Medienspiegel 26. Oktober 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++LUZERN
Vorstoss von SVP-Politiker: Kanton Luzern will Sans-Papiers legalisieren
Der Kanton Genf hat den Aufenthaltsstatus von über 2300 Menschen legalisiert, die seit Jahren ohne Papiere in der Schweiz leben. Der Krienser SVP-Politiker Räto Camenisch forderte ähnliches für Luzern. Die Regierung ist offen für das Anliegen.
https://www.zentralplus.ch/kanton-luzern-will-sans-papiers-legalisieren-2219977/
-> P 550 – Postulat Camenisch Räto B. und Mit. über eine Regularisierung des «Sans-Papiers»-Status: https://www.lu.ch/kr/parlamentsgeschaefte/detail?ges=67f23eead93c407caa93c447525ac27f&back=1&text=camenisch&art=-0-1-2-3&bart=-0-1-2-3-4&vart=-0-1-2-3&wart=1&gart=1&status=-0-1



luzernerzeitung.ch 26.10.2021

Anonyme Gesuchsprüfung: So wird Sans-Papiers ein stückweit die Angst vor der Ausweisung genommen

Links und rechts spannen zusammen und fordern in einem Postulat eine Regularisierung von Sans-Papiers. Der Luzerner Regierungsrat sieht ebenfalls weiteren Handlungsbedarf.

Livia Fischer

Selten unterzeichnen so viele Kantonsrätinnen und Kantonsräte ein Postulat. Und noch seltener unterschreiben mehr Linke einen SVP-Vorstoss als die Bürgerlichen selbst. Im März wendete sich Räto Camenisch an den Luzerner Regierungsrat. Seine Bitte: Die Exekutive solle prüfen, wie gut integrierte und wirtschaftlich eigenständige Sans-Papiers – also Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung – regularisiert werden können. Ein Anliegen, das von allen Parteien des Luzerner Kantonsrats getragen wird.

Darauf gekommen ist Camenisch, als zwecks der Coronaimpfung eine Ausnahme für Sans-Papiers geschaffen wurde und sie diese anonym machen konnten. Er fand es «verrückt», dass «für eine Parallelgesellschaft immer wieder Ausnahmen gemacht werden müssen», ohne dass man das eigentliche Problem an der Wurzel packe. Camenisch betont auch, dass es hier nicht um Parteipolitik gehe, sondern darum, ein gesellschaftliches Problem zu entschärfen. Darum spannte er mit dem Zweitunterzeichner und SP-Parteipräsident David Roth zusammen. Handlungsbedarf sieht auch der Regierungsrat – in seiner nun vorliegenden Antwort beantragt er dem Parlament eine teilweise Erheblicherklärung.

Bevölkerungsteil mit eingeschränkten Rechten und Pflichten

Von vorne. Camenisch, der im Juli nach insgesamt 19 Jahren sein Amt als Kantonsrat definitiv niederlegte, bezieht sich in seinem Schreiben auf die schätzungsweise mehrere hundert bis etwas mehr als tausend sogenannten Sans-Papiers im Kanton Luzern. Oft seien sie gut in die hiesige Gesellschaft integriert und arbeiten, bewegen sich aufgrund der fehlenden Aufenthaltsbewilligung aber in der Illegalität. «Da bei den meisten keine Alternative zum jetzigen Zeitpunkt besteht, leben sie notgedrungen in einer Parallelgesellschaft mitten unter uns. Diese Menschen leben in ständiger Angst, entdeckt zu werden und können nur durch Schwarzarbeit ein Auskommen finden», so der Krienser. Ein Umstand, der zu fehlenden Steuereinnahmen und Sozialversicherungsbeiträgen sowie zu Tieflöhnen führe.

Weiter schreibt Camenisch: «Derart am Rande unserer Gesellschaft lebend kommen sie bei Krankheit, Unfall, unvermeidlichen Behördenkontakten, Einschulung ihrer Kinder, Berufsbildung und manch anderen Situationen in Bedrängnis.»

Der SVP-Politiker ist überzeugt, dass es nicht im öffentlichen Interesse liegen könne, «einen Bevölkerungsteil mit eingeschränkten Rechten und Pflichten unter uns zu haben und zu dulden». Darum möchte er, dass für jene Personen eine «menschenwürdige legalisierende Lösung» gefunden wird.

Neue Regelung wahrt Anonymität

In seiner Antwort nimmt der Regierungsrat auf die primären Sans-Papiers Bezug. Gemeint sind damit jene Personen, die in die Schweiz gekommen sind, um zu arbeiten und sich ohne Aufenthaltsberechtigung für längere Zeit hier aufhalten. Weiter wird zwischen Sans-Papiers unterschieden, die nach dem Verlust ihrer Aufenthaltsbewilligung nicht ausgereist sind sowie zwischen denen, die in einem Asylverfahren eine Wegweisungsverfügung erhalten haben und nicht ausreisen.

