Medienspiegel 12. Januar 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Rückgang der Flüchtlinge bedingt Umbau der Asylsozialhilfe
Die Anzahl der Flüchtlinge, die vom Asylsozialdienst der Stadt Bern betreut werden, sinkt derzeit stark, bedingt durch die restriktive EU-Migrationspolitik und die Covid-Reisebeschränkungen. Damit gehen auch die Entschädigungen des Kantons zurück, weil diese an konkrete Fallzahlen geknüpft sind. Der Asylsozialdienst muss deshalb in den kommenden Monaten organisatorisch und personell auf die tieferen Flüchtlingszahlen angepasst werden, um kostendeckend arbeiten zu können.
https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/rueckgang-der-fluechtlinge-bedingt-umbau-der-asylsozialhilfe
-> https://www.derbund.ch/berner-asylsozialdienst-reagiert-auf-sinkende-fluechtlingszahlen-775541784527
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/spitex-und-altersheim-begruessen-verkuerzung-der-quarantaene?id=12123263 (ab 05:07)



+++ZÜRICH
Umstrittene Züri City Card: Warum Zürich einen Ersatzausweis für Illegale einführen will
Rund ein Zehntel der illegalen Migrantinnen und Migranten in der Schweiz lebt in Zürich, viele arbeiten als Hausangestellte. Ein städtischer Ausweis soll ihren Alltag künftig erleichtern. Doch es gibt Protest.
https://www.spiegel.de/ausland/schweiz-kulturkampf-um-ersatzausweis-fuer-illegale-migranten-in-zuerich-a-4180a01b-93d9-46e1-80ba-160d9eeb5d37


+++DEUTSCHLAND
Migration: Zahl der Asylanträge so hoch wie seit 2017 nicht mehr
Mehr als 190.000 Menschen baten 2021 hierzulande um Asyl. Die meisten Schutzsuchenden kamen wieder aus Syrien. 30.000 Menschen flohen aus Afghanistan nach Deutschland.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-01/migration-asylantraege-2021-zahlen-bamf
-> https://www.jungewelt.de/artikel/418359.repressionen-gegen-gefl%C3%BCchtete-mehr-schutzsuchende-in-brd.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160353.migration-hunderttausend-unbearbeitete-asylgesuche.html


Sprache: „Pushback“ ist Unwort des Jahres 2021
Sprachwissenschaftler haben den Begriff „Pushback“ zum Unwort gekürt. Damit werde ein menschenfeindlicher Prozess, nämlich das Zurückdrängen von Flüchtenden, beschönigt.
https://www.zeit.de/kultur/2022-01/pushback-unwort-des-jahres-2021-sprache
-> https://taz.de/Umgang-mit-Gefluechteten/!5828085/
-> https://www.spiegel.de/kultur/pushback-ist-das-unwort-des-jahres-a-cb95eab1-b31e-47f4-b947-7146e3601a9d


+++ITALIEN
Italien geht gegen Rettungsschiff vor: „Ocean Viking“ erneut festgesetzt
Die Flüchtlingsrettungsorganisation SOS Méditerranée kritisiert die italienischen Behörden. Ihr Rettungsschiff in Sizilien werde „extrem“ kontrolliert.
https://taz.de/Italien-geht-gegen-Rettungsschiff-vor/!5828066/


+++LIBYEN
Geflüchtete in Libyen vertrieben: Miliz gegen Migrant*innen
In Libyens Hauptstadt Tripolis haben Bewaffnete ein provisorisches Flüchtlingscamp geräumt. Manche vermuten: Den Milizenführern geht es um Geld.
https://taz.de/Gefluechtete-in-Libyen-vertrieben/!5825230/


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Wer soll künftig im Wallis die Standplätze für Fahrende bezahlen? Der Kanton will das nun klären – und lanciert die Vernehmlassung der Teilrevision des kantonalen Strassengesetzes. (ab 02:30)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/beim-boostern-ist-der-kanton-freiburg-schlusslicht?id=12123089


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Prozess in Bern: Erdogans langer Arm in die Schweiz
Ein Transparent erregte das Gemüt des türkischen Präsidenten. Nun stehen vier Beschuldigte vor Gericht. Das Aussendepartement zeigte auffällig viel Interesse an den Ermittlungen.
https://www.woz.ch/2202/prozess-in-bern/erdogans-langer-arm-in-die-schweiz


Was weiter geschah: Uno kritisiert Waadtländer Polizei
Im Oktober 2020 besetzen ein paar Dutzend Klimaaktivist:innen einen Hügel in der Westschweiz. Mit einer «Zone à défendre» wollen die Besetzer:innen Druck auf den Schweizer Zementmulti Holcim aufbauen. Dieser baut im angrenzenden Steinbruch Rohmaterial für jährlich 800 000 Tonnen Zement ab und verursacht so fast 400 000 Tonnen CO2. Das Holcim-Werk in Éclépens gehört zu den zehn grössten Treibhausgasemittenten der Schweiz. Das Gesamtunternehmen schafft es auf Rang eins.
https://www.woz.ch/2202/was-weiter-geschah/uno-kritisiert-waadtlaender-polizei
-> https://www.blick.ch/schweiz/uno-sonderberichterstatter-kritisieren-exzessive-gewaltanwendung-bei-raeumung-von-klimacamp-polizisten-verteilten-besetzern-aprikosen-id17140565.html?utm_source=twitter&utm_medium=social&utm_campaign=blick-page-post&utm_content=bot


