Medienspiegel 23. Oktober 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHWEIZ
Wegen Gewalt in Bundesasylzentren: Polizei rückt im Durchschnitt zweimal täglich aus
Im ersten Halbjahr 2021 musste die Polizei 362 Mal wegen Gewalt in Bundesasylzentren intervenieren. Mit einem neuen Präventionsprogramm konnte der Bund die Zahl der Vorfälle aber jüngst deutlich senken.
https://www.luzernerzeitung.ch/schweiz/bundesasylzentren-polizei-ruckt-zweimal-taglich-aus-ld.2204950


+++GRIECHENLAND
Wenn Geflüchtete zu Gefangenen werden | ZDF Magazin Royale
Moria, das Flüchtlingslage auf der griechischen Insel Lesbos, ist vor einem Jahr abgebrannt! Danach waren sich alle einig: So etwas Menschenunwürdiges wie das Lager in Moria darf es bei uns (Europa) nicht mehr geben. Die EU hat tatsächlich Worten Taten folgen lassen: No more Morias! Dafür wird allerdings mit einem neuen, von doppelt gereihten Stacheldrahtzäunen umgebenen Geflüchtetenlager auf Samos gegen die Menschenwürde verstoßen – aber nach höchsten EU-Standards. (Mit englischen Untertiteln)
https://www.youtube.com/watch?v=tJMLNMlJkPw


+++ITALIEN
Italienischer Ex-Innenminister vor Gericht: Hollywood gegen Matteo Salvini
Salvini hatte einem Seenotrettungsschiff die Einfahrt in den Hafen verweigert. Seine erste Anhörung nutzte er zur Attacke gegen Linke. Richard Gere trat als Zeuge auf.
https://taz.de/Italienischer-Ex-Innenminister-vor-Gericht/!5810298/
-> https://www.tagesschau.de/ausland/salvini-prozess-open-arms-101.html
-> https://www.theguardian.com/world/2021/oct/23/matteo-salvini-goes-on-trial-for-kidnap-over-blocked-migrant-ship


+++DROGENPOLITIK
Parlament legalisiert Cannabis – SVP findet es «bedenklich»
Nach zahlreichen Versuchen könnte Cannabis bald legalisiert werden. «Schön», finden die Grünen und SP. Es wartet jedoch ein Referendum von rechts.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/parlament-legalisiert-cannabis-svp-findet-es-bedenklich-66026352


Cannabis – Hoffnung auf einen Milliardenmarkt – Echo der Zeit
Mit Cannabispflanzen lässt sich auch ganz legal gut Geld verdienen. In einem Labor in Zeiningen im Kanton Aargau untersucht zum Beispiel die Firma Puregene die Eigenschaften von Hanf und sucht nach neuen Verwendungszwecken: ein potentieller Milliardenmarkt.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/cannabis-hoffnung-auf-einen-milliardenmarkt?partId=12077052


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
GEGENDEM0 SCHWURBELDEMO/POLIZEIAKTION VOR REITSCHULE
-> https://www.derbund.ch/massnahmen-gegner-demonstrieren-in-bern-916148145719
-> https://www.bernerzeitung.ch/massnahmen-gegner-demonstrieren-in-bern-916148145719
-> https://www.20min.ch/story/gegendemo-will-sich-gegen-massnahmenkritiker-stellen-795222915588
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/die-fangemeinde-der-schlechten-filme?id=12077097
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/waehrend-unfallaufnahme-polizei-bei-berner-reitschule-mit-steinen-beworfen-id16930783.html
-> https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=f05b836f-1623-4414-866b-975739e6cf02
-> https://anarchistisch.ch/antifaschistische-proteste-23-10/
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/polizisten-bei-reithalle-mit-steinen-angegriffen-66028834
-> https://twitter.com/ag_bern
-> https://twitter.com/swissfenian
-> https://twitter.com/PoliceBern
-> https://twitter.com/BERNMOBIL


(FB Reitschule)
Heute Nachmittag kam es nach einer Sachbeschädigung auf der Schützenmatte zu einem Grosseinsatz der Polizei. Dabei wurde die Reitschule grossflächig umstellt, Mitarbeitende der Reitschulbetriebe konnten ihre Arbeit nicht aufnehmen.
Die Polizei hat von einer Erstürmung der Reitschule abgesehen und sich nach knapp zwei Stunden wieder zurückgezogen.
Die Reitschule hat ihren Betrieb am Samstagabend regulär wieder aufgenommen. Wir freuen uns wie immer auf zahlreichen Besuch.
(https://www.facebook.com/Reitschule/posts/10159241329920660)


Gegendemo setzt Zeichen gegen Faschisten und Verschwörungstheoretiker
Auch auf dem Helvetiaplatz findet am Samstag eine Kundgebung statt. Unter dem Banner «Schwürblis und Nazis zum Entgleisen bringen» wollen die linksorientierten Demonstrierenden den immer wieder stattfindenden Massnahmen-Gegner-Demos entgegensetzen.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/gegendemo-setzt-zeichen-gegen-faschisten-und-verschwoerungstheoretiker-144118101


+++RECHTSEXTREMISMUS
Comedy-Autorin über Aktivismus: „Twitter ist für mich Battle-Rap“
Jasmina Kuhnke ist als „Quattromilf“ eine Twitter-Celebrity. Aus Protest gegen rechtsextreme Verlage auf der Buchmesse sagte sie ihre Teilnahme ab.
https://taz.de/Comedy-Autorin-ueber-Aktivismus/!5807195/
-> https://taz.de/Rechtsextreme-auf-der-Buchmesse/!5810177/
-> https://taz.de/Buchmesse-Frankfurt-und-rechte-Verlage/!5807136/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Demo-Samstag in Bern: Massnahmen-Gegner versammeln sich auf dem Münsterplatz
Heute finden in Bern zwei bewilligte Kundgebungen statt. Zum einen marschieren die Massnahmen-Gegner zum Bundesplatz. Zum anderen demonstriert eine linke Vereinigung auf dem Helvetiaplatz
https://www.derbund.ch/massnahmen-gegner-demonstrieren-in-bern-916148145719

Ticker + Tweets:
-> https://twitter.com/farbundbeton
-> https://twitter.com/ag_bern
-> https://twitter.com/__investigate__
-> https://twitter.com/MegahexF
-> https://twitter.com/swissfenian
-> https://twitter.com/PoliceBern
-> https://twitter.com/BERNMOBIL
-> https://www.bernerzeitung.ch/massnahmen-gegner-demonstrieren-in-bern-916148145719
-> https://www.20min.ch/story/gegendemo-will-sich-gegen-massnahmenkritiker-stellen-795222915588
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/bewilligter-marsch-durch-bern-startet-um-13-30-uhr-kommt-es-heute-zur-mega-demo-der-corona-skeptiker-id16929964.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nationale-kundgebung-grossaufmarsch-der-massnahmengegner-in-bern
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-massnahmen-gegner-demonstrieren-in-bern-66025541
-> https://www.watson.ch/!982891365
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/lauter-protest-gegen-die-coronapolitik-in-bern?partId=12077070
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/bewilligte-kundgebung-tausende-demonstrieren-in-bern-gegen-corona-massnahmen
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/mega-demonstrations-samstag-in-bern-10000-massnahmen-kritiker-und-ihre-gegner-demonstrieren-zeitgleich-144118044
-> https://www.telem1.ch/aktuell/mega-demonstrations-samstag-in-bern-10000-massnahmen-kritiker-und-ihre-gegner-demonstrieren-zeitgleich-144118294
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/corona-demo-in-bern-durch-aktionsbuendnis-der-urkantone-144117851


Anhänger gespalten: Massnahmenkritiker zoffen sich vor Corona-Demo in Bern
Die Organisatoren erwarten an der Demonstration vom Samstag gegen 10’000 Teilnehmende. Die Bewegung «Mass-Voll» ist offiziell nicht dabei. Das spaltet deren Anhängerinnen und Anhänger.
https://www.20min.ch/story/massnahmenkritiker-zerfleischen-sich-vor-corona-demo-in-bern-selbst-280514487182


Anti-Corona-Offensive des Bundes stösst auf Widerstand: Kantone fürchten die Wut der Impfgegner
Die nationale Impfoffensive soll nochmals möglichst viele zum Piks bewegen. Doch mehrere Kantone haben Bedenken. Sie befürchten, auf erbitterten Widerstand von Impfgegnern zu stossen.
https://www.blick.ch/politik/anti-corona-offensive-des-bundes-stoesst-auf-widerstand-kantone-fuerchten-die-wut-der-impfgegner-id16928836.html


