Medienspiegel 11. Januar 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Von unsichtbarer Hand
Eigentlich weist am Bundesverwaltungsgericht eine Software den Richtern die Fälle zu. Doch das Programm wird regelmässig übersteuert. Und jetzt zeigt sich: Sogar Unbefugte konnten eingreifen. Besonders häufig passiert ist dies bei Asylentscheiden.
https://www.republik.ch/2022/01/11/von-unsichtbarer-hand


Ungenügende Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen in Bundesasylzentren
In den letzten Jahren machten wiederholt beunruhigende Berichte zu Gewalt und Menschenrechtsverletzungen in Bundesasylzentren die Runde. Um die Vorwürfe zu untersuchen, gab das Staatssekretariat für Migration eine externe Untersuchung in Auftrag. Der veröffentlichte Bericht ist allerdings unvollständig und lässt den Ausschluss strukturell bedingter Gewaltanwendungen in den Asylunterkünften des Bundes nicht zu.
https://www.humanrights.ch/de/ueber-uns/ungenuegende-aufarbeitung-menschenrechtsverletzungen-bundesasylzentren?force=1


+++GRIECHENLAND
nzz.ch 11.01.2022

Wo stecken die 25 000 Migranten, die von der griechischen Küstenwache gerettet wurden?

In Griechenland sind laut UNHCR im vergangenen Jahr rund 8600 Migranten angekommen. Die Regierung behauptet, allein 29 000 Personen aus dem Meer gerettet zu haben. Wohin wurden sie gebracht?

Elena Panagiotidis

Das Meer spült noch immer die Toten an. Am Samstag wurde ein Kleinkind an einem Strand der Kykladeninsel Naxos gefunden. In den Tagen zuvor waren bereits vier Leichen entdeckt worden, unter ihnen die eines Teenagers. Es wird vermutet, dass die angeschwemmten Toten Opfer eines Bootsunglücks sind, das sich an den Weihnachtstagen vor der Nachbarinsel Paros abgespielt hat. Unmittelbar nach dem Unglück wurde die Zahl von 16 Toten bestätigt, es gibt zahlreiche Vermisste. Zur gleichen Zeit kam es zu Unglücken vor der Insel Folegandros und nördlich vor Kreta, bei denen mindestens 14 Personen ums Leben kamen. Die Migranten waren in der Türkei gestartet und befanden sich auf dem Weg nach Italien.

Die Toten rufen in Erinnerung, dass noch immer zahlreiche Menschen über das Mittelmeer von der Türkei in EU-Staaten zu gelangen versuchen, auch wenn ihre Zahl im vergangenen Jahr weiter abgenommen hat. Am 31. Dezember setzte der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis einen freudigen Tweet ab: «Wir verabschieden 2021, das Jahr mit den niedrigsten Migrantenströmen seit Beginn der Krise. Mit Planung, Entschlossenheit und harter Arbeit haben wir die Kontrolle wiedererlangt. Und wir bleiben dran!»

Illegale «Pushbacks» durch die Küstenwache?

Angehängt war eine Grafik, die zeigt, dass im vergangenen Jahr nur 8616 Migranten nach Griechenland gekommen sind, die niedrigste Zahl seit 2015, als fast 875 000 Flüchtlinge und Migranten registriert worden waren. Laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) wurden im vergangenen Jahr 8715 neue Ankünfte in Griechenland registriert, 4058 von ihnen über den Seeweg und 4657 über den Landweg.

    Αποχαιρετούμε το 2021, τη χρονιά με τις χαμηλότερες μεταναστευτικές ροές από την έναρξη της κρίσης. Με σχέδιο, αποφασιστικότητα και σκληρή δουλειά ανακτάμε τον έλεγχο. Και συνεχίζουμε! pic.twitter.com/wZxLulpIzR
    — Νότης Μηταράκης – Notis Mitarachi (@nmitarakis) December 31, 2021

Allerdings werfen die niedrigen Zahlen Fragen auf. Nach den Bootsunglücken an Weihnachten drückte der Schifffahrtsminister Giannis Plakiotakis sein Bedauern über die Opfer aus. Zudem sagte er, dass die Küstenwache im Jahr 2021 mehr als 29 000 Flüchtlinge und Migranten aus dem Meer gerettet habe.

Doch was ist mit ihnen passiert? Der Vorschrift nach hätten sie auf die griechischen Inseln gebracht, dort den zuständigen Behörden übergeben und registriert werden müssen. Doch wurden laut UNHCR im vergangenen Jahr auf den Inseln eben nur knapp über 4000 Ankünfte registriert. Rund 25 000 Personen tauchen also in der Statistik nicht auf.

Wurden sie durch «Pushbacks» in die Türkei zurückgedrängt? Also gewaltsam von der Küstenwache am Betreten von EU-Territorium gehindert? Solche Vorwürfe halten sich hartnäckig seit Jahren. Sie sind in manchen Fällen auch belegt, werden aber von der Regierung in Athen immer wieder dementiert. Auch die europäische Grenzschutzagentur Frontex wird beschuldigt, die illegalen Rückführungen zu unterstützen oder zu decken.

Eigentlich müssten das Schifffahrtsministerium oder das Migrationsministerium über den Verbleib der angeblich aus dem Meer geretteten Personen Auskunft geben können. Doch die Behörden lassen Anfragen dazu unbeantwortet.

Wie das UNHCR auf Anfrage mitteilt, wurden seit März 2020 keine formalen Rückführungen in die Türkei durchgeführt. Damals war es zur Eskalation gekommen, nachdem der türkische Präsident Erdogan rund 13 000 Personen mit falschen Versprechungen an die türkisch-griechische Grenze im Evros-Gebiet gelockt hatte.

Zudem setzte die Covid-19-Pandemie den Rückführungen vorläufig ein Ende. Das UNHCR sagt aber auch, dass man von über 450 Vorfällen von informellen Rückführungen seit Anfang 2020 Kenntnis habe.

