Medienspiegel 14. Mai 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++SCHAFFHAUSEN
Schaffhauser Justiz muss Tod einer Asylbewerberin untersuchen
Die Schaffhauser Staatsanwaltschaft muss den Tod einer abgewiesenen Asylbewerberin aus der Türkei untersuchen.
https://www.nau.ch/ort/schaffhausen/schaffhauser-justiz-muss-tod-einer-asylbewerberin-untersuchen-65927083
-> Urteil Bundesgericht: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://22-03-2021-6B_1481-2020&lang=de&zoom=&type=show_document
-> https://www.watson.ch/schweiz/schaffhausen/130076799-schaffhauser-justiz-muss-tod-einer-asylbewerberin-untersuchen
-> https://www.toponline.ch/news/schaffhausen/detail/news/schaffhauser-justiz-muss-tod-einer-asylbewerberin-untersuchen-00158210/


+++SCHWEIZ
Gewalt in den Bundesasyllagern – ein Strukturelles Problem
Statement der Gruppe 3 Rosen gegen Grenzen – Zum ersten Mal gibt das Staatssekretariat für Migration (SEM) zu, dass es in den Schweizer Bundesasyllagern zu Gewaltübergriffen durch das Sicherheitspersonal kommt. Ein Jahr lang wurde das SEM nicht müde, der Öffentlichkeit zu versichern, es seien keinerlei Hinweise auf «unverhältnismässigen Zwang» bekannt. Nun wiegt die Beweislast zu schwer.
https://barrikade.info/article/4489


Menschen aus dem Tibet in Schweizer Nothilfe
Früher willkommen geheissen landet ein Drittel der Tibet- Flüchtlinge heute in Nothilfe. Ist das Abkommen mit China der Grund?
https://www.infosperber.ch/gesellschaft/migration/menschen-aus-dem-tibet-in-schweizer-nothilfe/


Themenschwerpunkt «Migration und Integration»: Teil 2 – Eritreer in der Schweiz – Schweiz Aktuell
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/schweiz-aktuell-vom-14-05-2021-1900?urn=urn:srf:video:a624ae52-cff3-4996-9296-7b08a0728605


„Borders – what’s up with that?“
Menschengemacht und die Basis für unser System. Für die einen knallharte Realität, für andere kaum wahrnehmbar: Gesellschaftliche Grenzen. In dieser Sendung reden wir mit Personen, die wissen, was es bedeutet, an Armuts- und Landesgrenzen zu stossen und ohne geregelten Aufenthaltsstatus in der Schweiz zu leben.
https://rabe.ch/2021/05/12/borders-whats-up-with-that/


+++DEUTSCHLAND
Deutsche Flüchtlingspolitik: Praktisch im Stich gelassen
Bundesinnenminister Horst Seehofer fürchtet steigende Migrationszahlen. Dabei könnte Deutschland viel mehr Menschen aufnehmen.
https://taz.de/Deutsche-Fluechtlingspolitik/!5767355/


+++BALKANROUTE
Geflüchtete in Bosnien: Am Nadelöhr der Balkanroute
In der Nähe der bosnischen Grenzstadt Velika Kladuša kampieren Hunderte Geflüchtete. Sie möchten von dort in die EU gelangen. Den meisten gelingt dies nicht. Bei den Migranten wachsen Wut und Verzweiflung, bei vielen Anwohnern auch.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/gefluechtete-in-bosnien-am-nadeloehr-der-balkanroute.1076.de.html?dram:article_id=497115


+++GRIECHENLAND
»In Europa werden sie dir helfen«
Trotz Epilepsien und Lähmungen: Die griechische Regierung bringt besonders schutzbedürftige Flüchtlinge in ein unbewohnbares Lager
Im griechischen Geflüchtetenlager Mavrovouni auf Lesbos leben über 7800 Menschen, darunter auch Personen mit psychischen Problemen oder chronischen Erkrankungen, die besonderer Hilfe bedürften. Für Geflüchtete mit Behinderung ist das Lager im Prinzip unbewohnbar.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1151998.fluechtlinge-auf-lesbos-in-europa-werden-sie-dir-helfen.html


+++MITTELMEER
Mittelmeer: Ärzte ohne Grenzen startet Einsatz zur Seenotrettung mit eigenem Schiff
Ärzte ohne Grenzen setzt den Einsatz zur Seenotrettung im Mittelmeer fort – diesmal mit einem eigenen gecharterten Schiff: der Geo Barents. Ziel des Einsatzes ist es, die Leben von Geflüchteten und Migrant*innen zu retten, die sich auf die gefährliche Überfahrt von Libyen nach Europa machen und dabei in Lebensgefahr geraten, und sie medizinisch zu versorgen.
https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/presse/mittelmeer-seenotrettung-geo-barents


Between Moving and Mourning – the struggle along the routes to Spain continues
Alarm Phone: Western Mediterranean and Atlantic Route Regional Analysis, 1 January – 31 March 2021
https://alarmphone.org/en/2021/04/30/between-moving-and-mourning-the-struggle-along-the-routes-to-spain-continues


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Fahrende haben keinen Platz
https://www.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2021-05-14


+++GASSE
Stadt Zürich plant Impfangebot für Randständige
Sans-Papiers oder Menschen, die auf der Strasse leben: Auch sie sollen die Möglichkeit haben, sich gegen Corona impfen zu lassen. Deshalb startet die Stadt Zürich in zwei Wochen mit einem niederschwelligen Angebot.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/stadt-zuerich-plant-impfangebot-fuer-randstaendige?id=11983553


+++DROGENPOLITIK
«Prävention ist gut, Legalisierung wäre besser»
Vorbeugen statt bestrafen. Der Bundesrat will seine Strategie ändern. In Zukunft soll bei Kindern und Jugendlichen vermehrt auf Gesundheitsförderung und Prävention gesetzt werden. Rahel Gall, Suchtexpertin von «Contact», ist erfreut, fordert gleichzeitig aber ein schnelleres Vorgehen.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/190237/


Altersheim in Ins testet medizinisches Cannabis in der Pflege von dementen Menschen
Cannabis ist nicht nur eine Droge, sondern kann auch als Heilmittel verwendet werden. Ein Altersheim in Ins testet in einem sechsmonatigen Projekt Cannabis-Tropfen bei drei Bewohnern, die entweder demenzkrank oder verhaltungsauffällig sind.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/altersheim-in-ins-testet-medizinisches-cannabis-in-der-pflege-von-dementen-menschen-141898191


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Schuldsprüche für Klimaaktivisten hier, Freisprüche dort
Mehrere Frauen und Männer sind am Freitag in Zürich wegen eines Protests am CS-Hauptsitz schuldig gesprochen worden. Ganz anders wurde eine ähnliche Aktion in Basel beurteilt.
https://www.republik.ch/2021/05/14/schuldsprueche-fuer-klimaaktivisten-hier-freisprueche-dort
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/klima-prozess-zuerich-aktivisten-fuer-schuldig-befunden?urn=urn:srf:video:75000543-d079-4ec6-89d7-29fd45d0337f
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/sitzblockade-vor-der-crdit-suisse-klimaaktivisten-zu-bedingten-geldstrafen-verurteilt-141911199
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/bezirksgericht-zuerich-verurteilt-klima-aktivisten-00158211/
-> https://www.watson.ch/schweiz/justiz/124734802-urteil-gegen-klimaaktivisten-nach-sitzstreik-vor-credit-suisse-in-zuerich
.-> https://www.nau.ch/news/schweiz/klima-prozess-aktivisten-fur-schuldig-befunden-65927110
-> https://www.blick.ch/schweiz/sitzblockade-vor-credit-suisse-bezirksgericht-zuerich-verurteilt-klima-aktivisten-id16523614.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/klima-aktivisten-zu-bedingten-geldstrafen-verurteilt?id=11984225
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/prozess-in-zuerich-klima-aktivisten-zu-bedingten-geldstrafen-verurteilt
-> https://www.20min.ch/video/wir-sind-nicht-die-kriminellen-in-dieser-geschichte-102456642699



tagesanzeiger.ch 14.05.2021

Urteil im Klimaprozess: Schuldspruch wegen Blockade der CS, aber viel Verständnis

Das Zürcher Bezirksgericht verurteilt neun Klimaaktivistinnen, die eine Bank am Paradeplatz blockiert haben. Es behandelt sie aber mild.