Covid19-Demo in Bern mit Etikettenschwindel: rechte Inhalte in linker Verpackung
Veranstalter der bewilligten Demonstration der Massnahmengegner in Bern am Samstag ist neben dem „Aktionsbündnis Urkantone“ die «Freie Linke Schweiz». Im Abstimmungskampf um das Covid19-Gesetz finden sich einmal mehr Brüder und Schwestern im Geiste, die sich eigentlich unterschiedlichen politischen Lagern zuordnen. Zum Durchsetzen der eigenen Ziele duldet man für die Mehrheitsbeschaffung offensichtlich, was man sonst aufs Äusserste bekämpft.
https://covid19gesetzja.ch/2021/10/22/covid19-demo-in-bern-mit-etikettenschwindel-rechte-inhalte-in-linker-verpackung/


Winterthur: Co-Präsidentin von Mass-Voll mit Cremetorte attackiert
Ein unbekannter Täter hat Viola Rossi bei einer Unterschriftensammlung in Winterthur am Samstagabend mit einer Torte beworfen. Die Person konnte fliehen.
https://www.20min.ch/story/co-praesidentin-von-mass-voll-mit-cremetorte-attackiert-230872859581


Winterthurer Beck wirbt gegen die Corona-Massnahmen
In den Schaufenstern des Grabebecks und des Holzofebecks in der Stadt Winterthur stehen grosse Bildschirme mit Aussagen gegen die Corona-Massnahmen und die Impfung. Diese kommen aber nicht bei allen Kundinnen und Kunden gut an.
https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/winterthurer-beck-wirbt-gegen-die-corona-massnahmen-00167772/



luzernerzeitung.ch 23.10.2021

Coronaskeptiker auf dem Prüfstand: Über die Paradoxie einer Bewegung

Seit Monaten demonstrieren Massnahmenskeptiker fast jeden Montag in der Luzerner Altstadt gegen die behördliche Coronapolitik. Wochen vor der zweiten Abstimmung über das Covid-Gesetz ist die Stimmung zuweilen aufgeheizt. Ein Einordnungsversuch.

Pascal Studer

Die Luzerner Altstadt dunkelt langsam ein. Und je dunkler es am Grendel wird, desto lauter werden die Sprechchöre, die sich langsam vom Mühlenplatz aus nähern. Sicherheitskräfte stehen da, ein paar Schaulustige auch. Einer von ihnen beschimpft die demonstrierenden Massnahmenkritiker mit ausgestrecktem Mittelfinger. Die Antworten aus dem Menschenzug: ebenso gehässig, ebenso vulgär.

Gemäss Schätzungen der Luzerner Polizei laufen an jenem Septemberabend 150 Personen durch die Altstadt. Genauso viele werden es einige Wochen später Mitte Oktober sein, vergangenen Montag waren es noch 90. Die Demonstrierenden halten dabei Transparente mit Botschaften in die Luft, die an dieser Stelle nicht wiederholt werden.

Seit März regelmässige Kundgebungen

Rechnet man zurück, hat genau vor einem Jahr die bislang tödlichste Coronawelle ihren Anfang genommen. Vom 1. November bis Jahresende starben gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) schweizweit täglich durchschnittlich 87 Personen in Zusammenhang mit Covid-19. Insgesamt waren es in diesem Zeitraum über 5300 Todesopfer.

Nun stimmt das Schweizer Stimmvolk am 28. November ein zweites Mal über das Covid-Gesetz ab. Oder genauer über Teile davon, denn die Vorlage wurde bereits im Juni mit 60 Prozent angenommen – in der Stadt Luzern lag der Ja-Anteil gar bei über 70 Prozent. Namentlich geht es in ein paar Wochen vor allem um die Ausweitung der Finanzhilfen, die Weiterentwicklung des Contact-Tracings, die Förderung von Tests und das Covid-Zertifikat. Letzteres erleichtere Auslandreisen und ermögliche bestimmte Veranstaltungen, schreibt das BAG.

Schon seit geraumer Zeit hat sich dagegen Widerstand formiert. Auch die Kundgebungen in der Stadt Luzern finden nicht erst seit ein paar Wochen regelmässig statt. Der Luzerner Polizeisprecher Urs Wigger sagt: «Gemäss unseren Kenntnissen fingen diese Ende Februar, Anfang März an.» Wie viele Personen jeweils teilnehmen, darüber führt die Polizei keine Statistik. Wigger: «Als Einschätzung kann gesagt werden, dass die Anzahl Teilnehmender ganz unterschiedlich war. An den ersten Solidaritätsspaziergängen nahmen etwas über 350 Personen teil.» In letzter Zeit seien es aber bedeutend weniger gewesen.

Der Hebel zur Politik fehlt

Heterogen mit Hang zur Radikalität, starke Schwankungen bei der Anzahl Demo-Teilnehmender – aber dennoch ein erstaunlicher Durchhaltewille: Die massnahmenskeptische Bewegung ist schwierig einzuordnen. Aus einem quantitativen Blickwinkel lohnt sich dabei der Blick zurück, als Ende 2018 die Klimabewegung in der Schweiz Fahrt aufnahm. Damals mobilisierte die Jugendbewegung im ganzen Land, mit einem Höhepunkt in Bern, als rund 100’000 Menschen für eine bessere Klimapolitik einstanden. Auch in der Stadt Luzern haben bis vor Corona teilweise mehrere tausend Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten demonstriert.

Dass es sich dabei nicht nur um einen Trend handelte, zeigen die damaligen Verschiebungen auf dem politischen Parkett. So haben 2019 die Grünen im Luzerner Kantonsrat ihren Anteil auf 14 Sitze verdoppelt, mit Jonas Heeb schaffte es sogar erstmals ein Politiker aus der grünen Jungpartei ins Parlament. Auch die GLP und die SP, die sich ebenfalls für Umweltthemen starkmachen, konnten zulegen.

«Bewegung wird völlig überschätzt»

Auf diesen Effekt warte man bei den massnahmenkritischen Bewegungen bislang vergeblich. Darauf weist Tobias Arnold hin. Er ist Politologe und Mitglied der Geschäftsleitung von Interface Politikstudien, einem wissenschaftlichen Kompetenzzentrum mit Sitz in Luzern und Lausanne. Er betont: «Man darf die Bewegung nicht überschätzen.» So stünde die Parolenfassung der SVP – die Mutterpartei lehnt das Gesetz ab, die Luzerner Regionalparteien dürften bald folgen – nicht in direktem Zusammenhang mit den massnahmenkritischen Kreisen. Die SVP entscheide eigenständig und dürfe mit diesen nicht gleichgesetzt werden – auch wenn eine gewisse Überlappung bestehe. Arnold führt aus: «Die Bewegung ist laut, hat aber vor allem eine indirekte Wirkung auf die Gesellschaft – unter anderem über die Medien.»

Auch der Politikwissenschaftler Marc Bühlmann von der Universität Bern sagt gegenüber dem Wochenblatt «Die Zeit»: «Die Corona-Gegner-Bewegung wird völlig überschätzt.»

Ähnlich sieht es der Extremismusforscher Dirk Baier. Der Vorsteher des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) nimmt etwa zur Einschätzung des Politologen Lukas Golder von der Politikforschungsstelle GFS Bern Stellung. Dieser ordnet das Wählerpotenzial der Bewegung bei 10 Prozent ein. Baier betont: «Ich denke, dass man so die Bewegung überschätzt.» Seine Begründung ist unter anderem, dass sich die verschiedenen Subgruppen «nicht so einfach unter einen Hut bringen lassen».

Zumal für ihn auch nicht absehbar ist, dass aus der Bewegung bald eine politische Partei entstehen könnte – denn mit zunehmender Kontrolle über die Pandemie löst sich auch die Grundlage der Bewegung auf. «Dann wird diese deutlich an Zulauf verlieren», erklärt er. Es ist paradox: Einerseits torpedieren Massnahmenkritikerinnen und -kritiker durch das Verbreiten faktenfreier Botschaften die Politik der Behörden (siehe Box), die das verfassungsmässig vorgeschriebene Ziel haben, die Pandemie zu bewältigen.

