Medienspiegel 29.07.2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Regierungsstatthalterin bewilligt temporäre Unterkunft im Viererfeld für die Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine
Die Regierungsstatthalterin Bern-Mittelland hat die Baubewilligung für die Errichtung der temporären Unterkunft im Viererfeld mit zugehörigen Anlagen für die Aufnahme von Schutzsuchenden aus der Ukraine, befristet auf drei Jahre, erteilt. Einer allfälligen Beschwerde gegen den Gesamtbauentscheid hat sie aus wichtigen Gründen die aufschiebende Wirkung entzogen.
https://www.rsta.dij.be.ch/de/start.html?newsID=eb067fed-92b4-4d44-97e2-82dd16346092
-> https://www.derbund.ch/regierungsstatthalterin-bewilligt-containerdorf-im-viererfeld-488484685537
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/unwetter-hinterlassen-schaeden?id=12230248 (ab 03:19)


+++AARGAU
Viele Flüchtlinge aus der Ukraine sind bei Privatpersonen untergebracht. Dies entlastet die Gemeinden, birgt aber auch Risiken. Wenn es nicht mehr klappt, braucht es andere Unterkünfte – und diese sind zum Teil knapp. (ab 02:28)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/ein-umbau-fuer-die-hybride-zukunft?id=12230140


+++ZÜRICH
nzz.ch 29.07.2022

Wenn Menschen auf Eigeninitiative ukrainische Flüchtlinge bei sich aufnehmen: eine solidarische Geste, die viel abverlangt – und nicht selten scheitert

Allein in der Stadt Zürich haben 2000 Haushalte ukrainische Flüchtlinge privat aufgenommen – in Eigeninitiative. Doch der gute Wille allein reicht nicht, auch weil die Behörden zu wenig Unterstützung bieten.

Nadine Landert, Marlen Oehler

-> Podcast: https://main.podigee-cdn.net/media/podcast_21830_nzz_akzent_episode_829270_fluchtlinge_zu_hause_wo_ist_der_staat.mp3

Katrin Pauli will etwas tun. Der Krieg in der Ukraine und das Los der Flüchtlinge beschäftigen sie. Sie wolle helfen, solidarisch sein, erzählt Michael von Ledebur in der neuen Folge von «NZZ Akzent». Über Facebook lernt sie Xenia kennen, eine 37-jährige Ukrainerin, die mit ihren beiden Töchtern aus Kiew geflohen ist. Katrin Pauli nimmt die ukrainische Familie bei sich auf. In Zürich, am Zürichberg, wo sie mit ihren beiden Teenagern lebt. Ein Zimmer hat sie frei, mit einem eigenen Bad. Das war im März.

Das Zusammenleben sei harmonisch gewesen, die Frauen hätten sich gut verstanden und Katrin Pauli habe Xenia in allem unterstützt, erzählt von Ledebur. Von den Behördengängen über die Schulanmeldung bis zur Job- und Kleidersuche. Doch mit der Zeit kommt es zu Spannungen, und das Zusammenleben wird zunehmend zur Belastung, für beide Seiten.

Als er die Familien am Zürichberg vier Monate später wieder trifft, steht der Entschluss fest: «Es geht nicht mehr», die ukrainische Familie will eine eigene Wohnung suchen. Katrin Pauli sieht die gemeinsame Zeit trotz allem positiv, ist rückblickend aber enttäuscht über die mangelnde Unterstützung der Behörden. Und so endet diese Geste der Solidarität, mit einem schalen Nachgeschmack. Und auch in anderen Fällen von Privaten, die Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hätten, habe er ähnliche Geschichten gehört, so von Ledebur, das bringe Familien an ihre Grenzen, wenn es keine zeitliche Perspektive und keine Unterstützung durch den Staat gebe.
(https://www.nzz.ch/podcast/wenn-private-ukrainische-fluechtlinge-aufnehmen-nzz-akzent-ld.1694857)


+++SCHWEIZ
Menschenrechtsorganisation fordert Abschiebungsstopp nach Sri Lanka
Die Weltorganisation gegen Folter (OMCT) hat in einem offenen Brief an Justizvorsteherin Karin Keller-Sutter einen Abschiebungsstopp nach Sri Lanka gefordert. Die Lage im südostasiatischen Land sei “schlichtweg katastrophal”.
https://www.swissinfo.ch/ger/menschenrechtsorganisation-fordert-abschiebungsstopp-nach-sri-lanka/47790198


Flucht ist weder männlich noch weiblich – sondern menschlich
Der überwiegende Teil der Menschen, die aus der Ukraine fliehen, sind Frauen und Kinder. Warum? Und warum fliehen aus anderen Ländern überwiegend junge Männer? Warum kämpfen diese Männer nicht für ihr Land, wie die Ukrainer? Diese Fragen wurden in der öffentlichen Diskussion der letzten Monate mehrfach aufgeworfen. Damit einher geht der implizite Vorwurf, dass Männer aus anderen Ländern aus unberechtigten Gründen fliehen und ihr Land im Stich lassen. Das ist eine falsche Interpretation der Fakten. Die Realität ist komplexer.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/standpunkt/flucht-ist-weder-maennlich-noch-weiblich-sondern-menschlich


+++DEUTSCHLAND
»Es ist skandalös, welche Fehler in Abschiebungshaft passieren«
Am 29. Juli jährt sich das »Gesetz zur besseren Durchsetzung zur Ausreisepflicht« zum fünften Mal. Essentieller Bestandteil war eine Verschärfung der Abschiebehaft. Und auch die neue Bundesregierung will diese erneut verschärfen. Im Interview erklärt Rechtsanwalt Peter Fahlbusch, der Menschen in Abschiebehaft vertritt, wieso das problematisch ist.
https://www.proasyl.de/news/es-ist-skandaloes-welche-fehler-in-abschiebungshaft-passieren/