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Am Gericht: Ein Schweizer – nur nicht auf dem Papier
Er hat viel verbockt und ist ein Pechvogel. Nun soll er ausgeschafft werden – wegen seiner Straftaten. Aber auch, weil die Schweiz einst seiner Mutter das Bürgerrecht nahm.
https://www.republik.ch/2022/01/12/am-gericht-ein-schweizer-nur-nicht-auf-dem-papier


+++KNAST
Anpassung im Justizvollzug
Um einen sicheren Betrieb der Justizvollzugseinrichtungen aufrecht zu erhalten, werden Ausgänge und Urlaube von eingewiesenen Personen vorübergehend ausgesetzt. Diese Massnahme soll das Risiko einer Ausbreitung der Omikron-Variante in den Einrichtungen mindern und den gesundheitlichen Schutz der eingewiesenen Personen und der Mitarbeitenden gewährleisten. Die Massnahme ist vorerst bis zum 24. Januar 2022 befristet. Der Regierungsrat wird die Lage laufend beobachten und soweit erforderlich über eine Verlängerung oder Anpassung der Massnahme befinden.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=9edff1f0-d7ff-4b82-85ef-a39b90605726
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/spitex-und-altersheim-begruessen-verkuerzung-der-quarantaene?id=12123263


B. K. wird in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt
Medienmitteilung 12.01.2022
Der Zürcher Gefängnisinsasse B. K. wird in den nächsten Tagen von der JVA Pöschwies in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt. Er soll dort ins normale Haftregime eingegliedert werden. Dazu gehört die Möglichkeit, Kontakte mit Mitinsassen zu pflegen.
https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2022/01/b-k-wird-in-ein-zuercher-untersuchungsgefaengnis-verlegt.html

-> https://www.20min.ch/story/brian-kommt-aus-einzelhaft-369286258878
-> https://www.watson.ch/!287875978
-> https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/haftregime-gelockert-brian-kommt-in-ein-normales-gefaengnis-id17139879.html
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/zurcher-justiz-verlegt-brian-in-ein-normales-gefangnis-66084404
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nach-kritik-fall-brian-haftregime-wird-gelockert
-> Stellungnahme Free Brian: https://twitter.com/FreeBrianK/status/1481280797780975616
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/brian-kommt-in-ein-normales-gefaengnis?id=12123293
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/brian-wird-verlegt-und-darf-kontakt-zu-anderen-insassen-haben-00172405/



tagesanzeiger.ch 12.01.2022

Überraschende Verlegung: Brian darf die Einzelhaft verlassen

Nach dem klaren Rüffel vom Bundesgericht handelt der Kanton: Der 26-Jährige wird in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt.

Liliane Minor

Das ging schnell: Nach rund dreieinhalb Jahren Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, teils in einer eigens für ihn erbauten Hochsicherheitszelle, wird der 26-jährige Brian verlegt. In den nächsten Tage soll er in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt werden. Dort soll er ins normale Haftregime integriert werden und Kontakte zu Mithäftlingen pflegen können. Das teilte die Justizdirektion mit.

Die Verlegung kommt insofern überraschend, als die Gefängnisleitung und der Kanton bisher immer argumentiert hatten, es gebe keine Alternative zur rigiden Einzelhaft. Brian sei zu gefährlich, zu unberechenbar. Seine Einzelzelle wurde aus diesem Grund so gestaltet, dass er möglichst wenig direkten Kontakt mit Aufsehern hat. Und der zuständige Staatsanwalt will den jungen Mann verwahrt sehen.

Selbst die Uno schaltete sich ein

Zuletzt wurde der Druck auf die Justizbehörden und die Gefängnisleitung aber zu hoch. Das liegt vor allem an einem Bundesgerichtsurteil von Mitte Dezember. Darin forderte das höchste Gericht den Kanton unmissverständlich auf, «umgehend die Erstellung eines situationsangepassten Konzepts für mögliche Lockerungen des Haftregimes» an die Hand zu nehmen.

Bereits in den Monaten davor hatte das Bundesgericht in mehreren Entscheiden Bedenken in Bezug auf die Haftbedingungen geäussert. Diese seien auf Dauer nicht menschenwürdig. Harsche Kritik kam auch von Uno-Sonderberichterstatter Nils Melzer, der von Folter sprach. Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter schliesslich regte an, Brian in eine psychiatrische Klinik zu verlegen.

«Der Blockade entkommen»

Die Justizdirektion begründete die Verlegung einerseits mit den Urteilen. Anderseits habe sich gezeigt, dass sich Brians Situation in der Pöschwies nicht nachhaltig verbessern lasse. Dafür brauche es die Kooperation des 26-Jährigen, und diese fehle nach wie vor. Ziel sei es nun, «dieser Blockade zu entkommen».

Justizdirektorin Jacqueline Fehr liess sich in der Medienmitteilung so zitieren: «Mit der Verlegung möchten wir B. K. ermöglichen, an seiner Entwicklung zu arbeiten und insbesondere konfliktfreie Beziehungen zu Mitarbeitenden und Mitgefangenen aufzubauen.»