Andererseits sind die Skeptiker auf ein Fortdauern der Krise angewiesen – denn nur sie gibt ihnen letztlich ihre Daseinsberechtigung. Wie gross diese wirklich ist, wird sich am 28. November zeigen. Erste Indizien lassen sich bereits ableiten: Gemäss einer aktuellen Tamedia-Umfrage hat das Covid-Gesetz in der Bevölkerung mit über 60 Prozent eine ähnlich hohe Zustimmungsrate wie vergangenen Sommer. Nur die Wählerinnen und Wählern der SVP scheren aus und lehnen Stand jetzt das Gesetz deutlich ab.



Diskriminierung und Rechtsgleichheit: Das Covid-Zertifikat unter der Lupe

Die Massnahmengegner kritisieren im Rahmen des Covid-Gesetzes vor allem das Zertifikat. Dieses wird jenen ausgestellt, die geimpft, getestet oder genesen sind. Ein häufig genanntes Argument ist, dass das Covid-Zertifikat diskriminiere. Oder konkret: Die Gegnerinnen des Covid-Gesetzes werfen den Behörden vor, gegen das Diskriminierungsverbot und somit gegen die Bundesverfassung zu verstossen.

Aus juristischer Perspektive ist dieser Vorwurf nicht haltbar. Dies sagen führende Schweizer Grundrechtsexpertinnen. So betonen etwa Regina Kiener und Daniel Moeckli von der Universität Zürich gegenüber der NZZ, dass die Zertifikatspflicht keine Diskriminierung ist. Der Grund: Eine Diskriminierung ist immer an ein sogenannt verpöntes Merkmal geknüpft. Das Verbot schützt also Menschen davor, wegen ihrer Hautfarbe oder ethnischer Herkunft, ihrer Religion, ihres Geschlechts, ihrer Sexualität oder aufgrund ähnlicher Gründe benachteiligt zu werden.

Zertifikat ist zeitlich befristet

Wichtig dabei: Für die betroffene Person ist es nicht möglich oder nicht zumutbar, diese Merkmale zu ändern. Ein homosexueller Mensch kann beispielsweise nicht plötzlich entscheiden, heterosexuell zu werden – beim Impfstatus sieht dies anders aus. Auch die Verhältnismässigkeit werde eingehalten, so Kiener und Moeckli. Anfragen bei weiteren Rechtsexperten lassen den Schluss zu, dass diese Meinung in der Rechtslehre weitgehend Konsens sein dürfte.

Ebenfalls in Artikel 8 der Bundesverfassung ist das Gleichheitsgebot verankert. Auch dieses verletzt das Zertifikat nicht. Die Erklärung: Die Gleichheitsmaxime umfasst bei sachlichen Gründen auch das Gebot der Differenzierung. Geht es etwa darum, die Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern, muss der Staat Personen mit und ohne Zertifikat sogar unterschiedlich behandeln. Grundrechtlich muss eben nicht nur Gleiches gleich, sondern auch Ungleiches ungleich gehandhabt werden, so der Tenor aus der Rechtslehre. Würde der Staat bei den derzeitigen Umständen also alle Menschen gleich behandeln, würde dieser gegen das Gleichheitsgebot verstossen.

Relevant ist zudem, dass gemäss Gesetzesvorlage das Zertifikat bis Ende 2022 befristet ist. Allerdings – auch dies lehrte die Pandemie – kann das Gesetz unter Einhaltung der Verhältnismässigkeit angepasst werden. (stp)
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/stadt-luzern-coronaskeptiker-auf-dem-pruefstand-ueber-die-paradoxie-einer-bewegung-ld.2188371)


+++HISTORY
derbund.ch 22.10.2021

Die Konferenz von Évian: Europas Feigheit in der Flüchtlingsfrage

Im Juli 1938 tagen Diplomaten im mondänen Kurort am Genfersee, während 200 Kilometer weiter nördlich zigtausende Jüdinnen und Juden um ihr Leben bangen. Rückblick auf ein Versagen der Weltgemeinschaft.

Till Hein (Das Magazin)

Am Mittwoch, den 6. Juli 1938, ist in Évian-les-Bains am Genfersee nicht nur das Wetter eine Freude. Die Cafés des Nobelkurorts, der für sein Mineralwasser weltberühmt ist, sind mit Menschen gefüllt. Die Fassaden der Luxushotels aus der Belle Époque, die Thermalbäder und Villen leuchten in der Sonne. Feriengäste spazieren die Promenade entlang. Andere zieht es zum Spielcasino, über dessen Glaskuppel die Trikolore im Wind flattert, die französische Nationalflagge. Mitten in dieser Welt des Reichtums, der Musse und Lebensfreude beginnt an diesem Nachmittag eine multinationale Krisenkonferenz: Es geht um das Leben von über einer halben Million Menschen.

Die amerikanische Regierung befürchtet eine humanitäre Katastrophe in NS-Deutschland – und gewaltige Flüchtlingsströme. Daher hat sie die Welt zusammengerufen. Und in der Tat spüren immer mehr jüdische Männer und Frauen die drohende Gefahr und wollen aus der Machtsphäre der Nationalsozialisten fliehen. Verzweifelt suchen sie nach einem Land, das ihnen Asyl gewährt. Wie gebannt blicken sie nach Évian. Und schon am Eröffnungstag der Konferenz scheint ein grosser Durchbruch unmittelbar bevorzustehen. «Die Zeit ist gekommen», verkündet der Delegierte aus Washington, Myron C. Taylor, ein enger Vertrauter von US-Präsident Roosevelt, «da die Regierungen handeln müssen. Und zwar sofort.»

Werden die demokratischen Grossmächte Adolf Hitler militärisch unter Druck setzen? Beschliesst die Weltgemeinschaft Wirtschaftssanktionen gegen NS-Deutschland ? Oder werden zumindest die Grenzen für Flüchtende geöffnet? Nichts dergleichen geschieht. Schlimmer noch: Am Ende wird die Konferenz von Évian den Nationalsozialisten zum Vorteil gereichen.

Bereits 1933 kommt es in Deutschland, wo rund 500’000 Jüdinnen und Juden leben, im Zuge von Hitlers Machtübernahme zu ersten Pogromen. Jüdische Bürgerinnen und Bürger werden auf offener Strasse bedroht und angegriffen. In Bochum, Köln und Königsberg schänden Nazis Synagogen. In anderen Städten plündern sie jüdische Läden und Kaufhäuser. Ab Herbst 1935 dürfen Juden nicht mehr wählen und keine öffentlichen Ämter mehr bekleiden. Ehen und Geschlechtsverkehr zwischen Juden und «Staatsangehörigen deutschen Blutes» sind streng verboten.

Als Mitte März 1938 Österreich an NS-Deutschland angegliedert wird, bricht der Judenhass auch dort mit voller Gewalt aus: In Wien, der Heimatstadt von 170’000 Jüdinnen und Juden, verprügeln Mitbürger jüdische Männer und Frauen und zwingen sie, mit Zahnbürsten Trottoirs zu reinigen. Der Mob beschmiert Kaffeehäuser und Geschäfte mit antisemitischen Parolen. Wohnungen jüdischer Kaufleute werden geplündert. Angst und Verzweiflung treiben Hunderte in den Suizid. Viele Tausend wollen fliehen. Doch die Nazis errichten bürokratische Hürden. Und wer das Land verlassen will, muss einen Grossteil des Vermögens zurücklassen.

Allein in Wien belagern tausende Juden Botschaften und Konsulate, um ein Ausreisevisum zu ergattern. Manche stellen sich schon um Mitternacht an, um am nächsten Tag hoffentlich vorgelassen zu werden. «Beim Britischen Konsulat fand ich den Hof, das Treppenhaus und das Wartezimmer überfüllt mit angespannt wirkenden Männern und Frauen», notiert ein Augenzeuge, «und es hiess, dass über 6000 bereits einen Antrag (…) gestellt hatten.»

Die Schweiz weicht aus

Schliesslich ergreift US-Präsident Franklin D. Roosevelt die Initiative und ruft zu einer multinationalen Sonderkonferenz auf: Als Tagungsort schlägt er Genf vor, ein renommiertes Zentrum der Diplomatie, wo auch der Völkerbund seinen Sitz hat. In der Romandie soll eine Lösung für die Flüchtlingskrise gefunden werden. Doch der Bundesrat zögert. Man scheut davor zurück, in diesen unruhigen Zeiten ausgerechnet hierzulande eine Konferenz auszurichten, die Hitler und seinen Gesinnungsgenossen missfallen könnte. Und vielleicht spielen bei den Vorbehalten auch eigene antisemitische Ressentiments eine Rolle.

