Medienspiegel 19. Juni 2021

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+++OBWALDEN
luzernerzeitung.ch 19.06.2021

«Es gab Momente, da wollte ich nicht mehr» – eine geflüchtete Syrerin erzählt

Am 19. Juni ist Internationaler Flüchtlingstag. Im Fokus steht der Familiennachzug. Nie wird Betul A. aus Sachseln ihre Flucht vergessen.

Marion Wannemacher

Sie leben in einer hellen, gemütlichen Wohnung in einem Sachsler Block. Betul A. (Name ist der Redaktion bekannt) öffnet die Tür. Die Gesichtsmaske kann ihr freundliches Lächeln nicht verbergen. Gaby Ermacora und sie kennen sich schon eine ganze Weile. Die beiden haben sich durch das kantonale Frühförderungsprogramm für Kleinkinder «Zäme uf ä Wäg» kennen gelernt.

Als Familienbegleiterin betreute Gaby Ermacora aus Sachseln vor Jahren die junge Frau mit Kleinkind und Baby. Ausserdem besuchte die Syrerin ihren Deutschkurs. Damals hatte Betul A. gerade ein Abenteuer durchgestanden. Eins von der Sorte, das man niemandem wünscht. Und das die heute 32-Jährige wahrscheinlich auch nie vergessen kann.

Internationaler Flüchtlingstag in Sarnen auf dem Markt

Um Familiennachzug geht es am diesjährigen Internationalen Flüchtlingstag am 19. Juni. Der Obwaldner Verein Flüchtlingstag-Begegnungstag plant einen Marktstand mit Infomaterial und bietet Fingerfood aus verschiedenen Ländern an. Gaby Ermacora gehört zum Verein. Mittels QR-Code können Interessierte Geschichten von Menschen hören, die von der Trennung von ihrer Familie auf der Flucht berichten. Mittlerweile leben sie in Obwalden.

Eins haben alle Geschichten gemeinsam. Menschen kamen auf der Flucht, getrennt von ihren Familien, an ihre Grenzen. Wie Betul A. Sie war 24, als sie, ihr Mann und die zweijährige Tochter ihre Heimatstadt Hasaka in Syrien verliessen. In ihrer Heimat funktionierte vieles nicht mehr. Betul erzählt: «Es gab zum Beispiel keine Milch zu kaufen für unser Kind.»

Als ihr Mann in den Militärdienst sollte, war klar, dass er diesen bis Kriegsende nicht mehr verlassen würde. So verkaufte der Chauffeur Lastwagen und ihre gemeinsame Wohnung und ging mit seiner Familie in die Türkei.

Mit gefälschten Ausweisen versuchten die drei, das Land zu verlassen. Nach acht Monaten versuchten sie, nach Zürich zu fliegen. Der Familienvater hatte Glück, Betul und ihre Tochter landeten für eine Woche im Gefängnis. Ihr Mann wollte wieder zu ihr zurück. Doch das war für sie keine Option, im Heimatland hätte ihm Gefängnisstrafe gedroht. So versuchten Mutter und Kind, zu Fuss und mit dem Bus über die bulgarische Grenze zu gelangen, das Vermögen war mittlerweile dahin.

Wandermarathon als Schwangere und ohne Verpflegung

«Mehr als zehn Versuche brauchten wir», erzählt sie. Mittlerweile stellte sich heraus, dass sie wieder schwanger war. Die Fahrten im überfüllten Kleinbus, die Wanderungen in den Bergen ohne Verpflegung über 24 Stunden, das Schlafen im Regen ohne Schutz wird sie wohl nie vergessen. Und auch die heute zehnjährige Tochter erzählt ihr heute manchmal Bruchstücke von Erinnerungen. Betul sagt leise: «Es gab Momente, da wollte ich einfach nicht mehr.»

An eine Wanderung erinnert sie sich besonders: «Wir mussten etliche Male den Berg hoch und wieder runter, weil der Weg nicht klar war. Irgendwann bin ich nur noch gerutscht, weil die Beine nicht mehr wollten.» Aber auch Hilfsbereitschaft erlebten Mutter und Kind: «Eine Familie kümmerte sich um uns und sagten, sie würden nicht ohne mich weitergehen.»

Familienwiedersehen scheiterte am Geld fürs Ticket nach Basel

Schliesslich kamen die beiden nach Österreich, wo sie in Haft kamen. Dort berichtete sie der Polizei, dass ihr Mann in der Schweiz sei. Die Caritas in Obwalden half bei der Familienzusammenführung. Im Oktober 2014 endlich, ein Jahr nach der Abreise aus Syrien, waren auch Betul und ihre Tochter in der Schweiz. Einen ganzen Monat dauerte es noch, bis sich Betul und ihr Mann in die Arme schliessen konnten. Betul und ihr Kind mussten in Basel in einer Flüchtlingsunterkunft ausharren, ihr Mann hatte das Fahrgeld nicht, um sie wenigstens zu besuchen.

Krank, im sechsten Monat schwanger und total erschöpft kam die junge Frau nach Obwalden. Auch hier war es nicht immer einfach. Wer zum Beispiel vermietet Flüchtlingen eine Wohnung, wenn nicht klar ist, wie lange diese bleiben? Die Familie ist daran gewöhnt, nicht klein beizugeben. Heute geht es allen gut, Die Tochter und ihr Bruder, der in Obwalden geboren wurde, besuchen Schule und Kindergarten in Sachseln. Vor eineinhalb Jahren kam noch ein Schwesterchen dazu. Aus dem Flüchtlingsstatus F wurde die Bewilligung «B». Betul A. und ihr Mann verzichten auf Geld vom Sozialamt und wollen lieber auf eigenen Füssen stehen. Der Familienvater arbeitet als Pizzaiolo in Sarnen. Sie half bisher in der Küche in einem Saisonbetrieb und einem Café aus, jetzt hat sie sich in einem Betrieb beworben, in dem sie nachts arbeiten möchte.

Ja, Obwalden sei sehr schön, findet Betul. Ihre Eltern und ihre Heimat, die sie seit sieben Jahren nicht gesehen hat, vermisst sie sehr. Ob sie dorthin zurückgehen, wenn der Krieg vorbei ist, weiss sie nicht. Sie sagt: «Die Kinder wollen hier bleiben.»

Flüchtlingstag am 19. Juni 2021, Marktstand von 8 bis 12 Uhr Dorfplatz Sarnen, mit Fingerfood und Infos zum Schwerpunkt Familiennachzug. Die Geschichten der Flüchtlinge unter https://www.frauenbund-ow.ch/flüchtlingstag.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/obwalden/fluechtlingstag-syrerin-ueber-flucht-in-die-schweiz-ld.2142941)


+++ZÜRICH
limmattalerzeitung.ch 19.06.2021

«Die Integration in der Gemeinde ist schwierig» – dieser Flüchtling aus Nordsyrien lebt seit 2017 im Dorf

Seit mehr als drei Jahren lebt K. A. in der Oberengstringer Asylunterkunft Lanzrain. Bald beginnt er seine Ausbildung als Applikationsentwickler in Zürich. Anlässlich des Weltflüchtlingstags am Sonntag erzählt er von seinem Leben im Limmattal.

Hans-Caspar Kellenberger

K. A. ist 22 Jahre alt und lebt seit rund 5 Jahren als Flüchtling in der Schweiz. Er kam Ende August 2016, noch minderjährig, über Buchs SG ins Land. Er fuhr nach Zürich, wurde dann zuerst im Bundesasylzentrum in Kreuzlingen TG am Bodensee und danach in Höri ZH untergebracht. Seit Dezember 2017 lebt A. in der Asylunterkunft Lanzrain in Oberengstringen. In seine Heimat, ein kleines Dorf in der nordsyrischen, kurdisch geprägten Region Rojava, die an die Türkei angrenzt, will er nicht mehr zurückkehren.

Sie waren minderjährig, als Sie fliehen mussten. Was war Ihr Traum, als Sie damals in Syrien noch ins Gymnasium gingen?

K. A.: Schon seit ich ganz klein war, wollte ich einerseits mit Tieren arbeiten und andererseits zeichnen und planen. Ich wollte die beiden Dinge als Hochbauzeichner für innovative Landwirtschaft und Tierhaltung miteinander verbinden. Das wäre mein Traum gewesen. Aus Syrien musste ich fliehen, bevor ich das Gymnasium abschliessen konnte. Heute mache ich ein Praktikum im Software-Engineering und beginne diesen Sommer mit der Lehre als Applikationsentwickler. In einem völlig anderen Bereich also, der aber auch mit logischem Denken zu tun hat.

Was war besonders befremdlich, als Sie hier ankamen?

Alles. Ich fühlte mich nicht wohl, war wie ein kleines Kind, da ich die Sprache hier nicht verstand und so kaum kommunizieren konnte. Ich fand mich anfangs kaum zurecht. Unglaublich schön und wohltuend und darum ebenfalls befremdlich war die Natur. Als ich nach meiner Einreise mit der Bahn nach Zürich fuhr, sah ich als Erstes den Walensee und die Berge. So etwas Schönes hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen.

