Medienspiegel 22. August 2021

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+++SCHWEIZ
Sonntagszeitung 22.08.2021

Geschlechterverteilung im Asylwesen: Schweiz lässt Frauen im Stich

Männer sind im Asylprozess klar in der Mehrheit. Besonders extrem ist es bei Flüchtlingen aus Afghanistan. Schuld daran sind die wilde Migration und die Auflagen beim Familiennachzug

Adrian Schmid, Denis von Burg

Viele Menschen in Afghanistan haben Todesangst – insbesondere Frauen. Bereits gibt es erste Berichte über Misshandlungen, Entführungen, Zwangsverheiratungen, ja gar Hinrichtungen. Während der letzten Talibanherrschaft durften Frauen nicht arbeiten, nur in einer Burka das Haus verlassen, und für Mädchen gabs keinen Schulunterricht. Wer sich nicht daranhielt, wurde drakonisch bestraft. Viele Frauen mit einem Draht ins Ausland senden deshalb eine klare Botschaft: «Bitte holt uns hier raus.»

Doch das Schweizer Asylsystem ist nicht auf Frauen ausgerichtet. Von den knapp 54’000 Menschen, die sich aktuell im Asylprozess befinden, sind nur 40 Prozent Frauen. Erst im Verlauf des Verfahrens bessert sich das Verhältnis. Bei den anerkannten Flüchtlingen liegt der Frauenanteil bei 45 Prozent, wie aus den Statistiken des Bundes hervorgeht.

21’000 haben es in die Schweiz geschafft

Noch extremer ist die Situation bei den Menschen aus Afghanistan. Aktuell leben knapp 21’000 in der Schweiz, lediglich ein Drittel sind Frauen. Die meisten Afghaninnen und Afghanen, rund 12’000, befinden sich im Asylprozess. Und bei dieser Gruppe liegt der Frauenanteil mit 27 Prozent noch tiefer.

Die Zahlen geben der Flüchtlingshilfe zu denken. «Man muss feststellen, dass die Schweizer Asylpolitik flüchtende Frauen benachteiligt, insbesondere wenn sie aus Bürgerkriegsgebieten kommen», sagt Sprecherin Eliane Engeler. Gründe, warum das so ist, gibt es mehrere.

Flucht ist für Frauen gefährlich

Engeler sagt, für Frauen sei die Flucht nicht nur schwierig und teuer. Sie seien auch dem Risiko geschlechtsspezifischer oder sexueller Gewalt ausgesetzt. Offensichtlich wagen sich deshalb weniger Frauen auf die illegalen Fluchtwege, beziehungsweise schaffen es nicht bis nach Europa. Die Familien setzen deshalb auf die Männer und hoffen, dass diese durchkommen und ihre Angehörigen nachholen können.

Genau das werde aber im Fall von Afghanen und Bürgerkriegsflüchtlingen in unserem System immer schwieriger, heisst es bei der Flüchtlingshilfe. «Viele Afghanen werden, wie andere Bürgerkriegsflüchtlinge, nicht als Flüchtlinge anerkannt, sondern erhalten eine vorläufige Aufnahme», sagt Engeler.

Viele dürfen bleiben, aber nur wenige erhalten Asyl

In der Tat haben in diesem Jahr nur 14 Prozent der Afghanen, die in der Schweiz ein Gesuch gestellt haben, Asyl erhalten. Auch in den letzten Jahren war der Wert nur leicht höher. Trotzdem dürfen die allermeisten Afghanen vorerst in der Schweiz bleiben. Die Schutzquote lag in den Jahren 2017 bis 2020 insgesamt zwischen 80 und 90 Prozent.

Doch dass die meisten nur vorläufig aufgenommen werden, hat gravierende Folgen: Sie müssen drei Jahre warten, bis sie ihre Familie in die Schweiz holen können. Zudem dürfen sie nicht von der Sozialhilfe abhängig sein und müssen eine genügend grosse Wohnung haben. Der unsichere Status des vorläufig Aufgenommenen macht es jedoch schwer, eine Arbeit zu finden und damit die Bedingungen zu erfüllen. Deshalb fordert die Flüchtlingshilfe jetzt einen erleichterten Familiennachzug. «Die Hürde für den Familiennachzug ist zu hoch», sagt Engeler.

Bundesrätin Keller-Sutter bleibt hart

Doch das ist nicht alles. Auch sichere Fluchtwege seien nötig, die den Frauen die Möglichkeit gäben, in der Schweiz Asyl zu finden, sagt Engeler: «Wir fordern eine grosszügigere Praxis bei humanitären Visa. Verletzlichkeit muss berücksichtigt werden.»

Zudem solle die Schweiz im Rahmen von sogenannten Resettlement-Programmen eine möglichst grosse Zahl von afghanischen Flüchtlingen direkt aus den Lagern in den Nachbarländern holen. Grüne und SP forderten den Bundesrat diese Woche auf, 10’000 Personen aufzunehmen. Davon profitierten Frauen, sagt Engeler. «Resettlement richtet sich an besonders verletzliche Schutzbedürftige. Dazu zählen vor allem auch Frauen.»

SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer sagt:«Wir müssen legale und sichere Fluchtmöglichkeiten schaffen.» Zusätzlich verlangt sie, dass die Schweiz das Botschaftsasyl wieder einführt, welches 2012 abgeschafft wurde. Dies würde bedeuten, dass Flüchtlinge im Ausland, in einer Schweizer Botschaft, einen Asylantrag stellen könnten.

Justizministerin Karin Keller-Sutter zeigt zwar Verständnis für die Forderungen, lehnt sie jedoch ab. Grössere Gruppen aus Afghanistan zu holen, sei zurzeit nicht möglich, sagte sie diese Woche. Die Lage sei zu instabil. Zum Vorwurf der frauenfeindlichen Asylpolitik hat sie sich bisher nicht geäussert. Das Staatssekretariat für Migration schreibt zur tiefen Frauenquote: «Die Behörden können keinen Einfluss darauf nehmen, wer in der Schweiz ein Asylgesuch stellt.»

Doch Druck macht jetzt auch die Rechte. «Wir haben ein darwinistisches Asylsystem», sagt SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Es begünstige junge Männer, die meist als Wirtschaftsflüchtlinge zu uns kämen. «Die Linken müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, ein System zu stützen, das Frauen und Kinder diskriminiert.»

Von Kontingenten für Frauen will die SVP aber trotzdem nichts wissen. Die Partei wäre auch nicht bereit, solche zu unterstützen, wenn im Gegenzug die Schlepperrouten und die Schweizer Grenze für Wirtschaftsmigranten geschlossen würden. «Wegen des Schengen-Dublin-Abkommens mit der EU ist dies für den Moment politisch aussichtslos», sagt Aeschi.

SVP will kein zusätzliches Geld ausgeben

Er fordert deshalb, dass die Schweiz auf die Hilfe vor Ort fokussieren und Flüchtlingscamps in den Nachbarländern unterstützen müsse. Er denkt daran, Camp-Infrastruktur aufzubauen, Essen und Medikamente zu kaufen sowie Schulen für Flüchtlingskinder einzurichten. «So könnte die Schweiz viel mehr Menschen helfen, statt einfach 10’000 bis 30’000 Asylanten jährlich aufzunehmen.»

Für die Hilfe in den Nachbarländern sind gemäss Aeschi keine zusätzlichen Mittel nötig. Das Parlament habe im Rahmen der humanitären Hilfe für das laufende Jahr bereits 600 Millionen Franken bewilligt. «Dieses Geld muss jetzt am richtigen Ort eingesetzt werden.»
(https://www.derbund.ch/die-schweiz-laesst-die-die-frauen-muessen-bleiben-896612146025)



nzz.ch 22.08.2021

 Asylchef Mario Gattiker: «Mit der Migrationspolitik können wir gegen das Elend der Welt wenig ausrichten»

Die Schweiz müsse aufpassen, dass sie in der Afghanistan-Krise keine falschen Signale aussende, sagt der Staatssekretär für Migration. Die Asylzentren seien relativ stark ausgelastet. Problematisch sei auch, dass sich weniger als 20 Prozent der Asylbewerber impfen lassen würden.