Lange mussten primäre Sans-Papiers zum Einreichen eines Bleiberecht-Gesuchs den Namen, den Aufenthaltsort sowie die Angaben zu Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber offenlegen – dies wird grundsätzlich in allen Kantonen so gehandhabt. Bei einer negativen Beurteilung müssen Betroffene das Land verlassen. Um dieses Dilemma etwas zu entschärfen, haben der Verein Kontakt- und Beratungsstelle für Sans Papiers Luzern und das kantonale Amt für Migration jedoch vereinbart, dass allgemeine Anfragen zu spezifischen Fällen dem Amigra anonym unterbreitet werden können. Seit dieser Abmachung wurde ein konkretes Gesuch eingereicht, das positiv beurteilt wurde.

Chance auf Härtefall ohne Angst vor Ausweisung

«Zusammenfassend halten wir fest, dass die mit dem Verein Sans Papiers getroffene Regelung, grundlegende Rechtsfragen anonym und informell vorabzuklären, den Ängsten vor dem Entdecktwerden bei den Betroffenen entgegenwirken kann», schreibt der Regierungsrat in seiner Antwort. Und weiter: «In diesem Bereich ist es denkbar, weitere Möglichkeiten zu prüfen, wie betroffenen Personen eine erste provisorische Einschätzung aufgrund von eingereichten Unterlagen erhalten könnten, ohne ihre persönlichen Daten offenzulegen oder persönlich vorzusprechen.»

Camenisch ist mit der vorgeschlagenen teilweisen Überweisung des Postulats einverstanden und zeigt sich mit der aufgezeigten Vorgehensweise der Regierung zufrieden. «Damit können illegal hier Lebende, welche die strengen Anforderungen an die Bedingungen als Härtefall zu erfüllen glauben, an die Behörden herantreten, ohne ihre Identität zu verraten und zu riskieren, bei negativem Entscheid ausgewiesen zu werden», sagt der alt SVP-Kantonsrat und ergänzt abschliessend: «Ich stelle fest, dass die Antwort des Regierungsrats gegenüber diesen Menschen doch eine gewisse Flexibilität für die Zukunft anzeigt und es sich damit gelohnt hat, das Thema auf den Tisch zu bringen.»
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/haertefaelle-anonyme-gesuchspruefung-so-wird-sans-papiers-ein-stueckweit-die-angst-vor-der-ausweisung-genommen-ld.2204700)


+++SOLOTHURN
Massiver Rüffel für die Solothurner Justiz
Ein Äthiopier wurde für die Ausschaffungshaft im «dafür ungeeigneten» Untersuchungsgefängnis Solothurn untergebracht. Das sei klar «bundesrechtswidrig», wird Lausanne in einem Urteil deutlich.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/bundesgericht-massiver-rueffel-fuer-die-solothurner-justiz-ld.2205988
-> Bundesgerichts-Urteil: https://entscheide.weblaw.ch/cache.php?link=27.07.2021_2C_278-2021


+++POLEN/BELARUS
Kein Wasser, kein Essen, kein Zutritt
Flüchtlinge zwischen allen Fronten
Bundeskanzlerin Angela Merkel wirft dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko „staatlichen Menschenhandel“ vor. Allein seit Anfang Oktober wurden etwa 3000 unerlaubte Einreisen an Oder und Neiße registriert.
Experten fordern baldige Lösungen, weil Lukaschenko nicht davor zurückschrecken werde, Menschen im kommenden Winter an den Grenzen sterben zu lassen.
Mit welchen Methoden arbeitet der Diktator, und welche Antworten hat eine neue mögliche Ampel-Koalition auf die erste große Krise?
https://www.zdf.de/politik/frontal/flucht-belarus-polen-fluechtlinge-zwischen-allen-fronten-100.html



derbund.ch 26.10.2021

Flüchtlingselend in Europa: Menschen, die niemand will

Weissrussland schickt sie weiter, und Polen bringt sie umgehend zurück: Seit Wochen irren Flüchtlinge wie der Somalier Abdi Fatah durch das Grenzgebiet.

Florian Hassel aus Michalowo

Abdi Fatahs kurzer Traum vom Leben im Westen beginnt auf einer kalten Lichtung. 15 Tage irren der 23 Jahre alte Somalier und sieben seiner Landsleute schon durch die Wälder an der Grenze zwischen Weissrussland und Polen. Siebenmal, sagen sie, seien sie von polnischen Grenzsoldaten bereits aufgegriffen und zurück nach Weissrussland geschickt worden.

Doch an diesem Montagmorgen scheint es, als könne ihre Hoffnung auf ein besseres Leben in Erfüllung gehen. Auf minus vier Grad ist das Thermometer in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober gesunken. Ihre Jacken aber sind dünn und schützen nicht mal gegen einen frischen Sommerwind. Abdi Fatah und seine Reisegenossen sind durchgefroren, sie haben seit fünf Tagen nichts gegessen, nur Wasser aus Pfützen getrunken. Die Männer und Frauen sind am Ende.

Und so setzen sie sich an diesem Morgen beim polnischen Dorf Siemianowka, das nur sechs Kilometer von der Grenze entfernt ist, neben einem Kiefernwald und einer Landstrasse auf eine Waldlichtung in die Sonne, bis sie ein Dorfbewohner bemerkt und polnischen Helfern meldet.

Lukaschenko-Regime kooperiert mit russischem Geheimdienst

Abdi Fatah und seine Landsleute haben sich im verarmten und kriegszerrissenen Somalia auf den Weg nach einem besseren Leben gemacht. In Mogadiscio habe er öffentliche Verwaltung gelernt, aber geholfen, einen Job zu finden, habe ihm das nicht, sagt Abdi Fatah. «My country dangerous. No job. No stability. No security»: Mehr sagt er nicht.