Sie sind aus einem Kriegsland geflüchtet. Wie haben sie sich gefühlt, als Sie hier waren und der Krieg nur noch ein Randthema in den Medien war?

Es fühlt sich komisch an. Aber überall auf der Welt sprechen die Menschen über ihre Probleme. Mit Corona spürte man bei den Menschen hier plötzlich ähnliche Ängste wie bei uns damals. Zum Beispiel, als die Menschen die Supermärkte leer kauften. Die Menschen haben aber natürlich unterschiedliche Probleme, je nachdem, wo und wie sie leben. Das ist auch gut so. Gerade als Kriegsflüchtling will man nicht immer nur über das Schlimme sprechen, das man erlebt hat. Der Krieg war und ist immer noch ein grosser Teil meines Lebens. Ich habe lange mit ihm gelebt. Das war bei uns in Syrien ein Alltagsthema. Wir haben damals den ganzen Tag über tote Menschen und über das Überleben gesprochen.

Seit Dezember 2017 wohnen Sie in der Asylunterkunft Lanzrain in Oberengstringen. Wie ist es für Sie, hier zu leben?

Die Schwierigkeit in solchen Unterkünften ist, dass man keine Privatsphäre hat. Einen Ort wo man Ruhe hat, lernen und seine eigene Fluchtgeschichte verarbeiten kann. Ich glaube, ein Ort wie dieser erzeugt Druck bei den Bewohnern. Die Integration in der Gemeinde ist zudem schwierig.

Was macht die Integration schwierig?

Wir leben mitten im Dorf, sind aber von der Gesellschaft abgeschottet. Wir sind kein richtiger Teil des Dorfes, auch wenn wir das gerne sein wollen. Wie können wir es erreichen, ein Teil der Gesellschaft hier zu sein, wenn wir so abgespalten von ihr leben? Kontakte zu knüpfen ist hier ausserdem schwieriger als in der Stadt Zürich, wo ich ja auch arbeite. Mein Status als vorläufig Aufgenommener erschwert die Integration zusätzlich.

Wie hat die Bevölkerung hier im Dorf auf Sie reagiert?

Hier im Limmattal habe ich bis anhin erst mit wenigen Menschen Kontakt gehabt. Deshalb ist das schwierig zu bewerten. Ich will nicht über Menschen urteilen, die ich nicht kennengelernt habe. Es gibt sehr nette Menschen hier, jedoch hatte ich auch einige enttäuschende Erlebnisse. Ich habe erlebt, dass Menschen nicht mit mir reden wollen. Gerade auch Jüngere nicht. Ich habe zum Beispiel erlebt, wie Eltern zu den Jungen sagten, sie sollen nichts mit Flüchtlingen machen. Das war verletzend für mich, denn diese Menschen kennen mich gar nicht.

Was sind die grossen Unterschiede im Umgang der Menschen in Rojava und der Schweiz?

Ich denke, trotz oder gerade auch wegen der Lebensumstände, des Krieges und der Armut in Syrien, sind die Menschen dort weniger zurückhaltend im Umgang miteinander. Es ist dort einfacher mit Menschen in Kontakt zu kommen, ohne die Person zuvor gross kennen gelernt zu haben. Ich glaube auch, dass man in Syrien nicht ganz so schnell Vorurteile aufbaut wie hier in der Schweiz. Ich erlebe hier, dass Menschen Vorurteile gegen Flüchtlinge haben, ohne eine persönliche Begegnung mit ihnen gehabt zu haben. Es wird oft über uns Flüchtlinge, aber wenig mit uns gesprochen. Hier in der Schweiz sind die Leute aber auch zurückhaltender und haben Respekt davor, mit fremden Menschen zu sprechen.

Was ist für Sie der schönste Ort im Limmattal?

Ich gehe fast jeden Tag an der Limmat spazieren. Hier gefällt es mir sehr. Ich wandere und laufe allgemein gerne. Die Strecke zwischen Oberengstringen und Weiningen, oben am Hügel bei den Reben, ist ebenfalls wunderschön. Einen sehr besonderen Ort finde ich auch das Kloster Fahr. Der Natur wird hier in der Schweiz viel Sorge getragen.

Wollen Sie in der Schweiz bleiben?

Ja, definitiv. Ich hoffe, dass ich bald eine reguläre Aufenthaltsbewilligung bekomme und als normaler Mensch hier leben kann. Ich habe aber immer noch einen Flüchtlingsstatus. Von der Bezeichnung Flüchtling bin ich noch nicht befreit.

Was sind ihre Ziele hier in der Schweiz?

Mein Ziel ist es, mich hier zurechtzufinden. Ich will meine Ausbildung beenden, sodass ich hier ein stabiles, selbstständiges Leben führen und etwas zur Gesellschaft beitragen kann. Solange ich in einer Asylunterkunft lebe, habe ich nicht das Gefühl, hier wirklich angekommen zu sein. Auf fünf Jahre hinaus gesehen, würde ich mich auch gerne im Sozialbereich betätigen. Ich arbeite bereits freiwillig bei der «Papierlosen Zeitung» und in der Autonomen Schule Zürich mit. Ich vermittle gerne zwischen Menschen, sodass ein Austausch entsteht. Die Gesellschaft soll sich nicht noch mehr in Gruppen aufspalten. Es gibt viele schöne Begegnungen, wenn man mit verschiedenen Menschen das Gespräch sucht.
(https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/region-limmattal/dietikon-die-menschen-haben-unterschiedliche-probleme-je-nachdem-wo-sie-leben-ein-junger-mann-aus-nordsyrien-lebt-seit-2017-in-oberengstringen-ld.2144077)


+++SCHWEIZ
Kirchen und jüdische Gemeinschaft mahnen: Leid der Flüchtlinge hat sich vergrössert
Zum jährlichen Flüchtlingsschabbat/-sonntag rufen die Kirchen und die jüdische Gemeinschaft zur Solidarität mit Geflüchteten auf. Die Coronapandemie habe die Situation vieler Flüchtlinge verschlechtert.
https://www.aargauerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/fluechtlingssonntag-kirchen-und-juedische-gemeinschaft-mahnen-leid-der-fluechtlinge-hat-sich-vergroessert-ld.2152964


+++LIBYEN
Flüchtlingshölle Libyen – 10vor10
Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR in Genf meldet, dass letztes Jahr rund 82 Millionen Menschen auf der Flucht waren. In der Hoffnung, einen Weg nach Europa zu finden, stranden viele Flüchtlinge in Libyen. Wie schrecklich die Bedinungen, vor allem für Frauen dort sind, zeigt die Reportage der RTS-Korrespondentin Maurine Mercier.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/fluechtlingshoelle-libyen?urn=urn:srf:video:53ba38b4-c9f4-4dd1-aef6-0290f3c9145c


+++GASSE
bernerzeitung.ch 19.06.2021

Klagen aus der Bevölkerung: Stadt Bern räumt Bänke unter dem Baldachin weg

Passantinnen und Passanten beklagten sich bei der Stadt über «massive Störungen durch randständige Personen». Nun sind die runden Holzbänke unter dem Baldachin weg.

Sabine Gfeller

Die runden Holzbänke unter dem Baldachin am Berner Hauptbahnhof luden viele Menschen zum Verweilen ein. Dort haben sie ihr Bier oder hochprozentigen Alkohol getrunken. Immer mal wieder ist eine Person eingenickt. Und immer mal wieder erhoben Personen laut ihre Stimme, stritten sich.

Seit Ende Mai ist die Rundbank plötzlich verschwunden. Diese Zeitung hat deshalb bei der Stadt nachgefragt und von der Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie (SUE) folgende Antwort erhalten: Viele Passantinnen und Passanten beklagten sich über «massive Störungen durch randständige Personen».

Zuspitzung im Mai

Martin Albrecht, Generalsekretär der SUE, sagt: «Im Mai gab es bei der Rundbank unter dem Baldachin mehrere heftige, tumultartige Szenen.» Dabei sei die Stimmung teilweise aggressiv gewesen, und es sei auch zu Handgreiflichkeiten innerhalb der Gruppe gekommen.

Nebst vermehrten Klagen habe auch die Polizei von einer Verschlechterung der Situation unter dem Baldachin berichtet, sagt Albrecht: übermässiger Alkohol- und Drogenkonsum, teilweise aggressives Verhalten und lautes Bellen der Hunde. Zur Entspannung der Situation entschied die SUE gemeinsam mit der Kantonspolizei, der mobilen Interventionsgruppe Pinto und dem Tiefbauamt, die Rundbank temporär zu entfernen.

Die Sitzbänke unter dem Baldachin und bei der Heiliggeistkirche wurden von der Stadt vor knapp drei Jahren als Ausweichmöglichkeit aufgestellt: Damals schrumpfte der frei verfügbare Raum beim grossen Bahnhofeingang, da mit der Kaffeebar Florian eine Terrasse hinkam.

Temporäre Massnahme

Alex Haller, Leiter Familie und Quartier der städtischen Direktion für Bildung, Soziales und Sport (BSS), sagt dazu: «Der Bahnhofsplatz wird von Personen zunehmend aktiv belebt.» Dabei gebe es auch eine Szenenbildung.