Tobias Gafafer, Larissa Rhyn, Bern

Sie haben im Asylwesen schon die Folgen vieler Konflikte mitbekommen. Muss Europa wegen der Lage in Afghanistan mit einer neuen Flüchtlingskrise rechnen?

Afghanistans Grenzen sind derzeit weitgehend geschlossen, und es gibt keine Fluchtbewegungen in die Nachbarstaaten. Erfahrungsgemäss bleibt bei solchen Krisen ein Grossteil der Flüchtlinge in der Region. In Iran und Pakistan leben bereits Millionen von Afghaninnen und Afghanen. Es ist zu früh, um zu beurteilen, ob es im grossen Stil zu Fluchtbewegungen in Richtung Europa kommt.

Die Asylzahlen steigen wieder an, sind im Vergleich mit den Jahren um 2015 aber immer noch tief. Warum engagiert sich die Schweiz angesichts der prekären Lage in Afghanistan nicht stärker?

Sie dürfen nicht vergessen, dass die Schweiz in den letzten zehn Jahren 20 000 Afghaninnen und Afghanen Schutz gewährt hat. Wir nehmen unsere Verantwortung wahr, wenn jemand ein Asylgesuch stellt. Ob es weiteren Handlungsbedarf gibt, werden wir sehen. Im Moment sind der Schutz und die Hilfe vor Ort am dringendsten. Wir haben den akut bedrohten, lokalen Mitarbeitenden der Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und ihren Familien rasch humanitäre Visa ausgestellt. In Afghanistan gibt es allein in diesem Jahr eine halbe Million intern Vertriebene. Es ist wichtig, dass internationale Organisationen weiter ihre Arbeit tun können. Da unklar ist, wie sich die Situation weiterentwickelt, gibt es auch noch kein Begehren des Uno-Flüchtlingshilfswerks, Resettlement-Flüchtlinge aufzunehmen. Es macht keinen Sinn, auf Vorrat ein Kontingent anzubieten.

Eine andere Möglichkeit wäre die erleichterte Visavergabe an Verwandte von Afghanen ausserhalb des engsten Familienkreises.

Wir haben in der Syrien-Krise 2013 während einer kurzen Zeit Visaerleichterungen gewährt. Es ging um Verwandte von eingebürgerten Syrern und solchen mit einer Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung in der Schweiz. Das war eine temporäre Massnahme für eine relativ kleine Diaspora von weniger als 3000 Personen. In der Schweiz leben aber rund 11 000 Menschen afghanischer Herkunft, deren Verwandte potenziell von solchen Visaerleichterungen profitieren könnten. Das ist eine andere Dimension. Wir müssten mit Zehntausenden von Gesuchen rechnen. Profitieren würden vor allem Personen, die seit vielen Jahren in Iran oder Pakistan leben, wo sie nicht an Leib und Leben bedroht sind. Wir müssen jedoch jenen helfen, die unmittelbar gefährdet sind.

Welche Erfahrungen hat die Schweiz mit den erleichterten Visa in der Syrien-Krise gemacht?

Damals haben wir rasch auf eine Entwicklung reagiert, die aus humanitärer Sicht enorm schwierig war. Die militärische Eskalation war auf dem Höhepunkt. In der Umsetzung war die erleichterte Ausstellung der Visa aber schwierig, enorm aufwendig und sendete teilweise falsche Signale. Da kamen plötzlich Menschen, die sagten: Wir haben Syrien verlassen, weil ihr die Visaerleichterung angekündigt habt. Die Auslandvertretungen mussten aufwendig abklären, ob es wirklich Verwandte von Syrern in der Schweiz waren. Das hat zu langen Wartezeiten geführt.

Erklärt dies auch die Zurückhaltung des Bundes in der gegenwärtigen Lage?

Es gibt unbestrittenermassen Millionen von Afghanen ausserhalb ihres Heimatlandes, die dort nicht verfolgt und nicht bedroht sind. Sie haben in anderen Ländern Schutz gefunden. Wenn Europa nun entsprechende Signale sendet, wollen viele dieser Menschen hierher kommen. Sie werden sich gefährlichen Migrationsrouten und kriminellen Schlepperbanden aussetzen. Doch wenn sie nicht persönlich verfolgt sind, werden sie die europäischen Länder nicht mit offenen Armen empfangen.

Aber wenn die Schweiz sich bereit erklärt, mehr Resettlement-Flüchtlinge aufzunehmen, signalisiert sie niemandem, dass die Flucht über die Mittelmeerroute erfolgversprechend ist. Resettlement-Flüchtlinge werden in den Nachbarländern vom UNHCR als Verfolgte identifiziert und können dann sicher in die Schweiz reisen.

Ja. Wenn das UNHCR kommt und fragt, ob die Schweiz ein Kontingent von vulnerablen Personen aufnehmen kann, wird der Bundesrat die Frage natürlich prüfen. Dabei handelt es sich um bereits anerkannte Flüchtlinge, die ein Recht auf Schutz haben. Aber erstens können wir die Dimension politischer Verfolgung in Afghanistan noch nicht abschätzen. Und zweitens kann derzeit fast niemand das Land verlassen. Es ist nicht hilfreich zu sagen: Wir nehmen 10 000 Afghanen auf, aber die Betroffenen könnten diese Hilfe gar nicht in Anspruch nehmen.

Hätte die Schweiz in den Bundesasylzentren gegenwärtig die Kapazitäten, um ein grösseres Flüchtlingskontingent aus Afghanistan aufzunehmen?

Das wäre eine grosse Herausforderung. Wegen Corona können wir nur gut die Hälfte der Plätze nutzen und haben bereits zusätzliche Unterkünfte eröffnet, etwa in einer Militärhalle in Brugg. Gegenwärtig liegt die Belegung der Bundesasylzentren etwa bei 80 Prozent. Verfügbar wären noch etwa 300 Plätze. Aber wir erwarten in diesem Jahr auch noch Resettlement-Flüchtlinge aus Libanon.

Die Schweiz befindet sich in der Normalisierungsphase der Pandemie. Das wird sich früher oder später auch auf die Belegungsregeln in den Asylzentren auswirken – was wiederum mehr Platz schafft.

Das ist zu hoffen. Allerdings hat sich die Corona-Situation in den Kollektivunterkünften, in denen die Leute nahe beieinander sind, noch nicht entspannt. Vor kurzem mussten wir das Bundesasylzentrum Basel quasi stilllegen, weil es unter Quarantäne gestellt wurde.

Wie steht es um die Impfbemühungen?

Wir verweisen auf das Angebot, können aber niemanden zwingen, sich impfen zu lassen. Die meisten Bewohner der Asylzentren sind jung, und die Impfbereitschaft ist entsprechend tief. Die Quote liegt leider lediglich zwischen 10 und 20 Prozent.

Wie erklären Sie sich das?

Es gibt verschiedene Gründe. Zum Beispiel die Angst, man werde eher ausgeschafft, wenn man geimpft ist. Das stimmt natürlich nicht. Hinzu kommen die bekannten Ängste vor Nebenwirkungen. Diese Dynamik versuchen wir zu durchbrechen, indem wir Vertrauen aufbauen. Das ist aber schwierig, da die Leute nicht so lange bei uns sind.

Der Bund will Corona-Tests für abgewiesene Asylbewerber, die ausgeschafft werden sollen, für obligatorisch erklären. Warum ist das nötig?

Viele Länder akzeptieren Rückführungen nur noch mit negativem Test. In den letzten Monaten nahmen die Testverweigerungen stark zu, wir konnten rund 120 Rückführungen nicht durchführen. Das ist inakzeptabel. Deshalb müssen wir in diesem Bereich ans Limit gehen. Wir verlangen von abgewiesenen Asylsuchenden, dass sie ihrer Mitwirkungspflicht nachkommen. Es kann nicht sein, dass rechtskräftig weggewiesene Personen selber entscheiden, ob sie die Schweiz verlassen.