Beat Metzler

Es klang fast nach einem Lob. Ihr Anliegen sei «absolut berechtigt», sagte der Einzelrichter zu den neun jungen Beschuldigten. Er halte es für «äusserst sinnvoll», sich gegen die Erderwärmung einzusetzen, gegen die «grösste Herausforderung für die Menschheit im 21. Jahrhundert». Die sieben Frauen und zwei Männer hatten zu den Aktivistinnen gehört, die im Juli 2019 vier Eingänge der Credit Suisse am Paradeplatz gesperrt hatten. Auch dieses Ziel hiess der Einzelrichter gut. Es stehe fest, dass die Credit Suisse Investitionen ermögliche, die dem Klima schadeten, sagte er.

Trotz des Verständnisses verurteilte er die Beschuldigten. Mit ihrer Sitzblockade hätten sie ein falsches, weil illegales Mittel gewählt. «Sie hätten legal demonstrieren können, zum Beispiel auf dem Paradeplatz direkt vor der Bank», sagte der Richter. Illegale Aktionen seien nicht nötig, um Aufmerksamkeit zu erreichen. Das hätten die Klimastreiks bewiesen. Auch ein Notstand im rechtlichen Sinn liegt laut dem Richter mit der Klimakrise nicht vor. Auf einen solchen hatte sich die Verteidigung berufen, um die Aktion zu rechtfertigen: Die Erwärmung betreffe auch in der Schweiz viele Menschen ganz konkret.
Die Polizei verhaftete 64 der Aktivistinnen. Sie sassen bis zu zwei Tage in Untersuchungshaft.

Das Bezirksgericht sprach die neun Beschuldigten wegen Nötigung sowie in acht Fällen wegen Hausfriedensbruch schuldig. Sie erhielten bedingte Geldstrafen in der Höhe von 40 Tagessätzen zu 10 Franken. Das heisst: Wenn sie sich zwei Jahre lang nichts zuschulden kommen lassen, müssen sie diese Strafe nicht bezahlen. Hinzu kommen aber Gerichtsgebühren und Untersuchungskosten.

Das Gericht ist unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft geblieben. Diese forderte bedingte Geldstrafen von 90 Tagessätzen zu je 30 Franken. 2019 hatte die Polizei 64 Personen verhaftet. Neun von ihnen haben die Strafbefehle der Staatsanwaltschaft nicht akzeptiert, daher standen sie vor dem Bezirksgericht.

Das milde Strafmass begründete der Richter mit einem geringen Verschulden. Die Blockade der Eingänge habe Kundinnen und Mitarbeiter in eine unangenehme Situation gebracht, weil sie nicht in das Gebäude gekommen seien. «Aber bedrohlich war es nicht, es handelt sich um eine Nötigung von eher geringer Intensität.» Auch der Hausfriedensbruch wiege nicht schwer, da die Arkaden der Credit Suisse nicht zum Geheimbereich der Bank gehörten.

Parolen vor dem Saal

Wegen des grossen Interesses fand die Verhandlung im Volkshaus statt. Auf der anderen Strassenseite hatten sich schon vor der Urteilsverkündung am Freitagnachmittag rund 40 Unterstützerinnen der Beschuldigten versammelt. Sie skandierten «Klimaschutz ist kein Verbrechen» oder «Keine Macht den Banken und Konzernen». Die Rufe waren bis in den Saal hinein zu hören.

Sie seien enttäuscht über das Urteil, sagte eine Sprecherin der beteiligten Gruppe Collective Climate Justice. Das Hauptargument des Gerichts treffe nicht zu. «Wir demonstrieren seit über zehn Jahren, es ändert sich nichts.» Die Credit Suisse habe in Sachen fossile Investitionen auch 2020 zu den Top fünf der europäischen Banken gehört.

Credit Suisse: «Wir machen viel»

Die Credit Suisse selber möchte das Urteil nicht kommentieren. Sie wehrt sich aber gegen den Vorwurf der Aktivistinnen, dass legale Formen des Protests bei der Grossbank nichts bewirken. «Wir haben regelmässig Kontakt mit Organisationen, welche sich konstruktiv für Nachhaltigkeit einsetzen», sagte ein Sprecher. Die Credit Suisse respektiere auch das Grundrecht auf freie Meinungsäusserung. «Aber Aktionen, die unsere Kunden und Mitarbeitenden bedrohen, tolerieren wir nicht.»

Die Grossbank unternehme bereits viel in Sachen Nachhaltigkeit. Bis 2050 sollen die Geschäfte der CS kein CO2 mehr verursachen. «Allein für die nächsten zehn Jahre stellen wir 300 Milliarden Franken an nachhaltiger Finanzierung bereit», sagte der Sprecher.

Urteile zu ähnlichen Aktionen wie in Zürich fielen bereits in Lausanne, Genf oder Basel. Dabei kam es teilweise zu Freisprüchen. Über den Fall in Lausanne berät derzeit das Bundesgericht.

Die neun Aktivistinnen, die vor allem aus der Romandie stammen, prüfen, ob sie das Urteil weiterziehen sollen. Sie setzen vor allem auf das Notstandsargument. Ein zweiter Prozess, sagte eine Sprecherin, würde auch wieder die Möglichkeit bieten, in der Öffentlichkeit auf die Klimakrise aufmerksam zu machen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/schuldspruch-wegen-blockade-der-cs-aber-viel-verstaendnis-286739920666)



nzz.ch 14.05.2021

Sitzstreik vor dem Credit-Suisse-Hauptsitz: Gericht spricht Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten schuldig

Acht junge Westschweizer Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten sowie ein Zürcher wurden am Freitag zu einer Geldstrafe verurteilt und für ihre Blockade schuldig gesprochen.

Reto Flury

Das Wichtigste in Kürze
– Urteil: 8 Westschweizer Klimaaktivistinnen und -aktivisten sowie ein Zürcher Aktivist wurden wegen Nötigung und Hausfriedensbruch zu einer Geldstrafe verurteilt.
– Sie hatten sich im Juli 2019 zusammen mit Gleichgesinnten die Eingänge des Credit-Suisse-Hauptsitzes in der Zürcher Innenstadt gelegt. Die Anklage lautet auf Nötigung und – mit Ausnahme eines Falles – auf Hausfriedensbruch.
– Wegen der vielen Beteiligten fand die Hauptverhandlung im Volkshaus statt.

Urteilseröffnung

Die acht Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten aus der Westschweiz sowie ein Zürcher Aktivist wurden am Freitag für ihre Blockade vor der Credit Suisse verurteilt. Das Bezirksgericht Zürich sprach sie schuldig. Die Westschweizer Aktivistinnen und Aktivisten wurden wegen Nötigung und Hausfriedensbruch verurteilt und müssen eine bedingte Geldstrafe von 40 Tagessätzen à 10 Franken bezahlen. Die Probezeit wurde auf zwei Jahre festgesetzt.

Der Zürcher Aktivist wurde der Nötigung schuldig gesprochen und muss eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 10 Franken bezahlen. Der Vollzug wurde aufgeschoben mit einer Probezeit von 2 Jahren. Die Kosten des gerichtlichen Verfahren wurde zu je einem Neuntel den Beschuldigten auferlegt.

Hauptverhandlung

«Die Banken haben Kohle – wir haben recht»: Ein paar Mitglieder der Gruppe Collective Climate Justice halten am Mittwochmorgen vor dem Bezirksgebäude ein Transparent mit einer kämpferischen Parole hoch. Auf der anderen Seite der Badenerstrasse, im Theatersaal des Volkshauses, ist derweil alles bereit für die Hauptverhandlung. Das Gericht hat auf dem Podium Platz genommen. Die Beschuldigten sitzen mit ihren Verteidigern an Zweiertischen, die in gebührenden Corona-Abständen über die Breite des Saals verteilt sind.