Er sieht die vorübergehende Entfernung der Rundbank als richtige Lösung. «Das Ziel ist, die Szene dort aufzulösen.» Er betont aber: «Es geht nicht um eine Verdrängung von randständigen Personen.» Wichtig sei, dass die Massnahme nur temporär sei.

Anfang nächster Woche können die verschiedenen Stellen erste Rückmeldungen geben, ob sich die Situation beruhigt hat. Was laut Martin Albrecht von der SUE unbestritten sein dürfte: An die tangierte Stelle soll wieder eine Sitzgelegenheit hin. Sie solle von der Bevölkerung genutzt werden können, und dazu gehörten auch randständige Personen, betont er. Die Frage, wann die Sitzgelegenheit wieder aufgestellt werde und welche Form sie haben soll, sei allerdings noch offen.
(https://www.bernerzeitung.ch/stadt-bern-raeumt-baenke-unter-dem-baldachin-weg-542222449499)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Demo in Bern: Hausbesetzerszene demonstriert
Nach der Prozesswoche gegen Berner Hausbesetzer gingen am Samstag gegen 200 Leute für Freiräume in der Stadt auf die Strasse. Die Kundgebung war nicht bewilligt.
https://www.derbund.ch/in-bern-ist-ein-demonstrationszug-im-gang-227620540896
-> https://www.bernerzeitung.ch/ueber-150-personen-fordern-mehr-freiraeume-725527073503
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/solidaritaet-fuer-hausbesetzer-nach-effy-prozess-fordern-demonstranten-mehr-freiraum-142543359
-> https://www.nau.ch/aktivisten-demonstieren-nach-effi29-urteil-in-bern-65947791

Ticker:
-> https://twitter.com/ag_bern
-> https://twitter.com/bwg_bern
-> https://twitter.com/Megafon_RS_Bern
-> https://twitter.com/__investigate__
-> https://twitter.com/berngegenrechts
-> https://twitter.com/PoliceBern


Law and Order in St.Gallen
Die Stadtpolizei St. Gallen hat in den vergangenen Wochen und Monaten die Corona-Schutzmassnahmen wiederholt genutzt, um linke Bewegungen und Einzelpersonen zu schickanieren und kriminalisieren. Die nachfolgend geschilderten Fälle, mögen einzeln für sich betrachtet Unbedeutend erscheinen. Als ganzes und in der Summe zeigen sie jedoch ein klares Bild. Selbst die kleinste Form emanzipatorischem Denkens und Protestes soll stigmatierst und unterdrückt werden. Diese Haltung seitens Polizei und Staatsanwaltschaft hat zu mehreren Fällen von Repression und unverhältnismässiger Machtanwendung geführt. Dieser Text soll eine nicht abschliessende Auflistung der Vorfälle der letzten 18 Monate bieten und einige grundsätzliche Sachen bezüglich des persönlichen Verhaltens in Erinnerung rufen.
https://barrikade.info/article/4353


Hausbesetzer vor Gericht: «Das Urteil ist eine Ohrfeige für die Steuerzahler»
Milde Strafen für gewaltbereite Hausbesetzer – für viele Leserinnen und Leser hat das «Effy29»-Urteil mit Gerechtigkeit nicht viel zu tun.
https://www.bernerzeitung.ch/das-urteil-ist-eine-ohrfeige-fuer-die-steuerzahler-251372290598


+++REPRESSION DE
Rigaer Straße 94 – eine aufgezwungene Eskalation
Das Berliner Hausprojekt wird in der Hauptstadt zum Staatsfeind Nummer eins stilisiert. Nicht zum ersten Mal passiert dies in Zeiten des Wahlkampfes
https://www.heise.de/tp/features/Rigaer-Strasse-94-eine-aufgezwungene-Eskalation-6111575.html


+++POLICE BE
Umstrittene Verhaftungsmethode: Knie auf Hals – Strafverfahren gegen Berner Polizist eröffnet
Die Berner Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen Polizisten. Dieser wurde von Medienschaffenden beobachtet, wie er während einer Festnahme einen Mann mit dem Knie am Hals fixierte.
https://www.20min.ch/story/knie-auf-hals-strafverfahren-gegen-berner-polizist-eroeffnet-415582145269
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/191368/


+++POLIZEI DE
Polizist an fremdenfeindlichem Angriff in Freiburg beteiligt
Am vergangenen Samstag hat es einen mutmaßlich fremdenfeindlichen Angriff in Freiburg gegeben, den die Polizei erst am Freitag meldete. Pikant: Einer der Beteiligten ist Polizist.
https://www.badische-zeitung.de/polizist-an-fremdenfeindlichem-angriff-in-freiburg-beteiligt
-> Ausführlicher Bericht Autonome Antifa Freiburg: https://autonome-antifa.org/?article394


+++FRAUEN/QUEER
Frauenstreik! Wochengespräch mit Dorette Balli
50 Jahre Frauenstimm- und Wahlrecht, 40 Jahre Gleichstellung und 30 Jahre Frauenstreik. 2021 ist für die Frauen in der Schweiz ein grosses Jubiläumsjahr. So fand diesen Montag, 14. Juni, der dritte nationale Frauenstreik nach 1991 und 2019 statt. In Langenthal wurde der Streik von Dorette Balli mitorganisiert.
https://www.neo1.ch/news/news/newsansicht/datum/2021/06/19/frauenstreik-wochengespraech-mit-dorette-balli.html


+++RASSISMUS
Schwarze Adler: Wie rassistisch ist der deutsche Fußball?
“Schwarze Adler” erzählt die Geschichte schwarzer Fußballnationalspieler*innen im weißen DFB-Trikot. Die Dokumentation beschreibt den Weg, den Spieler*innen wie Steffi Jones, Gerald Asamoah oder Cacau hinter sich haben, wo und wie ihnen zugejubelt wird.
https://www.zdf.de/sport/zdf-sportreportage/fussball-dfb-nationalmannschaft-schwarze-adler-doku-100.html#xtor=CS5-4


Markus Lanz vom 17. Juni 2021:
Zu Gast: Ex-Nationalspieler Gerald Asamoah, Fußballtrainer Otto Addo, Ex-Fußballprofi Patrick Owomoyela, Fußballtrainer Ewald Lienen und Politikerin Serap Güler
https://www.zdf.de/gesellschaft/markus-lanz/markus-lanz-vom-17-juni-2021-100.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
Nach Attacke gegen Nationalrätin Sibel Arslan: Anklage gegen Basler Grossrat Eric Weber
Der rechtsextreme Polit-Querulant Eric Weber muss vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft klagt ihn an wegen Rassismus, Beschimpfung und Drohung.
https://www.blick.ch/schweiz/nach-attacke-gegen-nationalraetin-sibel-arslan-anklage-gegen-basler-grossrat-eric-weber-id16613598.html
-> https://telebasel.ch/2021/06/19/staatsanwaltschaft-klagt-weber-an
-> https://www.20min.ch/story/basler-staatsanwaltschaft-klagt-eric-weber-an-510091394701



tagesanzeiger.ch 19.06.2021

Nachwuchs für Schweizer Rechtsextreme: Wie Neonazis junge Menschen anlocken

Die Junge Tat, eine neue Gruppierung militanter Rechtsextremer, soll das Nachwuchsproblem lösen. Der Nachrichtendienst ist besorgt und warnt vor einer Zunahme der Gewalt.

Kurt Pelda

Sie lassen ihre Muskeln spielen, tragen grüne Sturmhauben und marschieren mit brennenden Fackeln durch die Dämmerung. Auf weissen T-Shirts steht vorne «Junge Tat» und auf der Rückseite «NAF», die Abkürzung der Nationalen Aktionsfront, einer Dachorganisation Deutschschweizer Neonazigruppen.

Wenn die Junge Tat, kurz JT, unterwegs ist, wird meistens gefilmt. Und daraus entstehen nachher professionelle Propagandavideos, mit denen die Gruppierung in den sozialen Medien Sympathisanten und Mitglieder anzuwerben versucht. Die JT, die auch aus der Winterthurer Eisenjugend hervorging, ist seit Ende 2020 die mit Abstand aktivste rechtsextreme Bewegung der Deutschschweiz.

Frauen in der Männerdomäne

Längst ist sie über die Region Winterthur hinausgewachsen. Sympathisanten gibt es inzwischen in mehreren Kantonen, zum Beispiel in St. Gallen und im Wallis. Anfänglich war die Gruppierung eine reine Männerveranstaltung, nun tauchen aber immer öfter Frauen auf. Auch ihre Gesichter werden auf den Propagandabildern unkenntlich gemacht.

Was sind das für Menschen, die ihr Gesicht nicht zeigen wollen? Wer versteckt sich hinter den grünen Masken mit der weissen Tyr-Rune, einem nach oben gerichteten Pfeil? Diese Zeitung hat sich während Monaten auf die Fährte der JT gemacht. Auf Medienanfragen reagiert die JT nicht. Sprechen wollten am Ende nur wenige Anhänger – und wenn, dann schwiegen sie sich über ihre eigene Rolle meist aus oder schwärzten höchstens andere an. Wir haben deshalb unzählige Hinweise ausgewertet, welche die Rechtsextremisten mit ihrer Propaganda hinterlassen haben. Neben Videos und Fotos auch Spuren wie Sticker, welche die JT und ihre Vorgängerorganisation Eisenjugend im öffentlichen Raum hinterlassen haben.