Wesentlich höher sind die Zahlen, die der Aegean Boat Report meldet. Die norwegische NGO, die Daten zu Migrationsbewegungen in der Ägäis sammelt, spricht von rund 14 000 Personen, die letztes Jahr von der griechischen Küstenwache zurück in die Türkei geschickt wurden.

Die türkische Küstenwache, die dem Innenministerium in Ankara untersteht, listet über 16 000 Personen auf, die 2021 zurückgeschoben wurden.

Zahlenchaos deutet auf Kontrollverlust hin

Dass sich Tausende der angeblich 29 000 geretteten Migranten illegal und unregistriert auf den Inseln aufhalten, ist unwahrscheinlich. In und um die Registrierungslager auf Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros befinden sich laut Regierungsangaben vom Dezember 2021 nur noch rund 3500 Menschen.

Viele, die dort zum Teil seit Jahren ausharrten, sind in den vergangenen Monaten von den Behörden aufs Festland gebracht worden. Derzeit befinden sich noch 38 000 Asylsuchende in Griechenland.

Auch dass die Schiffbrüchigen unregistriert aufs Festland gebracht wurden, erscheint unplausibel. Vielmehr unternehmen die Behörden auch auf dem Festland irreguläre Abschiebungen, bei denen Flüchtlinge und Migranten teilweise über Hunderte von Kilometern an die türkische Grenze zurückgebracht werden, wie ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International aufdeckt.

Wie die Menschen, die bei den Bootsunglücken an den Weihnachtstagen ums Leben kamen, versuchen immer mehr Migranten und Flüchtlinge von der Türkei aus direkt nach Italien zu gelangen, da die Meerenge zwischen der Türkei und den ostägäischen Inseln scharf kontrolliert wird.

So auch eine Gruppe von Migranten, die im September auf dem Weg nach Italien mit einem defekten Segelboot an der Küste der griechischen Halbinsel Peloponnes strandete. Wie Recherchen der deutschen «Tagesschau» zeigten, wurden sie von den Behörden festgenommen und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf ein grösseres Schiff verfrachtet, das sie in die Hunderte von Kilometern entfernten türkischen Gewässer brachte. Die griechischen Behörden streiten jede Kenntnis von dem Vorfall ab.

So bleibt die Frage, ob die Genugtuung des griechischen Migrationsministers über die angeblich wiedererlangte Kontrolle über die Migrationsströme gerechtfertigt ist. Wer keine Auskunft über den Verbleib von Tausenden von Menschen geben kann, hat eher die Kontrolle verloren.
(https://www.nzz.ch/international/griechenland-unstimmige-zahlen-bei-migranten-und-fluechtlingen-ld.1663070)


+++EUROPA
EU-Grenzschutzagentur Frontex: Illegale Grenzübertritte auf Vor-Corona-Niveau
Sie kommen aus Syrien, Tunesien oder Afghanistan: Knapp 200.000 Mal haben im vergangenen Jahr Menschen versucht, illegal in die EU zu gelangen. Die Zahl liegt laut Grenzschutzagentur Frontex so hoch wie zuletzt vor der Pandemie.
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/frontex-grenzuebertritte-105.html


+++LIBYEN
Im Visier der libyschen Milizen
Geflüchtete werden Opfer willkürlicher Festnahmen
Hunderte von Migranten sind am Montag in der libyschen Hauptstadt Tripolis verhaftet worden. Die Menschen, die auf ihrer Flucht aus dem südlichen Afrika nach Europa in Libyen gestrandet sind, sollen aus dem Stadtbild verschwinden.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160331.migrant-innen-in-libyen-im-visier-der-libyschen-milizen.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160315.libyen-schweigende-zustimmung.html


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Banner Aktion in Gedenken an Leyla, Fidan und Sakine
Heute, am 10. Januar gingen wir mit einem Banner vor die türkische Botschaft in Bern um den drei Kämpferinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez zu gedenken.
https://barrikade.info/article/4947


+++REPRESSION DE
Druck auf Klimaschützer: Staatsschutz geht gegen Fridays vor
Fridays for Future protestiert friedlich für radikalen Klimaschutz. Doch die Bewegung sieht sich immer häufiger mit Repressionen konfrontiert.
https://taz.de/Druck-auf-Klimaschuetzer/!5824934/


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Zuerst verprügelt, dann ausgeschafft: Parlament will Korrektur bei häuslicher Gewalt
Die gebürtige Marokkanerin Nour heiratete einen Schweizer. Er verprügelte, würgte und bedrohte sie. Nach der Trennung drohte Nour trotz der häuslichen Gewalt die Ausschaffung. Das Parlament will künftig solche Fälle verhindern.
https://www.watson.ch/schweiz/nationalrat/363555945-parlament-will-korrektur-bei-haeuslicher-gewalt
-> https://www.blick.ch/politik/kein-landesverweis-nach-scheidung-auslaenderinnen-sollen-besser-vor-gewalt-geschuetzt-werden-id17136508.html
-> https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-spk-s-2022-01-11.aspx


+++EUROPOL
Oberster Datenschützer der EU fordert Löschung von Europol-Daten
Der oberste Datenschützer der EU hat die Polizeibehörde Europol zur massenhaften Löschung persönlicher Daten von Verdächtigen aufgefordert. Die europäischen Ermittler würden mit ihrem derzeitigen Umgang mit persönlichen Daten ihren eigenen Regeln nicht gerecht, erklärte der EU-Datenschutzbeauftragte Wojciech Wiewiorowski am Montag.
https://www.watson.ch/international/eu/848915673-oberster-datenschuetzer-der-eu-fordert-loeschung-von-europol-daten
-> https://netzpolitik.org/2022/europol-eu-polizeibehoerde-laesst-offen-ob-sie-illegale-datensammlung-loescht/