+++EUROPA
Flüchtlingsdrama im Mittelmeer: Wortbruch der Bundesregierung?
Tausende ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, Rückführungen in libysche Folterlager und ein permanenter Bruch des Völkerrechts: eigentlich sollte es das nicht mehr geben.
https://www1.wdr.de/daserste/monitor/videos/video-fluechtlingsdrama-im-mittelmeer-wortbruch-der-bundesregierung-100.html


Medienbericht belegt: Pushbacks auch unter neuer Frontex-Chefin
EU-Behörde Olaf erhebt auch Vorwürfe gegen Europäische Kommission
https://www.derstandard.at/story/2000137881127/eu-bericht-belegt-pushbacks-auch-unter-neuer-frontex-chefin?ref=rss


+++GASSE
Alternative Stadtführung: Weshalb der Verein «Abseits Luzern» vor dem Aus steht
Gassenküche oder Notschlafstelle: Der Verein «Abseits Luzern» zeigt Interessierten die unbekannten Seiten Luzerns in einer Führung. Ein Guide und der Präsident des Vereins erzählen, weshalb immer weniger Menschen ihre persönliche Geschichte abseits der Gesellschaft erzählen.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/alternative-stadtfuehrung-weshalb-der-verein-abseits-luzern-vor-dem-aus-steht-ld.2323218


+++SEXWORK
Stadt hat Projekt gestartet – Drogensexarbeit: Braucht Luzern einen weiteren Strich?
Es gibt Menschen, die Sex gegen Geld anbieten, um sich davon Drogen zu kaufen. Auch in Luzern. Doch die momentane Situation ist für Betroffene nicht ungefährlich, warnt eine Gassenarbeiterin. Auch die Stadt hat das Problem erkannt.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/drogen-sexarbeit-braucht-luzern-einen-weiteren-strich-2416947/


+++DEM0/AKTION/REPRESSION
Hausbesetzer verbarrikadieren sich beim Triemli
Seit einer Woche haben Hausbesetzer ein Areal beim Triemli. Dort wollen Sie selbst Mini-Häuser bauen. Das Land gehört der Stadt Zürich. Der Pächter lässt die Hausbesetzer gewähren.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/hausbesetzer-verbarrikadieren-sich-beim-triemli-147315475


+++KNAST
Ehemalige Häftlinge sollen arbeiten
Heute werden ehemalige Straffällige vom Justizvollzug und Wiedereingliederung auf dem Weg in die Arbeitswelt eng begleitet. Das Ziel ist die Vermittlung einer gesicherten und sinnstiftenden Arbeitsstelle.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/ehemalige-haeftlinge-sollen-arbeiten-00189976/


+++FRAUEN/QUEER
«Böse Lust» und «schändliche Begierde»: Zürcher Gericht verurteilt «Prediger» wegen Schwulenhass
Wegen einer schwulenfeindlichen «Busspredigt» ist ein christlicher Fundamentalist in Zürich zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt worden.
https://www.blick.ch/politik/boese-lust-und-schaendliche-begierde-zuercher-gericht-verurteilt-prediger-wegen-schwulenhass-id17719355.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/aufruf-zu-hass-zuercher-gericht-verurteilt-mann-wegen-schwulenfeindlicher-predigt
-> https://www.watson.ch/schweiz/religion/223087538-zuercher-gericht-verurteilt-fundamentalisten-prediger-wegen-schwulenhass
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/schwulenfeindlicher-prediger-verurteilt-147315485



tagesanzeiger.ch 29.07.2022

Homophober Lehrer verurteilt Er predigte an der Bahnhofstrasse gegen die «böse Lust» der Schwulen

Das Bezirksgericht Zürich hat einen 63-Jährigen wegen Aufrufs zu Hass schuldig gesprochen. Es ist einer der ersten Fälle, die unter die neue Anti-Rassismus-Strafnorm fallen.

Lisa Aeschlimann

Der 63-jährige Lehrer erschien am Freitagmorgen ohne Verteidigung, dafür mit der Bibel vor Gericht. Gleich zu Beginn stellt er klar: Sein Beistand sei der Heilige Geist, Jesus Christus sein Anwalt.

Vor Gericht steht er, weil ihm die Staatsanwältin Diskriminierung und Aufruf zu Hass aufgrund der sexuellen Orientierung vorwirft. Sie fordert eine bedingte Freiheitsstrafe von 8 Monaten sowie eine Geldstrafe von 10 Tagessätzen à 150 Franken (1500 Franken).

Folgendes ist passiert: An einem Samstagnachmittag Mitte Juni 2021 hält der Lehrer – er gibt Gymnasiasten Nachhilfe – an der Bahnhofstrasse eine Predigt. Mit lauter Stimme sagt er, dass Homosexualität eine «Gräuelsünde» sei, gleichgeschlechtliche Beziehungen vor Gott keine Gültigkeit hätten und homosexuelle Liebe keine Liebe, sondern eine «böse Lust» und eine «schändliche Begierde» sei.

Weit kommt er nicht in seiner Wutrede. Nach einer Viertelstunde nähert sich ein Polizeiauto, alarmiert von Passanten. Der selbst ernannte Prediger rennt davon und lässt sich erst stoppen, als ihn ein Polizist einholt und am Arm zurückzieht.

Es ist nicht das erste Mal, dass der 63-Jährige mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Im September 2021 war er bereits wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung verurteilt worden. Er hatte einer Passantin seine Bibel auf die Hand geschlagen und dabei das Handy der Frau beschädigt.

Religionsfreiheit oder Schutz vor Diskriminierung: Was gilt?