Viel haben die Klimaaktivisten vor Gericht nicht zu sagen. «Je n’ai rien à déclarer» – so oder ähnlich lauten ihre Antworten auf die Fragen des Einzelrichters zumeist. Nur vereinzelt äussern sie sich. Eine junge Frau sagt etwa, sie habe an einer symbolischen Aktion teilnehmen wollen, die nicht gegen Gesetze verstosse. Doch als der Richter fragt, ob die Angaben der Stadtpolizei stimmten, wonach der Protest von Greenpeace organisiert worden sei, schweigt sie wieder. Und schon gar nicht will sie auf Fragen des Staatsanwalts eingehen, als der nachhakt.

Diese Wortkargheit macht der Staatsanwalt den Aktivisten in seinem Plädoyer zum Vorwurf. Sie machten einen rechtfertigenden Notstand geltend, sagt er. In diesem Fall wäre es relevant gewesen, zu erfahren, warum sie eine solche Situation angenommen hätten. «Aber von ihnen kam nichts, was eine Überprüfung ermöglicht hätte, ihr Beitrag beschränkte sich auf Aussageverweigerung.»

«Billige Effekthascherei»

Nach Meinung des Staatsanwalts darf der Notstands-Artikel nicht auf den Klimawandel angewendet werden. Eine «unmittelbare Gefahr», wie das Strafgesetzbuch sie voraussetzt, sieht er nicht. Es werde nur prognostiziert, dass die Temperatur in einigen Jahren ansteige, und die Wissenschaft sei sich nicht zu hundert Prozent einig. Auch sei die Aktion nicht verhältnismässig gewesen, um die globalen Treibhausgasemissionen zu reduzieren. Es sei vielmehr um «billige Effekthascherei» gegangen.

Persönlich habe er ein gewisses Verständnis für die «jugendliche Empörung», sagt der Ankläger. Es höre aber auf, wo bewusst Gesetzesverstösse begangen würden. Politische Entscheidungen würden im Schweizer System nicht von einem Mob herbeigeführt, der mit falscher Betroffenheit Laientheater spiele. Die Aktion rieche stark nach «Selbstjustiz», und wenn sie mit einem Notstand entschuldigt werde, «sind wir auf der Autobahn zur Hölle».

Mildere Töne schlug der Vertreter der Credit Suisse an. Die Bank anerkenne ihre Mitverantwortung bei der Bekämpfung des Klimawandels, sagt er und zählte einige Massnahmen auf, die sie seit 2013 getroffen hatte. Die Aktivisten hätten das duldbare Mass an Protest deutlich überschritten. Darum beharrt er auf einer Verurteilung wegen Hausfriedensbruchs. In Hinblick auf die finanzielle Situation der jungen Klimaschützer verzichte er aber darauf, weitere Schäden geltend zu machen und die Anwaltskosten zurückzufordern, ergänzt er.

Verteidiger spricht von Irrtum

Das Team der Verteidiger setzt auf mehreren Ebenen zum Konter an. So bestreiten die Anwälte, dass es einen Hausfriedensbruch gab. Der Arkadengang sei öffentlich zugänglich und sei an diesem Vormittag nicht abgeschlossen gewesen, sagt ein Anwalt. Die Klienten stammten fast alle aus Genf und hätten nicht gewusst, dass der Bereich abschliessbar sei. Es liege ein klassischer Sachverhaltsirrtum vor.

Ein Kollege von ihm stellt in Abrede, dass die Klimaaktivisten Bankmitarbeiter und Kunden am Zutritt gehindert und sich der Nötigung strafbar gemacht hätten. Mehrere Eingänge seien noch frei gewesen, und niemand sei am Vorbeigehen gehindert worden. Bei Bedarf hätten sie sich zur Seite bewegt.

Zur Sprache kam aber auch das Argument des rechtfertigenden Notstands. Es bestehe zweifellos die Gefahr, dass durch den Klimawandel Rechtsgüter wie das Leben oder die Gesundheit verletzt würden, sagte ein Anwalt. Ob die Bedrohung unmittelbar sei, bemesse sich nicht in Minuten oder Stunden. Es gehe vielmehr um die Möglichkeit, später noch Massnahmen zur Abwehr zu treffen. «Experten gehen davon aus, dass jetzt der letzte Zeitpunkt sei.»

Weiter versuchten die Rechtsanwälte mit Verweis auf Studien und Rankings – unter anderem von Umweltorganisationen – zu unterstreichen, dass die Credit Suisse stark in die Finanzierung von Unternehmen mit fossilen Energien engagiert sei. Die Botschaft: Die Grossbank sei das richtige Ziel des Protests gewesen. Die Aktion sei in verschiedener Hinsicht geeignet und zielführend gewesen, führt ein Verteidiger aus. Sie habe grosse mediale Aufmerksamkeit erzeugt und so – im Sinne eines Zwischenziels – zu einer Sensibilisierung in der Bevölkerung und bei politischen Akteuren geführt.

Die Ausgangslage

Über 60 Klimaaktivistinnen und -aktivisten legten sich an einem frühen Julimorgen 2019 vor die Zugänge zum Hauptgebäude der Credit Suisse am Paradeplatz. Wie ihre Gesinnungsgenossen, die zeitgleich in Basel den Sitz der UBS versperrten, wollten sie öffentlichkeitswirksam gegen die Grossbanken protestieren, die sie wegen Finanzierungsgeschäften im Öl- und Gassektor mitverantwortlich für die «Klimakatastrophe» machten.

Als sie der Aufforderung nach einer Räumung nicht nachkamen, schritt die Stadtpolizei Zürich ein. Sie löste die Barrikaden an den Eingängen bis etwa um 13 Uhr auf. Der Einsatz entpuppte sich als nicht einfach, hatten sich die Protestierenden doch untereinander verhakt und mit den mitgebrachten Gegenständen verkettet. Die Polizisten trennten die Ketten mit schwerem Werkzeug, bevor sie die Klimaaktivisten zu den wartenden Bussen tragen konnten.

Die Stadtpolizei nahm bei der Aktion insgesamt 61 Frauen und Männer fest, die erst nach zwei Nächten in Haft wieder auf freien Fuss kamen (drei Jugendliche wurden der Jugendanwaltschaft zugeführt). Etliche von ihnen erhielten nach einigen Wochen einen Strafbefehl wegen Nötigung, manche auch wegen Hausfriedensbruchs. Eine Mehrheit der Aktivistinnen und Aktivisten akzeptierte das Verdikt, laut Oberstaatsanwaltschaft wurden 42 Strafbefehle rechtskräftig.

Eine Handvoll Klimaschützer legte jedoch Einspruch ein. Es handelt sich dabei um acht junge Personen aus der Romandie und eine aus Zürich. Die Staatsanwaltschaft erhob daraufhin Anklage beim hiesigen Bezirksgericht. Die Hauptverhandlung ist auf Mittwoch, den 12., sowie Freitag, den 14. Mai, angesetzt und findet unter speziellen Vorkehrungen statt. Denn erstens darf jeder Beschuldigte mit einem eigenen Verteidiger und Begleitpersonen erscheinen, zweitens ist das Medieninteresse gross und drittens gelten immer noch die Corona-Massnahmen.

Der Prozess wurde daher ins Volkshaus verlegt und findet dort im grossen Theatersaal statt. In den Augen der Beschuldigten ist es durchaus auch eine Fortsetzung der damaligen Sommeraktion. Der Prozess gebe ihm und seinen Mitstreitern erneut die Gelegenheit, ihre Anliegen auf eine andere Ebene zu bringen, sagte einer von ihnen im Vorfeld gegenüber der Onlineplattform «Watson».