Unter den wichtigsten Herkunftsstaaten von Asylsuchenden ist auch Algerien – obwohl die Chance auf Asyl bei diesem Land praktisch gleich null ist. Wie erklären Sie sich die vielen Gesuche?

Grundsätzlich ist die Schweiz dank den schnellen Asylverfahren und einem konsequenten Wegweisungsvollzug für Personen ohne Schutzgründe unattraktiv. Aber wegen Corona mussten wir die Rückführungen in andere europäische Staaten monatelang aussetzen. Deshalb sind Algerier eingereist, die wir sonst problemlos zurückführen könnten. Die meisten kommen aus unseren Nachbarländern, wo sie illegal in der Landwirtschaft oder der Nischenwirtschaft tätig waren. Die Schutzquote ist praktisch bei null. Diese Leute gehören nicht ins Asylsystem. Deshalb lassen wir nichts unversucht, um die Wegweisungen zu vollziehen, auch wenn das aufwendig ist.

Wenn die meisten aus Nachbarstaaten einreisen, handelt es sich also um Dublin-Fälle und nicht um Personen, die man direkt nach Algerien ausschaffen kann?

Genau. Inzwischen können wir wieder mehr Algerier in andere europäische Länder überstellen. Um bald auch mehr Rückführungen nach Algerien vollziehen zu können, arbeiten wir mit den lokalen Behörden zusammen. Die Regierung hat die Grenzen zwar weitgehend geschlossen wegen Corona. Aber es finden vereinzelt wieder Linienflüge statt. Leider noch keine direkten aus der Schweiz.

In den letzten Monaten haben gewaltbereite Algerier in den Asylzentren für Probleme gesorgt.

Inzwischen hat sich die Situation beruhigt. Wir haben ein Zentrum für renitente Asylsuchende eröffnet, in die Gewaltprävention investiert und setzen neu auch muslimische Seelsorger ein. Das Verhalten eines Teils dieser Personen ist völlig inakzeptabel, und wir unternehmen alles, um die Sicherheit der Bevölkerung, der anderen Bewohner der Asylzentren und die öffentliche Ordnung sicherzustellen.

Jedes dritte Asylgesuch wird inzwischen wieder im erweiterten Verfahren durchgeführt – das heisst, dass sich das SEM mehr Zeit dafür nimmt. Dies, nachdem das Bundesverwaltungsgericht diverse Entscheide des SEM zurückgewiesen hat. Waren Ihre Leute zu Beginn nicht genau genug?

Vom Gesetzgeber haben wir den klaren Auftrag erhalten, die Verfahren zu beschleunigen. Aber die Qualität muss sichergestellt werden. In einer ersten Phase mussten wir Erfahrungen sammeln, um präziser festlegen zu können, welche Asylentscheide im beschleunigten Verfahren getroffen werden können. Wir wurden zu Recht vom Bundesverwaltungsgericht korrigiert, weil manche Sachverhalte noch genauer abgeklärt werden mussten. Nun haben wir zum ersten Mal alle ablehnenden Asylentscheide analysiert. Nur bei vier Prozent der Entscheide gab es eine Korrektur, 96 Prozent sind unverändert rechtskräftig geworden. Das ist eine äusserst hohe Quote, die zeigt, dass unser System gut funktioniert. Ich bin daher mit der Arbeit unserer Mitarbeitenden sehr zufrieden.

Im Frühling wurden massive Vorwürfe gegen SEM-Mitarbeitende geäussert, es soll im Bundesasylzentrum Basel zu Gewalt gegen Asylsuchende gekommen sein. Sie haben eine Untersuchung eingeleitet. Gibt es erste Erkenntnisse?

Die Untersuchung läuft noch, Alt-Bundesrichter Niklaus Oberholzer ist unter Hochdruck daran. Wir werden im Herbst über die Ergebnisse informieren. Ich gehe nicht davon aus, dass sich die Foltervorwürfe, die von einigen Kreisen erhoben wurden, erhärten werden. Wir leben in einem Rechtsstaat. Aber wir müssen selbstverständlich schauen, ob und in welchen Bereichen Korrekturen nötig sind.

Gleichzeitig wurden SEM-Mitarbeiterinnen im Asylzentrum Basel bedroht, im Zusammenhang mit den Gewaltvorwürfen. Hat sich die Lage inzwischen verbessert?

Diese Personen wurden nicht wegen dieser Vorwürfe bedroht. Sondern weil es Kreise gibt, die das neue Asylsystem ablehnen. Sie bezeichnen es als unmenschlich, wecken Assoziationen an Konzentrationslager. Das sind radikale Kreise. Die Situation hat sich aber beruhigt, es sind aber intensivste polizeiliche Ermittlungen im Gang.

Beim Schutz von Frauen in Asylzentren gab es grosse Defizite, insbesondere in kantonalen Zentren, aber auch teilweise in denjenigen des Bundes. Das hat eine Untersuchung Ende 2019 gezeigt. Was haben Sie unternommen?

Der Bericht hat verschiedene Optimierungsmassnahmen aufgezeigt, die für uns sehr wertvoll waren. Alleinstehende Frauen und Familien mit Kindern werden nun konsequent separat untergebracht. Auch der Zugang zu den sanitären Anlagen sowie die Anlagen selbst wurden verbessert. Aber die Forderung, extra für Frauen oder Minderjährige eigene Zentren zu schaffen, können wir nicht erfüllen. Wir müssen unsere Asylstrukturen multifunktional nutzen. In einem Jahr kommen viele Familien an, im nächsten vor allem junge Männer. Da braucht es Flexibilität.

Ein weiteres Problem war, dass es in den Zentren viel männliches Personal gab und Opfern sexueller Gewalt Ansprechpartner fehlten. Diversifizieren Sie nun ihr Personal?

Letzte Woche habe ich in Zürich zwei Zentren angeschaut, da gibt es sehr viel weibliches Personal. In der Betreuung haben wir mehr als 50 Prozent Frauen. Im Bereich Sicherheit arbeiten hingegen nach wie vor mehr Männer. Übrigens: Gerade die oft kritisierte Präsenz von Sicherheitspersonal wird von Frauen und Familien sehr geschätzt. Gewaltsituationen sind belastend für unbeteiligte Personen. Das wollen wir mit einer genügend hohen Präsenz von Sicherheits- und Betreuungspersonal verhindern.

Sie haben früher bei der Caritas als Asylanwalt gearbeitet, seit 10 Jahren sind Sie an der Spitze des SEM. Nun werden Sie in Kürze pensioniert. Wie hat sich in all den Jahren Ihre Wahrnehmung des Asylwesens verschoben?

Schon als ich im Asylrecht tätig war, war meine Richtschnur immer das Recht. In jeder Situation müssen Sie eine konsequente Linie verfolgen. Diese Linie gibt das Recht vor. Sie ist verlässlich und legitimiert. Die Regeln schaffen Sicherheit und Klarheit für die Betroffen und dadurch auch Vertrauen.

Ist die Linie so klar? Die Unterscheidung zwischen Wirtschaftsmigranten und Flüchtlingen ist nicht immer eindeutig.

Die Zuordnung ist relativ einfach. Das Problem ist, dass es auch Gründe gibt, ein Land zu verlassen, die gesetzlich nicht geschützt sind. Das beschäftigt mich durchaus. Aber gleichzeitig ist klar: Das Asylrecht kann nur sehr beschränkt Antworten geben. Wenn man versucht, es auszudehnen, schwächt man den Flüchtlingsschutz.

Gibt es eine Situation in den letzten 10 Jahren, die Sie bis heute beschäftigt? In der die Schweiz aus Ihrer Sicht etwas grosszügiger hätte sein sollen?