Interessant ist der Fall, weil es einer der schweizweit ersten Fälle überhaupt ist, die aufgrund der erweiterten Anti-Rassismus-Strafnorm vor Gericht kommen. Im Juli 2020 hat die Schweizer Stimmbevölkerung diese deutlich angenommen. Seither macht sich strafbar, wer öffentlich gegen Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung hetzt. Vor Gericht geht es um die Frage: Welche Aussagen sind noch von der Religions- und Meinungsfreiheit geschützt? Wo beginnen Hetze und Diskriminierung?

Der Lehrer, der in der Verhandlung immer wieder von Mundart auf Hochdeutsch wechselt und die Bibel zitiert, sieht sich selbst als Bussprediger – im Mittelalter waren das christliche Prediger, die ihre Hörerschaft mit deren Sünden und dem daraus erwachsenden Zorn Gottes und den zu erwartenden Strafen konfrontierten. Seit 1983 predigt er im «Auftrag Gottes, Menschen aus der Finsternis ins Licht zu führen».

Ein göttlicher Auftrag, Menschen aus der Finsternis zu führen

An besagtem Junitag sei er in die Stadt gekommen, weil in der Welt Sodom und Gomorrha herrsche – in Zürich besonders. Die Aussagen seiner damaligen Predigt seien richtig, denn sie stünden so in der Bibel.

Dem Einzelrichter warf er vor: «Ich predige die Umkehr zu Gott, wenn ihr das verwechselt mit Hetze und Hass, dann tut mir das leid.» Homosexualität sei Unzucht im Namen des Herrn. «Und so der heilige Gott das lehrt, und sein Wort wird nicht gebrochen werden.»

Dass seine Predigten bei den meisten Passantinnen und Passanten schlecht ankommen, sei ihm bewusst. Er wisse, er sei ein «ungebetener Gast». Gottes Wort sei Gehorsam. Wer diesem nicht gehorchen wolle, der werde von Gott beurteilt.

Das sind seine letzten Worte, bevor sich das Gericht zur Beratung zurückzieht.

«Ihre Ansichten sind im Jahr 2022 aus der Zeit gefallen»

Kurz darauf spricht es den Mann schuldig im Sinne der Anklage und verurteilt ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 95 Tagessätzen à 160 Franken (15’200 Franken). Möglich wäre eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren. Die Aussagen seien klar nicht mehr tolerierbar, sagt der Richter, wenn auch am unteren Rand des Straftatbestandes – im Vergleich zum Beispiel zu einem Holocaust-Leugner.

Für das Gericht ist klar, dass der Mann mit seiner «Busspredigt» Homosexuelle herabsetzte und diskriminierte. Man könne auch gegen das Antidiskriminierungsgesetz verstossen, wenn man nicht aus Hass, sondern aus «religiösem Errettungsgedanken» diskriminierende Aussagen mache, sagte der Richter. Die Aussagen seien zwar durch die Religions- und Meinungsfreiheit gedeckt, das ändere aber nichts an deren Strafbarkeit. «Der Meinungsfreiheit sind Grenzen gesetzt.»

So sei die Predigt an eine Vielzahl von Personen gerichtet gewesen. «Man muss davon ausgehen, dass Ihre Aussagen von einem grossen Teil als verletzend empfunden worden sind.» Der Mann hätte weder eine differenzierte Meinung kundtun noch eine Diskussion anstossen wollen, sondern pauschal mitgeteilt, dass Homosexualität eine «gotteslästerliche Charakterschwäche» sei und eine «Sünde, die man abbüssen könne, wenn man denn wolle».

«Diese Ansichten sind im Jahr 2022 in Mitteleuropa definitiv aus der Zeit gefallen», sagte der Richter.

Lässt der 63-Jährige sich in den nächsten beiden Jahren nichts zuschulden kommen, muss er nur die Gerichtskosten von 3500 Franken zahlen. Das stört ihn aber offensichtlich nicht: «Für Jesus Christus gebe ich mein ganzes Hab und Gut gerne dahin.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/er-predigte-an-der-bahnhofstrasse-gegen-die-boese-lust-der-schwulen-886822734273)



nzz.ch 29.07.2022

An der Zürcher Bahnhofstrasse hält ein alter Lehrer eine Tirade gegen Homosexuelle. Vor dem Richter sagt er: «Ich habe von Gott den Auftrag, aus der Finsternis zum Licht zu führen»

In Zürich ist einer der ersten Fälle vor Gericht verhandelt worden, bei denen es um die ausgeweitete Rassismusstrafnorm geht.

Fabian Baumgartner

In beigen, kurzen Hosen, hochgezogenen weissen Socken und über die Schultern gelegtem hellblauem Pullover schreitet der Angeklagte in den Gerichtssaal in Zürich. Er sei Bussprediger, sagt er, als er dem Richter am Bezirksgericht Zürich über seine Verhältnisse Auskunft geben soll. «Schauen Sie», sagt er und hebt dabei die Hände. «Als Kind Gottes, als Geretteter, erkauft durch das Blut Jesu Christi, führe ich die Befehle Gottes aus. Und Gott sagt: Wer nicht glaubt, wird verdammt werden.»

Seit fast vierzig Jahren ist der 63-jährige Schweizer im Namen Gottes unterwegs. Der Mann, der in seinem weltlichen Leben als Nachhilfelehrer arbeitet, erklärt: Johannes der Täufer habe Busse gepredigt, Jesus Christus und die Apostel ebenso. Und er führe diesen Auftrag fort. Denn wenn jemand seine Sünde bekenne, erhalte er Gnade. Auf einen Anwalt verzichtet der Mann. Seine Begründung: «Mein Beistand ist Jesus, er ist mein Herrgott, mein Geist.»