+++FRAUEN/QUEER
Kanton Wallis unterstützt die queere Gemeinschaft
Das Wallis will die Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans, Intergeschlechtlichen und queeren Menschen (LGBTIQ+) bekämpfen. Neben einer Kampagne gegen Homophobie und Transphobie wird im Amt für Gleichstellung und Familie eine neue Stelle geschaffen, die sich der Thematik widmet.  (ab 07:34)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/kanton-wallis-unterstuetzt-die-queere-gemeinschaft?id=12122849
-> https://www.blick.ch/politik/kanton-will-zu-den-vorreitern-gehoeren-wallis-kaempft-gegen-diskriminierung-von-lgbtiq-menschen-id17137210.html
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/wallis-will-lgbtiq-personen-besser-unterstuetzen?urn=urn:srf:video:9dacd1cd-6fc3-4142-b5ff-0960ebb4a3c1
-> Aktionsplan: https://www.vs.ch/de/web/communication/detail?groupId=529400&articleId=14664365&redirect=https%3A%2F%2Fwww.vs.ch%2Fde%2Fhome%3Fp_p_id%3Dcom_liferay_asset_publisher_web_portlet_AssetPublisherPortlet_INSTANCE_vUFi3Jlrl5Uc%26p_p_lifecycle%3D0%26p_p_state%3Dnormal%26p_p_mode%3Dview


+++RECHTSPOPULISMUS
«Ein Zeichen linker Ideologen»: Warum sich die Junge SVP Aargau heftig über die Neue Kanti Aarau enerviert
Die Neue Kantonsschule Aarau verwendet in mehreren Dokumenten den Genderstern. Das passt der Jungen SVP gar nicht. Sie bringt gar einen Gesetzesverstoss ins Spiel. Wie die Schule auf die Kritik reagiert.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/aarau/sprachgebrauch-wegen-des-gendersterns-warum-sich-die-junge-svp-aargau-heftig-ueber-die-neue-kanti-aarau-erzuernt-ld.2237290


+++RECHTSEXTREMISMUS
Dritter Prozess gegen die „Europäische Aktion“ (EA)
Am 10.01.2022 fand ein weiterer Prozess gegen ein Mitglied der neonazistischen „Europäischen Aktion“ am Wiener Landesgericht statt. Der Pensionist zeigte sich geständig und wurde in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen und zu 5 Jahren auf Bewährung verurteilt. Das Urteil ist bisher nicht rechtskräftig.
https://prozess.report/prozesse/europaeische-aktion-3/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Anzeigen nach Kundgebung der Massnahmengegner in St. Gallen
Bei einer unbewilligten Kundgebung von rund 40 Gegnerinnen und Gegnern der Maskenpflicht an Schulen sind in der Stadt St. Gallen acht Personen angezeigt worden.
https://www.nau.ch/news/polizeimeldungen/anzeigen-nach-kundgebung-der-massnahmengegner-in-st-gallen-66083602
-> https://www.20min.ch/story/acht-personen-nach-illegaler-kundgebung-angezeigt-995384991745
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/stgallen-acht-personen-nach-unbewilligter-demo-angezeigt-00172322/
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/pandemie-unbewilligte-demonstration-in-stgallen-gegen-maskenpflicht-an-schulen-acht-personen-angezeigt-ld.2237312


Coronavirus: Heilpraktikerin will «Maskengifte» ausleiten
Eine Naturheilpraktikerin will vermeintliche Giftstoffe von Masken und Impfungen gegen das Coronavirus neutralisieren. Ein Experte spricht von «Quacksalberei».
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-heilpraktikerin-will-maskengifte-ausleiten-66080815


Novak Djokovic – die Nähe zum Nationalismus und zur Esoterik
Novak Djokovic hofft in Melbourne nach der vorläufigen Aufhebung seines Einreiseverbots nach Australien auf die Teilnahme an den Australian Open. Der Rechtsstreit um sein Visum zeigt auch seine Nähe zu serbischen Nationalisten und zur Esoterik.
https://www.sportschau.de/tennis/australian-open/novak-djokovic-australian-opne-nationalismus-esoterik-100.html


Corona-Nebenwirkungen: ORF zeigt dreiteilige Dokureihe “Verschwörungswelten”
Eigener Themenabend am Mittwoch mit “Plandemie”, “Die großen Impf-Irrtümer” und Setteles “Dok 1: Endstation Verschwörung”
https://www.derstandard.at/story/2000132450376/corona-nebenwirkungen-orf-zeigt-dreiteilige-dokureihe-verschwoerungswelten?ref=rss


Linkes Internetprojekt im Querdenker-Sumpf angekommen
Ehemalige Mitstreiter*innen wehren sich gegen Querfront bei free.de
Das Internetprojekt free.de ist ein Urgestein der linken Internetszene. Jetzt sind die letzten verbliebenen Aktivist*innen ins Querdenkerlager gewechselt. Anfang Januar demonstrierten sie in Dortmund gemeinsam mit Neonazis.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160300.wissenschaftsladen-dortmund-linkes-internetprojekt-im-querdenker-sumpf-angekommen.html


Mordpläne auf Telegram: Radikale deutsche Impfgegner hatten Unterstützung aus den USA
Gegner der Corona-Maßnahmen haben Mordpläne gegen Sachsens Landeschef Kretschmer geschmiedet. Nun wird bekannt: Beim Aufbau ihrer Gruppe half ein bekannter US-Neonazi.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-01/mordplaene-telegram-impfgegner-john-de-nugent


Neugegründeter Verein «Aufrecht Schweiz» will jetzt in die Parlamente
Die Vereinsmitglieder von «Aufrecht Schweiz» fühlen sich von den Politikern nicht mehr vertreten. Jetzt stellen sie erstmals Kandidaten für kantonale Wahlen. Das Ziel ist es, im Jahr 2023 Sitze im National- und Ständerat zu erobern. Die Geburt einer neuen Protest-Partei?
https://www.20min.ch/story/neugegruendeter-verein-aufrecht-schweiz-will-jetzt-in-die-parlamente-785348463332
-> https://www.derbund.ch/mehr-kandidierende-als-je-zuvor-fuer-berner-grossratswahlen-146675158229



derbund.ch 11.01.2022

Interview zu Corona-Konflikten: «Die Gruppe renitenter Eltern wird grösser und stört den Schulbetrieb»

In den Schulen grassiert Omikron – und die Lehrer werden angegangen wie kaum zuvor. Gabriela Kohler, Chefin des Elternverbands, sagt, warum sich Väter und Mütter radikalisieren.