Die Praxis, die wir entwickelt haben, hat sich bewährt: Im Asylwesen auf eine Verfolgungssituation zu achten und konsequent zu sein – auch gegenüber denjenigen, die keine Bleibeperspektive haben. Aber mit der Migrationspolitik können wir gegen das Elend der Welt wenig ausrichten. Es gibt keine migrationsrechtlichen Antworten auf diese Probleme. Da geht es vielmehr um die Frage, wie rechtsstaatliche Systeme etabliert werden können. Oder wie man wirtschaftliche Perspektiven schaffen kann, damit die Menschen ihr Land nicht verlassen. Für uns im Asylwesen gilt: Dort, wo wir unseren Beitrag leisten können, müssen wir es richtig machen. Wir dürfen das System nicht verwässern. Die Bevölkerung soll die Politik mittragen können.
(https://www.nzz.ch/schweiz/asylchef-mario-gattiker-mit-der-migrationspolitik-koennen-wir-gegen-das-elend-der-welt-wenig-ausrichten-ld.1641422)


+++DEUTSCHLAND
Keine Chance auf Asyl
Zwei politisch Verfolgte aus der Türkei scheitern an kaum nachvollziehbaren Entscheidungen der deutschen Behörden
Sinem Mut und Anıl Kaya waren in der türkischen Opposition aktiv und wurden wegen absurder Terrorvorwürfe angeklagt. Sie flohen nach Deutschland, wo ihnen kein Asyl gewährt wird – das deutsche Asylrecht ist ausgehöhlt.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155830.bleiberecht-keine-chance-auf-asyl.html


+++BALTIKUM
Flüchtlinge in Litauen: Menschliche Munition
Tausende Flüchtlinge sind über die EU-Grenze von Belarus nach Litauen gekommen. Nun stecken sie fest – als Spielball in einem Konflikt, mit dem sie nichts zu tun haben.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-08/fluechtlinge-litauen-belarus-eu-grenze-fluechtlingslager-alexander-lukaschenko/komplettansicht


Flucht und Migration: Grenzüberschreitungen im Schatten von Afghanistan
Zwischen Belarus und Polen kampieren Flüchtlinge, die zum geopolitischen Spielball geworden sind. Es gibt Berichte über Misshandlungen durch Grenzbeamte
https://www.heise.de/tp/features/Flucht-und-Migration-Grenzueberschreitungen-im-Schatten-von-Afghanistan-6171534.html


+++SPANIEN
nzz.ch 22.08.2021

Ausschaffungen marokkanischer Minderjähriger im Visier der spanischen Justiz

Die aus Marokko nach Ceuta geflohenen Jugendlichen wollen nicht zurück in ihre Heimat. Spanische Menschenrechtsorganisationen üben Kritik an den ersten Ausschaffungen.

Ute Müller, Madrid

Seit Tagen tobt in Spanien ein erbitterter Streit darüber, was mit den mehr als 750 Kindern und Jugendlichen geschehen soll, die schon Monate in der spanischen Exklave Ceuta an der afrikanischen Mittelmeerküste ausharren und auf eine Zukunft auf der Iberischen Halbinsel hoffen. Sie gehören zu der Gruppe der rund 10 000 Migranten, die Mitte Mai illegal und meist schwimmend spanisches Hoheitsgebiet erreicht hatten; die meisten von ihnen kehrten inzwischen nach Marokko zurück.

Der Versuch der spanischen Regierung, die verbliebenen unbegleiteten Jugendlichen mit Ausschaffungen über die Grenze nach Marokko zurückzubringen, scheiterte. Die Zwangsdeportationen wurden ausgesetzt. Zu gross war die Kritik von Menschenrechtsorganisationen und der Justiz an dem Verfahren, zumal die spanische Gesetzgebung unbegleiteten Minderjährigen besonderen Schutz zusichert und sie de facto vor einer Abschiebung schützt. Wichtigster Kritikpunkt war, dass es die Behörden unterlassen hatten, bei der Ausschaffung der ersten drei Gruppen von 55 Jugendlichen diese nach ihren familiären Umständen zu befragen. Die Rückkehr nach Marokko darf nur freiwillig geschehen.

Da nutzte es auch nichts, dass Spaniens sozialistischer Innenminister Fernando Grande-Marlaska beteuerte, es sei im Interesse der Kinder und Jugendlichen, in ihre gewohnte Umgebung zurückzukehren. 25 Menschenrechtsorganisationen und der spanische Ombudsmann Francisco Fernández-Marugán haben mittlerweile Beschwerde vor Gericht eingelegt, weil die Schützlinge gegen ihren Willen ausgeschafft worden seien. Nach Ablauf eines 72-stündigen Abschiebestopps behält die Stadt Ceuta diesen vorläufig bei.

Doch die jungen Marokkaner misstrauen den Behörden. Zu Dutzenden flüchteten sie vergangene Woche aus den staatlichen Heimen, in denen sie untergebracht worden waren, um einer Ausweisung zu entkommen. Sie verstecken sich in Parks, am Strand oder auf Baustellen. Der spanische Fernsehsender La Sexta zeigte Kinder, die zwischen riesigen Betonblöcken am Hafen von Ceuta hausen. Der zwölfjährige Jaiha erzählte dem Sender, er sei im Mai nach Ceuta gekommen, um seine Eltern von Spanien aus zu unterstützen. Auch der sechzehnjährige Mustafa will aufs spanische Festland, wo bereits ein Bruder von ihm lebt und er sich zum Coiffeur ausbilden lassen will. In Marokko musste er sich nach eigener Aussage auf der Strasse durchschlagen, nachdem seine Eltern sich getrennt hatten.

«Endlich funktionieren die staatlichen Institutionen und haben den Repatriierungsprozess gestoppt», stellte Andrés Conde, Generaldirektor der Organisation Save the Children in Spanien, erfreut fest. Man sei nicht grundsätzlich gegen eine Rückführung der Kinder zu ihren Familien. Man dürfe jedoch nicht vergessen, dass im Norden Marokkos, woher die Kinder stammen, grosse Armut herrsche. Durch die Corona-Pandemie habe sich die Situation noch verschlimmert, da der Grenzhandel eingestellt wurde, von dem viele Menschen früher zumindest notdürftig leben konnten.
Mädchen besonders schutzbedürftig

Save the Children kümmert sich nach eigenen Angaben ganz besonders um die fast 100 Mädchen, die ebenfalls zur Gruppe der Minderjährigen gehören. «Wenn ein Mädchen alleine oder gar mit Freundinnen flieht, ist die Gruppe extremen Risiken ausgesetzt», so Conde. Die Flucht sei ein Akt der Verzweiflung, weil die familiären Zustände unerträglich gewesen seien, sie sexuelle Gewalt erlebt hätten oder zu Zwangsehen verpflichtet worden seien, erläutert Conde.

Derweil rechtfertigte Juan Jesús Vivas, der Regierungschef von Ceuta, die Deportationen. Ceuta sei nichts anderes übrig geblieben, als das Innenministerium um Hilfe zu bitten und die Kinder und Jugendlichen auf der Grundlage eines 2007 mit Marokko geschlossenen Rückführungsabkommens auszuschaffen. Die Exklave sei mit der Versorgung von Hunderten junger Menschen völlig überfordert. «Es muss eine Lösung her, die jungen Leute können nicht länger auf der Strasse leben oder in schlecht ausgestatteten Sporthallen.» In seiner Stadt gebe es weder Platz für sie noch Hoffnung, so Vivas. Bereits jetzt liegt die Jugendarbeitslosigkeit in Ceuta bei 70 Prozent, fast jeder Zweite lebt unter der Armutsgrenze.