Die Verfahren reihen sich damit in eine Serie von gerichtlichen Überprüfungen ein, die von Klimaschützern nach Bussen oder Strafbefehlen angestrengt worden sind. Aufsehen erregte vor allem das Urteil eines Waadtländer Bezirksgerichts in Renens und über die Landesgrenzen hinaus. Ein Einzelrichter sprach damals zwölf Klimaaktivisten frei, die in einer Credit-Suisse-Filiale Tennis gespielt hatten. Der Hausfriedensbruch wurde in seinen Augen durch einen «rechtfertigenden Notstand» aufgewogen.

Das Urteil wurde rund ein halbes Jahr später vom Kantonsgericht korrigiert, die Aktivisten wurden verurteilt. Das Verfahren ist derzeit vor Bundesgericht pendent. Eine Person, die am Tennisspiel in der Bankfiliale beteiligt war, nahm später auch an der Aktion in Zürich teil und steht nun hier ebenfalls vor Gericht.

Die Anklageschrift

Die acht jungen Aktivistinnen und Aktivisten aus der Westschweiz legten sich vor die Zugänge zum Credit-Suisse-Hauptquartier zur Bärengasse hin. Die Bankangestellten hätten darum auf einen Nebentrakt und eine Passerelle ausweichen müssen, um in ihre Büros zu gelangen. Kunden seien in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt gewesen und hätten eine andere Bankfiliale und andere Geschäfte aufsuchen müssen, schreibt der Staatsanwalt im Strafbefehl und sieht dadurch den Tatbestand der Nötigung erfüllt. Dessen macht sich schuldig, wer jemanden durch Gewalt oder durch eine andere Beschränkung seiner Handlungsfreiheit zwingt, etwas zu tun oder zu unterlassen.

Da sich die Aktivisten bei der Sitzblockade unter den Arkaden und somit innerhalb des vom Hausrecht geschützten Gebäudebereichs befanden, begingen sie laut Staatsanwaltschaft auch Hausfriedensbruch. Dies gilt allerdings nicht für den jungen beschuldigten Zürcher, der auf der Seite des Paradeplatzes an der Aktion beteiligt war. Er muss sich daher nur wegen Nötigung verantworten.

Das Strafmass ist für sämtliche Beschuldigten – auch für den Mann aus Zürich – das gleiche. Die Anklage fordert je eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen à 30 Franken (insgesamt 2700 Franken) sowie eine Busse von 1000 Franken.
(https://www.nzz.ch/zuerich/sitzblockade-in-zuerich-klimaaktivisten-muessen-vor-gericht-ld.1624023)



400 Menschen demonstrieren in Biel BE zugunsten der Palästinenser
In Biel BE haben am Freitag 400 Personen wegen des Nahost-Konfliktes zugunsten der Palästinenser demonstriert. Die Organisatoren erwarteten weniger Personen.
https://www.nau.ch/news/schweiz/400-menschen-demonstrieren-in-biel-be-zugunsten-der-palastinenser-65927249



Rund 200 Demonstrierende an Palästina-Demo: Situation ist friedlich
Aus Angst vor antisemitischen Angriffen und Parolen äussern sich auch Basler und Baselbieter Politiker auf Twitter gegen die angekündigten Palästina-Demonstrationen.
https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/palaestina-demonstrationen-israelitische-gemeinde-warnt-mitglieder-sollen-innenstadt-meiden-ld.2136963



Basler Zeitung 14.05.2021

Palästina-Proteste in BaselDemonstranten ziehen durch die Stadt – Israelitische Gemeinde alarmiert

Am Freitag hat die erste von zwei unbewilligten Kundgebungen stattgefunden. Junge Demonstranten und ein Israel-Sympathisant gerieten aneinander.

Robin Rickenbacher, Simon Bordier

Der schwelende Konflikt zwischen Israel und Palästina, der seit mehreren Tagen im Gange ist, hat nun auch Basel erreicht. Am Freitag machten gleich zwei Aufrufe zu Demonstrationen für die Freiheit von Palästina in den sozialen Medien die Runde. Das antifaschistische Bündnis «Basel Nazifrei» warb für eine Spontandemo am Freitagabend auf dem Barfüsserplatz.

Gegen 19 Uhr haben sich rund 200 Palästina-Sympathisanten auf dem Platz eingefunden. Es wurden Fahnen unterschiedlichster Couleur geschwenkt: rote Flaggen mit Hammer und Sichel, Palästina-Fahnen, blaue Flaggen von Kurden-Sympathisanten sowie weisse Transparente, auf denen ein freies Palästina gefordert wurde.

Die mehrheitlich jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer trugen teils Kopftücher, andere hatten ein Arafat-Tuch um den Hals gewickelt. Die Ansammlung vereinte offenbar Menschen mit Migrationshintergrund, Linksaktivisten sowie einfache Menschen und Schaulustige. Die Polizei stand mit einem grösseren Aufgebot bereit, hielt sich aber diskret im Hintergrund.

Kurz vor 20 Uhr zogen die Demonstranten vom Barfi Richtung Kleinbasel los. Sie skandierten dabei Parolen wie «Free, free Palestine!». Der Verkehr stand zwischenzeitlich still. Vereinzelt wurden Böller gezündet. Es knallte.

Zu einer kleineren Auseinandersetzung kam es zu Beginn, als ein älterer Herr vor der Barfüsserkirche eine Israel-Fahne schwenkte. Zwei BaZ-Mitarbeiter haben die Szene nur von Weitem mitbekommen: Demnach ist der Israel-Sympathisant von mehreren jungen Leuten angegangen worden, es gab eine lebhafte Diskussion. Wenig später ist der ältere Herr mit gesenkter Fahne von dannen gezogen.

Die Versammlung blieb ansonsten mehrheitlich friedlich. Eine Rednerin stellte klar, dass man die Kritik am «Apartheid-Staat Israel» nicht mit Antisemitismus verwechseln dürfe; man distanziere sich von antijüdischen Aktionen in aller Form. Es wurden kurze Ansprachen gehalten, zwischendurch wurde ausgelassen getanzt.

Eine weitere Palästina-Demo ist für Samstagnachmittag an selber Stelle angekündigt. Den Flyer der Kundgebung ziert eine Palästina-Flagge, davor ist eine erhobene Faust zu sehen. Auf Anfrage bestätigt das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement, dass es Kenntnis von diesen Aufrufen hat. «Gesuche zu den Demonstrationen sind nicht eingegangen», schreibt Mediensprecher Martin Schütz. Kurzum: Die Demos wurden nicht bewilligt. Fragen zu Sicherheitsvorkehrungen oder potenzieller Gefahr lässt Schütz unbeantwortet.

Bei der Israelitischen Gemeinde Basel (IGB) möchte man sich zu den Demonstrationen öffentlich nicht äussern. «Wir befinden uns in regelmässigem Austausch mit dem Justiz- und Sicherheitsdepartement, mit dem wir eine gute Zusammenarbeit haben», sagt Präsident Emmanuel Ullmann. Dieser Austausch finde dabei immer statt und sei nicht auf die aktuelle Lage zurückzuführen. Demonstrationen gebe es immer wieder und jeder dürfe dafür demonstrieren, was ihm wichtig sei.

Sicherheitshinweis verschickt

Eine Nachricht, welche die Israelitische Gemeinde Basel am Freitag ihren Mitgliedern zukommen liess, klingt allerdings besorgter. Die Nachricht liegt dieser Zeitung vor. Darin wird auf die Demos rund um den Barfüsserplatz hingewiesen. «Aus Sicherheitsgründen möchten wir Sie bitten, die Orte zu den genannten Zeitpunkten grossräumig zu meiden», heisst es in der als Sicherheitshinweis deklarierten Nachricht. Erneut wird auf den ständigen Kontakt mit der Kantonspolizei hingewiesen. Die IGB werde «gegebenenfalls nötige Massnahmen einleiten», so die Mitteilung.

Beim Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund empfindet man derweil keine erhöhte Gefahr für die jüdische Gemeinschaft. «Stand jetzt haben wir keine Hinweise auf irgendwelche Vorfälle in der Schweiz. Wir hoffen natürlich, dass die Lage weiterhin friedlich bleibt», schreibt Generalsekretär Jonathan Kreutner auf Anfrage. In der Schweiz sei derzeit keine erhöhte Gefährdungslage erkennbar. Die Sicherheitsmassnahmen seien bereits seit längerem auf einem erhöhten Niveau. Kreutner sagt aber: «Es ist sicher so, dass in Krisenzeiten wie aktuell alle Beteiligten nochmals etwas aufmerksamer sind.»