Anfang 2020 verklebte der Chef der Eisenjugend das Eingangsportal des TX-Group-Hauptgebäudes in Zürich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit antisemitischen Stickern. Darauf war neben Davidsternen auch der Name «Alldeutsche Heimatfront» zu sehen. Diese «Front» verfügte über nicht viel mehr als ein – inzwischen gelöschtes – Twitter-Konto. Sie setzte sich nach eigenen Angaben für die «Volkserhaltung» sowie den Tier- und Naturschutz ein, beliebte Themen von Neonazis also.

Mehr als ein Jahr später stösst diese Zeitung wieder auf einen grossen Kleber der Heimatfront, diesmal im Kanton St. Gallen. «Ehre deine Ahnen», heisst es darauf. Ganz in der Nähe hat die Junge Tat eine Bushaltestelle mit Klebern verunstaltet, «Tradition verteidigen» steht da. Ausserdem sind ein tanzendes Paar in Volkstracht und ein vermummter Boxkämpfer abgebildet. Ein paar Schritte weiter empört sich ein Dorfbewohner darüber, dass sein Auto mit solchen Stickern übersät wurde.

Verbindungen zu Freikirchen?

Die Spur der Kleber führt von da leicht den Hang hinauf, zum Fuss der Voralpen. Wir klingeln bei der Familie Saner (Name geändert), die ein Haus mit kleinem Garten bewohnt. Das kurze Gespräch verläuft harzig. Einer der Söhne, der im Militär eine Scharfschützenausbildung durchlaufen hat, öffnet die Haustür und sagt auf eine entsprechende Frage, dass man mit der Jungen Tat nichts zu tun habe. Später fragen wir Vater Saner, ein Mitglied der lokalen SVP, am Telefon, wie es dazu kam, dass einer seiner Söhne auf einem Foto zu sehen sei, wie er Kraftsport im Garten des Einfamilienhauses betreibe – eine grüne Sturmhaube neben sich, die wie jene der Jungen Tat aussehe. Bilder könnten alles zeigen, antwortet der Vater, es sei wahrscheinlich eine Fälschung. Überhaupt glaube er, dass die meisten Journalisten sich nicht an die Wahrheit hielten. Er hingegen sage die Wahrheit.

Diese Zeitung verfügt auch über Bildmaterial, das JT-Mitglied Remo Kuster (Name geändert), einen ehemaligen Nachbarn der Familie, beim Muskeltraining in Saners Garten zeigt – im T-Shirt der Jungen Tat und mit Sturmhaube. Vater Saner versichert am Telefon, dass man Remo sehr wohl kenne, als einen sehr angenehmen Menschen und Freund der Familie sozusagen. Von JT-Masken und -T-Shirts wisse man dagegen nichts.

Ausserdem posiert ein anderer Rechtsextremist, der ebenfalls in JT-Videos zu sehen ist, hinter dem Einfamilienhaus. Auf der Brust des 22-Jährigen prangt die Tätowierung 848, Code für «Heil dir Helvetia», eine beliebte Chiffre Schweizer Neonazis. Und oberhalb des rechten Ohrs ist das Wort «Honor» zu lesen, amerikanisch für Ehre.

Der Extremist im Garten der Saners zeigt aber nicht nur rechte Symbole. Um den Hals des muskelbepackten Mannes hängt auch eine Kette mit einem grossen Kreuz. Seine Familie gehört zu einer evangelikalen Gemeinde.

Auch in der Familie Kuster, gleich nebenan, macht der eine oder andere bei einer fundamentalistisch-christlichen Gemeinde mit. Zu ihr gehört auch Vater Saner. Er durfte sogar an einem Jahreskongress sprechen, wie einem Bulletin seiner Freikirche zu entnehmen ist.

Gemessen an seinen Videoauftritten scheint Remo Kuster mit seinem kahl rasierten Schädel zum harten Kern der Jungen Tat zu gehören. Er liebt Wanderungen und Krafttrainings draussen, «Street Work-out» genannt. Wenn er nicht gerade seine Muskeln aufpumpt oder sich mit einem der Saner-Söhne im Motorboot auf dem Zürichsee vergnügt, verdient er sein Geld als Zimmermann bei einer Baufirma im Kanton St. Gallen. Kuster war zum Beispiel einer der drei JT-Aktivisten, die Ende 2020 Zeitungen vor dem TX-Group-Hauptgebäude zerrissen und sich dabei filmen liessen. Das daraus entstandene Video wurde 42’000-mal angeklickt, ein Erfolg, an den die JT seither nie mehr anknüpfen konnte.

Weiter zum harten Kern der JT gehört ein Trio aus Siebnen im Kanton Schwyz. Die drei Freunde bewegen sich auch im Dunstkreis von Blood & Honour, einem internationalen Neonazi-Netzwerk, das in Deutschland verboten ist und in der Schweiz vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) beobachtet wird.

Der wohl jüngste in der Kerngruppe der JT ist ein 18-jähriger Bauernsohn aus dem Kanton Luzern, der sich auch schon Volksgenosse nannte und bei einer Logistikfirma arbeitet. Er wurde früher in der Schule wegen seines Aussehens gemobbt und hat nun neue Freunde bei den Rechtsextremen gefunden. Zu seinen Mentoren gehört der 20-jährige JT-Filmer und ehemalige Chef der Eisenjugend.

Zusammen mit dem «Volksgenossen» und drei weiteren Neonazis wurde der Filmer im Februar wegen antisemitischer Rassendiskriminierung und Schüren von Hass gegen dunkelhäutige Menschen zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt.

Die Frau mit den Hakenkreuzen

Wie viele Leute tatsächlich in der Jungen Tat mitmachen, ist unklar. Es handelt sich weniger um eine straffe Struktur als um ein loses Netzwerk, das junge Menschen an etablierte Neonazi-Organisationen wie die Nationale Aktionsfront, Blood & Honour oder die Hammerskins heranführen soll. Um die Kerngruppe herum gruppieren sich Sympathisanten, die nur gelegentlich im Bildmaterial der JT auftauchen – immer mit verpixeltem Gesicht oder Maske.

Rekrutiert wird aber nicht nur im virtuellen Raum, sondern auch in der realen Welt. Ein gelernter Koch, der bei der extremen Fussballhooligan-Gruppe «Zürichs kranke Horde» mitmacht, geht zum Beispiel in einem Zürcher Fitnesszentrum und in der Kampfsportszene auf die Suche nach neuen Mitgliedern und Trainern, die der JT bei der Verbesserung ihrer Boxkünste helfen könnten.

Zum erweiterten Sympathisantenkreis gehört die Deutsche Tina Küpfer (Name geändert), eine der wenigen Frauen, die sich mit der JT zeigte. Etwas untypisch für die rechtsextreme Szene, lädt sie auf Instagram auch mal ein Foto einer veganen Mahlzeit hoch. Dann verbreitet sie aber JT-Beiträge, etwa mit dem Motto «Leben ist Kampf». Oder ein Selfie, auf dem in ihren Tätowierungen zwei Hakenkreuze zu erkennen sind. Tina Küpfer lebt im Zürcher Oberland in einem Mehrfamilienhaus und arbeitet in einem Stadtzürcher Spital. Im Gym wurde sie von einem Bekannten eingeladen, an einem Wanderausflug der JT teilzunehmen. In der Gruppe kannte sie dann offenbar auch eine zweite Person. Seither ist sie aber nicht mehr im Propagandamaterial der Rechtsextremen aufgetaucht.

Hinterhalt der Antifa

Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Ausflüge der JT nicht immer nach Plan verlaufen. Mitte Mai bekamen selbst ernannte Antifaschisten Wind von einem Besuch der Rechtsextremen im Freilichtmuseum Ballenberg. Den Neonazis und ihren Begleitpersonen wurde ein Hinterhalt gelegt. Mit von der Partie waren dabei auch bekannte Antifa-Schläger aus der Nordwestschweiz. Es kam zu einem wüsten Handgemenge, und die zahlenmässig weit überlegenen Antifaschisten verletzten den ehemaligen Chef der Eisenjugend. Er brach sich einen Finger. Eine Ambulanz wurde gerufen, und die Attacke der Antifa fand in der «Weltwoche» Eingang, unter dem Titel «Blutige Schlacht am Ballenberg».

Was der Autor des Artikels, der ehemalige SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli, aber zu erwähnen unterliess, waren Fotos und Kommentare in den sozialen Medien, die zum Teil auch von Tina Küpfer weiterverbreitet wurden. Zu sehen war da zum Beispiel Zimmermann Reto Kuster, der mit ein paar Schrammen und Blutflecken «ausgezeichnet», nach geschlagener «Schlacht» stolz in die Kameralinse blickt. Die Kommentare der JT: «Kampf ist der Vater aller Dinge» oder «Wir bleiben stabil – ein Lächeln bei Kampf und Sturm». Man habe einigen der Linken mit den Fäusten wohl ordentliche Kopfschmerzen bereitet, schrieb die JT ausserdem in ihrem Kanal auf dem Messenger-Dienst Telegram.