Bereits seit der Römerzeit dürften Personen jüdischen Glaubens auf dem Gebiet der heutigen Schweiz gelebt haben. Mehrfach kam es jedoch zu Verfolgungen und Vertreibungen, und im 19. Jahrhundert hielten sich nur noch sehr wenige jüdische Männer und Frauen in der Schweiz auf. Erst 1866 stimmten Volk und Stände einer Verfassungsrevision zu, die der jüdischen Bevölkerung die Niederlassungsfreiheit und die Gleichheit vor dem Gesetz gewährte. 1874 wurden Jüdinnen und Juden auch die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Kultusfreiheit offiziell gewährt. Feindseligkeiten gegen Juden, ihre Religion und Kultur blieben dennoch weit verbreitet – und ab den 1930er-Jahren kamen sie verstärkt zum Tragen.

Im Sommer 1938, als ein geeigneter Tagungsort für die multinationale Flüchtlingskonferenz gesucht wird, hat die Schweiz eine Gesamtbevölkerung von rund vier Millionen Menschen. Etwa 20’000 von ihnen sind Juden, gerade einmal 0,47 Prozent. Insbesondere die deutschsprachigen Kantone sind jedoch naheliegende Fluchtziele für deutsche Staatsbürger, die vom NS-Regime verfolgt werden. Wie die Nachforschungen des Projekts «Geschlossene Grenzen» der Technischen Universität Berlin zeigen konnten, kommen allein im Jahr 1933 fast 10’000 Geflüchtete, darunter 7631 Juden, die zwischen März und Mai über Basel einreisen. Die Schweizer Behörden sind alarmiert. Seit dem 31. März 1933 wird offiziell zwischen zwei Kategorien von Schutzsuchenden unterschieden: «Emigranten» und «Politische Flüchtlinge». Letzteren will man weiterhin Asyl gewähren. Über die Anerkennung – oder eben die Abweisung – entscheidet die Bundesanwaltschaft, die gleichzeitig auch für die Bekämpfung umstürzlerischer Bestrebungen zuständig ist. Da die meisten der als «politisch» eingestuften Geflüchteten, die zwischen 1933 und 1945 um Asyl ansuchen, Anhänger linker Parteien sind, werden auch aus dieser Gruppe nur mehr 644 Männer und Frauen aufgenommen.

Noch viel schwerer aber haben es Schutzsuchende, die in Deutschland aus «rassenideologischen» Gründen verfolgt werden. Seit dem Frühling 1933 bezeichnet man sie in der Schweiz als «Emigranten» – und sie werden dazu gedrängt, das Land so schnell wie möglich wieder zu verlassen. Für diese Gruppe von Menschen auf der Flucht ist denn auch nicht die Bundesanwaltschaft zuständig, sondern die Eidgenössische Fremdenpolizei, die nach dem Ersten Weltkrieg als Reaktion auf Ängste vor «Überfremdung» gegründet wurde. «Emigranten» erhalten als «Flüchtlinge im Transit» lediglich eine Duldung von sechs Monaten. Sie dürfen in der Schweiz nicht arbeiten und haben kein Recht auf staatliche Unterstützung.

Trotz des Drängens aus Washington kann sich der Bundesrat 1938 auch nicht zu einer Ausrichtung der Flüchtlingskonferenz in Genf durchringen. Man will es sich mit dem NS-Regime nicht verscherzen, wohl auch aufgrund der Handelsbeziehungen: Viele Firmen aus der Schweiz haben Niederlassungen oder Tochtergesellschaften in Deutschland. Und nicht zuletzt sind es auch Erzeugnisse der Schweizer Rüstungsindustrie, mit denen Hitler seine Armee für den Zweiten Weltkrieg schlagkräftig macht.

Schliesslich findet sich doch noch ein Tagungsort, wenn auch nicht in der Schweiz: Knapp fünfzig Kilometer nordöstlich von Genf kommt die Weltgemeinschaft im Nobelkurort Évian-les-Bains zusammen – auf der französischen Seite des Genfersees.

Als die Konferenz am 6. Juli 1938 um 16 Uhr im mondänen Hotel Royal endlich eröffnet wird, verweist der französische Gastgeber, Sonderbotschafter Henry Bérenger aus Paris, einundsiebzig Jahre alt, denn auch voller Stolz auf die grosse Tradition Frankreichs als «terre de libre discussion» und als «terre d’asile» – als Land der freien Rede und Aufnahmeland für Flüchtlinge. Getagt wird im grossen Salon des Nobelhotels an einen hufeisenförmigen, mit grünem Tuch bedeckten Tisch. Politiker und Diplomaten aus den USA, Grossbritannien, Frankreich, der Schweiz und 28 weiteren Nationen sind in Staatskarossen vorgefahren. Dutzende Hilfskomitees und Nichtregierungsorganisationen haben ebenfalls Referenten geschickt. Mehr als zweihundert Journalisten sind akkreditiert.

Nur «ein Land des Transits»

Bérenger, ein feingliedriger Intellektueller, ist Sozialist und ein klarer Gegner der Agenda Adolf Hitlers. Das Verblüffende: In seiner Rede erwähnt er NS-Deutschland kein einziges Mal. Allgemein schwadroniert er über Flüchtlinge, die zu erwarten seien. Und mit Nachdruck bittet er um Verständnis für die besondere Situation seines Heimatlandes: In Frankreich, betont er, lebten bereits 200’000 Flüchtlinge. Ihre Integration habe Millionen von Francs verschlungen. Man habe also schon viel Gutes getan und «in Bezug auf die Aufnahme von Flüchtlingen den grösstmöglichen Sättigungsgrad erreicht». Eine erste Enttäuschung für die bedrohten Juden.

Dann aber scheint sich das Blatt zu wenden. Der US-amerikanische Delegierte Myron C. Taylor erhebt sich von seinem Stuhl und fordert die Welt zum Handeln auf. Taylor, vierundsechzig, Smoking, steifes Hemd und hoher Kragen, steht nicht nur US-Präsident Roosevelt nahe. Als ehemaliger Finanzchef des weltweit grössten Konzerns U. S. Steel geniesst er international Autorität. Blitzschnell müsse auf diese Krise reagiert werden, doziert Taylor, aber auch mit langem Atem und grosser Reichweite.

Was folgt, ist ein weiterer Schock für die Menschen, die um ihr Leben bangen: Die USA werden die bisherigen Quoten für Flüchtlinge nicht erhöhen, stellt Taylor klar. Weiterhin dürfen pro Jahr exakt 27’370 Menschen aus Deutschland und Österreich ins Land kommen – vorausgesetzt, dass sie die strengen Einreisebedingungen erfüllen. Die Vertreter der Hilfsorganisationen sind fassungslos. Dabei hat Taylor nur verkündet, was mit Präsident Roosevelt abgesprochen war. Zwar möchte die US-Regierung durchaus ein Zeichen gegen Hitlers Politik setzen, doch auch in Nordamerika leben viele Antisemiten. Wenige Monate zuvor ergab eine Umfrage, dass 75 Prozent der US-Amerikaner einer «grösseren Anzahl jüdischer Flüchtlinge» kein Asyl gewähren will. Ohne diese Stimmen lässt sich keine Wahl gewinnen. Wahrscheinlich hoffte Roosevelt, als er zur Konferenz aufrief, dass andere Nationen für die USA in die Bresche springen würden.

Während in Évian geschachert wird, spitzt sich die Situation in Deutschland weiter zu: Schon am Eröffnungstag der Konferenz trat ein Gesetz in Kraft, das es Juden verbietet, als Hausverwalter, Makler, Wachleute oder Fremdenführer zu arbeiten. Noch im selben Monat müssen auch alle jüdischen Ärzte ihre Praxen schliessen. Viele jüdische Männer und Frauen sehen nur noch im Exil eine Überlebenschance. Doch die bürokratischen Hindernisse werden immer grösser. «Von den nötigen Papieren habe ich bis jetzt zweiunddreissig zusammengetragen», notiert eine verzweifelte junge Frau in Bayern. In fünfzehn Amtsstuben hat sie bereits vorgesprochen. Noch immer fehlen Dokumente. Noch immer fehlt ein Aufnahmeland.

In Évian soll es nun das Vereinigte Königreich richten. Immerhin sind die Briten die Protektoren von Palästina. Und seit Jahrzehnten gibt es Bestrebungen, dort einen jüdischen Staat zu errichten. Seit Hitlers Machtergreifung war Palästina ein wichtiges Aufnahmeland für jüdische Emigranten. Edward Turnour aber, der persönliche Assistent des britischen Innenministers, schlägt auch diese Tür zu. Denn seit Frühling 1936 kam es in Palästina zu Spannungen zwischen Muslimen und Juden.