Kein Platz für Antisemitismus

In der Basler Politik führen diese Aufrufe zu Sorgen um die lokale jüdische Gemeinschaft. Insbesondere nach den jüngsten Vorfällen in Deutschland. In Gelsenkirchen hatten etliche Menschen mit palästinensischen Flaggen vor einer Synagoge antisemitische Parolen skandiert. «Wir wollen in Basel kein zweites Gelsenkirchen, Nulltoleranz gegenüber Judenfeindlichkeit», schreibt SVP-Grossrat Pascal Messerli auf Twitter. Und sagt auf Anfrage, dass er mit einem jüdischen Bekannten in Kontakt sei, der sich in Anbetracht der Demos in Basel sehr besorgt zeige.

Messerli sagt, man merke, dass sich die Lage in Basel stets verschärfe, wenn es einen Konflikt zwischen Israel und Palästina gebe. Viele würden die Kritik an Israel auf alle Juden ummünzen, auch diejenigen, die unpolitisch seien und einfach in Frieden leben wollten. «Die Synagoge in Basel wird immer wieder durch Schmierereien verunstaltet. Ich bin schon besorgt, dass im Zuge dieser Demos noch etwas Schlimmeres passieren könnte», so Messerli. Insbesondere weil Basel in der jüdischen Geschichte einen wichtige Platz einnimmt. Ein Angriff hätte damit auch einen symbolischen Charakter.

Für Messerli ist klar, dass es für Antisemitismus keinen Platz geben darf. So fordert er auf Twitter auch ein sofortiges Einschreiten der Polizei, «wenn auch nur eine antisemitische Parole herumgepöbelt wird».

Ähnlich sieht es Parteikollege Joël Thüring. «Die Bedrohungslage ist für Juden in der Schweiz generell hoch», sagt der Grossrat. Und verweist darauf, dass bereits in der Vergangenheit entsprechende Massnahmen ergriffen wurden, um die jüdische Gemeinschaft in Basel zu schützen. So etwa bessere Sicherheitsmassnahmen beim jüdischen Museum oder der Synagoge.

Auch Politiker anderer Parteien meldeten sich auf Twitter besorgt im Hinblick auf die Demonstrationen. Benjamin von Falkenstein (LDP) positioniert sich klar: «Gegen Antisemitismus müssen wir uns geschlossen wehren!»

Ähnlich äussert sich FDP-Landrat Marc Schinzel. Die Demos müssten von der Basler Polizei verhindert werden, schreibt er auf Twitter. «Es ist ein absolutes No-Go, dass sich Juden in Basel nicht sicher fühlen und sich nicht mehr in die Innenstadt getrauen», so Schinzel.
(https://www.bazonline.ch/israelitische-gemeinde-basel-ruft-mitglieder-auf-innenstadt-zu-meiden-351853935807)


+++ANTITERRORSTAAT
«Terrorismus ist zum Kampfbegriff geworden, um den politischen Gegner zu dämonisieren»
Als Delegierter für das Internationale Rote Kreuz war Patrick Walder einer der Ersten, der in Kabul die CIA-Geheimgefängnisse entdeckte – während zur gleichen Zeit die Taliban einen seiner Kollegen ermordeten. Heute kämpft er an vorderster Front gegen das neue Schweizer Anti-Terror-Gesetz. Ein Gespräch darüber, warum zwanzig Jahre «Krieg gegen Terror» die Welt nicht sicherer gemacht haben.
https://www.republik.ch/2021/05/14/terrorismus-ist-zum-kampfbegriff-geworden-um-den-politischen-gegner-zu-daemonisieren


Kritik am Terrorismusgesetz: «Das Gesetz geht zu weit» – Echo der Zeit
Mitte Juni stimmt die Schweiz über das Terrorismusgesetz ab. Die Behörden sollen, mit einer Kaskade von Massnahmen, eingreifen können, bevor es zu einem Terroranschlag kommt. Juristinnen und Juristen melden Bedenken an. Das Gesetz sei völkerrechtswidrig. Der Bund wehrt die Kritik ab.
https://www.srf.ch/play/radio/echo-der-zeit/audio/kritik-am-terrorismusgesetz-das-gesetz-geht-zu-weit?id=b9f59232-5c38-4836-a2e5-de8857ecba7d


Anti-Terror-Gesetz unter Kritik«Bin ich ein gefährlicher Mann?»
Das Anti-Terror-Gesetz soll die Gesellschaft besser vor Anschlägen schützen. Doch Rechtsexpertinnen und -experten laufen gegen die Vorlage Sturm.
https://www.beobachter.ch/politik/anti-terror-gesetz-unter-kritik-bin-ich-ein-gefahrlicher-mann


+++BIG BROTHER
Bundesgericht befasst sich mit der Berner «Datenkrake»
Nicht nur aus der Gastronomie und der Politik wird die Sammelverordnung von Berner Restaurant-Gästen bekämpft. Ein Anwalt hat das Bundesgericht auf den Fall angesetzt – nun muss sich auch der Bund erklären.
https://www.20min.ch/story/berner-beizen-rufen-zum-datenstreik-gegen-den-kanton-auf-113781310888
-> https://www.bernerzeitung.ch/bundesgericht-untersucht-zentrale-datenbank-fuer-beizenbesuche-235487078942


Plattform «meineimpfungen.ch» wird eingestellt – Echo der Zeit
Es sollte ein wichtiger Schritt ins digitale Zeitalter sein: die Plattform «meineimpfungen.ch», auf der man seine Impfungen elektronisch erfassen konnte. Doch nun ist das Projekt krachend gescheitert – an Lücken beim Datenschutz.
https://www.srf.ch/play/radio/echo-der-zeit/audio/plattform-meineimpfungen-ch-wird-eingestellt?id=0484c490-73e0-4526-a5ef-17b9fc6724db


+++RECHTSEXTREMISMUS
tagblatt.ch 14.05.2021

Nazi-Vorwurf: Erwin Kessler und sein «Verein gegen Tierfabriken» durften «antisemitisch» genannt werden

Erneute Niederlagen für den Tierschützer Erwin Kessler und seinen Tierschutzverein. Zwei neue Urteile halten fest, dass nicht nur er, sondern auch sein «Verein gegen Tierfabriken» (VgT) straflos in die Nähe des Nationalsozialismus gerückt werden durften. Für diese Qualifizierung sei der Wahrheitsbeweis erbracht, so das Zürcher Obergericht.

Pascal Hollenstein

Der streitbare Thurgauer Tierschützer Erwin Kessler und sein «Verein gegen Tierfabriken» (VgT) kassieren vor den Gerichten derzeit Niederlagen in Serie. Vor einem halben Jahr hatte das Bundesgericht festgehalten, VgT-Gründer und Präsident Kessler habe in den sozialen Medien straflos als «Antisemit» bezeichnet werden dürfen, da diese Bezeichnung der Wahrheit entspreche. Jetzt legt das Zürcher Obergericht in zwei Fällen nach: Nicht nur Kessler als Person habe man straflos «Nazi», «Antisemit» und «Mensch mit einer klar antisemitischen und ausländerfeindlichen Haltung» nennen dürfen. Auch der VgT selber habe die Bezeichnungen «Antisemitische Organisation», «neonazistischer Tierschutzverein» und «hass-propagierende Organisation» zu ertragen.