Seine Eltern haben all ihr Geld zusammengekratzt, damit sich ihr Sohn nach Europa aufmachen kann. Es war keine gute Reise, so viel wird klar, während er vor Kälte zitternd seine Finger am heissen Tee der Helfer wärmt und seine Geschichte erzählt. Gut zwei Monate ist es her, dass er von Somalias Hauptstadt Mogadiscio nach Istanbul flog. Von dort aus flog er vor ein paar Wochen weiter nach Minsk. Wie und wann er und die anderen Somalier weitergekommen sind, dazu kein Wort, auch nicht, wem er wie viel für die Reise bezahlt hat.

Meist, darin stimmen Berichte aus Weissrussland überein, steigen Migranten zuerst als Touristen in Hotels in Minsk und Umgebung ab und werden dann, meist nachts, mit Bussen oder Lastwagen an die Grenze zu Polen gebracht. Die polnische Zeitung «Gazeta Wyborcza» berichtete, unter Berufung auf einen weissrussischen Ex-Sicherheitsbeamten, dass der Migrantenschmuggel an die polnische Grenze eine Gemeinschaftsaktion des Lukaschenko-Regimes mit dem russischen Geheimdienst FSB sei.

Nach Minsk einreisende Migranten müssen nicht nur Tausende Dollar für Flug, Hotel und Schlepper bezahlen, sondern auch ein «Deposit» von 3000 Dollar als angebliche Gewähr ihrer Rückkehr ins Ursprungsland. Das «Deposit» wird dann aber von weissrussischen Schleppern einkassiert.

Siebenmal, sagt Abdi Fatah, seien er und die sieben mit ihm reisenden Somalier in den letzten zwei Wochen durch Wälder oder Sümpfe geirrt, bis sie schliesslich auf polnischem Gebiet waren. Aber jedes Mal hätten polnische Grenztruppen sie gefunden, auf Lastwagen geladen und wieder an die Grenze gebracht. Dort habe man sie zurück auf weissrussisches Gebiet getrieben: «Back, go back», schrie man ihnen hinterher.

Aber drüben hinderten sie dann die Weissrussen, zurück in ihr Land zu kommen – und schickten sie wieder zurück nach Polen. Es ist das erste Mal, dass sie überhaupt so weit gekommen sind und auf Helfer stossen.

Die Sonne wärmt jetzt die Waldlichtung auf, aber die Somalier zittern, trotz der Mittagswärme. Eine der beiden Frauen ringt plötzlich nach Luft. Niemand weiss, ob es ein Asthmaanfall ist, ein Herzinfarkt oder etwas anderes. Eine Helferin giesst ihr kaltes Wasser über den Hals. Eine Viertelstunde später sind die «Mediziner an der Grenze» da, polnische Ärzte, die hier mit einer Ambulanz in ständiger Bereitschaft sind. Sie haben Decken, warme Kleidung und Schuhe dabei und verbinden den Somaliern erst einmal die aufgerissenen Füsse.

Dann warten alle auf die inzwischen alarmierten Grenzbeamten. Aber die sind nicht im Dorf Siemianowka stationiert, sondern etwas weiter, im Dorf Narewka und in der Kleinstadt Michalowo. Neben den Grenzschützern hat die Regierung Tausende Soldaten und Polizisten aus ganz Polen an die Grenze geschickt. Sie sollen die Migranten abfangen. Und sie sollen neben einem bereits verlegten Stacheldrahtzaun auch mit dem Bau einer mehrere Meter hohen Mauer beginnen, so wie es das polnische Parlament beschlossen hat.

An der Grenze holt Polen gerade nach, was es jahrzehntelang nicht tun musste: die Festung Europa gegenüber denjenigen zuzumauern, die nach Europa wollen. «Lukaschenko hat diese Grenze bewacht, nicht wir», sagt der Vizebürgermeister von Michalowo, Konrad Sikora. «Und jetzt hat er beschlossen, dass er es nicht mehr tun will.»

Seit August haben sie in Michalowo erlebt, wie immer wieder Migranten ins Städtchen kamen und an die Türen der malerischen Holzhäuser klopften. Sie baten um Wasser und um etwas zu essen. Ende September rief die Stadt dann dazu auf, warme Kleidung für die Flüchtlinge zu schicken. «Es geht darum, zu verhindern, dass Menschen nachts in den Wäldern sterben», sagt Sikora. Laut der Hilfsorganisation Granica wurden bis jetzt offiziell zehn Migranten tot aufgefunden. Aber wie viele insgesamt gestorben sind, weiss niemand.

Polen verstösst gegen internationales Recht

Offiziell verhindern Polens Grenzschützer täglich Hunderte «Versuche illegaler Grenzübertritte». Gemäss internationalem Recht haben Migranten, auch wenn sie eine Grenze illegal überquert haben, das Recht, einen Asylantrag zu stellen. In der Realität aber schieben Polens Grenzbeamte die Menschen sofort wieder nach Weissrussland zurück. Diese Praxis hat kürzlich ein polnisches Gesetz «legalisiert».