Anwalt begrüsst die Lockerungen

Brians Anwalt Thomas Häusermann begrüsst Verlegung seines prominenten Mandanten: «Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Brian muss endlich wieder Kontakt mit anderen Menschen haben, nicht nur mit dem Gefängnispersonal.» Im Untersuchungsgefängnis sei das zumindest im Spazierhof gegeben.

Dass die Verlegung nun so plötzlich und ohne viel Vorbereitung erfolgt, ist aus Häusermanns Sicht aber auch als eine Art Schuldeingeständnis zu werten: «Jahrelang haben wir dafür gekämpft, dass sich die Situation verbessert – und jedes Mal wurden wir abgewiesen. Zu gefährlich, unmöglich. Dieser Entscheid zeigt nun, dass es eben doch gegangen wäre.»

Inwieweit die lange Isolation bei Brian Spuren hinterlassen hat, was den Umgang mit anderen Menschen angeht, werde sich zeigen, so Häusermann: «Brian muss jetzt zeigen, dass er es kann.» Er selbst ist optimistisch, dass das gelingt.

Wie lange Brian im Gefängnis Zürich bleiben muss, ist noch unklar. Er sitzt seit Sommer 2018 in Haft, weil er in der Pöschwies einen Aufseher angegriffen und immer wieder Personen bedroht haben soll. Dafür verurteilte ihn das Obergericht zu 6 Jahren und 4 Monaten Gefängnis. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, sowohl Verteidigung als auch Staatsanwaltschaft haben es ans Bundesgericht weitergezogen.



Die wichtigsten Daten im Leben des Brian K.

27. August 2013. Unter dem Titel «Sozial-Wahn!» schreibt der Blick erstmals über einen jugendlichen Straftäter mit dem Pseudonym Carlos. Das Boulevardblatt skandalisiert damit einen zwei Tage vorher ausgestrahlten Dok-Film des Schweizer Fernsehens, der zeigt, wie Jugendanwalt Hansueli Gürber einen 17-Jährigen behandelt, den vorher keine Institution bändigen konnte. Der Jugendliche, der eigentlich Brian heisst, wohnt mit einer Sozialarbeiterin zusammen, hat einen Privatlehrer und besucht Thaibox-Kurse.

30. August 2013. Die Behörden knicken nach einem Sturm der Entrüstung ein. Brian wird von einem achtköpfigen Einsatzkommando auf offener Strasse verhaftet, seine Sonderbehandlung ist damit abrupt zu Ende. Die Behörden teilen mit, Brian sei zu seiner eigenen Sicherheit ins Gefängnis gebracht worden.

20. Februar 2014. Das Bundesgericht beurteilt die Verhaftung – anders als vor ihm die Zürcher Instanzen – als unrechtmässig und kritisiert den Kanton ungewohnt harsch. Die Justizdirektion, der damals Martin Graf (Grüne) vorsteht, sieht sich gezwungen, eine neue Einzelbehandlung auf die Beine zu stellen.

19. Juni 2014. Das neue Sonderprogramm wird bereits wieder beendet. Brian sei austherapiert, teilen die Behörden mit.

28. August 2015. Brian muss sich vor Gericht verantworten, weil er einen Kontrahenten mit einem Messer bedroht haben soll. Das Verfahren endet mit einem Freispruch: Bilder einer Überwachungskamera zeigen, dass es kein Messer gab. Die Behörden müssen Brian für sechs Monate Untersuchungshaft entschädigen.

6. März 2017. Brian steht erneut vor Gericht. Dieses Mal wird er zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er einem anderen einen heftigen Kinnhaken verpasste. Sein Verteidiger erhebt in der Verhandlung schwere Vorwürfe: Brian sei im Gefängnis Pfäffikon unmenschlich behandelt worden, habe unter anderem tagelang auf dem Boden schlafen müssen.

3. Juli 2017. Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) räumt Fehler im Umgang mit Brian ein. Der zuständige Gefängnisleiter sei mit dem äusserst renitenten Gefangenen überfordert gewesen: «Wir haben es hier mit einer neuen Dimension der Gewalt zu tun.»

6. November 2019. Weil er im Juni 2017 Aufseher angegriffen haben soll, verurteilt das Bezirksgericht Dielsdorf Brian zu 4 Jahren und 9 Monaten Gefängnis. Die Strafe wird zugunsten einer stationären Therapie aufgehoben.

26. August 2020. Drei Psychiater müssen sich vor Bezirksgericht Zürich verantworten, weil sie den damals 15-jährigen Brian nach einem Suizidversuch in der Psychiatrischen Uniklinik zwei Wochen rund um die Uhr ans Bett fesseln liessen und mit einem Medikamentencocktail ruhigstellten. Das Gericht spricht die Psychiater frei.

25. März 2021. Das Bezirksgericht Zürich kommt zum Schluss, das Gefängnis Pfäffikon habe Brians Menschenwürde verletzt. Bei einem schwierigen Gefangenen greife die Fürsorgepflicht des Staates «umso mehr».

16. Juni 2021. Das Obergericht korrigiert das Urteil des Bezirksgerichts vom 6. November 2019. Es erhöht die Strafe auf 6 Jahre und 4 Monate, verzichtet aber auf eine stationäre Therapie. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, Verteidigung und Staatsanwalt haben es ans Bundesgericht weitergezogen. Brian sitzt derzeit in Sicherheitshaft, einen Antrag auf Haftentlassung hat das Gericht abgelehnt.