Raphaela Birrer

Frau Kohler, Omikron droht gerade die Schulen lahmzulegen. Fürchten Sie sich vor einem Systemkollaps?

Die Schulen rotieren wegen der vielen Omikron-Fälle bei den Kindern im Moment stark. Die erkrankten Lehrpersonen verschärfen die Situation zusätzlich. Es ist äusserst schwierig, Stellvertretungen zu finden. In Zürich gibt es sogar Sonderbewilligungen, damit mehr Aushilfen spontan einspringen können. Im Moment werden alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit die Schule trotzdem stattfinden kann. Ein regulärer Unterricht ist aber sicher nicht möglich.

Wäre ein neuerlicher Fernunterricht die einfachere Lösung?

Im Lockdown hat sich gezeigt, dass Schulschliessungen noch schlimmer sind als das, was im Moment abgeht. Sowohl die Pädiater als auch Bildungswissenschaftlerinnen sind überzeugt, dass die Isolation und die beengten, teils unbetreuten Verhältnisse zu Hause für die Kinder viel gravierender sind als ein eingeschränkter Unterricht in den Schulen. Wir müssen uns also zwischen Pest und Cholera entscheiden. Die nächsten zwei Monate werden für Schulen, Eltern und Kinder so oder so zur Zerreissprobe.

Vielerorts setzen Eltern die Lehrer mit aggressiven Mitteln unter Druck, um ihre Kinder von den Massnahmen zu befreien. Woher kommt diese Aggressivität?

Ich bin ratlos. Unsere Elternorganisation wurde auch Zielscheibe solch aggressiven Verhaltens. Als wir wie vorgeschrieben unsere Jahrestagung mit Zertifikatspflicht durchführten, haben wir ganz böse Mails erhalten: Wir würden die Gesellschaft spalten, Eltern ausschliessen. In dieser schwierigen Zeit sind viele Menschen in Aufruhr. Je länger die Pandemie dauert, desto mehr steigern sie sich in etwas hinein. Teilweise lassen sie den gesunden Menschenverstand vermissen, das finde ich ganz schwierig. Dabei sollten wir zum Dialog und zu einer respektvollen Gesprächskultur zurückkehren. Mein Appell: Kommt alle wieder herunter!

Im Verlauf der Pandemie scheint in der Elternschaft eine Radikalisierung stattgefunden zu haben. Zu Beginn waren viel weitreichendere Massnahmen wie der Fernunterricht weniger umstritten. Heute wird bis vor Gericht gegen Masken gekämpft.

Das ist ein Ventil. Bereits vor der Pandemie gab es eine kleine Gruppe sehr kritischer Eltern, die den Schulen viel Aufwand verursachte. Weil dieses renitente Verhalten häufiger in den Medien zitiert wurde, übertrug sich das schlechte Image auf alle Eltern. Und die Lehrpersonen wappneten sich vorsorglich vor allen Elternkontakten. Dadurch wurde auch der Dialog mit «normalen» Eltern schwieriger. Dabei ist ein grosser Teil zufrieden mit den Schulen. Auch in der Pandemie: Die meisten Eltern halten sich an die Massnahmen und unterstützen die Schulen. Aber die kleine, renitente Gruppe wird jetzt zunehmend grösser und stört den Betrieb. Die Mitarbeitenden in den Schulen brauchen gerade eine ganz dicke Haut.

Gab es Phasen, in denen Eltern ähnlich stark opponiert haben – etwa bei der Einführung des Lehrplans 21? Oder erreichen wir hier eine neue Dimension?

Auch bei der Einführung des Lehrplans 21 haben Eltern in Chats haarsträubende Verschwörungstheorien gegen die Sexualkunde verbreitet. Das war abstrus, aber nicht wirklich bedrohlich. Aktuell ist der Konflikt in der Elternschaft hochpolitisch. Entweder gehört man zur einen oder zur anderen Seite. Das führt zu einer Radikalisierung der Positionen. Aber es gibt bei den Eltern eine schweigende Mitte zwischen diesen Lagern. Aus der hohen Zustimmung zum Covid-Gesetz lese ich auch, dass der grössere Teil der Elternschaft die Einschränkungen mitträgt.

Sie sprechen es an: Am anderen Extrempol stehen die übervorsichtigen Eltern, welche die Schulen harsch für die «Durchseuchung» der Kinder kritisieren.

Ich finde beide extremen Haltungen schwierig. Wobei ich die ängstliche noch etwas besser verstehe als die realitätsverweigernde, auf alternativen Fakten beruhende. Für ein Kind mit Vorerkrankung kann eine Ansteckung lebensbedrohlich sein. Zudem weiss man noch wenig über die Folgen von Long Covid und dem Pims-Syndrom. Aber jene, die immer nach mehr Massnahmen schreien, sehen nur in der Einschränkung aller das Allheilmittel. Wir können die Kinder nicht in Watte packen, schliesslich wissen wir nicht, wie lange das alles noch dauert. Für ein siebenjähriges Kind sind zwei Jahre eine lange Zeit.

Welche Folgen haben die aktuellen Gehässigkeiten für die Beziehung der Schulen zu den Eltern und deren Kindern?

Der Corona-Konflikt schadet den Eltern, die sich angemessen verhalten und eine gute Zusammenarbeit mit der Schule suchen. Sie werden pauschal auch in diese Schublade gesteckt. Zudem überträgt sich die Art, wie die Eltern über die Schule reden, auf die Kinder. Deswegen wird die Beziehung zwischen den Kindern und ihren Lehrpersonen darunter leiden. Eine gute Lernbeziehung ist aber essenziell für den Schulerfolg der Kinder.