Sein «Auftrag» hat ihn am Freitag vor den Einzelrichter geführt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm in ihrer Anklageschrift vor, in einer öffentlich gehaltenen Predigt zu Diskriminierung und Hass gegen Homosexuelle aufgerufen zu haben. Es ist schweizweit einer der ersten Fälle überhaupt, die aufgrund der ausgeweiteten Rassismusstrafnorm vor ein Gericht kommen. Seit der Inkraftsetzung der Strafnorm im Juli 2020 macht sich strafbar, wer öffentlich gegen Personen wegen ihrer sexuellen Orientierung hetzt.

Die zuständige Staatsanwältin, die selbst nicht vor Gericht erscheint, fordert für den Mann eine bedingte Freiheitsstrafe von 8 Monaten sowie eine Geldstrafe von 10 Tagessätzen à 150 Franken. Im Zentrum der Gerichtsverhandlung steht die Frage: Reicht eine homophobe Tirade aus, um den Mann zu verurteilen? Wo beginnt die Hetze, und was ist noch unter dem Titel der Religionsfreiheit geschützt?

Es ist bereits das zweite Mal innert weniger Monate, dass der Beschuldigte mit der Justiz in Konflikt kommt. Im September 2021 war er wegen Körperverletzung und Sachbeschädigungen verurteilt worden. Anlass war auch damals eine Predigt. Der Lehrer hatte eine Auseinandersetzung mit einer Passantin – ein schwarzer Tag in seinem Leben, wie er selbst angibt. Dabei verletzte er die Frau mit einer Bibel an der Hand, zudem wurde das Handy der Frau beschädigt.

An der Zürcher Bahnhofstrasse gegen Homosexuelle gepredigt

Der jüngste Vorfall ereignete sich bei einer Predigt des selbsternannten Busspredigers vom 19. Juni 2021. Vorgefallen ist laut Anklageschrift Folgendes: An jenem Samstag stellte sich der 63-jährige Lehrer gegen 15 Uhr 20 aufs Trottoir der Zürcher Bahnhofstrasse. Dann erhob er seine Stimme und setzte zu einer lauten Predigt an.

Er redete jedoch nicht über die Liebe zu Gott, sondern darüber, was aus seiner Sicht sündig ist. Es war eine homophobe Tirade, die die Passanten zu hören bekamen: Die gleichgeschlechtliche Liebe sei eine Sünde, die vor Gott keine Gültigkeit habe, sie sei eine böse Lust und schändliche Begierde. So fasste die Anklageschrift der Zürcher Staatsanwaltschaft den Vorfall zusammen.

Lange dauerte die zornige Predigt des Mannes allerdings nicht. Denn Passanten, die sich von ihm gestört fühlten, riefen die Polizei. Als sich eine Viertelstunde später das Fahrzeug der Einsatzkräfte näherte, rannte der «Prediger» davon. Mehrere Polizisten nahmen die Verfolgung auf. Sie riefen: «Stopp, Polizei.» Doch davon liess sich der Mann nicht beirren. Erst als er von einem Polizisten eingeholt und am Arm zurückgezogen wurde, hielt er inne.

Der Angeklagte sieht sich als Bussprediger

Den Vorfall selbst bestreitet der 63-Jährige vor Gericht nicht. Trotzdem bezeichnet sich der alte Lehrer als unschuldig. An den Richter gewandt, meint er: «Ihr verwechselt eine Busspredigt mit Hass und Volksverhetzung. Und wenn ihr das verwechselt, tut mir das leid.» Und dann doziert der Mann: «Wer gestohlen hat, stehle nicht mehr. Wer in Unzucht gelebt hat, lebe nicht mehr in Unzucht. Homosexualität ist Unzucht im Namen des Herrn.»

Er sei im Juni 2021 nach Zürich gereist, weil dort Sodom und Gomorrha herrsche. «Ich habe von Gott den Auftrag gefasst, die Menschen aus der Finsternis ins Licht zu führen.» «Wieso sind Sie dann vor der Polizei davongerannt?», fragt der Richter. Er betreibe eine Art Katz-und-Maus-Spiel, antwortet der Mann. «Ich predige die Worte des Herrn, ich lasse mich nicht einfach kontrollieren von der Polizei.»

Dann klagt der Lehrer, früher hätten Politiker noch ein Ohr gehabt für Leute, die von Gott kämen. In der heutigen Zeit allerdings sei er ein ungebetener Gast. Die Aussagen, die er in seiner damaligen Rede gemacht habe, seien gleichwohl richtig, behauptet er. Denn sie stünden so in der Bibel.

«Es ist verhältnismässig, Sie zu bestrafen»

Diese Auffassung teilt das Gericht allerdings nicht. Es spricht den Mann wegen Diskriminierung und Aufruf zu Hass sowie Hinderung einer Amtshandlung schuldig und verurteilt den 63-Jährigen zu einer bedingten Geldstrafe von 95 Tagessätzen à 160 Franken.

Der Richter sagt bei seiner kurzen mündlichen Urteilsbegründung: «Gegen das Diskriminierungsverbot verstossen kann man auch, wenn man aus religiöser Überzeugung Aussagen macht. Denn sie sind für Betroffene herabsetzend und diskriminierend.» Das müsse auch dem Beschuldigten klar gewesen sein, denn seine öffentlichen Predigten hätten ja immer wieder für Unverständnis und Ablehnung bei Passanten gesorgt.

Die Aussagen des Mannes seien zwar durch die Religionsfreiheit gedeckt, das ändere aber nichts an der Strafbarkeit. Die von den Schweizer Stimmbürgern vor zweieinhalb Jahren angenommene erweiterte Antirassismusstrafnorm setze der Religionsfreiheit Grenzen. «Es ist deshalb verhältnismässig, Sie zu bestrafen. Sie haben die Predigt an einem öffentlichen Ort gehalten und an eine Vielzahl von Personen gerichtet – ohne dass diese das wünschten.»