Auf der Waldlichtung hoffen Abdi Fatah und die sieben anderen Somalier immer noch, dass sie zu den wenigen gehören, deren Asylantrag die Grenzbeamten formell registrieren, um sie dann in ein Aufnahmelager zu bringen. Es ist kurz nach zwei Uhr mittags, als an der Landstrasse neben der Waldlichtung der polnische Staat erscheint: mit einem Jeep der Grenztruppen, einem Offizier, einem halben Dutzend maskierter, bewaffneter Soldaten und einem Armeelastwagen mit Sitzbänken, wie er zum Soldatentransport verwendet wird.

«Legal oder nicht legal? Wo sind Sie über die Grenze gekommen? Wann? Wo? Sorry? Sie sind gerade erst gekommen – und durch den Wald?», fragt der Offizier die Somalier. Keiner von ihnen hat noch die Kraft, allein aufzustehen. Keiner von ihnen besitzt noch ein Dokument – die wurden ihnen in Weissrussland abgenommen, damit die polnischen Behörden ihre Identität nicht überprüfen können. Abdi Fatah hält ein Blatt in die Höhe: «Ich möchte Asyl in Polen», steht auf Englisch in Grossbuchstaben darauf.

Eine Ärztin und ihre Helfer untersuchen immer noch die Somalier, denen es besonders schlecht geht. Neben der Frau mit den Atemschwierigkeiten hat ein anderer offenbar eine Lungenentzündung. «Ich glaube, Ihr Fuss ist gebrochen», sagt die Ärztin zu einem anderen Somalier. «Vielleicht fragen Sie ihn einfach, ob er seine Zehen noch bewegen kann», sagt der Offizier und drängt. «Ich bitte, sich ein bisschen zu beeilen, meine Zeit ist begrenzt.»

Nachdem die Ärztin ihre Untersuchungen beendet hat, willigt der Offizier ein, dass vier Somalier ins Spital der Kleinstadt Hajnowka gebracht werden können. Die vier anderen müssen auf den Lastwagen der Armee steigen. Abdi Fatah hält das Blatt «Ich möchte Asyl in Polen» vor sein Gesicht. «Wir werden diese Personen zu unserem Stützpunkt transportieren», sagt der Offizier. «Dorf Narewka, Nowa-Strasse 12A.»

Doch als der Lastwagen mit Abdi Fatah und den drei anderen losfährt, fährt er nicht nach Narewka, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Dort verschwindet er beim Dorf Babia Gora in der vom Ausnahmezustand erfassten Sperrzone. Drei Kilometer hinter dem Dorf liegt die Grenze zu Weissrussland. Und es sieht ganz danach aus, dass für Abdi Fatah der Traum von einem Leben im Westen an diesem kalten Oktobermontag ausgeträumt ist. Und dass er zum achten Mal nach Weissrussland zurückgeworfen wurde.
(https://www.derbund.ch/menschen-die-niemand-will-331081891241)


+++MITTELMEER
Migranten ertrinken vor Griechenland – darunter ein 3-jähriges Kind
In der Meerenge zwischen der Türkei und der griechischen Insel Chios sind am Dienstag vier Migranten ertrunken, darunter drei Minderjährige im Alter zwischen drei und 14 Jahren.
https://www.watson.ch/videos/leben/120841693-ist-das-die-groesste-schlange-der-welt-sie-benoetigt-sogar-einen-kran


+++FLUCHT
InformationComic – Stop Deportation
Wege eine Abschiebung zu verhindern.
Ein Anti-Abschiebe-Comic aus Deutschland in Deutsch, Arabisch, Farsi, Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Romanes, Serbisch.
https://schwarzerpfeil.de/2021/10/26/informationcomic-stop-deportation/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Auto fuhr in Menschenmenge: Nach Freispruch: «Amokfahrer» muss vors Obergericht
Ein Mann türkischer Abstammung fuhr vor sechs Jahren an einer Demo mit einem Auto in einer Gruppe von Kurden. Jetzt muss er vor das Berner Obergericht.
https://www.derbund.ch/nach-freispruch-amokfahrer-muss-vors-obergericht-829192358745
-> https://www.bernerzeitung.ch/nach-freispruch-amokfahrer-muss-vors-obergericht-829192358745


Un procès contre le SRI ? Une attaque contre le Rojava !
Le 18 novembre 2021, notre camarade Andi, secrétaire du Secours Rouge International, doit comparaître devant le tribunal fédéral de Bellinzona, la plus haute juridiction suisse. Le coeur de ce procès est l’attaque militante contre le consulat turc à Zürich en 2017 en solidarité avec le Rojava.
https://renverse.co/infos-locales/article/un-proces-contre-le-sri-une-attaque-contre-le-rojava-3270


Justice pour Nzoy, Victime du Racisme d’État – Discours lu à Berne le 2 octobre 2021
Le 30 août 2021, à la gare de Morges, Nzoy, un homme afrodescendant de 37 ans, vivant dans le canton de Zurich, un frère, un fils, un cousin, un ami… a violemment été tué par la police.
Alors qu’il était en détresse, un policier lui a tiré 3 balles dans le corps, sans jamais lui prêter secours, le laisant gisant sur le sol pendant plusieurs minutes.
https://renverse.co/analyses/article/justice-pour-nzoy-victime-du-racisme-d-etat-discours-lu-a-berne-le-2-octobre-3273