Zahlreiche Eltern nehmen jetzt ihre Kinder aus der Schule und unterrichten sie im Homeschooling. Eine valable Option angesichts all der Schwierigkeiten?

Das Kind aus der Schule nehmen – nur weil man mit den Massnahmen nicht einverstanden ist? Das ist doch eine Illusion. Nicht jeder kann Lehrer sein. Dafür braucht es lange Schuljahre und ein pädagogisches Studium. Viele Eltern haben ja nur schon Mühe, ohne Kämpfe mit ihren Kindern Hausaufgaben zu machen. Mit dem Homeschooling stempeln sie ihre Kinder zum Sonderfall, der Kontakt zu den Klassenkameraden geht verloren. Unsere Organisation hat in einer Umfrage zum Fernunterricht gefragt, was den Kindern am meisten fehlt. Die Antwort: die Gspäändli und die Lehrpersonen.

Aktuell sind Tausende Eltern in Quarantäne, manche endlos, weil immer wieder neue Familienmitglieder angesteckt werden. Wie geht es den Eltern in dieser Welle?

Ganz sicher schlecht. Es kann ja nicht anders sein. Aber wir sitzen alle im gleichen Boot. Niemand ist schuld an dieser Situation. Niemand hat Spass daran, sich einzuschränken. Alles ist der Pandemie geschuldet. Dass jetzt Eltern in mehreren Kantonen die Lehrpersonen für die Folgen des Maskentragens haftbar machen wollen, ist verwerflich. Für die Beziehung zwischen Eltern und Schulen ist das Gift. Wir werden nach Corona einen Scherbenhaufen haben. Ich mache mir grosse Sorgen deswegen.

Lüftung, Masken, Massentests: Die Schulen stehen seit Beginn der Pandemie in der Kritik, Massnahmen zu spät und zu zögerlich umzusetzen. Teilen Sie die Meinung?

Jetzt hätte man doch schneller reagieren können! Das habe ich manchmal auch gedacht. Aber unser demokratisches System erfordert nun einmal Zeit mit all den Konsultationen. Nur so werden die Massnahmen auch breit getragen.

Also alles bestens in der schulischen Pandemiebekämpfung?

Nein, sicher sind Fehler passiert. Was ich zum Beispiel wirklich nicht verstehe: Man weiss seit Jahren, dass die Luftqualität in den Schulen nicht gut ist. Und doch bewegt sich kaum etwas. Wenn überhaupt setzt man jetzt auf CO₂-Geräte, derentwegen alle zehn Minuten gelüftet werden muss. Die Kinder sitzen dann in den Winterjacken im Durchzug. Luftreinigungsgeräte mit Virenfiltern hingegen würden auch gegen Erkältungsviren wirken. Das wäre eine unumstrittene Massnahme, auf die sich Massnahmengegner und -befürworterinnen einigen könnten.



Chefin des Eltern-Dachverbands

Gabriela Kohler-Steinhauser ist Präsidentin der kantonalen Elternmitwirkungsorganisation (KEO) in Zürich, dem Dachverband aller Elternmitwirkungsgremien im Kanton. Dieser vertritt Eltern von weit über 100’000 Schülerinnen und Schülern im Kanton. Im Unterschied zu zahlreichen während der Corona-Pandemie gegründeten Elternzusammenschlüssen in allen Kantonen ist die KEO seit zehn Jahren institutionell verankert und in bildungspolitische Entscheidungsprozesse eingebunden. Die 56-jährige Kohler-Steinhauser ist dreifache Mutter und präsidiert die Organisation seit deren Gründung. (red)
(https://www.derbund.ch/die-gruppe-renitenter-eltern-wird-groesser-und-stoert-den-schulbetrieb-928788747793)



limmattalerzeitung.ch 11.01.2022

Staatsanwältinnen kritisieren 2G-Pflicht – doch dürfen sie das?

Ein Juristen-Komitee greift die Coronamassnahmen mit einer umstrittenen Deklaration an. Zu den 300 Unterzeichnern gehören Staatsanwälte aus Schwyz, Zürich und dem Aargau. Das sei grenzwertig, meint ein Experte.

Andreas Maurer

300 Juristinnen und Juristen schalten sich in die Debatte um die Coronamassnahmen ein. Sie haben eine Deklaration unterschrieben, welche die 2G-Zertifikationspflicht als verfassungswidrig erklärt. Die Ungeimpften, die nicht das «Glück» hätten, als genesen zu gelten, würden in noch nie dagewesener Weise diskriminiert. Für diesen Grundrechtseingriff fehle eine gesetzliche Grundlage.

Die Deklaration ist elf Seiten lang. Die juristische Argumentation im engeren Sinn umfasst aber nur eine Seite. Der Rest ist eine Aufzählung von Statistiken und Studien, die zeigen sollen, dass von Sars-CoV-2 seit dem Ausbruch der Pandemie «kein grösseres Risiko als dasjenige einer saisonalen Grippe» ausgehe. Die Sterbezahlen werden so dargestellt, als ob es nie eine Übersterblichkeit gegeben habe. Die offizielle Statistik, die eine saisonale Übersterblichkeit bei Über-65-Jährigen nachweist, wird nicht erwähnt.

Weiter behauptet die Deklaration, die Ungeimpften würden nicht im Übermass für eine Auslastung des Gesundheitssystems sorgen. Zitiert werden Statistiken, welche das Argument unterstützen. Jene, die es widerlegen, werden ausgeblendet.

Kurz: Die Deklaration macht selber genau das, was sie der Coronapolitik von Bund und Kantonen vorwirft. Sie verbreitet eine einseitige Sichtweise.