Nebenbei, so der Richter, seien diese Ansichten im Jahr 2022 definitiv aus der Zeit gefallen. «Es gibt auch keinen wissenschaftlichen Ansatz für Ihre Haltung.» Eine bedingte Geldstrafe reiche in dem Fall aber aus, fand der Richter. Im Vergleich zu einem Holocaustleugner bewegten sich die homophoben Aussagen des Lehrers am unteren Rand der Skala.

Am Ende sagte der Richter: «Wir hoffen, dass das Urteil ausreicht, damit Sie in Zukunft im öffentlichen Raum nicht mehr Dinge predigen, die im Jahr 2022 von vielen als verletzend empfunden werden.»

Urteil GG 220 177 vom 29. 7. 22, noch nicht rechtskräftig.
(https://www.nzz.ch/zuerich/homophobie-in-zuerich-selbst-ernannter-bussprediger-verurteilt-ld.1695757)


+++RASSISMUS
Brasserie Lorraine: ein stummes Debakel
Der Konzertabbruch einer Reggae-Band, wegen «Kultureller Aneignung» der hellhäutigen, teilweise Dreadlocks tragenden Musikanten in der Brass im beliebten Berner Quartier führte zu einer hitzigen Debatte. Das Betreiberkollektiv fühlt sich überrumpelt. Ein Eishockeyspieler und ehemaliger Dreadlocksträger sowie ein Kommunikationsexperte schätzen die Situation ein.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/201782/


Kulturelle Aneignung: No more Chakra
Die Übernahme von «fremden» kulturellen Elementen und Praktiken kann auf die Enteigneten enorm verstörend und dehumanisierend wirken. Die koloniale Unterdrückung wird dabei reproduziert, um im westlichen, sozialen Milieu an Status zu gewinnen. Eine dekoloniale Betrachtung.
https://www.megafon.ch/keine-fancy-zwischennutzung/?artikel=No+more+Chakra


Eklat in Bern: Das denken Schwarze über weisse Reggae-Sänger
Weil Weisse Reggae spielten und Dreadlocks trugen, brach eine Berner Brasserie ein Konzert ab. Was sagen schwarze Musiker dazu?
https://www.nau.ch/news/schweiz/eklat-in-bern-das-denken-schwarze-uber-weisse-reggae-sanger-66230619


«Kulturelle Aneignung» wird weiter diskutiert: Unverständnis um Konzertabbruch wird immer grösser
Die Frage um die sogenannte «Kulturelle Aneignung» erhitzt nach wie vor die Gemüter. Das Unverständnis über den Konzertabbruch der Berner Reggae-Band Lauwarm, die aus hellhäutigen Band-Mitglieder besteht, die teilweise Rasta-Locken tragen, nimmt zu.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/kulturelle-aneignung-wird-weiter-diskutiert-unverstaendnis-um-konzertabbruch-wird-immer-groesser-147315438


Anouchka Gwen: «Das war ein klarer Fall»
Konzertabbruch in Bern aufgrund kultureller Aneignung sorgt für Aufruhr in den Sozialen Medien. Die Sängerin Anouchka Gwen findet dies einen klaren Fall.
https://telebasel.ch/2022/07/29/anouchka-gwen-klarer-fall-von-kultureller-aneignung



bzbasel.ch 29.07.2022

Reggae-Experte Lukie Wyniger zum Konzertabbruch in Bern: «Witze macht man lieber über Fussball»

Als Jugendlicher trug der SRF-Reggae-Experte Lukie Wyniger selber Dreadlocks. Im Interview erzählt er, warum er es heute nicht mehr tut.

Interview: Anna Raymann

Lukie Wyniger (45) lernt gerade zu servieren, seine Zeit ist daher knapp, als wir ihn erreichen. Nach zehn Jahren als Kopf und Hand hinter dem Mischpult des «Reggae Special» von SRF3 übernimmt er ein Restaurant und Hotel bei Basel. Die Musik bleibt sein Zuhause, die Debatte um den Konzertabbruch der Schweizer Reggaeband Lauwarm hat ihn überrumpelt.

Alle Welt diskutiert über ein kleines Konzert in der kleinen Berner Brasserie Loraine. Wie hat Sie die Debatte um kulturelle Aneignung erreicht?

All die Stellungnahmen, Meinungen, Kommentare und Witze dazu haben mich erschlagen. In den Schweizer Medien wurde ich bisher nie mit dem Thema konfrontiert, dabei beschäftige ich mich seit 30 Jahren mit Reggae, ich habe selber Erfahrungen zum Thema kulturelle Aneignung gemacht.

Von was für Erfahrungen sprechen Sie?

Vor 30 Jahren habe ich Rastas getragen und in einer wohl nicht so guten Band gesungen und gerappt. Wenn ich nun die Berichte aus der Brasserie Loraine sehe, erkenne ich mich darin selbst wieder. Trotzdem habe ich irgendwann realisiert, dass ich meine Liebe zur Musik anders ausleben muss.

Was hat sie zum Umdenken bewegt?

Wenn auf der Bühne vom Publikum schräg angeguckt wird, merkt man schnell, dass man etwas nicht ganz richtig macht. Ich habe gemerkt, dass meine Stärken woanders liegen und andere auf der Bühne besser sind – mein karibischer Bandkollege und Bruder von William White zum Beispiel. Trotzdem war es eine andere Zeit und wir haben nie solche Kritik erlebt, wie sie heute aufflammt.

Von wem kommt die Kritik an kultureller Aneignung in der Musik, im Reggae, heute?