Was die Antifa mit ihrer gewalttätigen Aktion vielleicht unterschätzt: Solche Angriffe können nicht weniger gewalttätige Gegenreaktionen provozieren, einen Kleinkrieg zwischen Links- und Rechtsextremisten. Weil die Rechten zahlenmässig unterlegen sind, könnten sie versucht sein, bei Racheaktionen Schusswaffen einzusetzen. Viele Neonazis besitzen ganz legal halbautomatische Waffen und trainieren regelmässig damit.

Dass sich die JT ausserhalb von Instagram oder Telegram mit längeren Texten äussert, kommt nur selten vor. Eine Ausnahme ist ein Artikel, der kürzlich im Kampfblatt der Nationalen Aktionsfront zu lesen war. «Unsere Schulen und Strassen sind voll von respektlosen, artfremden Zuzügern.» So beschreibt die Junge Tat die Situation der Jugendlichen in der Schweiz. Der Artikel strotzt allerdings von Deutschfehlern.

Besser als in ihren Texten ist die Junge Tat im virtuellen Raum mit Bildern, die Emotionen wecken sollen. Dort fordern die selbst ernannten Patrioten zum Beispiel «null Toleranz mit Islamisten», sie setzen sich für «eine nachhaltige Zukunft» mit Umweltschutz ein und animieren Jugendliche, Körper und Geist mit Kraft- und Ausdauertraining sowie mit Gebirgswanderungen zu stählen.

Hinter der JT stehen hartgesottene Neonazis, die schon lange zum Beispiel in der Nationalen Aktionsfront aktiv sind. Die Hintermänner der NAF, einer Neonazi-Dachorganisation, achten genau darauf, dass sie in der Öffentlichkeit nicht mit der JT in Verbindung gebracht werden. Denn diese hat sich mit ihren Beiträgen eine Coolness angeeignet, die auch für junge Leute ohne völkische Gesinnung anziehend wirken kann. Und solche Rekrutierungsmöglichkeiten möchte man sich nicht vergeben, indem man sich mit bekannten Neonazis zeigt und so junge Interessenten abschreckt.

Autos und Privaträume verwanzt

In ihrem Artikel stellt die Junge Tat die Zusammenarbeit mit den erfahreneren Neonazis so dar: «Wir sehen die Fusion der älteren Bewegung und jungen Kräften als die beste Möglichkeit, um eine stabile Grundlage für zukünftige Taten zu schaffen.» Diesen Gedanken nimmt der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) in seinem aktuellen Lagebericht auf: Der Austausch zwischen jungen, strafrechtlich bisher mehrheitlich nicht belangten Aktivisten und älteren Rechtsextremen steigere die Handlungsfähigkeit der neuen Gruppen. Die älteren Neonazis «verfügen über langjährige Erfahrung innerhalb dieser Gruppierungen, aber auch mit der Strafverfolgung und der Konfrontation mit Antifaschisten, wovon die jüngeren Aktivisten profitieren können». Insgesamt habe sich die Lage im Bereich Rechtsextremismus verschlechtert, und es sei mit einer Zunahme von Gewalttaten zu rechnen.

Dem Einfluss der erfahrenen Hintermänner verdankt es die Junge Tat, dass sie zumindest vordergründig die dröge nationalsozialistische Rhetorik der Winterthurer Eisenjugend hinter sich gelassen hat. Nun wird peinlich genau darauf geachtet, dass keine zu offensichtlichen Neonazi-Parolen oder -Symbole in der JT-Propaganda auftauchen. Der Trick ist, junge Menschen mit cool wirkenden Videos zuerst einmal für eine aktive und dynamische Gruppe zu begeistern. Die ideologische Gehirnwäsche kommt später, wenn die Kameras nicht laufen.

Die Behörden haben die Gefahr erkannt. Der NDB beobachtet die Gruppe genau. In ihrem Artikel schreibt die JT: «Ja selbst unsere Autos und Privaträume wurden verwanzt! Dies alles sind Zeichen unseres Erfolgs, daran, aufzugeben, denken wir nicht.»



Glaubenssätze der Neonazis

Was will die Junge Tat?

Es geht ihr um Gemeinschaft, Sport und weltanschauliche «Bildung». Aus diesen Elementen formiere sich dann der Wille zur Tat, schreibt die JT. Sie versteht sich als «revolutionäre Kraft», die Traditionen verteidige und sich für eine gesunde Jugend einsetze, die nicht im Konsum- und Drogenrausch versinke. Das Ganze birgt jedoch die Gefahr, dass junge Menschen wie in einer Gehirnwäsche manipuliert werden.

Wie bereitet sich die Gruppe auf Auseinandersetzungen vor?

Erzfeind der Neonazis sind die Linksextremen der Antifaschistischen Aktion, die aber viel zahlreicher sind als die Rechtsextremen. Diesen Nachteil versucht die JT auszugleichen, indem sie Kampfsport trainiert. Einige Anhänger üben ausserdem in Schiesskellern mit halbautomatischen Schusswaffen.

Was wollen die Hintermänner?

Hintermänner der JT gehören zu den Neonazi-Gruppierungen Blood & Honour, Hammerskins und Nationale Aktionsfront. Die Schweizer Neonazis haben ein ausgeprägtes Nachwuchsproblem, und mit der JT versuchen sie, zum Beispiel via soziale Medien neue Mitglieder zu rekrutieren. Ziel der NAF sind etwa der «Kampf gegen Überfremdung» und die «Rückführung aller kulturfremden Einwanderer». Das deckt sich auch mit den Zielen der JT.

Mit wem arbeitet die Junge Tat im Ausland zusammen?

Die JT hat in ihrem Propagandaauftritt viel von der Identitären Bewegung gelernt. Enge Beziehungen bestehen mit deutschen Gruppierungen, darunter Junge Revolution, Kampf der Nibelungen und Baltik Korps. (K.P.)
(https://www.tagesanzeiger.ch/wie-neonazis-junge-menschen-anlocken-637811158899)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Coronademo-Teilnehmer geht Polizisten an und wird auf Posten mitgenommen
Bei einer bewilligten Kundgebung gegen die Corona-Massnahmen wurde in St. Gallen ein Mann ausfällig. Die Polizei nahm ihn auf die Wache mit. Nun droht ihm eine Anzeige.
https://www.20min.ch/story/coronademo-teilnehmer-geht-polizisten-an-und-wird-auf-posten-mitgenommen-536636847282
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/stgaller-stadt-ticker-rund-200-coronaskeptiker-ziehen-durch-stgallen-sc-bruehl-verliert-im-cup-vadian-in-gelb-und-rot-fcsg-frauen-verstaerken-sich-drei-weieren-hecht-und-entenfloehe-sind-los-ld.1084940
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/vier-personen-an-demo-gegen-corona-massnahmen-in-st-gallen-gebusst-65950012
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/vier-personen-an-bewilligter-demo-gegen-corona-massnahmen-in-st-gallen-gebuesst-00160420/
-> https://twitter.com/daflinkpanter
-> https://twitter.com/__investigate__/
->


ABGESAGT: St.Gallen Hält Abstand
Aufgrund der mangelnden Mobilisierung der Schwurblis, am Samstag nach St. Gallen zu kommen, und der gezielten Repression der St.Galler Polizei gegen linken Protest, wird die Kundgebung diesen Samstag abgesagt
https://barrikade.info/article/4614


Angriff an Corona-Kundgebung in Luzern:  Gegen-Demonstranten haben Angst, Strafanzeige zu erstatten
An der unbewilligten Corona-Demo letzte Woche in Luzern haben Teilnehmer in der Buobenmatt auf drei Gegendemonstranten eingeschlagen. Ein Video zeigt Teile des Angriffs. zentralplus hat mit den Betroffenen darüber gesprochen, warum sie da waren – und weshalb sie die Angreifer nicht angezeigt haben.
https://www.zentralplus.ch/gegen-demonstranten-haben-angst-strafanzeige-zu-erstatten-2116619/


Arne Vogelgesang: Truthifixion | re:publica 2021
„Wahrheit“ ist ein viel verwendeter Begriff in der politischen Verständigung und Mobilisierung geworden. Sie ist Referenzpunkt von Diskussionen rund um „Fake News“, Faktenchecks oder „Alternative Wahrheiten“ einerseits, Codewort für Geltungsansprüche weltanschaulicher Meinungsmaschinerien andererseits. Dieser Vortrag überlegt anhand ausgewählter Beispiele, was Menschen nicht nur aus der „Wahrheitsbewegung“ eigentlich meinen oder tun, wenn sie das Banner der Wahrheit hissen.
https://www.youtube.com/watch?v=atthwL8-PbU


Unfruchtbarkeit, Mikrochip, Genveränderungen: Gegen diese Impf-Märchen kämpft Berset an
Die Corona-Impfung ist für viele ein heisses Eisen. Manche Unentschlossene lassen sich durch Verschwörungstheorien verunsichern. Dagegen kämpft das Bundesamt für Gesundheit an.
https://www.blick.ch/politik/unfruchtbarkeit-mikrochip-genveraenderungen-gegen-diese-impf-maerchen-kaempft-berset-an-id16612552.html


+++HISTORY
tagesanzeiger.ch 19.06.2021

Aufarbeitung statt Verklärung: Europas dunkle Seite ist nicht mehr so leicht zu verdrängen

Koloniale Gewalt wurde lange vertuscht und verleugnet, jetzt wird sie offener debattiert. Gibt es eine Aussöhnung?