+++SPORTREPRESSION
Jetzt spricht der Liga-Boss über das Skandal-Derby: Herr Schäfer, wann kommen die personalisierten Tickets?
Claudius Schäfer, CEO der Swiss Football League, erwartet nach der Schande von Zürich ein rigoroses Durchgreifen der Justiz. Sowohl von der staatlichen wie derjenigen der Liga. Personalisierte Tickets hält er nicht für ein Allheilmittel.
https://www.blick.ch/sport/fussball/superleague/jetzt-spricht-der-liga-boss-ueber-das-skandal-derby-herr-schaefer-wann-kommen-die-personalisierten-tickets-id16935553.html


Mob hatte klare Strategie: So tricksten FCZ-Chaoten das Sicherheitskonzept aus
Wie schafften es etwa 50 Krawallanten im Zürcher Letzigrund innert weniger Minuten bis vor den Sektor der gegnerischen Fans? Blick zeigt drei Tricks, mit denen die FCZ-Ultras das Sicherheitskonzept im Stadion umgingen.
https://www.blick.ch/sport/mob-hatte-klare-strategie-so-tricksten-fcz-chaoten-das-sicherheitskonzept-aus-id16938027.html


+++MENSCHENRECHTE
Schutz für intergeschlechtliche Kinder
In den aktuellen Staatenberichtsverfahren zur Istanbul-Konvention des Europarates sowie der UNO-Frauenrechts- und der Kinderrechtskonvention fordert InterAction Schweiz Gerechtigkeit, Sichtbarkeit und Selbstbestimmung für intergeschlechtliche Menschen. In den vergangenen zehn Jahren hat die Schweiz in ihren Staatenberichten die entsprechenden internationalen Forderungen weitgehend ignoriert.
https://www.humanrights.ch/de/ueber-uns/schutz-intergeschlechtliche-kinder


+++POLIZEI BS
Die Basler Polizei geht mit Laserwaffen auf Verbrecherjagd (übungshalber)
Die Basler Polizei erhält eine neue Trainingsausrüstung. Ein Laser-Duell-System soll realitätsnahe Übungseinsätze ermöglichen und erst noch die Uniformen schonen.
https://bajour.ch/a/3wBSQcCRYoUSgnnE/die-basler-polizei-geht-mit-laserwaffen-auf-verbrecherjagd-ubungshalber


+++POLIZEI ZH
Polizei verteidigt sich mit Video gegen Polizeigewalt-Vorwürfe
Ein Video eines Polizeieinsatzes geht viral. Es zeigt, wie ein Polizist einem Mann an der Langstrasse sein Knie in den Bauch rammt. Kritiker prangerten dies als Polizeigewalt an. Das ganze Video zeigt jedoch, was vor der Verhaftung passiert war. Mit diesem erklärt und verteidigt die Stadtpolizei das Verhalten des Beamten.
https://www.telezueri.ch/zuerinews/polizei-verteidigt-sich-mit-video-gegen-polizeigewalt-vorwuerfe-144143096


+++POLIZEI CH
Tritt-Verhaftung in Zürich: «Diesen Imageschaden müssen alle Polizisten ausbaden»
Die Polizei steht momentan wegen verschiedener Vorfälle in der Kritik. Zwei Experten sagen, was das für das Image der Behörden heisst.
https://www.20min.ch/story/diesen-imageschaden-muessen-alle-polizisten-ausbaden-493529360983


„Wir müssen nochmal über Polizeigewalt reden. Letzte Woche erschien bei Tamedia ein Artikel über einen Coronademonstranten, der durch ein Gummigeschoss der Polizei schwer am Auge verletzt wurde. Zu diesem Artikel wurde noch zu wenig gesagt. (Thread)“
https://twitter.com/Megafon_RS_Bern/status/1453070850312359937


Kleine Gummi-Prismen, grosse Problematik
Gummischrot wird von der Schweizer Polizei immer mal wieder eingesetzt, wenn’s «brenzlig» wird. Parteien und Verbände fordern ein striktes Verbot der Munition – doch die Polizei sieht das anders.
https://www.studizytig.ch/ausgaben/ausgabe-10/kleine-gummi-prismen-grosse-problematik/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Die Neue Rechte und die „Krise der Männlichkeit“
Antifeminismus spielt eine zentrale Rolle in der „Neuen Rechten“. Dabei nutzen sie die sogenannte „Krise der Männlichkeit“ als Teil ihrer Strategie, um in den Geschlechterdiskurs einzugreifen und gleichzeitig fast unbemerkt rechtsextreme Ideologie einfließen zu lassen.
https://www.belltower.news/antifeminismus-die-neue-rechte-und-die-krise-der-maennlichkeit-123105


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Linke Parteien erbost über Grünalternative Stadträtin: Simone Machado demonstriert mit Rechtsextremen gegen Covid-Gesetz
Sie stand am Samstag ganz vorne dabei: Simone Machado hat die Massnahmen-Gegner-Demo, die Zehntausende nach Bern lockte, mitorganisiert. Linksorientierte Stadt-Berner Politiker sind von Machados Auftreten erbost. Denn nicht nur Freiheitstrychler und Verschwörungstheoretiker besuchten am Samstag die Demo: Es waren auch rechtsextreme und faschistische Gruppierungen, wie die «Junge Tat», mit dabei.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/linke-parteien-erbost-ueber-gruenalternative-stadtraetin-simone-machado-demonstriert-mit-rechtsextremen-gegen-covid-gesetz-144143290