Staatsanwälte geraten in einen Rollenkonflikt

Heikel ist dies, weil auch zwei Staatsanwältinnen und ein Staatsanwalt die Deklaration unterzeichnet haben: Alexandra Haag, leitende Staatsanwältin in Schwyz, Nicole Burger, Staatsanwältin im Aargau, und Daniel Regenass, leitender Staatsanwalt in Zürich.

Staatsanwälte sind, wie der Name sagt, vom Staat angestellt und für die Strafverfolgung zuständig. Sie führen auch Verfahren wegen Verstössen gegen Coronamassnahmen. Dürfen sie staatliche Massnahmen auf diese Weise kritisieren?

Regenass macht auf Anfrage dieser Zeitung einen Rückzieher und lässt seine Funktion auf der Website des Juristen-Komitees von «Staatsanwalt» in «Jurist» ändern. Denn er habe die Deklaration als Privatperson unterschrieben, erklärt er.

Die Schwyzer Staatsanwaltschaft verwendet die gleiche Argumentation und teilt auf Anfrage mit: «Frau Alexandra Haag handelte als Privatperson. Rechtlich lässt sich diese private Meinungsäusserung nicht verbieten.»

Auf der Website des Juristen-Komitees zeichnet sie aber weiterhin mit ihrer Funktion als Staatsanwältin.

Philipp Umbricht, Leitender Oberstaatsanwalt des Kantons Aargau, sagt, die Unterzeichnung der Deklaration durch Nicole Burger, auch unter Funktionsnennung, sei personalrechtlich unproblematisch.

Experte ordnet ein: «Ich halte das für grenzwertig»

Markus Mohler ist Rechtsexperte, ehemaliger Staatsanwalt und Kommandant der Kantonspolizei Basel-Stadt. Auf Anfrage sagt er, er halte es für «grenzwertig», dass Staatsanwälte diese Deklaration unterzeichnet haben:  «Problematisch finde ich dabei nicht die rechtliche Analyse, das ist ihr Recht, sondern die nachweislich falschen Behauptungen zur Pandemie.»

Zum Beispiel die Aussage, es habe keine Übersterblichkeit gegeben, sei «schlicht tatsachenwidrig». Als Vorgesetzter würde er mit diesen Staatsanwälten das Gespräch suchen und sie mit den Fakten konfrontieren, sagt er.

Zur angeblich fehlenden gesetzlichen Grundlage der Zertifikatspflicht sagt Mohler: «Diese Kritik halte ich für übertrieben.» Die gesetzliche Grundlage, die Eingriffsbefugnis, liefere Artikel 6 des Epidemiegesetzes und die Einzelheiten regle die darauf gestützte Covid-19-Verordnung in Artikel 3. Das sei ein übliches Rechtsetzungsverfahren. Diese Bestimmungen seien zusammen zu sehen.

Mohler stellt einen verbreiteten Irrtum fest: «Viele Leute verstehen nicht, dass auch die verfassungsmässig garantierten Freiheiten Grenzen haben. Der Schutz von Grundrechten auf der einen Seite ist mit Einschränkungen auf der anderen verbunden.»

Parallelen zu Polizisten-Vereinigung «Wir für euch»

Das Juristen-Komitee weist gewisse Ähnlichkeiten zur Vereinigung «Wir für euch» auf. Das ist eine Vereinigung von Polizistinnen und Polizisten, die sich mit den gleichen Argumenten gegen Coronamassnahmen wehren. Auch Staatsanwälte gehören dazu. Das Auftreten ist aber ein anderes. Bei «Wir für euch» treten nur jene mit Namen auf, die nichts mehr zu verlieren haben. Die amtierenden Polizisten bleiben anonym. Sie posieren in einem martialischen Video wie ein Geheimbund und lassen sich von hinten filmen. Auf der Website rufen sie dazu auf, Polizisten, welche die Zertifikatspflicht durchsetzen, wegen Nötigung oder Amtsmissbrauch anzuzeigen.
-> https://vimeo.com/636219753

Einer, der mit Namen und Gesicht für «Wir für euch» hinsteht, ist Jürg Vollenweider, ehemaliger leitender Staatsanwalt von Zürich. Er sagt in eine Kamera, er hätte es nie für möglich gehalten, dass Ungeimpfte derart ausgegrenzt und diffamiert würden. Er spricht von Diktatur und sagt, Menschen unter Druck zu setzen, sei «Ausdruck einer totalitären Gesinnung».
-> https://vimeo.com/646682862

Vollenweider hat auch die Juristen-Deklaration unterzeichnet. Mehrere Polizisten von «Wir für euch» haben ihren Job inzwischen verloren.
(https://www.limmattalerzeitung.ch/schweiz/2g-zertifikatspflicht-staatsanwaeltinnen-kritisieren-staatliche-massnahmen-duerfen-sie-das-ld.2236739)


+++DROGENANBAU
nzz.ch 11.01.2022

Wie Syrien zum Narco-Staat wurde

Syrien exportiert Millionen Pillen des Amphetamins Captagon in die Golfstaaten und den Rest der Welt. Das Regime von Bashar al-Asad verdient bei dem Drogenhandel kräftig mit. Der Westen wacht angesichts der neuen Bedrohung gerade erst auf.

Ulrich von Schwerin

Wer die kleinen weissen Pillen mit dem doppelten C-Aufdruck schluckt, verspürt keine Müdigkeit, keinen Hunger und keine Angst. Hellwach, konzentriert und euphorisch fühle man sich, berichten Konsumenten. Selbst wenn man wolle, könne man nicht schlafen oder auch nur die Augen schliessen.

Die Rede ist von Captagon, einem Aufputschmittel aus der Gruppe der Amphetamine. Weitgehend unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit ist es zu einer der am meisten konsumierten Drogen im Nahen Osten geworden – und zu einem lukrativen Exportgut für das syrische Regime von Bashar al-Asad.