Diese Vorwürfe gibt es immer wieder, teilweise kommen sie von Reggae-Fans aus Jamaika, manchmal auch von anderen Künstlern. Ein aktuelles Beispiel trifft die Sängerin und gute Freundin von Roger Federer: Gwen Stefanie. In einem Musikvideo, das sie mit Sean Paul und Shenseea aufgenommen hat, trägt sie eine Rastafrisur. In der Diskussion darum ist ihr dann aber Reggae-Star Bounty Killer zur Seite gesprungen: Wer sich 20 Jahre für die Kultur einsetzt, betreibt mit einer Frisur eher keine kulturelle Aneignung.
-> https://youtu.be/Qg_jLLPlv5o

Wann wäre es denn kulturelle Aneignung?

Ich war oft in Jamaika, habe Aufnahmen gemacht in Kingston, und nie ist mir jemand ablehnend begegnet, weil ich Schweizer bin. In der Diskussion geht es nämlich nicht darum, dass Weisse keinen Reggae spielen sollen, sondern wie sie es tun: Wenn man sich einer Kultur bedient, um sich selbst zu bereichern, wenn man als privilegierte Person nicht dazu bereit ist, etwas von seinem Erfolg – sei es durch Kooperationen oder einer Bühne am Radio – zurückzugeben, dann begegnet man einer Kultur nicht mit Respekt.

In einer globalisierten Welt, in der man spätestens seit MTV Musik aus allen Ländern hören kann, lassen sich Musikerinnen und Musiker nun mal beeinflussen oder inspirieren.

Musik ist ein stetiges Geben und Nehmen. Auch jamaikanische Reggae-Musiker arbeiten ständig mit europäischen Künstlerinnen und Produzenten zusammen, man überschreitet dabei Länder- und Genregrenzen. Das Feature von Gwen Stefani ist bestes Beispiel dafür. Also nein, wir dürfen jetzt nicht nur noch Ländler hören! Und von Pasta kochen und Sushi bestellen, fange ich gar nicht erst an…

Weswegen?

Solche Sprüche nehmen die Diskussion nicht ernst und sie nehmen Reggae nicht ernst. Es ist etwas anderes, ob man ein Gericht aus Italien – einem Nachbarsland, mit ähnlicher Kultur wie wir sie leben – nachkocht oder man eine Frisur trägt, die aus Protest gegen jahrhundertelange Ausbeutung, Unterdrückung und Versklavung entstanden ist.

Wann ist es also in Ordnung, als Weisser Dreadlocks zu tragen und Reggae-Musik zu machen?

So pauschal lässt sich das nicht beantworten. Aber die wenigsten würden etwa dem Kölner Musiker Gentlemen kulturelle Aneignung vorwerfen. Mit 16 hat er sich in Reggae verliebt und seither die Kultur aufgesogen und verinnerlicht. Das zeigt sich auch in einem gewissen Qualitätsanspruch: Wenn jemand gut ist, in dem, was er macht, hören das auch diejenigen, die sich sonst in der Szene bewegen.
-> https://youtu.be/TrJSMk87CpE

Auch einem Elvis wird vorgeworfen, sich Schwarzer oder Afroamerikanischer Musik bedient zu haben.

Ich kenne die Geschichte um Elvis zu wenig. Sicher gab es schon vor ihm Musiker wie B. B. King, die das gemacht haben, mit dem er erfolgreich wurde. Auch Eminem hatte als weisser Rapper mit diesen Vorwürfen zu kämpfen. Er hatte aber die Band D12 auch nach seinem Soloerfolg enorm gepusht – mit ausser ihm nur Schwarzen Künstlern. Das ist für mich ein produktives Paradebeispiel, wie man der Kultur seine eigenen Privilegien weitergeben kann.

Wie sollte es im Fall Brasserie Loraine und Lauwarm weitergehen?

Bevor man weiter diskutieren kann, muss die Stimmung abkühlen. Kulturelle Aneignung ist jedenfalls ein schlechtes Thema für Witze, die macht man lieber über Fussball oder über Pizza mit Ananas – das ist relativ unverfänglich.
(https://www.bzbasel.ch/kultur/kulturelle-aneignung-reggae-experte-zum-konzertabbruch-in-bern-witze-macht-man-lieber-ueber-fussball-ld.2322888)



derbund.ch 29.07.2022

Debatte um kulturelle Aneignung: «Empörend ist eher die Empörungsbewirtschaftung»

Die laute Debatte über den Konzertabbruch in der Berner Brasserie Lorraine folge einem standardisierten Ablauf, sagt Psychoanalytiker Peter Schneider.

Christoph Hämmann

Herr Schneider, in einer Berner Quartierbeiz wird ein Konzert abgebrochen, und die halbe Schweiz sowie Teile des Auslands sind in heller Aufregung. Was ist da aus Sicht des Psychoanalytikers passiert?

Psychoanalytisch gibt der Fall nicht sehr viel her. Viel eher lässt sich das Ganze als soziales Phänomen mit entsprechenden Interessen dahinter deuten. Das Lustige daran ist, dass wir jetzt einmal von ganz nah mitbekommen, wie ein Vorfall international Beachtung findet und bewirtschaftet wird. Sonst begegnen wir häufig Anekdoten à la «Kind XY durfte nicht als Indianer verkleidet an den Kindergeburtstag». Recherchiert man, entpuppt sich das Ganze aber häufig als ziemliche Übertreibung. Dasselbe sieht man jetzt bei dieser Konzertgeschichte: Niemand hat Tränengas geworfen oder Musiker verletzt.

Das sagt auch niemand. Weisse Musiker, die Reggae spielten, trugen Rasta-Frisuren und exotische Kleider. Weil sich einige Gäste dabei unwohl fühlten, wurde das Konzert abgebrochen.