Arne Perras

Im Roman «Die Satanischen Verse» lässt der Autor Salman Rushdie einen indischen Filmdirektor namens Whisky Sisodia den Satz stottern: «Das Problem mit den Eng-Engländern ist, dass ihre Gege-Geschichte in Übersee pa-passiert ist, da-daher wissen sie nicht, was sie bedeutet.» Selten wurde das British Empire mit seinen Abgründen so schonungslos blossgestellt. Und der Satz ist aktueller denn je in einer Zeit, in der das toxische Erbe des Kolonialismus neue Debatten anstösst.

Grossbritannien flüchtet sich oft in Verklärung und schwelgt noch immer in Nostalgie über sein verflossenes Reich. Aber hat sich die einstige Weltmacht jemals ernsthaft dafür interessiert, was sie in ihren Kolonien alles angerichtet hat? Man könnte es auch als partielle Amnesie beschreiben, mit der nicht nur Grossbritannien, sondern auch andere europäische Staaten lange Zeit auf ihre imperiale Geschichte blickten.

Europa. Ist das nicht die Wiege der Aufklärung und der Menschenrechte? Wer sich mit den früheren Kolonien beschäftigt, muss leider sagen: Dieses Europa hat auch seine dunkle Seite. Sie entfaltete sich dort, wo die Europäer zu Eroberern wurden, wo sie Land nahmen und andere Völker unterwarfen. Der Wille zur Herrschaft paarte sich mit einem aggressiven Rassismus und schuf so die mentalen Voraussetzungen, unter denen so viel Ausbeutung und Gewalt erst möglich wurden.

Ja, sie bauten auch schöne Eisenbahnen, und später Universitäten, wo dann jene Freiheitsgedanken wuchsen, die Europas Herrschaft ironischerweise wieder zum Einsturz brachten. Wahr ist aber auch: Wer nicht parierte im Alltag kolonialer Knechtschaft, der war schnell dem Tode geweiht. Zahllose Strafexpeditionen und Massaker, die in nahezu allen Kolonialgebieten nachweisbar sind, von Australien über Asien nach Afrika bis in die Karibik und Amerika, wurden in Europa sehr lange ausgeblendet.

Deutschland hat Namibia Wiederaufbauhilfe angeboten

Das ändert sich erst seit einigen Jahren, wenn auch zäh und nicht überall in gleichem Masse. Die düstere Geschichte zu verdrängen ist nicht mehr so leicht wie früher, zum einen, weil die Kritik an Rassismus und Diskriminierung gewachsen ist. Zum anderen, weil es den Nachfahren der Opfer kolonialer Gewalt zunehmend gelingt, sich Gehör zu verschaffen. Wie stark sich die Tendenz zur Aufarbeitung durchsetzen wird, hängt aber auch davon ab, welches politische Gewicht rechtslastige Gruppen in Zukunft erlangen werden. Denn sie wollen keine kritische Auseinandersetzung mit dem Erbe kolonialer Gewalt.

Die verspätete Beschäftigung mit den Verbrechen wirft Fragen auf. Wie geht Europa damit um? In welchen Fällen muss Wiedergutmachung gezahlt werden? Ist historisches Unrecht überhaupt mit Geld aufzuwiegen, zumal wenn jene, die man entschädigen müsste, lange tot sind? Und was sind Europas Regierungen den Nachfahren dieser Menschen schuldig?

Gerade Deutschland zieht internationale Aufmerksamkeit auf sich, weil es jüngst verkündete, dass es sich mit Namibia auf ein Versöhnungsabkommen geeinigt habe. Berlin erkennt nach mehr als hundert Jahren den Völkermord an den Herero und Nama (1904 bis 1908) an, der etwa 80’000 Menschen das Leben kostete. Und es hat Zahlungen von etwa einer Milliarde Euro als Wiederaufbauhilfe angeboten. «Das ist schon eine historische Wegmarke», sagt der Afrikawissenschaftler Jürgen Zimmerer von der Uni Hamburg. «Zum ersten Mal hat sich eine frühere europäische Kolonialmacht zu einem Verbrechen dieser Grössenordnung bekannt und ist bereit, Geld zu zahlen.»

Nachfahren der Opfer pochen auf Entschädigungen

Doch was zunächst nach dem Abschluss erfolgreicher Verhandlungen klang, ist womöglich der Beginn neuer Verwicklungen. Mehrere Gruppen der Herero und Nama beklagen nicht erst jetzt, sie seien in Gespräche nicht eingebunden gewesen. Manche empfinden die Summe, mit der über 30 Jahre lang Projekte in Namibia finanziert werden sollen, als Beleidigung; sie pochen darauf, dass Nachfahren der Opfer direkt entschädigt werden müssten. Deutschland aber hat nur mit der Regierung von Namibia verhandelt, der die Herero und Nama als Minderheiten wiederum stark misstrauen.

Eine Klage in den USA, die direkte Entschädigungen für Nachfahren des Genozids erzwingen sollte, ist vor zwei Jahren gescheitert. Es gilt die Immunität des deutschen Staates. Dennoch ist Deutschland in einer schwierigen Lage, weil sich Versöhnung nicht gegen den Willen jener Menschen erreichen lässt, die man um Verzeihung bitten will.

Wie immer der Streit ausgeht, eine Signalwirkung wird der Fall Namibia auf andere Länder vermutlich haben. Schliesslich wütete die deutsche Kolonialmacht auch auf der anderen Seite des Kontinents, im heutigen Tansania. Dort schlugen Truppen die Maji-Maji-Rebellion nieder (1905-1907). Die Afrikaner glaubten, dass sie durch Zauberwasser – Maji – geschützt seien vor tödlichen Kugeln. Aber die Magie wirkte nicht, Massaker waren die Folge. Und die Deutschen verfolgten eine Strategie der verbrannten Erde, zerstörten Felder und Dörfer. Hunger breitete sich aus, bis zu 300’000 Menschen starben. Ganze Landstriche wurden entvölkert.

«Kolonialismus ist strukturelle rassistische Gewalt», sagt der Afrikawissenschaftler Zimmerer. Beispiel Kongo: Belgiens König Leopold II, dem dieses riesige Gebiet auf der Konferenz von Berlin 1885 als Privatbesitz zugesprochen wurde, errichtete dort ein Schreckensregime, zu dessen Abgründen sich Brüssel nur zögerlich bekennt. Kautschuk-Sammlern, die ihre Quote nicht erfüllen konnten, wurden damals reihenweise Hände oder Füsse abgehackt. Ein monströses System von Zwangsarbeit zersetzte das Leben, das erst durch das Werk des amerikanischen Autors Adam Hochschild einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Man schätzt, dass bis zu zehn Millionen Menschen damals starben.

Gleichwohl glaubt einer Studie der Uni Antwerpen zufolge nahezu die Hälfte der Belgier noch immer, dass ihr Monarch den Afrikanern eher Gutes als Schlechtes brachte. Generationen von Schülern lernten, der König habe zivilisatorischen Segen verbreitet. Erst 2020 schickte König Philippe einen Brief an den kongolesischen Präsidenten, in dem er «tiefes Bedauern» über die Gräuel ausdrückte. Eine Entschuldigung formulierte er nicht.

Macron lehnt staatliche Reue ab

Exzessive Gewalt gab es bis in die Phase der Dekolonisierung hinein, wie zum Beispiel die Kriege der Franzosen in Algerien mit hunderttausenden Toten und die Niederschlagung des Mau-Mau-Aufstandes in Kenia durch die Briten zeigen. London hatte Verfehlungen in Ostafrika lange geleugnet, es wurden sogar massenhaft Akten vernichtet, offenbar mit dem Ziel, das Ausmass der Brutalität in den Internierungslagern zu vertuschen.

150’000 Menschen hatten die Briten in den Fünfzigerjahren verschleppt, um der Guerilla die Basis zu entziehen. Es kam zu Vergewaltigungen und Folter. Und erst 2012 konnte sich Grossbritannien zu Entschädigungen an mehrere tausend Opfer durchringen. London zahlte etwa 24 Millionen Euro. Spätere Forderungen wurden mit der Begründung abgeschmettert, dass die Opfer nicht mehr lebten oder nicht mehr zu finden seien.