Nur wenige wehrten sich gegen Kesslers Klagen und Anzeigen

Derartige Bezeichnungen seien generell zwar persönlichkeitsverletzend, so die obersten Zürcher Richter. Im konkreten Fall sei dafür aber der Beweis erbracht worden, dass sie der Wahrheit entsprächen. Das Zürcher Obergericht setzt damit ein Ausrufezeichen in einer Frage, die Gerichte und Staatsanwaltschaften seit Jahren beschäftigt. Kessler hatte in Dutzenden Fällen Medienschaffende und User von sozialen Medien wegen derartigen Formulierungen angezeigt. Oft hatte er recht erhalten und die Personen wurden per Strafbefehl oder von Strafgerichten verurteilt. Nur wenige wehrten sich dagegen und gingen den mühsamen und teuren Weg durch die Gerichte. Sie haben nun recht erhalten.

Ein wegweisendes Urteil hatte der schweizweit bekannte Freidenker und Aktivist Valentin Abgottspon vor rund einem halben Jahr erreicht. Kessler und der VgT hatten ihn angezeigt, weil er 2015 auf Facebook auf einen Post verlinkt hatte, in dem Kessler als «Antisemit» und der VgT als «antisemitische Organisation» bezeichnet wurde. Nach Verurteilungen in den unteren Instanzen hatte Abgottspon das Urteil in Lausanne angefochten.

Die obersten Richter kamen dabei zum Schluss, dass der Antisemitismus-Vorwurf gegen den VgT-Präsidenten wahr gewesen sei, zumal Kessler vom Bundesgericht im Jahr 2000 wegen mehrfacher Rassendiskriminierung verurteilt worden sei, sich seither von seinen damaligen Taten nicht distanziert und in seinen Äusserungen eine gewisse Kontinuität an den Tag gelegt habe. Unterdessen haben sowohl Kessler als auch sein Verein die Strafanträge gegen Abgottspon zurückgezogen, so dass er vollumfänglich straflos bleiben wird.

Vom Bundesgericht ebenfalls beurteilt worden waren die Anklagen gegen die Aktivistin Regula Sterchi und gegen Benjamin Frei, Vizepräsident des Tierrechtsvereins LSCV. Wegen Verfahrensfehlern wiesen die obersten Richter die Fälle an das Zürcher Obergericht zur Neubeurteilung zurück. Die Zürcher Richter kommen nun zum Schluss, dass auch der VgT sich in die Nähe nationalsozialistischen Gedankengutes rücken lassen habe müssen. Dies deshalb, weil der Verein in seinen Publikationen die Argumentation Kesslers vollständig übernehme. Die Verteidiger der beiden Beschuldigten, Amr Abelaziz und Christian von Wartburg sind froh, dass es nun zu klaren Freisprüchen der beiden Beschuldigten gekommen ist. Sie hätten allerdings nie erwartet, dass es so lange dauern und so aufwendig werden würde, diese Urteile zu erstreiten.

Erbitterter Kampf gegen «Schächt-Juden»

Kessler und sein VgT führen seit Jahren insbesondere einen erbitterten Kampf gegen das jüdische Schächten, das sie wiederholt mit dem Holocaust, also der Massenvernichtung der europäischen Juden im Dritten Reich, gleichgesetzt und mit antijüdischen Stereotypen aufgeladen haben. Kessler selber sagte in einem Interview mit der zu CH Media gehörigen «Thurgauer Zeitung», er sei kein Antisemit, aber er hasse die «Schächt-Juden». Sowohl das Bundesgericht wie auch nun das Zürcher Obergericht befanden, Kessler habe damit «seine feindselige Abneigung mit einer abschätzigen Bemerkung unmissverständlich zum Ausdruck» gebracht.

Die jüngsten Urteile des Zürcher Obergerichts sind noch nicht rechtskräftig. Indes zeigen sie, zusammen mit dem Bundesgerichtsurteil, eine klare richterliche Linie zuungunsten Kesslers. Seine massenhaften Anzeigen von Privatpersonen und Medienschaffenden werden damit für ihn zumindest in jenen Fällen, die vor höheren Instanzen beurteilt worden sind, zum Bumerang.

Regula Sterchi und Benjamin Frei zeigen sich gegenüber CH Media sehr erleichtert über den Verfahrensausgang. Obwohl die jahrelange Prozessiererei sehr belastend und teuer gewesen sei, sei es wichtig gewesen, die Angelegenheit richterlich beurteilen zu lassen. «Wir hoffen, dass es Kessler in Zukunft nicht mehr gelingt, berechtigte Kritik an ihm oder seinem Verein mit Gerichtsverfahren zu unterdrücken.»

Der Autor dieses Artikels ist, wie andere Journalisten auch, von Erwin Kessler eingeklagt und angezeigt worden. Konkret ging es um den Titel eines Online-Artikels, der Kesslers Missfallen erregt hatte. Nach mehreren Prozessschritten hat Kessler schliesslich akzeptiert, dass kein strafbares Verhalten des Journalisten vorlag.
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/tierschutz-verein-gegen-tierfabriken-durfte-antisemitisch-genannt-werden-ld.2135171)
-> Soli für Prozesskosten: https://gerechtsanwalt.ch/



Addor zieht Rassendiskriminierungs-Urteil ans EMGR weiter
Der wegen Rassendiskriminierung verurteilte Walliser SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor wendet sich an an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Er glaubt, dass sein Recht auf freie Meinungsäusserung verletzt wurde.
https://www.swissinfo.ch/ger/addor-zieht-rassendiskriminierungs-urteil-ans-emgr-weiter/46619836
-> https://www.blick.ch/politik/rassendiskriminierung-svp-addor-zieht-fall-an-europaeischen-gerichtshof-id16524366.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
bernerzeitung.ch 14.05.2021

Demonstrationen in Bern: Corona-Demo findet statt, diejenige zu Palästina ist vertagt

Während die Corona-Skeptiker am Samstag in Bern demonstrieren wollen, zieht die Gesellschaft Schweiz – Palästina ihren Aufruf zurück.

Stefan Schnyder

Wer am Samstagnachmittag in Bern Tram oder Bus von Bernmobil benutzen will, muss sich möglicherweise in Geduld üben. Denn Corona-Skeptiker rufen dazu auf, sich für eine Demonstration nach Bern zu begeben.

Es hätte sogar dazu kommen können, dass am Samstag gleich zwei Demonstrationen stattfinden. Denn die Gesellschaft Schweiz – Palästina hatte zu einer Solidaritätskundgebung für Palästina aufgerufen. Auslöser für diesen Aufruf sind die kriegsähnlichen Aktionen, die von der Hamas und den israelischen Truppen seit ein paar Tagen ausgeführt werden. Die Versammlung hätte um 14 Uhr unter dem Baldachin bei der Heiliggeist-Kirche beginnen sollen.

Doch die Gesellschaft Schweiz – Palästina hat am Freitag ihren Aufruf wieder zurückgezogen, wie Alt-Nationalrat Geri Müller, der Präsident der Gesellschaft, bestätigt. Der Grund dafür ist die angekündigte Kundgebung der Corona-Skeptiker. Wie Müller weiter sagt, wird dagegen am Samstag um 14.30 Uhr in Zürich eine Kundgebung stattfinden. Offen ist noch, ob am 22. Mai eine Demonstration in Bern stattfinden wird.

Es ist allerdings nicht auszuschliessen, dass es trotz des Rückzugs des Demoaufrufs zu einer spontanen Protestversammlung von linksautonomen Kreisen kommen wird. Ein Aufruf zur Teilnahme an der Solidaritätskundgebung zirkulierte auch in Reitschulkreisen.

Die Demo der Corona-Skeptiker

Die Demonstration von Corona-Skeptikern wird dagegen wie geplant stattfinden. Auf der Kommunikationsplattform Telegram zirkulieren Aufrufe, am Samstag für das Swiss Freedom Rally (Schweizer Freiheitsversammlung) nach Bern zu kommen. Ort und Zeit sind aber nicht öffentlich bekannt. Die Kundgebung ist nicht bewilligt, so wie diejenige vom 20. März.

Der Berner Gemeinderat rief bereits am Mittwoch mit einer Medienmitteilung die Organisatoren dazu auf, die Demo nicht durchzuführen. Dies, weil bei Kundgebungen nach wie vor eine Obergrenze von 100 Personen gelte, wie der Gemeinderat im Communiqué betont.