28. November 2021. Die drei Psychiater, die Brian ans Bett fesselten, müssen sich vor Obergericht verantworten. Brians Anwalt hat den Freispruch nicht akzeptiert.
(https://www.tagesanzeiger.ch/brian-darf-die-einzelhaft-verlassen-907177744304)



nzz.ch 12.01.2022

Straftäter Brian wird in ein anderes Gefängnis verlegt

Der junge Inhaftierte soll in einem Zürcher Untersuchungsgefängnis nach einer kurzen Integrationszeit ins normale Haftregime eingegliedert werden.

Florian Schoop

Er ist wohl der bekannteste Häftling der Schweiz: der junge Straftäter Brian. Zehn Jahre seines Lebens hat er bereits hinter Gittern verbracht. Und seit über drei Jahren lebt er in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Sicherheitshaft, also in fast totaler Isolation.

Nun wird der 26-Jährige in den nächsten Tagen verlegt – in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis. Das schreibt die Zürcher Direktion der Justiz und des Innern am Mittwoch in einer Mitteilung. Brian soll dort ins normale Haftregime eingegliedert werden. Dazu gehöre die Möglichkeit, Kontakte mit Mitinsassen zu pflegen.

Damit reagieren die Behörden auf den Druck von mehreren Seiten. So hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) im November ihren Bericht zu den Haftbedingungen von Brian veröffentlicht. Darin kritisierte sie insbesondere die lange Dauer der Einzelhaft.

Diese könne die psychische Gesundheit ernsthaft beeinträchtigen und die Möglichkeit einer Resozialisierung stark einschränken. Es seien deshalb umfassende Massnahmen einzuleiten, um auf ein Ende der Einzelhaft des Straftäters hinzuarbeiten – und um gesundheitliche Verschlechterungen zu vermeiden (zum Bericht). Die Kommission wurde im letzten Sommer von der Vorsteherin der Zürcher Justizdirektion, Regierungsratspräsidentin Jacqueline Fehr (sp.), gebeten, sich zu den Haftbedingungen Brians zu äussern.

Brian soll «konfliktfreie Beziehungen aufbauen»

Parallel dazu hat das Bundesgericht wiederholt die Zürcher Behörden gerüffelt und auf ein rasches Handeln gedrängt. Speziell solle nochmals die Möglichkeit einer Verlegung geprüft werden, um die festgefahrene Situation aufzubrechen. Zuletzt wies das Gericht im Dezember das Zürcher Obergericht an, ein Konzept für die Lockerungen des Haftregimes zu erstellen.

Das Bundesgericht erkennt zwar, dass von dem 26-Jährigen eine «nicht zu unterschätzende» Gefahr für andere Menschen ausgehe, insbesondere für das Gefängnispersonal. Es sei aber nicht einzusehen, «dass das Obergericht keine Probleme zu erkennen vermag».

In ihrer Mitteilung vom Mittwoch schreibt nun die Justizdirektion: Für eine nachhaltige Verbesserung der Situation brauche es die Kooperation Brians. Diese fehle im aktuellen Setting nach wie vor. Dennoch will die Behörde die angeregte Verlegung von der JVA Pöschwies in ein Untersuchungsgefängnis vollziehen.

Der Straftäter soll am neuen Ort nach einer kurzen Integrationszeit ins normale Haftregime eingegliedert werden. «Mit der Verlegung möchten wir B. K. ermöglichen, an seiner Entwicklung zu arbeiten und insbesondere konfliktfreie Beziehungen zu Mitarbeitenden und Mitgefangenen aufzubauen», wird Direktionsvorsteherin Jacqueline Fehr zitiert. Sie bedanke sich bei allen Mitarbeitenden, «diese anspruchsvolle Situation einer guten Lösung zuzuführen».

Brians Anwälte kritisieren in einer Mitteilung den Entscheid der Justizdirektion als «deutlich zu spät». Zwar zeige sich die Behörde nun etwas kooperativer. Man bezweifle jedoch, ob die Isolationshaft auch tatsächlich beendet werde. Das Kollektiv fordert deshalb die sofortige Haftentlassung.

Uno-Kritik: «nicht völkerrechtskonform»

Anspruchsvoll ist die Situation schon lange. Der 26-Jährige hat eine lange Odyssee durch verschiedenste Institutionen hinter sich. Bekannt geworden unter dem Pseudonym «Carlos» lebt er aktuell in der JVA Pöschwies in einer neuen Spezialzelle, eigens gebaut für Häftlinge wie ihn.

Angefangen hatte alles 2013, mit einer Reportage über einen Jugendanwalt, der in Frühpensionierung ging. Im Bericht kam auch Brian vor. Der straffällige Jugendliche befand sich in einem Sondersetting, das 29 000 Franken pro Monat kostete. Es entstand eine Justiz-Kontroverse, die bis heute andauert.

Die Kontroverse beschäftigt nebst den Zürcher Behörden nicht nur das Bundesgericht und die NKVF, sondern auch die Uno. Nils Melzer, Sonderberichterstatter für Folter, kritisierte Brians Inhaftierung als «nicht völkerrechtskonform» (zum Bericht). Keine Arbeit, keine Freizeitgestaltung, Einzelhaft: Mit der Behandlung des Häftlings verstosse die Schweiz gegen die Anti-Folter-Konvention.