In Frankreich ist vor allem das Erbe des Algerienkrieges (1954 bis 1962) ein sensibles Thema. Emmanuel Macron hatte noch als Wahlkämpfer 2017 den Kolonialismus als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» gegeisselt, was ihm heftige Attacken von rechts bescherte. Als Staatschef tastet er sich vorsichtiger voran. Er sagt, er wolle Frankreich mit der Vergangenheit versöhnen, er möchte mehr Aufklärung und in den Schulen mehr Unterricht zum Algerienkrieg, dessen Wunden nicht verheilt sind. Doch Anfang des Jahres machte er deutlich, dass es von ihm keine Entschuldigung oder ein Bekenntnis zur Reue geben werde.

Zu den frühen Exzessen kolonialer Gewalt ist auch der Sklavenhandel über den Atlantik zu rechnen, der Afrika das Kostbarste nahm, was der Kontinent zu bieten hatte: seine Menschen. Während Historiker noch dabei sind zu ermessen, wie weit Afrika durch den Sklavenhandel (an dem auch Afrikaner beteiligt waren) zurückgeworfen wurde, lebt in den USA eine Debatte auf, ob Nachfahren jener Verschleppten heute noch entschädigt werden könnten. Es ist vermutlich die Angst vor weitreichenden finanziellen Forderungen, die Europas Willen zur Aufarbeitung des Kolonialismus bremst. Dabei ist nicht zu erwarten, dass sich die komplizierten Fragen nach Entschädigung von selbst verflüchtigen.

Gleichzeitig könnte man sich dem Thema aber auch etwas anders nähern. Denn aus kolonialen Verfehlungen liesse sich lernen und vielleicht eine Politik entwickeln, die sich auf globale Gerechtigkeit konzentriert, vor allem beim Klimaschutz. «Was wir bräuchten, ist eineandere Ethik», sagt der Afrikawissenschaftler Zimmerer, der stark in diese Richtung forscht und denkt.

Reiche Staaten des Nordens müssten sich in Wohlstandsverzicht üben, um anderen zu ermöglichen, aus der Armut zu kommen. Teilen statt Raffen. Das wäre ein Kompass, der weit wegführt von alten kolonialen Fahrwassern, die tiefe Spuren hinterlassen haben.



US-Feiertag zum Ende der Sklaverei

Die USA haben einen neuen landesweiten Feiertag zum Ende der Sklaverei beschlossen. US-Präsident Joe Biden unterzeichnete am Donnerstag den vom Kongress verabschiedeten Gesetzentwurf. Das sei für ihn vermutlich eine der grössten Ehren als Präsident, sagte Biden. «Wir sind weit gekommen und wir haben einen weiten Weg vor uns, aber heute ist ein Tag des Feierns», sagte die US-Vizepräsidentin Kamala Harris.
Nach dem Senat hatte am Mittwoch auch das Repräsentantenhaus für ein entsprechendes Gesetzesvorhaben gestimmt. Der 19. Juni, der in den USA als «Juneteenth» bekannt ist, wird zum zwölften landesweiten Feiertag in den USA und heisst «Juneteenth National Independence Day».
Am 19. Juni wird an das Datum im Jahr 1865 erinnert, als versklavte Afroamerikaner in Galveston in Texas von ihrer Befreiung erfuhren. Der 19. Juni ist der erste neu eingeführte landesweite Feiertag in den USA seit dem Martin Luther King Jr. Day 1983. (AP)
(https://www.tagesanzeiger.ch/europas-dunkle-seite-ist-nicht-mehr-so-leicht-zu-verdraengen-529302070340)


+++GASSE 2
bzbasel.ch 19.06.2021

Ein Hilferuf aus dem Milieu: Unterwegs im «Bermuda-Dreieck» Kleinbasels

Das Quartier rund um die Webergasse und Ochsengasse ist bekannt für Drogenkonsum und lautstarke Auseinandersetzungen. Doch nun droht die Situation zu eskalieren. Wir haben mit den Anwohnenden, Sexworkerinnen und Gewerbetreibenden gesprochen.

Helena Krauser

Wenn Andrea Strähl durch die Ochsengasse geht, wird sie links und rechts gegrüsst. Hier im «Bermuda-Dreieck» des Kleinbasel kennt man sie. Vor Jahren führte sie die «Alte Schmitti» an der Unteren Rheingasse. Als sie dort mit dem Rotlichtmilieu in Kontakt kam, begann eine Abwärtsspirale, die sie 2015 dazu brachte, die Bar zu schliessen. Seitdem ist Strähl jeden Tag nach der Arbeit in den Beizen der Weber- und Ochsengasse unterwegs. «Hier ist es wie in einem kleinen Dorf, jeder kennt jeden und nichts bleibt unbeobachtet», sagt sie.

Zurzeit wird Strähl bei ihren Besuchen im Quartier für ihren Einsatz und ihren Mut gelobt. Der Grund ist eine Petition, die sie vor einer Woche lanciert hat. Sie trägt den Titel «Petition zur Wahrung der Lebensqualität im Bermuda-Dreieck». Im Begleittext beschreibt Strähl, dass sich die Seniorinnen und Senioren, die Gewerbetreibenden und deren Kundschaft im Quartier wieder sicher fühlen wollen. Dies sei nicht mehr möglich, die Drogenszene habe sich vor ein paar Monaten ausgebreitet und die Überhand gewonnen. Die Webergasse sei nun in der Hand von «Kügelidealern» und deren Kunden, schreibt Strähl. Gewalttätige Auseinandersetzungen, Überfälle, Lärmbelästigung und Verschmutzung der Strassen seien zur Normalität geworden. Anwohnende trauten sich nicht mehr aus dem Haus und trotz vieler Anrufe bei der Polizei ändere sich nichts.

Dass es im Milieu wilder zu und her geht als in anderen Ausgangsmeilen der Stadt, ist bekannt. Auch dass die Drogenszene rund um den Claraplatz seit Jahren präsent ist und es häufiger zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt, ist nichts Neues. Im Gespräch ist Andrea Strähl aber überzeugt, diesmal sei es anders. Der Hilferuf an die Behörden kommt aus dem Inneren des Milieus. Hier wolle niemand, dass mit Repressionen oder Gentrifizierung der stadtweit einzigartige Mikrokosmos plattgewalzt wird. Das Gewerbe und die Anwohnenden schätzen das lebendige Umfeld.

«An jedem Tisch sitzt eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe», sagt Strähl. Inzwischen sei es aber so weit, dass ein Wirt in seiner Bar übernachte, weil er befürchtet, sein Lokal sei sonst nicht sicher, erzählt Strähl.

Niemand will nach Mitternacht alleine auf die Strasse

Angst äussern fast alle der Gesprächspartnern und Gesprächspartnerinnen. Ausser dem Gewerbetreibenden Hayati Kiziler und Andrea Strähl will niemand mit seinem Namen oder Gesicht in der Zeitung stehen. Der Wirt stellt uns eine Sexworkerin vor, die in einer seiner Wohnungen arbeitet. Sie versteht uns, spricht aber selbst fast kein Deutsch.

So erzählt er, dass sie sich nach Mitternacht nicht mehr traue, auf der Strasse zu stehen und Angst habe vor den «Kügelidealern». Sie nickt und scheint einverstanden zu sein mit seinen Beschreibungen. Eine ihrer Kolleginnen wurde Anfang Juni am helllichten Tag in ihrem Zimmer überfallen. Ein Mann, mit dem sie aufs Zimmer ging, habe sie gewürgt, eine Stichwaffe gezückt und sie bedroht, teilte die Polizei mit. Er stahl ihr Smartphone und floh. Die Frau wurde leicht verletzt.

In der Medienmitteilung machte die Polizei dazu folgende Angaben: «Unbekannter, ca. 30-35 Jahre alt, ca. 180-185 cm gross, schwarze Hautfarbe, schlanke Statur, kurze schwarze Haare, braune Augen, dicke Lippen, Dreitagebart, Jeansjacke, Bluejeans und schwarze Baseballmütze, sprach vermutlich Deutsch.» Die Polizei formulierte, was hier im Lokal zunächst niemand wirklich auszusprechen wagt. Keiner möchte als Rassist dastehen. Keine Ressentiments sollen geschürt werden. Andrea Strähl wendet sich jedes Mal ab, wenn jemand von «den Schwarzen» spricht. Sie möchte in keinen Zusammenhang mit abfälligen Bemerkungen gebracht werden.

Es geht um Machtdemonstration

Aber es ist klar: Gemäss den Schilderungen gibt es auf der Strasse zwei Fronten. Auf der einen Seite stehen Männer und Frauen aus den Maghreb Staaten und auf der anderen Menschen aus Ungarn, Rumänien, der Schweiz und anderen europäischen Ländern. Wichtiger als ihre Herkunft scheint, was sie tun und welche Auswirkungen dies auf die Stimmung im Milieu hat.

Mit uns im Lokal sitzt ein älterer Mann. Er lebt im Wohnheim der Stiftung «Wohnen im Alter» an der Ochsengasse und erzählt von einem Vorfall: Vor ein paar Tagen, als er gerade eine Bar verlassen wollte, um nach Hause zu gehen, seien fünf Männer auf ihn zu gekommen. Sie hätten gesagt, sie wollten ihm helfen, da er augenscheinlich nicht gut zu Fuss war. Sie kamen ihm nach, da habe er gemerkt, dass sie ihm das Portemonnaie weggenommen haben. Gleich drauf habe er eine Hand auf seinem Handgelenk gespürt. «Einer von ihnen wollte mir die Uhr abnehmen», sagt er. «Da habe ich ihm auf die Hand geschlagen.» Seit dem Raub fühlt er sich unsicher, wenn er abends auf die Strasse geht.