Für den Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) ist es unverständlich, ohne verbindliches Schutzkonzept zu Kundgebungen aufzurufen und damit grosse Menschenansammlungen zu provozieren.

Er macht deutlich, dass die Behörden nicht gewillt sind, die Demonstrierenden ihr Ding durchziehen zu lassen: «Wir wollen am Samstag keine Bilder wie in Liestal oder Aarau sehen», sagt er. Er spielt dabei auf die Protestveranstaltungen an, die am 20. März und am vergangenen Samstag stattfanden. In Liestal wurde die Teilnehmerzahl auf 8000 geschätzt, in Aarau auf rund 1500.

Und der Sicherheitsdirektor verhehlt seinen Ärger über die geplante Demonstration nicht: «In diesen Wochen kommen laufend neue Öffnungsschritte hinzu. Die Legitimation für Protestveranstaltungen sinkt deshalb laufend. Jetzt einen Superspreader-Anlass zu veranstalten, ist verantwortungslos», betont er.
(https://www.bernerzeitung.ch/corona-demo-findet-statt-diejenige-zu-palaestina-ist-vertagt-440860479758)
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/stadt-bern-will-am-samstag-durchgreifen-keine-toleranz-fuer-yb-fans-und-corona-skeptiker-id16523173.html



Coronavirus: Erste Stadt bewilligt wieder eine Demo
Seit Wochen kommt es in der Schweiz zu unbewilligten Demos gegen die Massnahmen um das Coronavirus. Die Stadt Neuenburg erlaubt nun erstmals wieder eine Demo.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-erste-stadt-bewilligt-wieder-eine-demo-65924714



nzz.ch 14.05.2021

Geht den Corona-Demos der Schnauf aus? Diesen Samstag setzen Massnahmengegner auf Guerilla-Taktik

Mit den Lockerungen kommt den Corona-Demonstranten das Feindbild abhanden, die Mobilisierung wird schwieriger. Die Skeptiker beteuern, dass sie unbedingt weiter machen wollen.

Pascal Ritter

Der Höhepunkt der Proteste war am 20. März. Selbst eingefleischte Coronaskeptiker staunten, dass in Liestal rund 8000 Personen durch die Hauptstadt des Kantons Baselland marschierten.

Seither sind die Teilnehmerzahlen der Proteste zurückgegangen. In Altdorf kamen 500, in Schaffhausen 1000 Personen. Immerhin 4000 Demonstranten versammelten sich am 27. April in Rapperswil. Am letzten Samstag waren es in Aarau dann noch 1500 Personen.

Für den Rückgang dürften zwei Faktoren bestimmend sein: die Lockerung der Massnahmen, wie etwa die Öffnung der Terrassen – und die höheren Hindernisse, welche die Sicherheitsbehörden für Demonstrationen beschlossen.

Das Feindbild kommt abhanden

Der Bundesrat öffnete auf den 1. März Läden, Museen und Bibliotheken und beschloss Lockerungen für Jugendliche. Seit dem 19. April sind ein Teil der Einschränkungen für Sportstadien, Kinos und Theater gelockert sowie die Terrassen der Beizen geöffnet.

Diesen Mittwoch stellte der Bundesrat zudem die Öffnung der Innenräume von Restaurants und die Zulassung grösserer Treffen für Ende Mai in Aussicht. Es gibt also je länger je weniger Massnahmen, an denen potenzielle Demonstranten Anstoss nehmen könnten.

Allerdings beteuern Massnahmengegner, dass sie weitermachen wollen, sogar wenn alle Massnahmen weg sind. Ihnen geht es ums Prinzip, wie die 23-jährige Studentin Anna Müller von der Bewegung «Mass-Voll» sagt: «Unser Ziel ist erst erreicht, wenn alle Zwangsmassnahmen aufgehoben sind und eine Wiederholung unmöglich geworden ist. Bevor dieses Ziel erreicht wird, werden wir nicht aufhören, uns für unsere Rechte einzusetzen.»

Das Interesse an der Bewegung habe nicht abgenommen, beteuert sie und beziffert die Anzahl Sympathisanten auf mittlerweile 8000 Personen.

Anzeigen gegen den Kopf von «Mass-Voll»

In Liestal liessen sich die Behörden überrumpeln. Die Kundgebung war bewilligt. An die Auflage des Maskentragens hielten sich dann aber nur wenige Personen. Als Folge davon bewilligten die Kantone Uri und St. Gallen die Kundgebung in Altdorf und Rapperswil nicht mehr. Schaffhausen zog eine Bewilligung zurück.

In Aarau konnten die Freiheitstrychler, die sonst für ihre Auftritte mit Kuhglocken gefeiert werden, ihre Instrumente nicht einmal mehr aus dem Bus ausladen. Offenbar wurden sie von der Polizei daran gehindert.

Nicolas A. Rimoldi, der Kopf der Jugendgruppe «Mass-Voll», wurde zudem vom Luzerner Juristen Loris Mainardi nach der Demonstration in Aarau angezeigt. Mainardi hat ähnliche Anzeigen bereits früher in den Kantonen Baselland und Graubünden eingereicht. Rimoldi nimmt die Sache «gelassen» wie er auf Anfrage sagt.

Die Angst vor den Städten Zürich und Bern

Bussen und Wegweisungen – oder nur schon die Drohung damit – dürften dennoch ihre Wirkung entfaltet haben. Die Teilnehmerzahlen waren an den letzten Demonstrationen deutlich tiefer als in Liestal.

Die 19-jährige Tosca Buser von «Mass-Voll» beteuert, dass die Bewegung weiterhin wachse, gesteht aber auch ein, dass die Demonstrationsverbote viele abgeschreckt hätten. Sie bezeichnet die Verbote als «illegal» und «illegitim».

In den Telegram-Chats von anderen Gruppen der Massnahmengegner schlägt sich eine gewisse Verunsicherung nieder. Fieberhaft diskutieren sie über eine weitere Demonstration am 15. Mai. Jemand schreibt dazu: «Vergesst bitte am 15. Mai Bern. Das endet sonst für uns friedlichen, Freiheit und Demokratie Liebenden im Chaos.»

Auch vor Zürich, wo die Stadtpolizei ein besonders strenges Regime gegen Demonstrationen fährt, haben die Massnahmengegner Respekt. Zwar wurde im Chat für den Samstag eine Demonstration für Zürich angekündigt.

Allerdings war lange unklar, ob die Stadt oder der Kanton gemeint ist. Ein Kartenausschnitt, der auf den Kundgebungsort hinweisen soll, zeigt zudem ein grosses Gebiet, in dem auch die Städte Olten, Aarau, Baden und Zug liegen. Mehr Informationen werden für Freitag in Aussicht gestellt. Ein Chat-Mitglied schreibt: «Nach Altdorf und Aarau ist es wohl besser die Polizei nicht zu früh über unsere Pläne zu informieren.»

Dazu stellt er ein zwinkerndes Smiley und schreibt: «Guerilla-Taktik».

Bei den Polizeikorps von Stadt und Kanton Zürich gibt man sich bedeckt, wie man auf eine Demonstration reagiere. Man sei aber vorbereitet.

Am Freitag veröffentlichen Massnahmengegner ein Mobilisierungsvideo, in dem sie konkreter werden. Sie stellen mit ironischem Unterton Spaziergänge um 13.30 Uhr bei der Saffa-Insel am See, am Hirschenplatz, am Platzspitz oder beim Albisgüetli in Aussicht. Im Aufruf heisst es: «Liebe Freunde der gepflegten Tourismusbranche für einsame Städte. Morgen Samstag sehen wir uns zum gemeinsamen Spaziergang.»

Ein Sprecher der Stadtpolizei Zürich sagt auf Anfrage, man habe Kenntnis von dem Aufruf, wolle aber «aus taktischen Gründen» keine weiteren Angaben machen.

Auch für die Stadt Bern existieren Aufrufe, was zu Diskussionen führt. Einige Chat-Teilnehmer befürchten eine Aufsplitterung der Kräfte.