Corona-Massnahmen: Gespaltene Linke gibt Widerstand gegen Covid-Gesetz Auftrieb
Unter die Gegnerinnen und Gegner des Covid-19-Gesetzes mischen sich neu auch links orientierte Menschen. Das Pro-Komitee fürchtet um den Abstimmungserfolg.
https://www.20min.ch/story/gespaltene-linke-gibt-widerstand-gegen-covid-gesetz-auftrieb-428850725482


Schreckung der Bevölkerung: Kritiker der Coronamassnahmen blitzen mit Strafanzeige gegen Ex-Taskforce-Chef Martin Ackermann ab
Die fraglichen Straftatbestände sind für die Berner Staatsanwaltschaft eindeutig nicht erfüllt: Sie ermittelt deshalb nicht gegen Martin Ackermann wegen Schreckung der Bevölkerung. Die Massnahmenkritiker dürften das Verdikt aber anfechten.
https://www.luzernerzeitung.ch/schweiz/entscheid-schreckung-der-bevoelkerung-kritiker-der-coronamassnahmen-blitzen-mit-strafanzeige-gegen-ex-taskforce-chef-martin-ackermann-ab-ld.2206094


Keine «offizielle» Demo: 300 Personen marschieren unter Glockenlärm durch Wil
In Wil SG kommt es seit rund einem Monat jeden Dienstag zu einem «Marsch» durch die Stadt. Obwohl sich der Protest gegen die Corona-Massnahmen richtet, handelt es sich dabei nicht offiziell um eine Demonstration.
https://www.20min.ch/story/300-personen-marschieren-unter-glockenlaerm-durch-wil-714852169793


Ueli Maurer schweigt zu Demo-Plakat gegen Berset
An der Gross-Demo gegen das Covid-Gesetz stand Bundesrat Ueli Maurer erneut ungewollt im Fokus. Der Finanzminister äussert sich nicht zum geschmacklosen Plakat.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/ueli-maurer-schweigt-zu-demo-plakat-gegen-berset-66030295



derbund.ch 26.10.2021

Facebook Files zeigen: So funktioniert Facebooks Radikalisierungs­maschine

Der Social-Media-Konzern hat die eigene Plattform nicht mehr im Griff. Interne Tests offenbaren, dass der Weg in die Radikalität für Nutzer beängstigend kurz ist.

Simon Hurtz, Lena Kampf, Till Krause, Andrian Kreye, Georg Mascolo, Frederik Obermaier

Carol Smith und Karen Jones haben viele Gemeinsamkeiten. Beide meldeten sich im Sommer 2019 bei Facebook an, sie sind 41 Jahre alt und stammen aus Murphy, einer Kleinstadt im Südosten der USA. In ihrem Profil haben sie sogar dieselben Interessen angegeben: Kinder, Elternschaft, Christentum. Doch wenn sie sich im echten Leben begegneten, hätten sich Carol und Karen vermutlich wenig zu sagen. Carol unterstützt Donald Trump und liebt Memes, die sich über Liberale lustig machen. Karen ist Fan von Bernie Sanders und kann den ehemaligen US-Präsidenten nicht ausstehen.

So beginnen zwei Experimente, die eindrücklich zeigen, dass Facebook eine Höllenmaschine gebaut hat, die es nicht mehr in den Griff bekommt. Carol und Karen sind keine realen Personen, sondern Fake-Accounts, die eine Facebook-Forscherin kurz nacheinander aufsetzte, um zu überprüfen, was neue Nutzerinnen und Nutzer vorgesetzt bekommen. Der Name der Wissenschaftlerin ist in den Dokumenten geschwärzt, ihre Identität ist dieser Zeitung bekannt. Das Ergebnis fasst sie selbst so zusammen: «Der Inhalt in diesem Account (der in erster Linie unseren eigenen Empfehlungssystemen folgte!) nahm in extrem kurzer Zeit ziemlich besorgniserregende, polarisierende Züge an.»

Je extremer, desto besser

«Carols Reise zu QAnon» heisst das Dokument, in dem die Forscherin ihre Erfahrungen mit dem konservativen Profil beschreibt. Carol beginnt mit Likes für Seiten, die Zigmillionen Menschen in den USA gefallen: Fox News, Donald Trump, Melania Trump, ausserdem ein lokaler Radiosender und einige Seiten aus ihrer Umgebung in North Carolina. Auf dieser Grundlage schlägt Facebook weitere Gruppen und Seiten vor. Die Empfehlungen sollen Menschen dazu bringen, mehr Zeit auf der Plattform zu verbringen. Und offensichtlich folgen Facebooks Algorithmen dabei einer beängstigenden Logik: je extremer, desto besser.