Vor einem Jahr klagte Brian gegen seine Haftbedingungen – und erhielt recht. Allerdings ging es um einen Gefängnisaufenthalt in Pfäffikon Anfang 2017. Seine Behandlung verstiess laut einem Urteil des Bezirksgerichts Zürich gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Brian musste am Boden schlafen, erhielt keine Kleider und durfte keinen Besuch empfangen. Die Haftbedingungen seien unmenschlich und erniedrigend gewesen, so das Urteil. Es hätten trotz dem aggressiven Verhalten Brians Alternativen bestanden.

Schon früh kam Brian in Konflikt mit den Behörden. Als Viertklässler musste er eineinhalb Monate in einer geschlossenen Institution in Winterthur verharren, weil man ihn verdächtigt hatte, einen Brand in einem Schuppen gelegt zu haben. Die Ermittlungen ergaben allerdings, dass er unschuldig war. Als er 15 war, wurde er in eine Psychiatrie eingeliefert. Dort fesselte man ihn dreizehn Tage lang ans Bett und stellte ihn mit Medikamenten ruhig. Dieser Vorfall beschäftigt noch immer die Justiz.
(https://www.nzz.ch/zuerich/fall-brian-junger-straftaeter-wird-in-anderes-gefaengnis-verlegt-ld.1664376)


+++POLIZEI SG
««Die Polizei hat die Verhältnismässigkeit verloren»: Juso-Stadtparlamentarierin prangert einseitige Polizeirepression an
Die Interpellation, die Klimaaktivistin Miriam Rizvi am Dienstag im Stadtparlament einreichte, hat es in sich. Der Vorwurf: Die Stadtpolizei behandle Kundgebungen von Coronaskeptikern anders als linke Aktionen.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/stadt-stgallen-die-polizei-hat-die-verhaeltnismaessigkeit-verloren-juso-stadtparlamentarierin-klagt-einseitige-polizeirepression-an-ld.2237854


+++FRAUEN/QUEER
Schwulenorganisation Pink Cross erfreut über Walliser Engagement betreffend Sensibilisierung rund um queere Menschen. (ab 02:16)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/freiburger-einwohnerkontrolle-wegen-corona-geschlossen?id=12122987


+++RAPE CULTURE
Schweigen und Stigma – Warum wir beim Umgang mit sexualisierter Gewalt versagen
Unsere Freundin Linna hat eine Vergewaltigung erlebt. Sie hat uns davon erzählt. Wir haben geschwiegen. Warum?
https://www.ajourmag.ch/schweigen-und-stigma/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Schaffhauser Nachrichten 12.01.2022

Experte spricht von «tickenden Zeitbomben»: Rechtsextreme tauchen in der Schweiz unter

Sieben Neonazis, gegen die in Deutschland ein Haftbefehl läuft, leben zurzeit in der Schweiz. Ein Experte spricht von «tickenden Zeitbomben», die bei sogenannten Kameraden Unterschlupf gefunden haben.

Reto Zanettin

Wie Eidgenossen von anno dazumal wollen sie sich geben, die Mitglieder der Gruppe «Junge Tat» (JT). Ihrer Auffassung nach bedeutet das: «Frei, liebend, zäh und langsam im Verzeihen sein.» Aktiv werden wollen sie gegen die «Überfremdung unseres Landes», weshalb sie beispielsweise strengere Grenzkontrollen fordern. Der «Tages-Anzeiger» bezeichnete die JT einmal als «die mit Abstand aktivste rechtsextreme Bewegung der Deutschschweiz». Bekannt ist sie ebenfalls dem Nachrichtendienst des Bundes (NDB). In einem Lagebericht, der im Sommer erschien, erwähnte er die Gruppierung explizit. Zu erwarten sei, dass Gewalt durch Rechtsextreme zunehmen würde.

In Deutschland möchte «Die Linke», die zurzeit kleinste Bundestagsfraktion, im Halbjahresrhythmus über die rechtsextreme Szene informiert werden. Dazu stellt sie der Bundesregierung stets aufs Neue eine Reihe von Fragen, beispielsweise: Wie viele Personen werden per Haftbefehl gesucht? Was genau haben sie verbrochen? Und wo halten sie sich auf? Die jüngsten Antworten der Bundesregierung kamen im Dezember bei den Fragestellern an.

Gegen rund 600 Personen aus dem politisch rechten Spektrum sind total 788 Haftbefehle offen, manche Leute werden also mehrfach strafverfolgt. Dabei waren es in den letzten drei Jahren noch nie so viele wie im Moment. 147 Personen wurden gewalttätig, 24 davon aus politischen Motiven. Das Spektrum der Delikte reicht indessen von Beleidigung und Volksverhetzung bis hin zu Terrorismus.

Die Schweiz kommt ins Spiel, wenn es um Neonazis geht, nach denen in Deutschland gefahndet wird, die sich aber im Ausland aufhalten. 87 sind es total. Je rund ein Dutzend hat Deutschland in Richtung Polen respektive Österreich verlassen. Sieben Rechtsextreme, gegen die in Deutschland ein Haftbefehl läuft, halten sich laut der Bundesregierung aktuell in der Schweiz auf. Im Frühling 2019 lebten erst vier solche Personen hier. Der Trend weist daher bei tiefen absoluten Zahlen nach oben.