Kaum eine Woche vergehe, da in Saudiarabien und anderen Ländern der Region nicht die Beschlagnahmung von grossen Mengen Captagon gemeldet werde, sagt die Expertin Caroline Rose vom Newlines Institute, die seit Jahren zur Captagon-Produktion in Syrien forscht. Das «Kokain des armen Mannes» wird versteckt in Tomatendosen, Orangenkisten, Papierrollen und Industriemaschinen exportiert. Im Juni 2020 sorgte die Entdeckung von 84 Millionen Pillen im süditalienischen Hafen von Salerno auch international für Schlagzeilen.

Die in drei Containern verborgenen Drogen aus Syrien waren wohl für Saudiarabien bestimmt, den mit Abstand grössten Markt. Längst hat sich der Captagon-Export jedoch ausgeweitet, da die Produzenten in neue Märkte vordringen. Inzwischen werden die kleinen weissen Pillen in so entfernten Ländern wie Malaysia entdeckt. Vergangenes Jahr fanden österreichische Ermittler auch in Salzburg eine grosse Menge, in Pizzaöfen und Wäschetrocknern versteckt.
Das Asad-Regime kassiert ab

Laut dem Center for Operational Analysis and Research (COAR) auf Zypern wurden 2020 im Nahen Osten 173 Millionen Pillen oder 34,6 Tonnen Captagon sichergestellt. Der Strassenverkaufswert dieser Pillen belief sich auf 3,46 Milliarden Dollar – wobei er sich wohlgemerkt nur auf die beschlagnahmten Drogen bezieht. Der Wert der gesamten Produktion in Syrien dürfte um ein Vielfaches höher liegen. Ein wichtiger Profiteur ist das syrische Regime, das ab 2018 in grossem Massstab in das Geschäft eingestiegen ist, wie Caroline Rose erklärt.

Zwar sei nur schwer zu sagen, wie viel von dem Gesamtumsatz schliesslich in Damaskus lande. Doch dürfte der Gewinn für das Asad-Regime beträchtlich sein, meint die Expertin. Vieles deute darauf hin, dass Captagon heute Syriens wichtigstes Exportprodukt ist und eine zentrale Einkommensquelle für das Regime, das wegen der internationalen Sanktionen sonst nur noch schwer an Geld kommt. Syrien ist also zum Narco-Staat geworden. Wie konnte es so weit kommen?

Captagon wurde 1961 von dem deutschen Pharmakonzern Degussa als Medikament auf der Basis von Fenetyllin zur Behandlung von ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) entwickelt. Da es rasch abhängig macht und schwere Nebenwirkungen wie Depressionen, Halluzinationen und Angstzustände auslösen kann, wurde es 1986 verboten und vom Markt genommen. Seitdem wird Captagon nur noch illegal produziert, in den neunziger Jahren vor allem auf dem Balkan, in Bulgarien und in der Türkei.
Lange Erfahrung im Drogenhandel

Ab der Jahrtausendwende verlagerte sich die Produktion nach Libanon. Das Land hat eine lange Geschichte als Drogenproduzent. Während des Bürgerkriegs von 1975 bis 1991 war vor allem das Bekaa-Tal ein wichtiges Gebiet zum Anbau von Haschisch. Damals war das syrische Asad-Regime aktiv am Handel beteiligt, so dass die USA Syrien auf die Liste der Narco-Staaten setzten. Erst 1997 wurde es von der Liste gestrichen, da sich die Regierung aktiv gegen den Drogenhandel engagierte.

Ab 2006 stieg die libanesische Hizbullah-Bewegung in die Captagon-Produktion ein, um sich nach dem Krieg gegen Israel eine neue Geldquelle zu erschliessen. Die ersten Maschinen und Rohstoffe soll die schiitische Miliz von Iran erhalten haben. Mit Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011 verlagerte sich die Produktion dann über die Grenze nach Osten. Rasch stiegen verschiedene Rebellengruppen in die Herstellung und den Handel des Aufputschmittels ein.

Neben Partygängern, Schichtarbeitern und Studenten im Prüfungsstress schätzen auch Kämpfer die kleinen weissen Pillen. Wie auf anderen Kriegsschauplätzen ist der Konsum von Amphetaminen auch in Syrien weit verbreitet. Kämpfer aller Parteien nutzen sie, um im Gefecht wach und konzentriert zu bleiben und Angst, Schmerz und Hunger zu ertragen. Nutzer berichten, sie würden sich mit Captagon unbesiegbar fühlen und glaubten, nichts könne sie verwunden.

Mehr als nur eine Jihadisten-Droge

Im Westen galt Captagon lange als Jihadisten-Droge, weil angeblich vor allem die Kämpfer des Islamischen Staats (IS) die Pillen nehmen. Die Expertin Caroline Rose betont jedoch, dass es von Regierungssoldaten, Rebellen und Jihadisten gleichermassen konsumiert werde. Tatsächlich war der IS eine der wenigen Gruppen in Syrien, die nicht in die Produktion verwickelt waren. Dies hatte weniger ideologische als praktische Gründe: Durch die Kontrolle wichtiger Ölfelder und die Besteuerung seiner Untertanen hatte der IS schlicht andere Geldquellen.

Im Laufe des Krieges gewann Captagon immer mehr an Bedeutung zur Finanzierung des Konflikts. Das Aufputschmittel ist leicht herzustellen. Es braucht dafür weder grosse Kenntnisse noch komplizierte Labore. Der Experte Ian Larson, der für den COAR-Think-Tank auf Zypern seit langem zu dem Thema forscht, betont aber, dass längst nicht alles, was unter dem Namen Captagon verkauft wird, auch den ursprünglich verwendeten Wirkstoff Fenetyllin enthält.