Marokko beendet diplomatische Krise mit Spanien
Marokkos König Mohammed VI. hat in einer Rede vom Freitag eine neue Ära in den spanisch-marokkanischen Beziehungen eingeläutet. Noch im Mai hatten marokkanische Grenzbeamte durch Passivität ermöglicht, dass Tausende von Migranten in spanisches Hoheitsgebiet in Ceuta vordrangen. Fortan kann Madrid wieder mit der Zusammenarbeit mit dem südlichen Nachbarn bei der Grenzsicherung und bei der Rückführung von Migranten rechnen.
(https://www.nzz.ch/international/kritik-an-ausschaffungen-marokkanischer-minderjaehriger-aus-ceuta-ld.1641442)


+++EUROPA
Für die EU hat in Nordafrika Migrationskontrolle Priorität
Zahme Reaktionen der EU
Die EU reagierte zurückhaltend auf die Suspendierung des tunesischen Parlaments. Der tunesische Präsident Kaïs Saïed ist ein wichtiger Partner bei der Flüchtlingsabwehr.
https://jungle.world/artikel/2021/33/zahme-reaktionen-der-eu


+++ATLANTIK
Verhungert und verdurstet
Dutzende Menschen auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln dem Tod überlassen. Mehr als 400 Tote auf dieser Route 2021
https://www.jungewelt.de/artikel/408874.flucht-in-die-eu-verhungert-und-verdurstet.html


+++GASSE
Raubüberfälle in Bern: Den Opfern Bargeld, Handys, Halsketten und Velos geraubt
In den Abend- und Nachtstunden des Wochenendes ist es in Bern zu sechs Raubüberfällen gekommen. Mehrere Männer wurden verletzt.
https://www.derbund.ch/den-opfern-bargeld-handys-halsketten-und-velos-geraubt-149640454771
-> https://www.bernerzeitung.ch/sechs-raubueberfaelle-uebers-wochenende-in-bern-967197341435
-> https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=73c346f9-fb18-456a-9423-a36195242525


+++DROGENPOLITIK
NZZ am Sonntag 22.08.2021

Das Kabul-Kartell: Wie die Taliban Afghanistan zum Drogenstaat ausbauen

Der Drogenhandel soll zum grossen Geschäft werden. Den Heroinhandel kontrollieren die Taliban schon. Jetzt wollen sie den Markt mit Crystal Meth erobern.

Peter Hossli und Carole Koch

Schüsse fielen nicht, als die Taliban letzten Sonntag in Kabul eintrafen. Sie posierten vor westlichen Kameras, die Augenbrauen fein säuberlich gestutzt. In nahezu perfektem Englisch erklärten sie ihre Absichten – und verbreiteten vor allem eines: Optimismus für die Zukunft. Ihre Aussagen und der Duktus erinnerten an Manager eines westlichen Konzerns, die eben ihren Börsengang erfolgreich hinter sich gebracht hatten.

Dieser Eindruck ist nicht falsch. Die Machtergreifung durch die Taliban in Afghanistan ist vor allem Big Business, ein grosses Geschäft. Übernommen hat in Kabul eine Gangsterbande, die Experten der Uno als «grösstes Drogenkartell der Welt» bezeichnen. Sie dürften das Land am Hindukusch in einen modernen Narco-Staat verwandeln: Das Kabul-Kartell der Taliban geht auf Augenhöhe mit dem berüchtigten mexikanischen Sinaloa-Kartell. Das lateinamerikanische Kartell und die Taliban ähneln sich schon jetzt: Beide geben sich gottesfürchtig und agieren blutrünstig.

Bereits vor der Machtübernahme zogen die Islamisten hohe Abgaben ein bei afghanischen Heroin- und Cannabis-Produzenten. Zusätzlich kontrollieren die Taliban nun alle Grenzen des Binnenlandes und somit den Handel mit Opium und Methamphetamin. «Bisher hat die afghanische Regierung mehr von der Drogenproduktion profitiert als die Taliban», sagt David Mansfield von der London School of Economics. Seit 25 Jahren analysiert er Handel und Produktion von Drogen in Afghanistan. «Mit dem Machtwechsel verringern sich die Kosten, und die Gewinne steigen.» Weil innerhalb Afghanistans niemand mehr die Taliban am Drogengeschäft hindert.

Weltmarktführer bei Heroin

Sie haben aus früheren Fehlern gelernt. Vor 21 Jahren verboten die Taliban noch aus religiösen Gründen den Anbau von Opium, was sie den Rückhalt in der ländlichen Bevölkerung und die Macht gekostet hatte. Jetzt, als die neuen Barone, könnten sie den Anbau sogar legalisieren. Dank ihrer Nähe zum Emirat von Katar stehen ihnen zudem die Finanzströme offen, um Drogengelder zu waschen. Es wäre naiv, die Taliban als Hinterwäldler zu bezeichnen. Sie betreiben moderne Landwirtschaft mit riesigen Farmen.

Schlafmohnfelder mit lila Blüten überziehen den Südwesten des Landes. Aus den Kapseln der bis zu 1,5 Meter hohen Pflanzen gewinnen Afghanen das Rohopium und stellen daraus Heroin her. Um ihre Kulturen vor Insekten und Pilzen zu schützen, versprühen sie Pestizide. Solarstrom betreibt ihre Maschinen. Sie entwickelten neue Pflanzensorten, die sich drei- statt wie bisher nur zweimal im Jahr ernten lassen. Um die Anbauflächen auszudehnen, holen Farmer Grundwasser aus Tiefen von bis zu 100 Metern. Damit sind sie gegen trockene Jahre gefeit.

Die Industrialisierung zeigt Wirkung. Allein letztes Jahr stieg die afghanische Opium-Produktion um 37 Prozent, hält das Uno-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) in einem Bericht fest. Afghanistan exportierte 2020 geschätzte 6300 Tonnen Opium mit einem Exportwert von 1,5 bis 3 Milliarden Dollar. 85 Prozent des globalen Heroinangebotes stammen laut Uno aus dem Land, 60 Prozent davon kontrollierten bis anhin die Taliban. Es dürften bald 100 werden.

Ein sicheres Geschäft ist Opium allerdings nicht. Es ist teuer, in Afghanistan Heroin herzustellen, die Gewinnmargen sind tief. Und im Westen findet die Droge wegen ihres Loser-Images wenig Gefallen.

«Breaking Bad» am Hindukusch

Doch das Kartell weiss sich zu helfen – und hat diversifiziert. Bei Lieferungen von 100 Kilogramm Heroin legen afghanische Händler oft noch 5 Kilogramm Amphetamin bei – Crystal Meth, das durch die TV-Serie «Breaking Bad» bekannt geworden ist. Die Sonderlieferung soll alte Kunden auf ein neues Produkt aufmerksam machen: pflanzliches Meth.

Gemäss einem neuen Bericht der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) dürfte Afghanistan zu einem weltweit bedeutenden Produzenten und Lieferanten von Meth werden – weil das Land beste Voraussetzungen hat, das gefragte Rauschmittel günstiger herzustellen, als das die mexikanischen Kartelle oder die Meth-Köche im Goldenen Dreieck zwischen Laos, Thailand und Burma bereits tun.

Möglich macht das ein Strauch, der in den gebirgigen Regionen Afghanistans auf einer Höhe von über 2500 Metern gedeiht: Ephedra, Meerträubel genannt. Das Kraut wächst über mehrere Jahre heran und wird zwischen Ende Juli und Oktober geerntet. Dann steigen afghanische Bäuerinnen und Bauern mit Sicheln die Berge hinauf. Sie tragen ihre Ernte in die Dörfer, wo das Kraut 25 Tage im Freien trocknet und in Säcke verpackt in Hunderte von Laboratorien geliefert wird. Meth-Köche gewinnen aus dem Kraut biologisches Ephedrin, das sie kristallisieren.

Die Herstellung ist einfach – und günstig. Da das Ephedrin natürlich und nicht aus teuren Medikamenten gewonnen wird, kann Crystal Meth in Afghanistan zu einem Zehntel der Kosten südostasiatischer Länder hergestellt werden – und kommt trotzdem zum selben Preis auf den Markt, erklärt David Mansfield, der Autor der europäischen Studie. Die Afghanen investieren die höheren Gewinnmargen in den Ausbau ihrer Produktion.