«Aber ab neun Uhr Abends nur noch drinnen sitzen ist auch keine Option», sagt er. Zu sehr liebe er die Gesellschaft anderer Menschen, das Leben im Quartier.

Der ältere Mann zeigt uns Videos, die er von der Dachterrasse des Wohnheims aus aufgenommen hat. Darauf sind lautstarke Streits und Schlägereien zu sehen. Andrea Strähl sagt, dass es nicht erst unangenehm würde, wenn es zu einer Auseinandersetzung kommt.

«Es geht immer auch um Machtdemonstration», sagt sie. «Wenn man auf dem Trottoir an einer Gruppe vorbeigehen möchte, weichen sie sicher nicht aus. Und wenn du eine Frau bist, kommen sie näher, berühren dich und machen dumme Sprüche.»

Wenn es so weitergeht, sagt sie, rate sie, hier nachts nicht mehr entlangzugehen.

Nicht ohne Begleitung auf die Strasse – sogar der harte Kerl

Der Wirt meldet sich nochmals zu Wort. «Das ist der Grund, weshalb ich mir ein Trottinett gekauft habe», sagt er. Damit er schneller zu Hause sei. Ausserdem schaue er, dass er in Begleitung sei, wenn er gegen Mitternacht das Lokal schliesst. Es sind also nicht nur die Frauen und älteren Männer, die sagen, dass sie sich nachts nicht mehr alleine auf die Strasse trauen. Auch der harte Kerl, der sonst den Aufpasser für die Frauen im Haus spielt, erzählt, er sei lieber nicht alleine unterwegs.

Das ist jetzt bei strahlendem Sonnenschein schwer vorstellbar. Gerade läuft das EM-Spiel Finnland gegen Russland. Es liegt keine Aggressivität in der Luft. Im Gegenteil. Die Herzlichkeit, mit der sich die Menschen hier begegnen, ist fast rührend.

Die Polizei sieht keine Veränderung

Andrea Strähl richtet sich mit ihrer Petition direkt an die Regierung. «Dort sitzen die Experten. Die sollen sich überlegen, wie die Situation verbessert werden kann», sagt sie. Der Polizei möchte niemand einen grossen Vorwurf machen. Auch wenn es hin und wieder heisst, die Streifenfahrzeuge würden einfach vorbeifahren und die Polizisten nicht intervenieren, wenn es laut ist oder jemand handgreiflich wird.

«Klar steigen die nicht aus. Das wäre viel zu gefährlich», sagen sie. Auch würden sie nicht erwarten, dass die Polizei ständig Personenkontrollen macht, schliesslich sei sonst der Vorwurf, Racial Profiling zu betreiben, gerechtfertigt. Was die Anwohnenden aber enttäusche, sei eine bestimmte Antwort, die sie von der Polizei bekommen, wenn sie wegen Lärm oder Verschmutzung anrufen. Es heisse dann immer

«Sie wissen ja, wo Sie wohnen, oder?», sagt ein Anwohner. «Als ob wir hier kein Recht auf Sicherheit und Nachtruhe hätten.»

Kanton bestätigt die Einschätzung nicht

Der Mediensprecher des Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) Toprak Yerguz bestätigt die Aussagen der Wirte und Anwohnenden nicht. «Wir stellen jeden Sommer dasselbe Phänomen fest: Mit wärmerem Wetter halten sich die Menschen vermehrt draussen auf. Die Folgen sind mehr Lärmklagen und mehr Auseinandersetzungen, vor allem wenn auch Alkohol oder Drogen im Spiel sind», sagt er. Die Polizei treffe jeweils auf den Sommer hin Massnahmen wie beispielsweise eine höhere Patrouillendichte.

Nach ungefähr einer Stunde gehen wir mit Andrea Strähl ins Pollo Locco am Ende der Webergasse. Das Lokal wird von Hayati Kiziler geführt. Wir sprechen auf der Terrasse mit einem Anwohner. Von hier aus geht der Blick auf das Wohnheim der Stiftung und in die Ochsengasse, wo der Mann lebt. Er macht an den Wochenenden vor dem Wohnheim sauber.

«Morgens liegen dann überall die Guinness Bierflaschen rum, die es nur da vorne im Lädeli gibt», erzählt er. Von dem kleinen Laden in der Webergasse haben uns auch andere erzählt. Zurzeit geht nur hin und wieder jemand in den offenen Hauseingang und verschwindet dort. Ob sich hier abends tatsächlich scharenweise Menschen treffen, streiten und laute Musik hören, wie erzählt wird, lässt wir an dem frühen Abend nicht feststellen.

Im Innern des Pollo Locco treffen wir Kiziler. Er hat nicht viel übrig für die kleinen Scherereien wegen «ein bisschen Abfall». «Es geht in erster Linie um Gewalt und Kriminalität, die durch die Kügelidealer ins Viertel kommt», sagt er. Es interessiere ihn nicht, ob die Dealer etwas Illegales machen oder nicht, er sei schliesslich nicht die Polizei.

«Aber ich will nicht, dass die Situation eskaliert und bald einer von uns fehlt», sagt er. Vor allem sorgt er sich, dass seine Gäste nicht mehr kommen, wenn die Stimmung noch aggressiver werde. Schon jetzt stelle er einen Rückgang fest.

Drogendealer: Kein neues Phänomen

Ähnliches erzählt Viky Eberhard von der Beratungsstelle für Frauen im Sexgewerbe «Aliena»: «Einige Frauen berichten, dass derzeit weniger Kunden in die Toleranzzone kommen». Sie sagt aber auch, die Präsenz der Drogendealer sei kein neues Phänomen. Seit Jahren würden sie die Frauen auf der Strasse belästigen und ihnen die Arbeit erschweren. Andrea Strähl erzählt, dass auch zwischen den Sexworkerinnen ein Konkurrenzkampf gäbe. «Manche von ihnen stecken sich Rasierklingen zwischen die Finger. Damit fahren sie den anderen Frauen dann übers Gesicht und verursachen schlimme Narben.» So würden die Frauen versuchen, sich gegenseitig das Geschäft zu ruinieren. Denn wer eine grosse Narbe im Gesicht hat, bekommt weniger Kunden.

Für Kiziler ist klar: Es geht darum zu zeigen, wer das Sagen hat. «Die Kügelidealer urinieren hier immer vor meinem Lokal und lassen ihren Müll rumliegen.» Vor drei Wochen, als wieder jemand an die Scheibe urinierte, eskalierte die Situation, erzählt Kilziler. Er habe gegen die Scheibe geschlagen und dem Mann gesagt, er solle gehen. Er sei gegangen, aber mit vier Kollegen zurückgekommen.

«Alle fünf traten gegen die Scheibe. Da holte ich meine Schreckschusspistole und schoss ein Mal», erzählt Kiziler. Darauf sei die Polizei angefahren. Der mutmassliche Dealer hatte sie gerufen. Kiziler wurde gemäss seiner Aussage wegen der meldepflichtigen Schreckschusspistole und rassistischen Aussagen festgenommen. Während er dies erzählt, wird er lauter und wütender. «Sie haben mich 36 Stunden behalten.» Aber auch er will der Polizei keinen Vorwurf machen. Das sagt er ausdrücklich. Aber er wolle nicht dafür büssen, wenn die Dealer ihn provozierten. Die Zustände seien demütigend, sagt Kiziler. Bevor er sein Lokal morgens öffnet, müsse er regelmässig die Terrasse mit dem Wasserschlauch vom Urin befreien und hin und wieder ein zerrissenes Hemd aus dem Blumenkästen fischen, das nach einer Schlägerei liegen geblieben sei.

Unterstützung aus dem Grossen Rat

Strähls Petition trifft offenbar auf offene Ohren. Sie hat innerhalb von fünf Tagen gut 380 Unterschriften gesammelt und erhält Unterstützung aus dem Parlament. Grossrat Johannes Sieber (GLP) hat Strähl darin bestärkt, eine Petition zu lancieren. Er betrachtet das Quartier als einen Mikrokosmos, der zur Stadt gehört und bedroht sei. «Ich finde es ist die Aufgabe der Polizei dort für die Sicherheit der Anwohnenden und Gewerbetreibenden zu sorgen und das Quartier nicht sich selbst zu überlassen.»

Sieber ist überzeugt, es sei keine einfache Aufgabe für die Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann, eine Lösung zu finden. «Es braucht Fingerspitzengefühl und Gespräche mit den Betroffenen.» Er wolle nun zunächst einmal abwarten, wie sich die Situation weiter entwickelt und wenn nötig nach der Sommerpause zu weiteren politischen Instrumenten greifen.
(https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/ochsengasse-ein-hilferuf-aus-dem-milieu-unterwegs-im-bermuda-dreieck-kleinbasels-ld.2153191)