«Das Vereinigte Königreich ist kein Einwanderungsland», sagt der hochgewachsene Mann mit dem Seitenscheitel. Schon aufgrund ihrer dichten Besiedlung könne seine Heimat Flüchtlingen keine Perspektive bieten. Was er nicht erwähnt: Die riesigen Kolonialgebiete Grossbritanniens umfassen damals rund einen Viertel der globalen Landesfläche. Vielleicht könne «eine begrenzte Zahl ausgewählter Familien» in Ostafrika Zuflucht finden, räumt Turnour schliesslich grossherzig ein, «zumindest für einen Anfang».

Doch noch immer gibt es Hoffnung auf Rettung. Werden kleinere Staaten ein Exempel statuieren? Gerade die Schweiz war zu Recht lange stolz auf ihre humanitäre Tradition: Im 16. und 17. Jahrhundert fanden in den reformierten Städten zehntausende Hugenotten und Waldenser Zuflucht, die in Frankreich wegen ihres Glaubens verfolgt wurden. Insbesondere seit dem 19. Jahrhundert war die Schweiz auch ein Asylland, in dem politisch Verfolgte Schutz fanden. Und im Juli 1938? Als einzige Nation hat die Schweiz keinen Politiker oder Diplomaten nach Évian entsannt – sondern den Chef der Fremdenpolizei. Dr. Heinrich Rothmund aus St. Gallen führt aus, dass sein Heimatland Massnahmen ergreifen müsse, um eine «Überschwemmung» mit jüdischen Flüchtlingen zu verhindern. Die Schweiz könne leider nur mehr «ein Land des Transits» sein. Anders gesagt: Juden dürfen kommen – wenn sie schnell wieder verschwinden.

Spott der Nazis

Mit ihrer Abwehrhaltung steht die Schweiz auch unter den kleineren Staaten nicht allein da: Dänemark entschuldigt sich mit Platzmangel, die Niederlande mit hoher Arbeitslosigkeit. Bald wird deutlich: Europa, das damals rund eine halbe Milliarde Einwohner hat, kann sich nicht dazu durchringen, 500’000 bedrohten Menschen Asyl zu gewähren. Im Gegenteil. Alle Staaten Europas wollen die bedrohten Juden möglichst weit weglenken: nach Lateinamerika etwa, nach Mittelamerika oder Kanada. Doch wie realistisch ist dieser Ansatz?

Für Bauern habe man Verwendung, gibt Argentinien zu Protokoll. Ausschliesslich für Bauern. Ein Hohn angesichts der Tatsache, dass nur ein Prozent der deutschen Juden in der Landwirtschaft tätig sind. Kanada will nur Migranten aufnehmen, die genügend Kapital haben, um eine Farm bewirtschaften zu können. Und nach Kuba müsste jeder Flüchtling 25’000 Dollar mitbringen. Dabei ist bekannt, dass Juden aus Deutschland nur noch Devisen in Höhe von zehn Reichsmark ausführen dürfen.

«Flüchtlinge in Menge, besonders wenn sie kein Geld haben, stellen ohne Zweifel die Länder, in denen sie Zuflucht suchen, vor heikle materielle, soziale und moralische Probleme», schreibt der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar unter dem Eindruck der Konferenz mit bitterer Ironie: «Deshalb beschäftigen sich internationale Verhandlungen, einberufen, um die Frage zu erörtern: ‹Wie schützt man die Flüchtlinge›, vor allem mit der Frage: ‹Wie schützen wir uns vor ihnen?›»

Der Mangel an Solidarität der Weltgemeinschaft im Sommer 1938 spielt Adolf Hitler und seinen Gesinnungsgenossen in die Hände. «Juden billig abzugeben – wer will noch mal? Niemand!», spottet die nationalsozialistische Wochenschrift «Reichswart». Die Konferenz von Évian gibt ein so klägliches Bild ab, dass die Nazis nicht einmal mehr davor zurückscheuen, ihr Fernziel offenzulegen: Am 8. Juli, dem dritten Verhandlungstag am Genfersee, sinniert Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg im Kampfblatt «Völkischer Beobachter» darüber, wo sechs bis acht Millionnen Juden überhaupt hinkönnten – ein Grossteil der Juden in Europa. Doch nicht einmal das rüttelt die Staatsleute und Diplomaten im mondänen Kurort am Genfersee auf. Weiter drucksen sie herum, tragen Scheinargumente vor und waschen ihre Hände in Unschuld.

Die jüdische Gewerkschaftssekretärin Golda Meir ist damals vierzig Jahre alt und für die Agence juive nach Évian gereist. Im März 1969 wird sie zur israelischen Ministerpräsidentin gewählt werden. Der Verlauf der Konferenz widert die in Kiew geborene Politaktivistin zunehmend an. «Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal», schreibt Meir Jahrzehnte später in ihren Memoiren, «wie die Vertreter von 32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie eine grössere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es ihnen tue, dass sie das leider nicht tun könnten, war eine erschütternde Erfahrung. (…) Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien: Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‹Zahlen› menschliche Wesen sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr sie nicht aufnehmt?» 

Nur ja kein Risiko eingehen

Der vierte Verhandlungstag bringt eine makabere Wendung: Ausgerechnet Rafael Trujillo, der Diktator der Dominikanischen Republik, bietet an, bis zu 100’000 bedrohten Männern und Frauen Asyl zu gewähren. Trujillo ist ein Rassist und Massenmörder. Im Oktober 1937 hat er in seinem Land mehr als 25’000 Schwarze Wanderarbeiter aus Haiti niedermetzeln lassen. Er träumt von Untertanen mit heller Hautfarbe. Und er will das Ansehen seines Landes in der Welt verbessern, das durch das Massaker im Vorjahr gelitten hat.

Die Aussicht auf ein Leben unter Trujillos Schreckensherrschaft ist wenig verlockend. Dennoch werden in den nächsten Jahren etwa 600 Juden aus Deutschland in der Dominikanischen Republik Schutz suchen. «Hitler, der deutsche Rassist, hat uns verfolgt (…). Trujillo, der dominikanische Rassist, hat unser Leben gerettet», bringt einer der Geflüchteten seine ambivalenten Gefühle zu Papier. Und: «Wenn ein Mörder dein Leben rettet, hast du dem Mörder dankbar zu sein.»

Während keine 200 Kilometer nördlich, hinter der deutschen Grenze, zigtausende Jüdinnen und Juden weiter um ihr Leben bangen und verzweifelt auf Asyl hoffen, ruht am Sonntag, dem 10. Juli 1938, in Évian der Konferenzbetrieb. Manche Tagungsteilnehmer nutzen die freie Zeit zum Golfspiel. Andere lassen sich massieren oder nehmen Heilbäder in den Mineralquellen. Wieder andere flanieren durch den Kurpark oder lauschen der Jazz-Band, die auf der Terrasse des Hotel Royal spielt. Auch das Glücksspiel am Roulettetisch lockt so manchen. Einer der Delegierten sprengt im Casino die Bank. Und die Schlagzeilen der Presse beherrschen nicht etwa die politischen Verwerfungen in NS-Deutschland oder das drohende Scheitern der multinationalen Flüchtlingskonferenz – sondern die 6. Etappe des Radrennens Tour de France sowie die Weltumrundung des US-Amerikaners Howard Hughes in einem Kleinflugzeug: in einer Rekordzeit von nur 91 Stunden.

12. Juli, siebter Verhandlungstag: Endlich, die Konferenz neigt sich dem Ende zu, kommen die Vertreter der 39 NGOs und Hilfskomitees zu Wort. Doch nur vier Minuten Zeit wird ihren Rednern jeweils zugestanden. Bald verzichtet die Konferenzleitung darauf, die Referate ins Englische und Französische übersetzen zu lassen. Längst hat sich die Tagung als Farce erwiesen.

Auch in der Schlussresolution vom 15. Juli riskieren die teilnehmenden Nationen keinen Konflikt mit NS-Deutschland. Die Delegierten suchen in Berlin, beim «Herkunftsland» der Flüchtlinge, nur höflich darum an, diesen künftig «zu erlauben, ihre Güter mit sich zu nehmen». Dabei hat das Aussenministerium von NS-Deutschland bereits vor Tagen klargestellt: Ein Transfer «des von Juden angesammelten Kapitals» könne «Deutschland nicht zugemutet werden».