Es handelt sich letztlich um eine interne Auseinandersetzung in einem Zirkel, den wir Woke nennen können, die Betreiber wie das Publikum. Man kann das niedlich finden, bescheuert, feige von den Veranstaltern – aber es ist nicht mehr passiert, als dass ein Konzert nach Absprache mit der Band abgebrochen wurde. Heftige Buhrufe im Opernhaus wären wohl deutlich Cancel-Culture-verdächtiger als dieses Ereignis.

Also bloss ein Sturm im Wasserglas?

Debatten über kulturelle Aneignung oder Cancel Culture verlaufen mittlerweile standardisiert. Wenn man sich empören will, dann weiss man auf der Seite der Anti-Woken bereits, wie es geht. Sucht man passende Fälle, dann findet man sie und kann sie entsprechend skandalisieren. Aber die grosse Aufregung hier hätte man früher als Sommerloch verspottet.

Auffällig ist dennoch, wie heftig der Vorfall viele empört hat. Woher kommt das?

Die Lust auf Empörung ist schon eher psychoanalytisch zu deuten und beweist, dass es noch andere Lüste als sexuelle gibt. Man fragt sich manchmal wirklich: Warum gibt es diese Art, sich in bestimmte Themen zu verbeissen, die nicht wirklich Freude machen? Eigentlich ist es doch viel lustiger, das Ganze mit neugierigem Interesse zu verfolgen – was nicht heissen muss, auf politisches Engagement zu verzichten.

Warum ist der Wille zur Empörung so gross?

Ich glaube, weil es ein sehr einfaches Kommunikationsangebot ist. Wenn man Glück hat, hat man sofort mit Gleichgesinnten ein Gesprächsthema. Und wenn man Pech hat, muss man halt als Alleinstehender gegen die anderen andiskutieren. Gemeinsame Empörung ist eine altbekannte politische Triebkraft: Die in Bern oben, die machen ja eh, was sie wollen …

Es gibt immer mehr Genderkategorien, und wer bei einem Wort nicht die aktuellste politisch korrekte Version verwendet, muss mit einem Shitstorm rechnen. Was macht das mit der Gesellschaft?

(Lacht) Beim Eskimo zum Beispiel habe ich auch eine Wandlung durchgemacht. Zuerst dachte ich, warum soll ich jetzt Inuit sagen, wenn doch alle wissen, was ein Eskimo ist? Was spricht aber eigentlich dagegen, Inuit zu sagen? Wir sagen ja auch nicht mehr Weib wie bei Goethe. Und zwar nicht, weil dies irgendeine Cancel-Organisation verfügt hat, sondern weil sich einfach ein Sprachwandel vollzieht. Das braucht immer ein paar Generationen, und es passiert auch nichts Schlimmes. Mani Matters Lied vom Eskimo ist jedenfalls noch immer nicht verboten worden.

Der Fall steht exemplarisch für eine Debatte, die vielenorts stattfindet und interessiert, oder?

Stimmt. Man kann dann fragen: Könnte das auch bei uns passieren? Doch es geht hier nicht um den ersten Fall von Affenpocken in Bern – der wäre wohl für ganz Europa interessant. Hier geht es aber um eine Debatte, die ihren Ursprung in den USA hat und von vielen Medien schon immer schlecht verstanden und recherchiert wurde. Und jetzt schwappt sie zu uns, anhand eines ebenfalls schlecht recherchierten Falles. Da ist der Erkenntnisgewinn relativ gering und bewegt sich auf dem Niveau dieser üblichen Soft-News-Geschichten: In den USA gibt es jetzt die ersten Flipflops mit hohen Absätzen – wann werden sie bei uns ankommen?

Manche haben beispielsweise Angst vor einem «reinen» Kulturbegriff und fragen sich, wer noch welche Musik spielen darf.

Ja, jetzt sagen alle die ganze Zeit, dass Kultur schon immer Aneignung war, und stellen die Frage, ob Japaner noch Bach spielen dürfen. Wenn man das einmal sagt, ist es okay, es gewinnt aber nicht an Tiefsinn, wenn man es ständig wiederholt, schon gar nicht bei diesem doch sehr singulären und etwas unfreiwillig komischen Ereignis. Wir haben es doch nicht mit einer woken Zentralregierung zu tun, die Zensuraktionen veranlasst! Empörend ist eher die Empörungsbewirtschaftung als das Ereignis selber.

Dann sind wir bei der Kritik an den Medien?

Political-Correctness-Debatten hat es zwar immer mal wieder gegeben, etwa in den 1980ern. Heute ist es aber schon auch ein Zusammenspiel von empörungsbereiten Menschen auf Twitter und von manchen Journalistinnen und Journalisten, die sich nur noch auf Twitter zu informieren scheinen, um mögliche Shitstorms zu identifizieren, statt zu recherchieren. Das Ergebnis ist eine Erregungsspirale zwischen klassischen und sozialen Medien.

Was hätte denn recherchiert werden sollen? Das Kollektiv der Brasserie Lorraine hat selber über den Fall informiert, niemand schrieb von Krawall oder Tränengas.

Statt zum hundertsten Mal zu schreiben, dass Kultur schon immer mit Aneignung zu tun hatte, wäre es doch die journalistische Aufgabe, zu recherchieren, wer die Gäste waren, die sich unwohl fühlten, und den genauen Ablauf des Abends zu rekonstruieren. Aber das macht man nicht, lieber lenkt man solche Themen auf die Empörungsschiene: Es gibt immer mehr Zensur, die Linke wird immer woker, man darf bald nichts mehr sagen.

Können Sie das Unwohlsein nachvollziehen, das einige Konzertbesucherinnen und -besucher verspürten?