Serena Gut leitet die Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention der Stadt Winterthur. «Eine extreme Haltung vertreten ist nichts Illegales», sagt sie. Aus Sicht ihrer Fachstelle sei eine Gefahreneinschätzung zu den Neonazis aus Deutschland in der Schweiz schwierig, solange keine Meldung vorliege. «Erst wenn Drohungen ausgesprochen, Gewalt verübt oder Terrorismus unterstützt wird, werden Schweizer Gesetze verletzt. Dann beziehen wir die Polizei ein.»

«Tickende Zeitbomben»

Axel Salheiser, wissenschaftlicher Referent am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena, geht davon aus, «dass diese Leute schon einiges auf dem Kerbholz haben». Durch die Flucht ins Ausland entzögen sie sich langjährigen Haftstrafen in Deutschland. Der Soziologe mit Forschungsschwerpunkt Rechtsextremismus schätzt die Gefährlichkeit der gesuchten Personen so ein: «Wir müssen davon ausgehen, dass diese Menschen tickende Zeitbomben sind.» Naheliegend sei es, dass sie in der Schweiz nicht in gleicher Weise kriminell werden, wie sie es in Deutschland geworden sind. «Sie wollen unauffällig leben und nicht noch ein Strafverfahren am Hals haben. Sie versuchen, im Exil eine Zeit lang zu überwintern.» Doch die Gefahr an und für sich bleibe und dürfe keineswegs bagatellisiert werden. Auf lange Sicht könnten die Rechtsextremen selbst erneut Straftaten begehen oder andere dazu anleiten. Dies, zumal sie sich an Netzwerken beteiligen, die sich europaweit ausgebreitet und bis in die Schweiz hinein verästelt haben.

«Es gibt eine ganz klare Verbindung zwischen deutschen und schweizerischen Neonazis – es sind Rechtsextreme, die sich aus der Kameradschaftsszene kennen. Es bestehen persönliche Kontakte und Freundschaften, die über Jahre gepflegt worden sind.» Da sei es leicht, irgendwo unterzukommen, führt Salheiser aus. «Man geht zu Bekannten oder sogenannten Kameraden in der Schweiz, wenn man in Deutschland gesucht wird.» In Spendenaktionen treiben die Neonazis Geld füreinander auf, damit sie ihren Lebensunterhalt finanzieren können. «Plausibel ist es zudem, dass man in der Firma seiner Kameraden unterkommt. Oder diese vermitteln einem eine Wohnung», sagt Salheiser.

Die Behörden mauern

Während Fachleute offen über Rechtsextremismus sprechen, schweigen die Behörden beidseits der Landesgrenze. Das deutsche Bundesinnenministerium will sich nicht äussern. Die Schaffhauser Polizei macht keine Angaben, ob sich Rechtsextreme aus Deutschland in der Schweiz oder in Schaffhausen aufhalten und wie gefährlich sie gegebenenfalls sind. Sie handle jedoch, wenn sie durch den NDB oder aus der Bevölkerung von Straftaten durch Rechtsextreme erfahre, teilt Patrick Caprez, Kommunikationsbeauftragter der Schaffhauser Polizei, mit. Konkretes gibt auch das Bundesamt für Polizei (Fedpol) nicht preis. Mediensprecher Florian Näf erklärt allerdings den Umgang mit Rechtsextremen, Terroristen und anderen Kriminellen aus dem Ausland ganz allgemein. Die Schweiz wisse aufgrund des polizeilichen Informationsaustauschs, welche Leute international ausgeschrieben sind. Wenn diese in einer Kontrolle hängen bleiben, würden sie festgenommen und ausgeliefert, so Näf.
(https://www.shn.ch/ueberregionales/politik/2022-01-12/rechtsextreme-tauchen-in-der-schweiz-unter)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Für Android und iOS – Telegram blockiert Inhalte der Verschwörungsszene
Äußerst selten greift Telegram in Inhalte von Nutzer:innen ein. Jetzt blockiert Telegram in Einzelfällen Gruppen und Kommentare, in denen gegen Corona-Maßnahmen gehetzt wird. Betroffen ist, wer die App direkt von Google und Apple bezieht.
https://netzpolitik.org/2022/fuer-android-und-ios-telegram-blockiert-inhalte-der-verschwoerungsszene/


Freiheitstrychler – Wie ticken die Gegner der Corona-Massnahmen?
Mit Tell und Trycheln gegen die Corona-Massnahmen: Die Freiheitstrychler prägen die Massnahmen-Kritiker-Bewegung. Reporter Donat Hofer verbringt 24 Stunden mit ihnen und will herausfinden, wie sie ticken.
https://www.srf.ch/play/tv/rec-/video/freiheitstrychler—wie-ticken-die-gegner-der-corona-massnahmen?urn=urn:srf:video:ea856df8-16af-4518-bd06-1e0941288239&aspectRatio=16_9


Simon T. (17) mit Corona infiziert – nun erhält er unmoralische Angebote von Impfgegnerinnen: «Sie fragen, ob ich sie anstecken würde»
Simon T. wird positiv auf Corona getestet. Da er einen Tag zuvor im Tennisverein Kinder trainiert hat, informiert er die Eltern über seine Infektion. Neben Genesungswünschen kommt eine skurrile Anfrage: Jemand möchte sich absichtlich bei T. anstecken lassen.
https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/simon-t-17-mit-corona-infiziert-nun-erhaelt-er-unmoralische-angebote-von-impfgegnerinnen-sie-fragen-ob-ich-sie-anstecken-wuerde-id17137607.html


