei zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt weiss, dass eine Person durch ihr Vorgehen schwer verletzt worden ist.» Doch das wird sich ändern.

Sandro hat die Möglichkeit, eine Strafanzeige gegen unbekannt wegen schwerer Körperverletzung zu erstatten, was aber oft in einem eingestellten Verfahren endet. Die Begründung lautet in derartigen Fällen oft, dass der Mitteleinsatz angeordnet und in der Situation gerechtfertigt war. Er kann auf einem zweiten Weg parallel aber auch eine Staatshaftungsklage einreichen und Schadensersatz vom Kanton verlangen, wobei auch hier die Erfolgsaussichten unsicher sind.

Bislang hat er noch keine juristischen Schritte eingeleitet. Da waren die Operationen an seinem Auge, die Geburt des zweiten Kindes und natürlich die Vorsicht, ja nichts Falsches zu tun. «Ich wollte nichts überstürzen und so gut wie möglich vorbereitet sein», sagt er. Im August wird er einen Brief an den Kanton Luzern schreiben und den rechtlichen Prozess damit ins Rollen bringen.
(https://www.bazonline.ch/warum-wurde-ein-basler-fan-so-schwer-am-auge-verletzt-725623625106)