Bereits jetzt ist das Land in der Lage, jährlich rund 1000 Tonnen Meth zu produzieren und auf den Weltmarkt zu bringen. Da die Handelsrouten nach Europa, Ozeanien und die USA für Heroin etabliert sind, dürfte in den nächsten Monaten und Jahren mehr afghanisches Meth in diese Regionen gelangen.

Wie «big» das Business mit Rauschmitteln aus Afghanistan wirklich ist, darüber sind sich die Experten nicht einig. Die Taliban haben bei Produzenten bisher steuerähnliche Abgaben eingetrieben. Die Uno schätzt ihren Wert für das Jahr 2020 auf 400 Millionen Dollar. Bei ihren Berechnungen gehen die Experten von einem Steuersatz von 10 Prozent auf den Exportwert aus. Dem widerspricht der unabhängige Experte Mansfield. «Die Uno-Zahlen sind falsch, sie gehen vom Marktwert aus und nicht von den Produktionskosten», sagt er.

Die Taliban seien technisch nicht in der Lage, eine Mehrwertsteuer einzutreiben. Die Abgaben würden aufgrund des Volumens und des Gewichts erhoben. Heroin- und Meth-Produzenten erzielten eine Marge von höchstens zehn Prozent. Müssten sie ihren gesamten Gewinn den Taliban abliefern, könnten sie nicht bestehen und somit nichts abliefern. Laut Mansfield ist der Satz selten höher als 2,5 Prozent.

«Opium-Bräute» als Zahlungsmittel

Frauen sind Teil des Drogenhandels, sagt die afghanische-amerikanische Autorin Fariba Nawa. Jahrelang recherchierte sie für ihr Buch «Opium Nation». Sie lebt in der Türkei und erzählt am Telefon von Todesdrohungen, die Drogenbarone gegen sie ausgesprochen haben. Öffentlich machte sie, was verborgen bleiben sollte: die Rolle der Frauen. Zwar verbannten die Taliban sie ins Haus. Gegen ihre Mitarbeit in der Drogenproduktion sperren sie sich jedoch nicht.

Als Erntehelferinnen ritzen Frauen neben Männern die unreifen Samenkapseln von Mohnpflanzen, damit sie den Milchsaft absondern, der sich an der Luft rotbraun verfärbt, an den Fingern klebt und bitterscharf riecht: Opium in Rohform. Hinter Mauern verarbeiten Frauen den Saft zu Heroin, später wirken sie als Schmugglerinnen, «weil sie unter ihren Burkas unauffällig und vermeintlich unantastbar sind», so Nawa.

Offen legt sie eine schlimme Wahrheit: Mädchen sind im Zuge des blühenden Geschäfts mit Drogen zu einem Zahlungsmittel geworden. Um Schulden zu tilgen, geben Opium-Bauern und Heroinschmuggler schon mal ihre Töchter weg, als «Opium-Bräute», wie die Autorin sagt. Zwar sind Kinderehen mit Mädchen unter 16 Jahren nicht erlaubt. Nawa weiss jedoch von vielen von Drogenhändlern verkauften Minderjährigen.

Vom Hindukusch gelangt die Ware über drei Handelswege auf die Strassen westlicher Städte: Die wichtigste ist die Balkanroute. Sie führt von Afghanistan nach Iran, in die Türkei, über die Ägäis und den Balkan nach Zentral- und Westeuropa. Entlang der Nordroute werden via Zentralasien russische Süchtige beliefert, während die Drogen im Süden auf mehreren Routen geschmuggelt werden. Über Pakistan oder Iran gelangen sie zum Beispiel nach Indien oder Afrika.

Die Besetzung Afghanistans durch die USA hätte diesen Handel unterbinden sollen. Doch Amerika hat den Krieg gegen die Drogen verloren. Afghanische Mohnpflanzer erzielten 2017 mit 9000 Tonnen Opium eine Rekordernte, nahezu doppelt so viel wie im Jahr zuvor. Kaum hatte die Uno den Rekord bekanntgegeben, stiegen amerikanische Bomber in den afghanischen Himmel und griffen Laboratorien an. Unter dem Codenamen «Iron Tempest» versuchten die US-Streitkräfte, das Taliban-Kartell zurückzubinden.

In der Analyse «Bombing Heroin Labs in Afghanistan» zeichnet Analyst Mansfield diesen Feldzug für die London School of Economics nach. In der ersten Nacht, am 19. November 2017, zerstörten US-Piloten 10 Gebäude, in denen die Taliban angeblich Drogenherstellten. Die Amerikaner veröffentlichten Videos der Angriffe und feierten sie als Erfolg.

Doch «Iron Tempest» hatte nur geringe Auswirkungen, wie Mansfield zeigt. Zwar schrumpfte die Anbaufläche im Folgejahr um 20 Prozent. Das ist aber eher der Dürre als amerikanischen Bomben zuzuschreiben. Bereits 2019 konnten die afghanischen Bauern ihre Produktion wieder steigern.

Bald legaler Anbau?

Wie geht es nun weiter? Es gibt unterschiedliche Einschätzungen. «Drogen zählen zu den Haupteinnahmequellen der Taliban, daran dürfte sich nichts ändern», sagt Autorin Fariba Nawa. Sie hält es für möglich, dass die Taliban den Anbau innerhalb Afghanistans legalisieren. «Sie können das Geschäft weiter professionalisieren und alles kontrollieren.»

Anders sieht es die Afghanistan-Expertin vom Institute of Strategic Studies in Islamabad, Pakistan, Amina Khan. «Drogenhandel ist im Kern unislamisch.» Zwar hätten die Taliban wie die afghanische Regierung in den letzten Jahren von den Drogen profitiert. Die neue Generation an der Macht wolle sich nicht mehr vom Rest der Welt isolieren. Stattdessen würden sie versuchen, langfristig andere Einnahmequellen zu erschliessen. Khan versucht zu glauben, was ein Taliban-Sprecher diese Woche vor Medien sagte und weltweit Zweifel erntete: «Afghanistan wird nicht länger ein Land sein, in dem Opium angebaut wird.»

Wie sich das Drogengeschäft entwickelt, hänge vom Konsum des Westens ab und der wirtschaftlichen Entwicklung Afghanistans, sagt Mansfield. Derzeit sei das Angebot weltweit sehr gross, die Nachfrage nach illegalen Opiaten ist eher rückläufig, jene nach Meth steigt. «Sollte die afghanische Wirtschaft zusammenbrechen, dürfte sich die Drogenproduktion erhöhen», glaubt Mansfield. Die Taliban würden kaum mehr versuchen, den Drogenanbau zu unterbinden. Das habe sie vor 21 Jahren geschwächt.

Das Kabul-Kartell weiss mittlerweile sehr wohl: Das Geschäft mit dem Rausch macht die Taliban reich und somit mächtig.



Drogenhandel am Hindukusch

50er Jahre

Als der Opiumanbau im Iran verboten wurde, begannen Afghanen Mitte der fünfziger Jahre erstmals grössere Mengen zu exportieren.

70er Jahre

Infolge politischer Wirren und von Dürren im Goldenen Dreieck wurde Afghanistan zu einem Hauptlieferanten auf dem Opium- und Heroinmarkt in Europa und den USA. Zudem wurde im grösseren Stil Cannabis für die Haschisch-Produktion angebaut. Drogen machten das Land zum Hippie-Mekka.

80er Jahre

Die sowjetischen Besatzer unterbanden den Handel mit Früchten oder Baumwolle, um usbekische Exporte zu begünstigen. In den Jahren des Kriegs zwischen den Sowjets und den von den USA unterstützten Mujahedin wurde die Landwirtschaft weiter ruiniert. Warlords schufen mit dem Drogenhandel neue Geldquellen, während dieser in Ländern wie Pakistan zurückgedrängt wurde.