Kampagne gegen Coronamaßnahmen: YouTube sperrt zeitweise #allesaufdentisch-Kanal
Die umstrittene Promi-Protestaktion setzt Covid-19 mit einer Erkältung gleich und stellt die Impfung als tödlich dar. Nun darf der Kanal nach SPIEGEL-Informationen eine Woche lang keine neuen Videos hochladen.
https://www.spiegel.de/netzwelt/allesaufdentisch-youtube-sperrt-kanal-zeitweise-a-13599591-9d01-4b51-8fc2-7555ad13f604?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter&utm_campaign=spiegel_24#ref=rss


Eskalation an Demo in St. Gallen: Hier wehrt sich eine Corona-Skeptikerin gegen die Polizei
Corona-Skeptiker versammelten sich am Montag zu einer illegalen Demo in St. Gallen. Als die Polizei die Veranstaltung auflöste, widersetzte sich eine Frau. Es kam zu einem Handgemenge, wie ein Leservideo zeigt.
https://www.blick.ch/schweiz/ostschweiz/eskalation-an-demo-in-st-gallen-hier-wehrt-sich-eine-corona-skeptikerin-gegen-die-polizei-id17138517.html


Impfgegner verbreiten verstörendes Gerücht: Bub (6) soll an Corona-Impfung gestorben sein
Im Netz kursiert unter Impfgegnern die Meldung, dass ein Bub (6) im österreichischen Kärnten nach der Corona-Impfung kollabiert und gestorben sei. Wie sich herausstellt, ist nichts davon wahr.
https://www.blick.ch/ausland/impfgegner-verbreiten-verstoerendes-geruecht-bub-6-soll-an-corona-impfung-gestorben-sein-id17140834.html


TOP TALK: So funktionieren Verschwörungstheorien
5G kontrolliert unsere Gedanken, Corona ist aus dem Labor entwichen und 9/11 war inszeniert – Verschwörungstheorien sind beliebt. Laut einer neuen Basler Studie aus 2021 glauben rund 30% der Menschen in Deutschland und Deutschschweiz an eine Corona-Verschwörung.
https://www.toponline.ch/news/detail/news/top-talk-so-funktionieren-verschwoerungstheorien-00172403/



derbund.ch 12.01.2022

Hintergrund zu Djokovic-Affäre: Toxische Impfskepsis auf dem Balkan

Verschwörungstheorien, kein Vertrauen in das Gesundheitssystem und mangelndes Risikobewusstsein spielen eine verheerende Rolle in Südosteuropa. Eine Übersicht.

Enver Robelli

Omikron lässt die Infektionszahlen überall in Europa in die Höhe schnellen. Der Kontinent steckt in einem düsteren Pandemiewinter. Vergleicht man die Impfquoten der europäischen Länder, fällt einem vor allem die Kluft zwischen West- und Südosteuropa auf. Während in manchen westeuropäischen Staaten fast 90 Prozent der erwachsenen Bevölkerung doppelt geimpft sind – in der Schweiz sind es rund 80 Prozent – und schwere Verläufe eher selten sind, dümpelt der Impffortschritt auf dem Balkan vor sich hin. Im Folgenden eine Übersicht der Gründe für die grosse Impfskepsis in der Region.

1) Die Pest der Verschwörungstheorien

Der Esoterik-Anhänger Novak Djokovic ist mit seiner Impfskepsis nicht allein. Auch seine Ehefrau teilte auf Instagram ein Video «eines US-Mediziners», wonach die Pandemie durch die 5G-Technologie verbreitet worden sei. Instagram löschte den Post mit dem Hinweis, es handle sich um eine falsche Nachricht. Das umstrittene, zehnminütige Video wurde mehr als hunderttausendmal geklickt.

Der Epidemiologe Zoran Radovanovic wirft den regierungstreuen Medien vor, sie würden den Impfgegnern viel Platz einräumen. Oft dürften sie unwidersprochen behaupten, dass Covid-19 nicht existiere und die Vakzine Mikrochips enthielten. Laut Radovanovic trägt auch Staatspräsident Aleksandar Vucic eine grosse Verantwortung für den Schlamassel. Er wisse, dass die xenophoben Impfskeptiker potenzielle Wähler seiner Partei seien, deshalb lasse er sie in Ruhe, sagte Radovanovic gegenüber Radio Free Europe. Der Urnengang findet Anfang April statt. Der Arzt Radovanovic spricht von einer «schizophrenen Situation» in Serbien. Bisher haben sich nur 46,6 Prozent der Bevölkerung gegen die Krankheit doppelt impfen lassen.

In Kosovo ist die Impfquote mit 42 Prozent noch tiefer. In dem kleinen Balkanland herrscht eine brutale Medienkonkurrenz. Der Kampf um Aufmerksamkeit und Klicks hat zur Folge, dass Verschwörungstheoretiker bei Fernsehstationen offene Türen einrennen. In den letzten Monaten haben sich auch einige Islamisten durch Lügen und fragwürdige Meinungen zur Impfkampagne hervorgetan.