Nach einem Tag sieht Carol die ersten Seiten, die regelmässig Falschbehauptungen verbreiten. Sie verteilt Likes für die Vorschläge, die zu ihrem Profil passen: rechtskonservativ, aber nicht radikal. Doch schon am zweiten Tag tauchen die ersten Verschwörungserzählungen auf. Kurz darauf empfiehlt Facebook die ersten Inhalte aus dem gewaltbereiten Umfeld des QAnon-Verschwörungsmythos. Bei den Seiten dauert es etwas länger, doch die Tendenz ist vergleichbar. «Am Ende der ersten Woche ist der Feed eine Mischung aus extremen, verschwörerischen und verstörenden Inhalten», bilanziert die Forscherin. Mehrfach schlägt Facebook aktiv Gruppen und Seiten vor, die gegen Richtlinien verstossen hatten und vorübergehend gesperrt worden waren.

Wenige Wochen später wiederholt die Wissenschaftlerin ihr Experiment mit Carols Gegenpart Karen. Auch der Dokumentation des zweiten Selbstversuchs muss sie in Facebooks internem Chat eine Warnung voranstellen: «Diese Nachricht enthält hasserfüllte, brutale und sexuell explizite Inhalte.» Karen beginnt links von der politischen Mitte und endet schnell am äussersten Rand. Dort geht es nicht um linke Politik, sondern darum, den politischen Gegner lächerlich zu machen. Die algorithmisch befeuerte Radikalisierung dauert etwas länger als bei Carol, es tauchen auch keine Verschwörungserzählungen auf.

Doch je länger das Experiment dauert, desto öfter empfiehlt Facebook polarisierende Seiten oder Gruppen, in denen geschmacklose Anti-Trump-Collagen und irreführende Inhalte geteilt werden. Immerhin tauchen auch nach mehreren Wochen noch gelegentlich Inhalte seriöser Medien auf. Zwischendurch mischt Facebook auch immer wieder harmlose lokale Seiten unter. Trotzdem fällt das Fazit der Forscherin ernüchternd aus: «Ich habe mich in einer Feedbackschleife aus zunehmend spalterischen und niveaulosen Inhalten wiedergefunden.»

Nicht nur Carol und Karen werden in einen Strudel aus Desinformation und Hass gezogen, auch die Forscherin selbst gerät in eine Art Abwärtsspirale. Zu Beginn ihrer Experimente klingt sie noch optimistisch, in späteren Nachrichten überwiegen Ernüchterung und Enttäuschung über ihren Arbeitgeber. Bei ihren Testnutzerinnen und -nutzern dauert es nur wenige Tage, bei ihr selbst dauert es rund anderthalb Jahre: Aus einer motivierten Mitarbeiterin wird eine desillusionierte Angestellte, die so lange gegen Wände rennt, bis sie aufgibt.

Ihre Selbstversuche beginnen nicht in den USA, sondern in Indien. Aus persönlichem Interesse heraus erstellt sie einen Fake-Account für einen fiktiven indischen Nutzer und beobachtet, welche Inhalte Facebooks Algorithmen automatisch empfehlen. Schnell wird ihr klar, dass ihre Kolleginnen und Kollegen davon erfahren müssen. «Am Ende war das Ergebnis so schockierend, dass ich es teilen musste», schreibt sie. Deshalb veröffentlicht sie im Frühjahr 2019 gemeinsam mit einem Teammitglied einen langen Beitrag in Facebooks internem Forum Workplace: «Wie ein indischer Testnutzer in eine Flut aus nationalistischen, polarisierenden Nachrichten abrutscht.»

Genau wie bei den beiden US-amerikanischen Frauen braucht es nur eine Handvoll Likes und wenige Tage, bis sich die Empfehlungen in einen endlosen Strom aus Hass und Hetze gegen Muslime verwandeln. Das Dokument wimmelt von Screenshots, die Inhalte voller Gewalt einfangen, ein «Integritäts-Albtraum». Dennoch überwiegt die Zuversicht, gleich am Anfang heisst es: «Wir hoffen, dass diese Notiz hier ein Startpunkt sein kann, um den unabsichtlichen Schaden zu verstehen und abzuwenden, den Facebooks Empfehlungssysteme verursachen.» In den Kommentaren bedanken sich Dutzende Kollegen, darunter auch Angestellte aus den betroffenen Abteilungen. Gemeinsam überlegen sie, was geschehen muss, um Facebooks Vorschlagfunktion zu entgiften.

Ein halbes Jahr später teilt die Forscherin ihre Erfahrungen mit der rechtskonservativen «Carol». Unter der Zusammenfassung markiert sie die Namen eines halben Dutzends Facebook-Angestellter, die sich ihre Ergebnisse doch bitte mal selbst anschauen sollten, darunter Expertinnen für Desinformation und Integrität. Das Indien-Dokument endete mit Fragen, diesmal liefert die Wissenschaftlerin die konkreten Handlungsempfehlungen gleich selbst. Es wirkt, als wolle sie die Dringlichkeit verdeutlichen: Hier ist das Problem, hier wäre die Lösung, bitte tut etwas.

Passiert ist offenbar wenig. Einige Monate nach der Veröffentlichung wird in den Kommentaren die Frage gestellt, ob diese «sehr sorgfältige und sehr verstörende» Studie konkrete Veränderungen gebracht habe. Die Autorin antwortet, die praktische Umsetzung sei wohl «schwierig», viele ihrer Empfehlungen seien bislang nicht berücksichtigt worden.