Im konkreten Fall höchstens insofern, als ich nicht so sehr auf Reggae stehe (lacht). Aber je nach Sensibilisierung für Themen kann eben bei Menschen ein Unwohlsein entstehen, das man gar nicht nachvollziehen kann, wenn man sich nicht für die gleichen Themen interessiert. Man könnte das Ganze übrigens auch positiv wenden: Die Beizbetreiber sind ihrerseits so sensibel, dass sie nicht einfach sagen, spinnt ihr eigentlich? Sondern das Ganze ernst nehmen.

Mit dem Ergebnis, dass das Konzert für alle abgebrochen wurde.

Jetzt kann man sich darüber streiten, ob das Inkludieren der sich Unwohlfühlenden alle anderen exkludiert. Ja, es gibt einen Konflikt, den man vielleicht sogar auf Kosten der Mehrheit gelöst hat. Aber man kann sagen, dass auch andere Inklusionskonflikte auf Kosten der Mehrheit gelöst werden, etwa dann, wenn man für teures Steuergeld die Bordsteinkanten behindertentauglich macht, obwohl doch viel weniger als 1 Prozent der Bevölkerung im Rollstuhl sitzt. Man kann dem also durchaus etwas Positives abgewinnen.

Aus linker Sicht spaltet ein kleiner Woke-Flügel das eigene Lager und nützt den Rechten. Kein Problem für Sie als Linker?

Meines Erachtens ist es eher eine Ausrede sogenannter Linken, um rechts­um­kehrt zu machen, wenn sie wegen Identitätsfragen das Lager wechseln. Bei Konvertiten gibt es eine gewisse Querfront-Affinität, da braucht es keine woke Schneeflöckchen, um die Linke zu spalten. Abgesehen davon, wann wäre die Linke jemals einig gewesen?

Welche Rolle spielt der «alte weisse Mann» in diesen Debatten?

Da reden wir ja von einer soziologischen Kategorie, es geht nicht um eine Beleidigung älterer weisser Herren, wie dies auch sofort falsch verstanden worden ist. Und ich muss sagen, in solchen Debatten wie jetzt nimmt diese eher flapsige Kategorie schon ziemlich präzise Formen an. Dabei geht es meiner Meinung nach weniger um Verlustangst, sondern um die Angst, etwas, das sich in der Gesellschaft bewegt, nicht mehr zu verstehen. Am besten würde man in dieser Position die Lautstärke etwas dämpfen und versuchen, miteinander ins Gespräch zu kommen.



Peter Schneider (65) studierte Philosophie, Germanistik und Psychologie. Er lebt in Zürich und arbeitet dort als Psychoanalytiker. Davor war er Professor für Entwicklungs- und Pädagogische Psychologie. Seit 2014 ist Schneider Privatdozent für Klinische Psychologie an der Uni Zürich und seit 2017 Lecturer for History and Epistemology of Psychoanalysis an der International Psychoanalytic University in Berlin. Ausserdem betätigt er sich seit vielen Jahren als Satiriker («SonntagsZeitung» und früher SRF 3) und Kolumnist («Tages-Anzeiger» und «Bund»). Peter Schneider ist Autor zahlreicher Bücher.
(https://www.derbund.ch/empoerend-ist-eher-die-empoerungsbewirtschaftung-271383428049)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Initiative für Grundrechte: Massnahmenkritiker wollen Schweizer Souveränität retten
Der Corona-Aktivist Nicolas Rimoldi schart die Massnahmengegner hinter sich. Für eine Volksinitiative sollen alle am selben Strick ziehen.
https://www.tagesanzeiger.ch/massnahmenkritiker-wollen-schweizer-souveraenitaet-retten-129302843689
-> https://www.blick.ch/politik/neue-initiative-in-planung-rimoldi-co-wollen-schweizer-souveraenitaet-retten-id17718176.html
-> https://www.aargauerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/initiative-corona-massnahmenkritiker-setzen-sich-jetzt-fuer-souveraenitaet-der-schweiz-ein-ld.2322936


Trappitsch kandidiert in Buchs: Impfskeptiker will in die St. Galler Lokalpolitik
Daniel Trappitsch ist der bekannteste Impfskeptiker des Landes. Nun will er in Buchs SG Gemeindepräsident werden.
https://www.blick.ch/politik/trappitsch-kandidiert-in-buchs-impfskeptiker-will-in-die-st-galler-lokalpolitik-id17719534.html


Umstrittener Arzt stellt unrechtmässig Covid-Zertifikate aus: Nun hat er einen Strafbefehl im Haus – auch wegen weiterer Verfehlungen
Der Abtwiler Arzt war schon früher in die Schlagzeilen geraten – wegen seiner Behandlungsmethoden bei Krebspatienten. Nun zeigt ein aktueller Strafbefehl: Er hat auch Covid-Zertifikate ausgestellt, obwohl er dazu nicht befugt war. Und er hat Nahrungsergänzungsmittel mit zu hoch dosierten Inhaltsstoffen und falschen Heilsversprechungen abgegeben.
https://www.limmattalerzeitung.ch/schweiz/coronavirus-umstrittener-arzt-stellt-unrechtmaessig-covid-zertifikate-aus-nun-hat-er-einen-strafbefehl-im-haus-auch-wegen-weiterer-verfehlungen-ld.2322848


+++HISTORY
Wie ein Städtchen Weltgeschichte schrieb
St-Imier im Berner Jura erwartet für das Wochenende mehrere Hundert Anarchistinnen und Anarchisten. Das ist kein Zufall: Denn im Städtchen haben sich vor 150 Jahren Revolutionäre zusammengetan und Geschichte geschrieben. Sie haben in St-Imier die internationale anarchistische Bewegung gegründet. Ein Gespräch mit dem Historiker und Anarchismus-Experten Florian Eitel.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/wie-ein-staedtchen-weltgeschichte-schrieb?partId=12230467