Es wird gefeiert in Évian. Mit einem opulenten Bankett und einem Feuerwerk klingt die Konferenz aus. Und so manche Zeitung lobt deren fatale Bilanz auch noch in den Himmel. «Das gute Ergebnis von Évian», titelt der «Bund» aus Bern zwei Tage nach der Schlussresolution: Die Tagung habe «mit einem doppelten Erfolg geendet, indem die Lösung des Flüchtlingsproblems im technischen Sinne gefunden wurde und auf politischem Gebiet die Zusammenarbeit aller in Évian vertretenen Mächte erreicht werden konnte».

In Wirklichkeit wurde nichts erreicht. Gar nichts. Und es sind die Nationalsozialisten, denen das Versagen der Weltgemeinschaft in die Hände spielt: Niemand nehme die Juden auf, triumphiert der «Völkische Beobachter», stattdessen treffe man in den Demokratien der Welt «Vorsorge, sich vor einem Zustrom jüdischer Einwanderer zu schützen, weil man die Nachteile einer Verjudung klar erkannt hat.» Ziemlich sicher ist es kein Zufall, dass sich die antisemitische Politik der Nationalsozialisten in Deutschland in der Folge weiter verschärft. Das Zögern und die Ausflüchte der Staatengemeinschaft haben Hitler und seine Schergen regelrecht dazu eingeladen.

Internationale Proteste gegen die Politik der Nazis bleiben weiterhin aus. Und die Schweiz erlässt Anfang Oktober 1938 eine Visumspflicht für alle Inhaber deutscher Pässe mit dem roten «J»-Stempel – was die Einreise jüdischer Flüchtlinge unmöglich macht. Beamte, die sich der Weisung widersetzen, werden entlassen und bestraft. Zum Beispiel der St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger, der es durch Dokumentenfälschung mehreren hundert, vielleicht sogar einigen tausend jüdischen und anderen Flüchtlingen aus NS-Deutschland ermöglichte, die Landesgrenze zu passieren. 1939 wird er vom Dienst suspendiert werden und seine Pensionsansprüche verlieren. Grüninger wird nie wieder eine feste Anstellung finden und am 22. Februar 1972 in Armut sterben.

NS-Deutschland schliesst die Grenzen

In NS-Deutschland verschärft sich die Situation weiter in den Monaten nach der Konferenz von Évian: Am 9. und 10. November 1938 sterben bei Pogromen mindestens 91 Jüdinnen und Juden. Mehr als tausend Synagogen werden niedergebrannt oder zerstört. Das NS-Regime lässt 30’000 Juden verhaften und in Konzentrationslager deportieren. Noch können jüdische Männer, Frauen und Kinder das Land verlassen. Drei Jahre später, am 23. Oktober 1941, schliesst Hitler die Grenzen für Juden. Der Völkermord beginnt.

Obwohl die Schweizer Regierung im August 1942 nachweislich von den Massendeportationen der Nazis von jüdischen Männern und Frauen weiss, lässt man die Grenzpolizei verstärken und ordnet die rigorose Rückweisung illegaler Emigranten an. Gemäss dem Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg aus dem Jahr 1999 wurden zwischen 1939 und 1945 mindestens 24’000 Flüchtlinge abgewiesen, darunter sehr viele Juden.

Hat die Welt aus der Geschichte gelernt? Im Sommer 1938 scheiterte die Staatengemeinschaft daran, eine halbe Million Flüchtlinge aufzunehmen. Ende 2020 waren nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht. Die politischen Umstände lassen sich schwer vergleichen, eine erschütternde Kontinuität aber sticht ins Auge: Trotz der Genfer Flüchtlingskonvention, die im Juli 1951 in Kraft trat und Menschen, die aus der Heimat geflohenen sind, Schutz garantieren soll, werden diese bis heute meist im Stich gelassen. Nationale Befindlichkeiten gehen vor. Statt zum Beispiel einen verbindlichen, auf der Wirtschaftsleistung und Bevölkerungsdichte der Mitgliedstaaten basierenden Verteilungsschlüssel zu erstellen, nach dem Schutzsuchende aufgenommen werden müssen, schliesst die Europäische Union dubiose «Deals» mit Autokraten wie dem türkischen Präsidenten Erdoğan ab oder lässt Geflohene unter menschenunwürdigen Bedingungen in «Auffanglagern» in Libyen vor sich hin vegetieren – Hauptsache weit weg.

Auch der Antisemitismus ist nicht überwunden: In Deutschland stellte die Polizei 2020 so viele judenfeindliche Angriffe fest wie nie zuvor im 21. Jahrhundert. Im Durchschnitt waren es sechs antisemitische Delikte pro Tag. Besonders im Internet grassieren Ressentiments gegen alles Jüdische: Auf Twitter, Facebook und Telegram stieg die Zahl antisemitischer Inhalte in deutscher Sprache Anfang 2021 im Vergleich zu den Vorjahresmonaten um das Dreizehnfache an, ergab eine Studie der Europäischen Kommission. Und zwischen 1. Januar 2020 und 8. März 2021 wurden antisemitische Inhalte in französischer Sprache auf Facebook mehr als eine halbe Million Mal geliked, kommentiert und geteilt, auf Twitter erhielten sie über drei Millionen Retweets und Likes.

Antisemitismus heute

Wie aber stellt sich die Situation in der Schweiz dar, wo derzeit rund 18’000 Menschen jüdischen Glaubens leben? Der «Antisemitismus-Bericht», den der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) gemeinsam mit der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus diesen Februar für die Deutschschweiz veröffentlicht hat, verzeichnet für das Jahr 2020 insgesamt 47 antisemitische Vorfälle in der «realen Welt», darunter Beschimpfungen, Sachbeschädigungen und Schmierereien. Fachleute schätzen diese Zahl als relativ niedrig ein.

Bei den 485 Vorfällen im Onlinebereich sieht das schon etwas anders aus: Bedenklich stimmt insbesondere die zunehmende Verbreitung von antisemitischen Verschwörungstheorien über das Internet. Bei fast der Hälfte dieser Fälle bestand ein Zusammenhang mit der Corona-Pandemie: «Die Zahl der Vorfälle mit Corona-Bezug sowie die Anziehungskraft der sogenannten Corona-Rebellen für antisemitisch eingestellte Personen zeigt, dass diese Pandemie Potential für ein Anwachsen und eine Verbreitung von Antisemitismus bietet», sagt Jonathan Kreutner, der Generalsekretär des SIG.

In der Szene der «Corona-Rebellen» kam es zu unangebrachten Vergleichen mit der Verfolgung und Ermordung der Juden während der Schoah: Auf Demonstrationen gegen die Corona-Massnahmen wurden zum Beispiel «Judensterne» mit der Aufschrift «ungeimpft» oder «Maskenattest» gesichtet. «Mit solchen Vergleichen werden die Schoah und die Verbrechen des NS-Regimes instrumentalisiert. Als Einzelfall können solche Vergleiche nicht als direkt antisemitisch eingestuft werden. In der Menge, Häufigkeit und Verbreitung führen sie aber zu einer Abschwächung der Wahrnehmung der damaligen Ereignisse und somit zu einer Verharmlosung», sagt Kreutner. «Solche Vergleiche sind höchst problematisch, sie sind realitätsfern und verletzend. Wir rufen eindringlich dazu auf, diese Instrumentalisierung zu unterlassen.»

Verstörend sind zudem die Resultate einer aktuellen Erhebung des Schweizerischen Bundesamtes für Statistik: Sie ergab, dass 8 Prozent der Schweizer Bevölkerung gegen Jüdinnen und Juden feindlich gesinnt sind. Und sogar 22 Prozent der Befragten bejahten die im Rahmen der Studie vorgelegten negativen Stereotypen.

Achtzig Jahre nach dem Beginn der systematischen Vernichtung der Juden in NS-Deutschland ist die Welt nicht nur von einer humanen Lösung der Flüchtlingsfrage noch immer unendlich weit entfernt. Der Antisemitismus lebt ebenfalls weiter. 

Lektüre: Thies, Jochen: Evian 1938. Als die Welt die Juden verriet. Klartext-Verlag, Essen 2017.
(https://www.bernerzeitung.ch/europas-feigheit-in-der-fluechtlingsfrage-568719358916)


+++GASSE
Armutsbetroffene singen: Von der Gasse, für die Gasse
Menschen, die auf der Strasse leben, singen am Samstag mit Profimusikern ihre selbst komponierten Lieder. Es ist der Startschuss für ein Kulturlokal, das für sie und die gesamte Bevölkerung gebaut wird.
https://www.bazonline.ch/von-der-gasse-fuer-die-gasse-316922225398



solothurnerzeitung.ch 23.10.2021

Oltner Randständige äussern sich zu Vorfällen: «Es ist ein öffentlicher Ort, von hier kann man uns nicht vertreiben»

Pöbeleien, Alkohol- und Drogenkonsum oder laute Musik: Die Randständigen in der Oltner Kirchgasse sorgen für Gesprächsstoff. Diese Zeitung hat nun mit jenen gesprochen, über die sonst immer nur gesprochen wird.