Dem dritten Experiment stellt die Forscherin einen fett gedruckten und unmissverständlich formulierten Hinweis voran: «Ziel dieser Studie ist es, die Gefahren durch Desinformation aufzuzeigen und Lösungen zu präsentieren, wie diese Effekte vor der anstehenden Wahl abgeschwächt werden könnten.» Es klingt wie ein Hilferuf. Statt die zuständigen Kolleginnen und Kollegen zu taggen, fragt sie in einem Kommentar: «Ich habe eine etwas ungewöhnliche Bitte: Könnt ihr mir schreiben, wenn die Ergebnisse dieser Studie einen direkten Einfluss auf die Ziele eurer Abteilungen haben?»

Die drei Experimente ermöglichen nur einen kleinen Einblick in die Forschung und Diskussionen, die bei Facebook intern ablaufen. Von aussen lässt sich kaum beurteilen, warum Facebook die Empfehlungen der Forscherin nicht umsetzte. Andere Dokumente aus den Facebook Files liefern aber weitere Indizien, dass sich Facebook über den Kopf gewachsen ist. Offenbar weiss der Konzern selbst nicht mehr genau, welche Wirkung seine Produkte eigentlich entfalten.

In einer Studie, die den Zusammenhang zwischen QAnon und Impfbereitschaft untersucht, heisst es etwa: «Wir wissen nicht, ob QAnon die Voraussetzungen für Impfskepsis geschaffen hat.» Vielleicht sei das auch nicht so wichtig, schliesslich müssen man sich um beide Probleme Sorgen machen. Experten hatten Facebook seit Jahren aufgefordert, schärfer gegen diesen extremistischen Verschwörungsmythos vorzugehen, doch der Konzern reagierte erst im vergangenen Herbst. Natürlich ist ein soziales Netzwerk nicht allein daran schuld, dass sich Menschen radikalisieren. Doch mit seinem Zögern könnte Facebook unfreiwillig dazu beigetragen haben, dass sich der Verschwörungsglaube tief in der US-amerikanischen Gesellschaft festgesetzt hat.

Auch seine unrühmliche Rolle beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar unterschätzte Facebook lange Zeit, oder versuchte zumindest, seine eigene Verantwortung öffentlich kleinzureden. Kurz nach dem Putschversuch sagte Geschäftsführerin Sheryl Sandberg: «Ich glaube, diese Ereignisse wurden grösstenteils auf Plattformen organisiert, die nicht unsere Möglichkeiten haben, Hass zu stoppen, die nicht unsere Standards und unsere Transparenz haben.»

Frustrierte Abschiedsbriefe

Nach der US-Wahl im November hatte Facebook viele der Massnahmen zum Schutz der Abstimmung zurückgenommen, das sogenannte Integrity Team wurde im Dezember aufgelöst und über andere Abteilungen verteilt. Das war offensichtlich voreilig. In den zwei Monaten zwischen Donald Trumps Niederlage und der Eskalation der Gewalt in Washington sei die radikale «Stop the Steal»-Bewegung rapide gewachsen, heisst es in einer internen Studie. «Doch unsere Durchsetzung war bruchstückhaft.» Im Chat werden Facebooks Angestellte noch deutlicher. «Wir haben dieses Feuer seit Langem geschürt und sollten nicht überrascht sein, dass es jetzt ausser Kontrolle ist.»

Zumindest seine automatisierten Empfehlungen für politische Gruppen hat Facebook mittlerweile überarbeitet. Anfang des Jahres wurde intern eine «Deamplification Roadmap» skizziert und eine Arbeitsgruppe gegründet. Zunächst trug sie den Namen «Project Rabbithole», angelehnt an den dunklen Tunnel des Kaninchenbaus aus «Alice im Wunderland», in den Nutzer sinnbildlich hinabfallen. Mittlerweile heisst sie nach dem niederländischen Erfinder Cornelis Drebbel, der im 17. Jahrhundert das erste steuerbare Tauchboot entwickelte.

Die Forscherin, die mit drei Selbstversuchen auf das Problem aufmerksam machte, hat diese Massnahmen nicht mehr bei Facebook miterlebt. Im August 2020 hinterliess sie eine frustrierte Abschiedsnachricht. «Wir wissen jetzt seit mehr als einem Jahr, dass unsere Empfehlungssysteme Nutzer sehr schnell auf einen Pfad aus Verschwörungstheorien führen können», schrieb sie in den Chat. «Wir setzen die Nutzer wissentlich einem Risiko aus.»

Wichtige Entscheidungsträger hätten immer wieder bereits fertiggestellte Sicherheitsmechanismen ausser Kraft gesetzt. An ihrem letzten Arbeitstag im September 2020 postet die Forscherin eine lange Liste mit Zusammenfassungen ihrer Studien, Links zu anderen Untersuchungen und offenen Fragen, die beantwortet werden sollten. Alles akribisch und detailreich, nüchtern und gestützt mit Daten, wie ein Vermächtnis. Am Ende ihrer Abschiedsnachricht verrät die Forscherin auch, wie es für sie beruflich weitergeht. Sie arbeitet nun für einen Konkurrenten von Facebook. Dort leitet sie eine neue Abteilung gegen Desinformation.
(https://www.derbund.ch/so-funktioniert-facebooks-radikalisierungsmaschine-540701737419)