90er Jahre

Bis zur Machtübernahme der Taliban 1996 herrschte Chaos. Bauern überlebten, indem sie in den lukrativeren Anbau von Opium einstiegen. Unter den Taliban blühte das Geschäft weiter. Gegen Geld liessen sie Schmuggler frei agieren. Zudem erhoben sie Steuern auf landwirtschaftliche Gewinne. Bis 1999 stieg die Opiumproduktion auf über 5000 Tonnen an, so dass die Uno Druck auszuüben begann.

2000

Die Taliban erklärten, die Drogenproduktion widerspreche dem Islam, und setzten das Verbot brutal durch. Nach der US-Invasion begannen sie den Handel selbst zu kontrollieren und wurden zu einem Drogenkartell. 2017 wurde eine Rekordernte von 9000 Tonnen Opium erzielt.



Drogenkonsum in der Schweiz: Das Heroin kommt aus Afghanistan

Linus Walpen

Das Heroin werde in Istanbul zwischengelagert, heisst es in einer Studie von verschiedenen Instituten der Universität Lausanne und Sucht Schweiz. Mafiabanden aus Albanien übernehmen die Drogen in der türkischen Grossstadt und transportieren das Heroin über die Balkanroute, Slowenien und Österreich in die Schweiz. Hierzulande kontrollieren diese Gruppen den Markt seit rund einem Vierteljahrhundert.

Der Konsum von Heroin ist in der Schweiz allerdings weit geringer als derjenige von Cannabis oder Kokain. Zudem nimmt laut dem Bundesamt für Polizei Fedpol die Nachfrage nach Heroin seit den 1990er Jahren ab, als es in Zürich noch eine offene Drogenszene gab und jährlich Heroin für 2,7 Milliarden Franken gehandelt wurde. Eine andere Droge, die ebenfalls aus Afghanistan in die Schweiz geschmuggelt wird, ist Haschisch. Anders als beim Heroin ist der Anteil aus Afghanistan bei Haschisch im hiesigen Markt weitaus geringer, der grösste Produzent des Cannabisharzes ist Marokko.

Andere Drogen aus Afghanistan wie zum Beispiel Crystal Meth werden hierzulande kaum konsumiert. Das meiste Meth, das in der Schweiz konsumiert wird, stammt aus Osteuropa oder Mexiko.

Wie sich nun die Machtübernahme der Taliban auf den hiesigen Drogenmarkt auswirken wird, ist noch nicht klar. Die deutsche Drogenbeauftragte Daniela Ludwig sagte diese Woche, dass es in Europa ein grösseres Angebot an Rauschgiften geben werde. Ob und wie es zu einer solchen Zunahme kommen könnte, ist sowohl aus Sicht von Frank Zobel, Vizedirektor von Sucht Schweiz, als auch des Fedpol allerdings schwierig abzuschätzen.
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/kabul-kartell-taliban-bauen-ihre-drogenherrschaft-aus-ld.1641552)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Massnahmenkritiker und Impfgegner zeigen sich militanter
An einer Corona-Demo und einer Einweihung mobiler Impfzentren kam es zu tätlichen Angriffen. Solche Attacken könnten laut einem Szene-Kenner zunehmen.
https://www.20min.ch/story/massnahmenkritiker-und-impfgegner-zeigen-sich-militanter-871580891063



tagesanzeiger.ch 22.08.2021

Corona-Skeptiker machen mobil: Impfgegner machten schon im Vorfeld Stimmung gegen Rickli

Radikale Corona-Kritiker störten die Impfaktion in Gossau ZH. Die Aktion wurde Tage zuvor in den sozialen Medien angekündigt.

David Sarasin

Beim Angreifer, der Natalie Rickli am Samstag bei einer Impfaktion in Gossau ZH mit Apfelschorle überschüttete, soll es sich um einen 44-jährigen Schweizer handeln. Laut Kapo-Sprecherin Carmen Surber wird der Mann polizeilich befragt; was weiter mit ihm geschieht, entscheide die Staatsanwaltschaft. Ob der Mann weiterhin in Haft ist, ist unklar.

Schon im Vorfeld des Anlasses wurde in den sozialen Medien Stimmung gegen die SVP-Regierungsrätin gemacht. In den Foren der Massnahmenverweigerer auf der Plattform Telegram kündigten Teilnehmende an, am Tag der Einführung des Impfbusses ebenfalls in Gossau ZH präsent zu sein.

«Ich wollte eigentlich an die Demo nach Olten. Vielleicht fährt mein Auto aber nach Gossau», schreibt einer, der sich selber als Journalist ausgibt und dessen Kanal rund 2500 Follower hat. «In Gossau gibt es heute eine Aktion», schreibt eine andere Person in einem weiteren Chat.

Stimmungsmache gegen Rickli

«Natalie Rickli bekommt von mir einen Strick, den sie zeitnah braucht», schreibt ein Nutzer im Chat mit dem Namen «Corona Rebellen Schweiz». Ein anderer schrieb im Vorfeld: «Gehen wir heute doch alle nach Gossau, nur schon wegen der Gratis-Wurst … sorry, wegen Natalie natürlich.» Daneben setzte er das Emoji einer Explosion.

Die Impfgegner machten ihre Ankündigung, eine Gegendemonstration zu organisieren, wahr: Rund zwei Dutzend Impfgegner stellten sich am Samstagnachmittag neben die Schlange jener, die auf eine Impfung warteten. Sie hielten Transparente in die Höhe, auf denen etwa «Stopp Impf-Erpressung» stand. Es kam auch zu Wortgefechten mit Passanten, wie auf einem Video, das in einem weiteren Telegram-Chat von Corona-Skeptikern geteilt wurde, zu sehen ist.

In den selben Telegram-Chats provozierte Natalie Ricklis Auftritt zum Startschuss der Impfkampagne auch im Nachgang negative Reaktionen. Die Gesundheitsdirektorin sei eine «falschi Hex» oder eine «verlogeni, dummi Chue», schrieben zwei Nutzer. Rickli gehöre aus der SVP ausgeschlossen.

Sprecher äussert sich nicht weiter

Ebenso wurden im gleichen Forum unwidersprochen gefährliche Falschmeldungen verbreitet, nach denen jeder, der sich eine mRNA-Impfung verabreichen lässt, in den kommenden fünf Jahren sterben werde. Rickli gehöre deswegen «ins Zuchthaus» gesteckt, wenn sie sich nicht selber das Leben nehme.

Der Sprecher der Zürcher Gesundheitsdirektion, Patrick Borer, wollte sich zum Vorfall nicht weiter äussern. Auch zum künftigen Sicherheitsdispositiv der Regierungsrätin im Zuge der Impfkampagne macht Borer keine Angaben.
(https://www.tagesanzeiger.ch/impfgegner-machten-schon-im-vorfeld-stimmung-gegen-rickli-955567948308)



Angriff auf Natalie Rickli ist kein Einzelfall: Impf-Gegner und Corona-Skeptiker radikalisieren sich
Am Samstag überschüttete ein Impfgegner die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli mit Apfelschorle. Auch andere Gesundheitsdirektoren werden zunehmend angefeindet.
https://www.blick.ch/politik/angriff-auf-natalie-rickli-ist-kein-einzelfall-impf-gegner-und-corona-skeptiker-radikalisieren-sich-id16772387.html



nzz.ch 22.08.2021

 Attacke auf Regierungsrätin Natalie Rickli: Die Impfgegner überschreiten eine rote Linie

Die Zürcher Gesundheitsdirektorin ist an einem Impfanlass mit einem Getränk überschüttet worden. Der Angriff mag in seiner Ausführung harmlos gewesen sein. Die Absicht dahinter ist es nicht.

Zeno Geisseler

Anonyme Hassbriefe und -mails, Schmähungen im Internet, Exkremente im Briefkasten: Die meisten Schweizer Politikerinnen und Politiker sprechen nicht gerne über die primitiven Anfeindungen, denen viele von ihnen ausgesetzt sind. Es ist ein unangenehmer Teil ihres Jobs. Doch das, was der Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (svp.) am Samstag in Gossau in aller Öffentlichkeit passiert ist, hat eine andere Dimension.