Fabian Muster

Die Randständigen, die sich in der Kirchgasse aufhalten, sind immer wieder ein Thema in Olten. In jüngster Vergangenheit habe sich die Lage zugespitzt, heisst es seitens Gewerbe und Anwohnerschaft, aber auch von der christkatholischen Gemeinde, welcher die Stadtkirche inklusive Sockel gehört. Alkohol- und Drogenkonsum, Littering, Bettelei, laute Musik, streunende Hunde, Streitereien untereinander oder Belästigungen von Passantinnen und Passanten werden den Randständigen vorgeworfen.

Der Stadtrat hat auf das zunehmende Konfliktpotenzial reagiert und das vorerst auf drei Jahre beschränkte Pilotprojekt Sicherheit, Intervention und Prävention, kurz SIP, initiiert. Zweiergruppen sind seit Anfang Jahr jeweils für ein paar Stunden unterwegs und sollen dafür sorgen, dass gewisse Grundregeln eingehalten werden. Doch das reichte einem Teil der Politik nicht: Die Randständigen seien «negativ für das Ansehen der Stadt», hiess es kürzlich in einem Vorstoss aus der Feder der SVP, die im Gemeindeparlament vom Stadtrat vergeblich zu prüfende Massnahmen wie ein Alkoholverbot forderte.

Inzwischen hat die christkatholische Gemeinde reagiert und beantragt ein richterliches Verbot (siehe Box rechts). Die Randständigen, um die es geht, erhalten aber kaum eine Stimme. Es wird über sie, statt auch einmal mit ihnen gesprochen. Das jüngste Beispiel: Nächsten Dienstag veranstaltet das Stadtmagazin «Kolt» ein Podium mit Vertretern des Gewerbes (Coop City), der christkatholischen Kirche als Eigentümerin der Stadtkirche inklusive Sockel, des Stadtrats und des Pilotprojekts SIP. Eine betroffene Person aus der Gruppe der Randständigen darf auf dem Podium nicht mitreden. Immerhin heisst es in der Einladung, dass man in die vordere Publikumsreihe zwei regelmässige Gäste am Kirchensockel gewinnen konnte, «die wir versuchen, punktuell in die Diskussion zu integrieren».

Diese Zeitung hat daher direkt mit vier Randständigen gesprochen und sie mit den Vorfällen konfrontiert, die für Kritik und negative Stimmung in einem Teil der Bevölkerung sorgen. Das einstündige Treffen fand vergangenen Dienstag am frühen Nachmittag direkt vor dem Stadtkirche-Sockel statt. Die Randständigen stehen mit Vornamen respektive ihrem Spitznamen hin und sagen, wie ihre Sicht der Dinge ist.

Politisch korrekt bezeichnet man euch immer noch als «Randständige», aber in Onlinekommentaren oder am Stammtisch fallen auch schon einmal weniger schmeichelhafte Begriffe wie «Penner» oder «Pack». Wie möchtet ihr genannt werden?

Big Mike: Mir ist das ehrlich gesagt ganz egal, wie ich genannt werde. Mich können diese genannten Wörter nicht verletzen.

Ozzy: Der Begriff «randständig» finde ich nicht okay, der ist nicht gerechtfertigt. Eine bessere Alternative hätte ich aber auch nicht.

Thomi: Die Leute sollen uns so nennen, wie sie wollen, das ist mir egal.

Janine: «Randständig» klingt schon etwas abwertend, aber der Begriff stimmt insofern, wenn man das Wort genau anschaut: Wir stehen am Rande der Gesellschaft. Und ich lege Wert auf die wirkliche Bedeutung eines Worts (lacht). Ich würde aber eine Wortverbindung mit «Minderheit» vorschlagen. Wir gehören ja zu einer Minderheit.

Die Liste der negativen Vorkommnisse, die euch vorgehalten wird, ist lang: Beginnen wir mit dem, was viele wohl am meisten stört: Der Lärm, der zum Teil von euch ausgeht, sowie das Betteln respektive Belästigungen von Passantinnen und Passanten. Was sagt ihr dazu?

Big Mike: Das sind wenige von uns – zwei, drei, die wir kennen -, die so aufdringlich sind und sogar den Leuten nachgehen. Diese Randständige regen mich auch selbst auf. Sie kommen immer wieder – auch zu uns – und fragen dich: «Hey, hesch mer e Stutz?»

Thomi: Nicht alle Randständigen sollten in den gleichen Topf geworfen werden. Probleme gibts vor allem abends, wenn einige von uns genug Alkohol getrunken haben.

Ozzy: Man kann aber auch sagen: Wenn wir abends da sind, ist das wie auch ein Schutz für einige Leute, weil dann zum Beispiel weniger geklaut werden. Und das mit den Belästigungen finde ich im Vergleich zu dem, wie wir den Leuten hier auf der Kirchgasse manchmal auch helfen, nicht so schlimm. Die Belästigungen, die es tatsächlich gibt, machen nur einen kleinen Teil der Vorfälle aus, die in der Kirchgasse existieren.

Janine: Ich glaube, die Leute stören sich nur optisch an uns. Jetzt müssen wir uns doch ausgerechnet im schönen Olten mitten in der Innenstadt aufhalten, sagen sie sich. Aber: Es ist ein öffentlicher Ort, von hier kann man uns nicht vertreiben. Gehen wir an einen anderen Standort, kommt der Anwohner oder der Besitzer vom Laden und vertreibt uns. Darum sitzen wir jetzt hier.

Das ist eine generelle Kritik an euch, dass ihr das Stadtbild stört: Wieso müsst ihr euer Bier und eure Musik ausgerechnet hier in der Kirchgasse konsumieren und könnt das nicht an einem wenig auffälligeren Ort in der Öffentlichkeit tun oder in der Stadtküche, die ja dafür da ist?

Janine: Die Stadt soll uns doch einen Platz geben. Dieser darf natürlich nicht ab vom Schuss sein: Wir wollen unser Bierli kaufen und uns treffen. Ich könnte mir die Schützi vor­stellen.

Ozzy: Ständig nur in der Gassenküche zu hängen, geht ja auch nicht. Ich könnte mir ein Modell mit mehreren Containern auf einem Platz vorstellen, wo du fixen, aber auch deine Dealer treffen kannst – auch wenn das eigentlich illegal ist.

Janine: Ich weiss nicht, ob dass eine gute Idee ist. So zieht man doch auch Menschen aus anderen Gemeinden und Städten an, die Olten doch nicht zusätzlich hier haben will. Dieser Platz dürfte dann zumindest nicht so zentral gelegen sein. Zu Hause einladen will ich meine Leute auch nicht, sonst kommen sie immer wieder (lacht).

Thomi: Ich verstehe nicht, wieso wir Randständigen jetzt plötzlich so ein Thema sind. Das Problem hat es ja schon immer gegeben, und uns wird es immer geben. Ich wünschte mir etwas mehr Toleranz von der Bevölkerung.

Big Mike: Aus meiner Sicht gibt es Probleme, seit eine bestimmte Person immer wieder auftaucht (Anmerkung der Redaktion: Aus Personenschutzgründen wird der Name nicht genannt). Jeden Tag diese Pöbeleien und Belästigungen. Wildfremde Menschen, die diese Person noch nie gesehen hat, macht sie vom Gröbsten an. Ich habe zum Teil selbst Angst vor ihr.

Thomi: Es gibt auch Menschen, die uns gerne hier sehen: Sie bringen uns Bier oder ein Sandwich. Oder sie ­bitten uns um Hilfe, weil sie Angst haben.

Big Mike: Nur ein Beispiel: Mich ­haben schon Passanten gefragt, ob ich sie an die Bushaltestelle begleite, weil sie Angst vor gewissen Jugendlichen hatten.

Anscheinend auch ein Ärgernis ist der Drogenkonsum auf den öffentlichen Toiletten. Wieso nehmt ihr eure Drogen nicht bei der Zentrale der Suchthilfe Olten an der Aarburgerstrasse ein, wo es ja erlaubt ist und auch Personal gibt, die euch helfen kann?