Viele der Pillen, die im arabischen Strassenslang wegen der C-Prägung als Abu Hilalain (Vater der Halbmonde) bekannt sind, sind keine Amphetamine. Vielmehr enthalten sie eine Vielzahl anderer Wirkstoffe wie Koffein, Chinin, Theophyllin und Chloroquin. Die billige Sorte werde in Syrien selbst verkauft, der hochwertigere Stoff in Märkte wie Saudiarabien exportiert, wo die Pillen für bis zu 25 Dollar das Stück gehandelt würden, sagt Larson.
Das Regime als Drogenproduzent

Seitdem das Regime den Grossteil des Landes wieder in seine Gewalt gebracht hat, ist es zum Hauptproduzenten von Captagon aufgestiegen. Damaskus, das seit 2019 scharfen amerikanischen Sanktionen unterliegt, bietet der Drogenhandel eine alternative Einkommensquelle. Unklar ist allerdings, wieweit die Produktion eine gezielte Strategie von Bashar al-Asad ist. Es sei falsch zu glauben, der Diktator kontrolliere als ein syrischer Pablo Escobar den gesamten Captagon-Handel im Land, sagt Larson. Vielmehr nehme die Führung in Damaskus hin, dass sich gewisse Akteure in dem Handel engagieren.

Auch die Expertin Caroline Rose sagt, sie habe bei ihren Recherchen keinen Beweis gefunden, dass das Regime eine offizielle Anweisung zur Produktion von Captagon ausgegeben habe. Allerdings gebe es Hinweise, dass die Pillen inzwischen im industriellen Massstab in früheren pharmazeutischen Fabriken produziert werden. Auch sei es kaum denkbar, dass derart grosse Mengen im Land hergestellt und verschifft werden, ohne dass das Regime daran beteiligt ist.

Laut dem COAR spielt Asads Cousin Samer al-Asad eine wichtige Rolle bei dem Geschäft. Er soll den Handel in der Küstenprovinz Latakia kontrollieren und von den Herstellern eine Beteiligung an den Profiten von 40 bis 60 Prozent verlangen. Auch die gefürchtete Vierte Division von Asads Bruder Maher al-Asad soll beteiligt sein. Ein Grossteil der Exporte läuft über Latakia und andere Häfen. Grosse Mengen werden aber auch über libanesische Häfen wie Beirut verschifft.
Auch die Partei Gottes ist involviert

Die Hizbullah-Bewegung hat sich öffentlich von dem Captagon-Handel distanziert, da solch kriminelle Geschäfte nicht mit ihrem politischen Selbstbild als islamistische Partei vereinbar sind. Allerdings ist davon auszugehen, dass sie die Schmuggel-Netzwerke in Libanon zumindest protegiert und besteuert. Ihr grosser Verbündeter Iran wiederum liefert laut den Recherchen des COAR die chemischen Vorprodukte, die zur Herstellung der Drogen benötigt werden.

Rund ein Drittel der Captagon-Produktion geht nach Saudiarabien. Im April entdeckten Ermittler im saudischen Hafen Jidda 5 Millionen Pillen in einer Ladung Granatäpfel aus Libanon. Die saudische Regierung stoppte daraufhin alle Lebensmittelimporte aus dem Zedernstaat. Die Massnahme traf das Land, das ohnehin in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, schwer. Riad liess sich auch durch Beteuerungen nicht erweichen, dass die Granatäpfel eigentlich aus Syrien stammten.

Saudiarabien will mit dem Handelsboykott vor allem die Hizbullah-Miliz treffen. Die Führung in Riad ist verärgert über den grossen Einfluss, den die proiranische «Partei Gottes» auf die Politik in Beirut hat. Mit dem Boykott will sie wohl auch Führungsstärke demonstrieren, da Captagon zunehmend ein Problem in der Bevölkerung wird. So setzt der Staat Captagon-Funde immer öfter medial in Szene, um zu zeigen, dass er der Drogenschwemme nicht tatenlos zuschaut.

Vieles bleibt im Nebel

Sonst ist der Umgang des Königreichs mit dem Problem aber nicht sehr transparent. Es wird geschätzt, dass 40 Prozent aller jungen Männer zwischen 12 und 25 Jahren in Saudiarabien Captagon konsumieren. Trotzdem gibt es keine Studien über die Konsummuster. So bleibt unklar, wer wann die Droge nimmt. Sind es vor allem reiche Jugendliche, die sich bei Hauspartys einen Kick verschaffen wollen? Oder ausländische Gastarbeiter, die das Aufputschmittel nehmen, um ihre Nachtschicht durchzustehen?

Die Popularität von Captagon habe damit zu tun, dass es als eher sanfte Droge gilt, sagt Caroline Rose. Als früheres Medikament habe es ein positives Image und werde mit Produktivität assoziiert. Dabei könne es gravierende Konsequenzen für die Gesundheit haben. Bis anhin behandele Saudiarabien Captagon vor allem als Sicherheits- und nicht als Gesundheitsproblem, sagt Rose. Es müsse sich aber endlich der Frage stellen, warum die Jugend solch grosse Mengen konsumiere.

Europa und die USA haben bisher ebenfalls keine umfassende Strategie gegen den Captagon-Handel entwickelt. Dies ist nicht nur ein Problem, weil das Asad-Regime mit dem Drogenhandel die internationalen Sanktionen unterläuft und Milliarden verdient, um den Krieg gegen sein eigenes Volk fortzuführen. Sondern auch, weil das Regime auf andere, gefährlichere Drogen umsteigen könnte, wenn der Captagon-Markt einmal gesättigt ist.

Ian Larson sieht zwar nicht die Gefahr, dass Captagon nach Europa drängt. Dort existiere kein Markt für das Aufputschmittel, da es bereits zu viele andere, wirksamere Drogen im Angebot gebe. Allerdings könnten die syrischen Produzenten in den Handel mit Crystal Meth oder Heroin einsteigen, die weitaus gefährlicher sind.

Wie die Captagon-Produktion in Syrien eingedämmt werden kann, ist eine offene Frage. Schliesslich hat der Westen nur wenig Druckmittel gegen das Regime. Klar ist nur, dass dringend etwas getan werden muss.
(https://www.nzz.ch/international/captagon-syrien-ist-zum-narco-staat-geworden-ld.1661161)