In Albanien macht der schwurbelnde Influencer Alfred Çako Schlagzeilen. Auf Facebook folgen ihm fast 35’000 Menschen. In einer Fernsehsendung behauptete Çako, der Impfstoff von «Big Pharma» enthalte Schwermetalle, mache unfruchtbar, manipuliere die Hormone und führe zum Libidoverlust. In Albanien haben sich bisher nur 37 Prozent der erwachsenen Menschen vollständig impfen lassen. In Nordmazedonien sind es knapp 40 Prozent, in Montenegro 44 Prozent.

Im ersten Jahr der Pandemie fehlte es in den meisten Balkanstaaten an Impfstoff. Vor allem die serbische und die albanische Regierung kauften zunächst Corona-Vakzine in Russland und China. Mittlerweile gibt es in der Region genug Impfstoff aus westlicher Produktion, doch die Booster-Impfung läuft schleppend – gleichzeitig steigen die Infektionen und die Todesfälle. In Serbien wurden am Dienstag 13’693 Menschen positiv getestet – die höchste Zahl seit dem Ausbruch der Infektionskrankheit Covid-19.

2) Misstrauen gegen das Gesundheitssystem

Das Gesundheitssystem in den meisten Balkanstaaten ist marode und wird von den Regierungen vernachlässigt. Schon vor Jahren war eine Studie von Transparency International zum Schluss gekommen, dass 80 Prozent der Patientinnen und Patienten in Albanien Schmiergeld zahlen. Die niedrigen Löhne des medizinischen Personals, das schlechte Management des Gesundheitswesens und mangelnde staatliche Kontrollen verschärfen das Problem. In Gesundheitsministerien und staatlichen Spitälern werden meist treue Anhänger der jeweils regierenden Parteien beschäftigt. Politische Loyalität zählt mehr als die Qualifikation.

Von Bosnien über Serbien bis Nordmazedonien gibt es Beispiele, die exemplarisch illustrieren, wie perfide manche Ärzte vorgehen, um Bestechungsgeld von kranken Menschen zu erpressen. Zuerst stellt man die Diagnose und macht dem Patienten klar, dass eine Intervention dringend notwendig sei. Danach heisst es oft, leider stünden weder genug Betten zur Verfügung noch hätten die Ärzte Zeit für die Behandlung. Der verdutzte Patient steht nun vor der Wahl, entweder die Mediziner zu korrumpieren oder sich in ein Privatspital zu begeben. Solche Machenschaften zerstören jegliches Vertrauen in das Gesundheitssystem.

Junge Ärztinnen und Pfleger verlassen die Region in Scharen vor allem in Richtung Deutschland. Die Belgrader Zeitung «Blic» schätzt, dass jährlich bis zu 700 Ärzte aus Serbien emigrieren. Das Land verliere fast 40’000 Einwohner im Jahr, zeigt sich die staatstragende Tageszeitung «Politika» alarmiert.

Seit dem Fall des kommunistischen Regimes vor 30 Jahren in Albanien haben 1,7 Millionen Menschen ihrer Heimat den Rücken gekehrt. Das sind 37 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die Adriarepublik zählt nur noch 2,8 Millionen Einwohner. Die demografische Lage ist auch in Nordmazedonien und Bosnien besorgniserregend.

3) Mangelndes Risikobewusstsein

Die Gesundheitsexpertin Edona Deva von der Organisation Community Development Fund in Pristina sieht noch einen weiteren Grund für die Impfskepsis: Das mangelnde Risikobewusstsein weit über bildungsferne Schichten hinaus. Als Folge der jugoslawischen Zerfallskriege, der darauffolgenden politischen Instabilität und Korruption wurde das Bildungssystem überall in der Region fast ruiniert. Kritisches Denken und Hinterfragen sind an Hochschulen nicht sehr ausgeprägt.

Dass die soziale Lage der Bevölkerung starken Einfluss auf die Impfbereitschaft hat, beweist auch eine wissenschaftliche Studie des deutschen Max-Planck-Instituts mit Daten aus 27 europäischen Ländern und Israel. Menschen mit kleinem Einkommen und niedrigem Bildungsniveau lassen sich demnach seltener impfen. Hinzu kommt, so die kosovarische Ärztin Edona Deva, dass die Regierungen der meisten Balkanstaaten zu wenig tun, um die Menschen zur Impfung zu bewegen.

Hinweis: Ursprünglich wurde in diesem Text für die Schweiz eine Impfquote von rund 68 Prozent angegeben. Diese Quote bezieht sich jedoch auf die Gesamtbevölkerung. Für die Erwachsenen liegt die Quote derzeit bei rund 80 Prozent. Das Bundesamt für Gesundheit weist die Quote für Erwachsene in seinem Dashboard nicht separat aus. Bei der Bevölkerung ab 12 Jahren liegt sie aktuell bei 77 Prozent. (12.01.2022 um 12.45 Uhr)
(https://www.derbund.ch/auf-dem-balkan-ist-die-impfskepsis-toxisch-400373129908)


+++HISTORY
Gotthelf und die Impfgegner – Tagesschau
Die Frage, wie weit ein Staat bei der Impfpflicht gehen darf, führte in der Schweiz im 19. Jahrhundert bereits zum erbitterten Streit: In seiner Chronik «Anne Bäbi Jowäger» rechnete Jeremias Gotthelf 1843 mit Impfgegnern der damals neuen Pocken-Impfung ab.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/gotthelf-und-die-impfgegner?urn=urn:srf:video:cdc5c3a1-58d9-48d5-b038-ea57ef4eea5a