Thomi: Wir regen uns darüber selbst auch auf.

Big Mike: Das Problem ist, dass viele von uns Angst haben. Das verstehe ich schon. Denn es kommt immer wieder vor, dass man sein 20er-Briefli Heroin in der Innenstadt gekauft hat – vor der Stadtküche erhältst du das meistens nicht –, aber auf dem Weg dorthin wirst du verhaftet und hast dann eine Busse von 450 Franken am Hals. Wie willst du das bezahlen? Dann gehst du ein, zwei Tage ins Gefängnis oder stotterst die Busse ab.

Thomi: Daher konsumiert man die Drogen gleich auf den WC-Anlagen: Dann sind sie weg.

Big Mike: Oder man geht nach Hause; dann ist es auch weg. Aber jene, die mit Spritzen konsumieren und diese dann beim Munzingerplatz-WC gleich neben dem Spielplatz liegen lassen, das finde ich auch nicht gut. Du kommst dann da rein und du siehst Spritzen im Lavabo liegen. Ich habe ja selbst zwei Enkelkinder. Dazu kommt: Wenn du in die Stadtküche gehst, musst du deine Personalien angeben: Erst dann darfst du alles machen. Hier hingegen bleibst du anonym: Du kaufst dein Briefli und konsumierst deine Drogen.

Seit Anfang Jahr existieren die Patrouillen des SIP-Projekts, die dafür sorgen sollen, dass ihr euch anständiger benehmt und weniger auffällt in der Öffentlichkeit. Was haltet ihr davon?

Big Mike: Na ja, drei Mal habe ich mit ihnen schon länger gesprochen, zwei, drei Stunden später wurde ich verhaftet – ohne Grund. Ein paar von diesen Typen kenne ich sogar, weil sie früher selbst in der Szene waren. Und diese wollen dir jetzt sagen, was du zu tun hast? Ich will hier nicht schlecht über die SIP sprechen: Sie wollen dir helfen und versprechen dir vieles, aber einige von ihnen sind meiner Meinung nach doch auch etwas hinterhältig.

Ozzy: Es ist schon ein bisschen so, wie es Big Mike sagt. Sie sind teilweise zuwenig gut geschult und dürfen ja auch nicht wie die Polizei oder die Sicherheitsleute auftreten.

Das heisst, ihr haltet von der SIP nicht allzu?

Thomi: Sagen wir es so: Für den Preis, den die Bürgerinnen und Bürger dafür zahlen, könnte man etwas mehr erwarten. Aus meiner Sicht hat sich die Situation in der Kirchgasse nicht gross gebessert, seit die SIP unterwegs ist.

Wie nehmt ihr die Polizeipräsenz in der Kirchgasse wahr?

Janine: Hier in Olten ist deren Auftreten sehr verhältnismässig. Ich fühle mich von der Polizei überhaupt nicht belästigt und kann nichts Negatives sagen.

Thomi: Ich sehe es ähnlich. Sie sind präsent, machen ihren Job, aber die Polizei stört nicht.

Ozzy: Ich fühle mich von der Polizei ebenfalls nicht belästigt.

Big Mike: Die Polizei war noch nie so häufig hier wie diesen Sommer. Aber das hat seinen Grund, weil vereinzelte Personen immer wieder aufgefallen sind. Aber ich finde das gut. Ich habe keine Lust, immer den Schlichter zu spielen, wie ich das früher getan habe.

Die SVP wollte als Massnahme vom Stadtrat unter anderem ein Alkoholverbot rund um die Stadtkirche prüfen lassen. Hättet ihr euch daran gehalten oder hättet ihr euer Bier einfach an einem anderen Ort getrunken?

Janine: Sollen wir dann einfach zu Hause trinken? Big Mike: Ich hätte mich daran gehalten. Bier schmeckt mir sowieso nicht. Wenn schon trinke ich roten Wodka, aber den Likör mit 24 Prozent Alkohol.

Ozzy: Ich auch, weil ich gar keinen Alkohol trinke.

Thomi: Wie will man das unterscheiden? Wir dürfen nicht, aber ein Passant, der hier schnell ein Bier trinken will, darf? Diese Abgrenzung, wer hier sein darf und wer nicht, ist ein völliger Quatsch!

Big Mike: Wir werden ja sonst schon diskriminiert. Das habe ich vergangenes Jahr erfahren, als ich im Spital war: Zuerst wurde ich ganz anständig behandelt; sobald die Angestellten wussten, dass ich Drogen nehme, war alles anders. Janine: Diese Erfahrung mache ich immer wieder. Sehr schlimm!

Nun greift auch die christkatholische Gemeinde durch und will per gerichtlichem Verbot erreichen, mehr Ordnung rund um die Stadtkirche zu bringen. Künftig untersagt sind Littering, freilaufende Hunde, laute Musik sowie das Parken von Fahrzeugen jeglicher Art auf dem Sockel der Stadtkirche (siehe Box rechts oben). Was haltet ihr davon?

Thomi: Das finde ich grundsätzlich gut. Aber schauen wir einmal, was das für Folgen hat, wenn das Verbot kommt.

Big Mike: Wenn jemand hier zu laute Musik hört, störe ich mich selbst daran. Nicht jeder hat denselben Musikgeschmack.

Janine: Dass wir die Velos nicht auf den Sockel stellen dürfen, daran können wir uns halten. Wir wollen uns aber immer noch hier treffen. Das soll man uns nicht verbieten!

Wenn ihr einen Wunsch hättet an die Oltner Politik und Bevölkerung: Welcher wäre das?

Thomi: Mehr Toleranz! Das, was uns passiert ist, kann allen passieren (alle nicken übereinstimmend). Es gibt auch Leute, die heimlich Alkohol und Drogen konsumieren, wir machen es hier öffentlich. Big

Mike: Lieber ein stadtbekannter Säufer als ein anonymer Alkoholiker! (alle lachen) Zudem wollen wir nicht wegen jedem 20er-Briefli mehrere Hundert Franken Busse zahlen müssen. Andere, die kiloweise Heroin verkaufen, lässt die Polizei in Ruhe. Das erachte ich manchmal als Willkür!

Ozzy: Neben Toleranz plädiere ich für mehr Feingefühl für Menschen wie uns. Man darf nicht alle Leute in den gleichen Topf werfen.

Janine: Ich fühle mich sehr wohl in Olten. Die Bevölkerung muss aber alle Sorten von Menschen akzeptieren. Nicht jeder ist gleich stark; es gibt auch solche, die schwächer sind. Das soll nicht verurteilt werden.



Thomi (40)
ist auch unter seinem Spitznamen «Blitz» stadtbekannt. Er ist in Olten aufgewachsen, hat beim städtischen Werkhof die Lehre als Landschaftsgärtner abgeschlossen und ist dann «abgerutscht», wie er sagt. Einem «Neustart» in die Arbeitswelt ist er nicht abgeneigt, aber derzeit nicht bereit dazu.

Ozzy (58)
ist in Solothurn aufgewachsen und wohnt seit einigen Jahren in Olten. Er führte einst einen Sicherheitsdienst und ein Temporärbüro, ist aber mit 32 «abgestürzt», wie er sagt. Mittlerweile arbeitet er zu 50 Prozent bei der Vebo. Er spielt Gitarre – daher sein Spitzname zu Ehren des Rockmusikers Ozzy Osbourne. Er ist zum zweiten Mal verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder.

Janine (54)
wohnt in Olten und hat sich in den letzten drei Jahrzehnten um ihre Hunde und um die Familie gekümmert. Seit vergangenem Jahr hat sie keine Hunde mehr, ihr Kind ist mittlerweile erwachsen; daher sei sie nun zu ihrer «alten Familie» zurückgekehrt, wie sie sagt. Sie kann nicht arbeiten und lebt von der IV.

Big Mike (50)
ist in Tansania geboren und kam mit 9½ Jahren in die Schweiz ins Zürcher Oberland. Nach mehreren Jahren im Gefängnis siedelte er mit 26 nach Olten über. Er lebt mittlerweile getrennt von seiner Frau in Hägendorf, hat vier Kinder und zwei Enkelkinder. Nach einem Unfall kann er nicht mehr arbeiten und lebt von der IV.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/olten/innenstadt-oltner-randstaendige-aeussern-sich-zu-vorfaellen-es-ist-ein-oeffentlicher-ort-von-hier-kann-man-uns-nicht-vertreiben-ld.2205014)