Ein Mann ging an diesem Anlass zur Einweihung der Zürcher Impfmobile unvermittelt auf die Regierungsrätin zu und übergoss sie mit einer Flüssigkeit. Der Mann wurde festgenommen, später wurde klar, dass es sich bei der Flüssigkeit um Apfelschorle handelte.

Es ist einfach, diesen Angriff kleinzureden. Es war ja bloss ein harmloses Getränk. Rickli ist nichts passiert. Das gibt doch höchstens ein paar Flecken. Viele Länder haben weit schlimmere Attacken auf ihre Amtsträger erlebt.

Das mag alles zutreffen. Doch in der Schweiz ist man es gewohnt, dass unsere Politikerinnen und Politiker zugänglich sind. Sie winken uns nicht aus der Staatslimousine hinter 15 Zentimetern Panzerglas zu, sondern setzen sich nach der Rede mit einem Bier und einer Bratwurst auf die Festbank. Selbst Bundesräte fahren mit dem Bus und dem Zug zur Arbeit.

Vor Corona feierte die Schweizer Landesregierung jeweils ganze Apéros inmitten der Bevölkerung. Jeder konnte mit den Amtsträgerinnen und Amtsträgern anstossen und reden. Die diskreten Männer mit dem Knopf im Ohr hatten kaum etwas zu tun.

Natalie Rickli wollte in Gossau im Zürcher Oberland ebenfalls das Gespräch suchen – nicht nur mit jenen, die ihre Impfkampagne unterstützen, sondern gerade auch mit jenen, die dagegen sind. Es gebe ein Recht auf freie Meinungsäusserung, hatte sie kurz vor dem Angriff noch auf die Frage der NZZ geantwortet, was sie zur Protestaktion der rund 25 Impfgegner in Gossau sage.

Doch ein Teil dieser Impfgegner war von Anfang an gar nicht auf Dialog aus gewesen, sondern auf Konfrontation. Auf Twitter kursiert ein Video, das Impfgegner zeigt, die sich am Vorabend auf den Protest in Gossau vorbereiten. Sie sollten Eier mitnehmen, sagt ein Anführer im Video, man wolle «Radau machen». Auch auf dem Chat-Kanal Telegram kursierten Aufrufe, zur Einweihung der Impfmobile zu kommen.

Gegen aussen geben sich die Impfgegner gerne gewaltlos. Im Logo des Vereins «Stiller Protest», der gegen Corona-Massnahmen kämpft, fliegt eine Friedenstaube. Man wolle überzeugen und nur mit Argumenten kämpfen, sagten Impfgegner auch am Samstag in Gossau. Die grosse Mehrheit der Anwesenden verhielt sich tatsächlich friedlich. Eier flogen keine, die einzigen Einwürfe waren Zwischenrufe während der Festreden.

Doch zu den Argumenten der Impfgegner gehören Absurditäten wie etwa, dass die Impfung ein Massenmord an Kindern sei und ein Genozid und dass Rickli das alles wisse. Wer dies ernsthaft behauptet, wer also überzeugt davon ist, dass eine Zürcher Regierungsrätin insgeheim eine Kindsmörderin sei, der nimmt es auch in Kauf, dass sich jemand aus den eigenen Reihen aufmacht, um gegen die vermeintliche Übeltäterin handgreiflich zu werden.

Ist es den Impfgegnern ernst damit, dass sie ihre Einwände friedlich geltend machen wollen, dann sollten sie sich erstens vom Angriff auf Natalie Rickli umgehend und unmissverständlich distanzieren. Sie sollten zweitens betonen, dass sie an einer ernsthaften und gewaltlosen politischen Auseinandersetzung interessiert seien, etwa über das zweite Referendum zum Covid-19-Gesetz, über das Ende November abgestimmt wird.

Gefordert ist aber auch die Schweizer Regierung. Es braucht einen klaren Fahrplan zur Rückkehr zur Normalität, eine Abkehr von staatlichen Zwängen und eine Hinwendung zu mehr Eigenverantwortung. Dies spätestens dann, wenn alle geimpft sind, die geimpft werden wollten. Sonst steigen der Druck und die Aggression in der Bevölkerung weiter an.

Es ist an der Zeit, dass sich die Gemüter wieder beruhigen und sich der Fokus von der unmittelbaren Krisenbewältigung auf die mittel- und langfristigen Herausforderungen bewegt. Denn davon gibt es auch abgesehen von Corona einige.
(https://www.nzz.ch/zuerich/attacke-auf-regierungsraetin-natalie-rickli-impfgegner-ueberschreiten-eine-rote-linie-ld.1641623)



Olten: Nachtrag zum Polizeieinsatz anlässlich Kundgebung
Am Samstag, 21. August 2021, stand die Polizei in Olten anlässlich einer im Vorfeld angekündigten Kundgebung im Einsatz (vergl. Medienmitteilung vom 21. August 2021). Insbesondere in den Sozialen Medien wird ein Vorfall mit einer leicht verletzten Person rege diskutiert. Die Kantonspolizei Solothurn nimmt Stellung.
https://so.ch/verwaltung/departement-des-innern/polizei/medienmitteilungen/medienmitteilungen/news/olten-nachtrag-zum-polizeieinsatz-anlaesslich-kundgebung/?tx_news_pi1[controller]=News&tx_news_pi1[action]=detail&cHash=2585f0a7ed61f0d50f865df32cdb2f97
-> https://www.20min.ch/story/kantonspolizei-nimmt-nach-flaschen-angriff-stellung-767843414685
-> https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/flaschenattacke-an-corona-demo-in-olten-so-polizisten-beobachteten-den-angriff-nahmen-aber-keine-personalien-auf-id16772110.html
-> https://www.nau.ch/ort/olten/polizei-nimmt-nach-blutiger-corona-demo-in-olten-stellung-65987363
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/setzt-sich-die-hohe-aargauer-litteringbusse-landesweit-durch?id=12041319 (ab 03:48)
-> https://www.soaktuell.ch/post/blutiger-angriff-von-impf-verweigerer-an-demo-in-olten
-> https://www.telem1.ch/aktuell/covid-zertifikat-brauchen-wir-den-3g-nachweis-bald-nicht-mehr-143474143


+++HISTORY
Anna Göldi: Der letzte Hexenprozess Europas wird in einem Buch neu aufgerollt – ein exklusiver Vorabdruck
Anna Göldis Hinrichtung in Glarus 1782 war ein Justizmord. Der Journalist Walter Hauser publiziert neue Hintergründe eines europaweit beachteten Skandals.
https://www.aargauerzeitung.ch/leben/anna-goeldi-der-letzte-hexenprozess-europas-wird-in-einem-buch-neu-aufgerollt-ein-exklusiver-vorabdruck-ld.2176162


20 Jahre Rostock-Lichtenhagen: Brandsätze gegen Asylbewerber
Bilder von den Ereignissen ab dem 22.August 1992: Ein Brandsätze werfender Mob, Asylbewerber in Todesangst, eine überforderte Polizei: Die dreitägigen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen waren die massivsten ausländerfeindlichen Übergriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte.
https://www.youtube.com/watch?v=3d55lApFuiU


“Die Wahrheit lügt (liegt) in Rostock”, orig: “The Truth lies in Rostock” – D, GB / 1993 / 78 min
Zwischen dem 22. Und dem 26. August attackierte ein deutscher Mob ein mehrheitlich von Vietnamesen bewohntes Haus in Rostock-Lichtenhagen. Dieses tagelange Pogrom wurde von einer applaudierenden Menge begleitet, die sich in einer volksfestähnlichen Stimmung befand. Dies waren die heftigsten rassistischen Ausschreitungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte und zugleich ein Ausdruck der Stimmung in Deutschland nach der Wiedervereinigung.
https://www.youtube.com/watch?v=5P21AfG6SPE