Aggressivität steigt

Parallel zur Abnahme der Teilnehmer lässt sich eine Zunahme von Aggressivität beobachten. In Aarau soll ein Demonstrant einem Polizisten einen Kopfstoss verpasst haben. Ein anderer soll von Sympathisanten aus der Umzingelung durch Polizisten befreit worden sein.
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/proteste-geht-den-corona-demos-der-schnauf-aus-diesen-samstag-setzen-massnahmengegner-auf-guerilla-taktik-ld.2136449)



Abstimmungs-Kontroverse zum Covid-19-Gesetz – Rendez-vous-Tagesgespräch
Um rasch auf die Corona-Pandemie zu reagieren, hat sich der Bundesrat im letzten Frühling auf Notrecht gestützt. Das ist allerdings zeitlich befristet. Damit gewisse Massnahmen weitergeführt werden können, haben Bundesrat und Parlament das Covid-19-Gesetz erarbeitet.
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/abstimmungs-kontroverse-zum-covid-19-gesetz?id=11983667



tagblatt.ch 14.05.2021

«Jetzt muss das Volk handeln»: MBT-Erfinder Karl Müller ruft dazu auf, «Lockdown-Politiker» nicht mehr zu wählen

Der Roggwiler Erfinder des MBT-Schuhs und Kybunpark-Patron Karl Müller gründet das Aktionsbündnis Ostschweiz. Dieses Bündnis will den «Lockdown und sämtliche Zwangsmassnahmen» so schnell als möglich beenden. Innert weniger Tage haben sich über 2900 Sympathisanten eingeschrieben.

Christoph Zweili

An Karl Müllers Seite im Vorstand des Aktionsbündnisses Ostschweiz amtet die Thurgauer SP-Kantonsrätin Barbara Müller als Vizepräsidentin. Als Vorstandsmitglieder aufgeführt sind die Thurgauer Parlamentsmitglieder Hermann Lei (SVP), Oliver Martin (SVP) und Peter Schenk (EDU). Zu den 49 politischen Sympathisanten gehören auch die St.Galler SVP-Nationalräte Mike Egger und Roland Rino Büchel sowie der Ausserrhoder SVP-Nationalrat David Zuberbühler zusammen mit 2970 Sympathisanten.

Sie sind 69, haben als Querdenker die Schuhindustrie revolutioniert und gelten als eine der schillerndsten Figuren der Ostschweiz: Nun starten Sie unvermittelt eine Offensive gegen den Corona-Lockdown – was treibt Sie an?

Karl Müller: Ich habe zehn Grosskinder und mache mir Sorgen um die Zukunft der Schweiz, wenn es so weitergeht wie jetzt.

Das müssen Sie erklären: Bisher haben Sie sich stets aus der Politik rausgehalten. Woher der Umschwung?

Das Fass gefüllt haben verschiedene Dinge – an erster Stelle der PCR-Test. Dieser wird in der Covid-19-Krise zweckentfremdet verwendet – auf ihm basieren sämtliche Massnahmen des Bundes.

Die PCR-Tests sind der falsche Ansatz?

Definitiv. Laut Gebrauchsanleitung misst der Test keine Krankheit. Er misst Partikel des Coronavirus. Die Crux dabei: Ist jemand positiv getestet, heisst das nicht, dass er das Virus auch weitergeben kann. Das führt zu absurden Situationen – in Deutschland etwa, wo Ausgangssperren verhängt wurden. Ich sorge mich nun, dass das auch in der Schweiz Schule macht – aus der Macht heraus, die der Bundesrat im Lockdown gewonnen hat.
——
Umstritten: Aktionsbündnis Ostschweiz fordert Lockdown-Ende
https://www.tvo-online.ch/aktuell/umstritten-aktionsbuendnis-ostschweiz-fordert-lockdown-ende-141910388
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Ihr Bündnis in Ehren: Warum haben Sie so lange zugewartet – mittlerweile kündigt der Bundesrat ja im Wochentakt neue Lockerungen an?

Es geht nicht um die aktuelle Situation. Wir wollen mit dem Aktionsbündnis Ostschweiz verhindern, dass es im Herbst einen erneuten Lockdown gibt. Ich befürchte, dass es auf der Basis von Covid-19 ständig so weitergeht mit der Angstmacherei. Die Impfung bietet da nur eine trügerische Sicherheit. Daher glaube ich nicht, dass wir zu spät sind mit unserer Initiative.

Der Vergleich mit Deutschland hinkt: Die Schweiz hat ganz andere, föderalistischere Strukturen.

Das politische System mag tatsächlich anders sein. Was mich aber überrascht: Wir hätten zwar ein anderes System, aber der National- und der Ständerat, die ja eigentlich das Volk vertreten, spielen dem Bundesrat – warum auch immer – in die Hände. Und dieser Bundesrat regiert zum Schluss ganz ähnlich wie die deutsche Regierung.

Äxgüsi, aber dieses Prinzip des Aus-einer-Hand-Führens ist in Krisenzeiten wohl nicht ganz falsch.

Da stimme ich zu. Da gibt es auch gute Beispiele aus Kriegszeiten, mit dem General Guisan etwa. Spätestens nach einem Jahr ist aber klar, dass das keine Pandemie mehr ist. Da sprechen alle Zahlen dagegen, unter anderem die Sterblichkeitsrate. Wir haben keine Pandemie und wir haben keinen Notstand.

Sie unterscheiden zwischen einer «echten» und einer «unechten» Pandemie: Die jetzige Covid-19-Krise ist nicht «echt»?

Das ist keine echte Pandemie. Der PCR-Test gibt keine gültigen Aufschlüsse. Und: Klar gegen eine echte Pandemie spricht, dass die Sterblichkeitsrate unter dem mittleren Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre liegt. Wir haben keine Übersterblichkeit – in keiner Altersgruppe.

Sie brauchen das Wort «Diktatur»: Da zuckt des Schweizers Seele zusammen.

Ja, in Deutschland sind wir in einer Diktatur angelangt. Wenn man nicht mehr vor das eigene Haus darf? Bei mir bleibt einfach die Angst, dass wir in die gleiche Richtung gehen.

Sie ziehen Parallelen zu Deutschland?

Ja. Ich bin weder Verschwörungstheoretiker noch Coronaleugner: Aber wenn ich sehe, wie gleichgeschaltet die Welt funktioniert, habe ich eine gewisse Angst, dass die Schweiz in eine ähnliche Richtung geht.

Zu Ihren politischen Mitstreitern gehören unter anderem Roland Rino Büchel, David Zuberbühler sowie einige Kantons- und Gemeinderäte aus den Kantonen St.Gallen und Thurgau, derzeit 45 an der Zahl. Ihr Ziel sind allerdings 100’000 Sympathisanten und mehr – davon sind Sie noch weit entfernt.

Wir haben mit unserer Initiative erst vor ein paar Tagen begonnen und noch gar keine Werbung gemacht. Ich glaube an diese 100’000 Mitstreiter und bin damit auch nicht zufrieden. Wir brauchen einige 100’000 Sympathisanten, um eine gewisse politische Macht darstellen zu können. Damit meine ich das Volk und nicht eine gewisse politische Partei.

Wo stehen Ihre Sympathisanten politisch?

Da gibt es Vertreterinnen und Vertreter der SP, von der EDU, aus der Mitte, der FDP – die Mehrheit stammt aber aus der SVP, das ist so. Ich bin selber kein SVP-Politiker. Wir wollen aber keine politische Macht werden…

Sondern?

Wir möchten das Volk, das nicht in einer politischen Partei vertreten ist, über die sozialen Medien sammeln.

Mit welchem Ziel?

Es kann sein, dass am Schluss eine Interpellation steht, das weiss ich nicht – im Moment bin ich nur der Präsident des Aktionsbündnisses. Ich weiss nicht, wie lange ich da dabei sein und mich politisch engagieren werde. Ich habe keine weiteren politischen Ambitionen: Das oberste Ziel ist, das wunderbare föderalistisch-demokratische System, das wir in der Schweiz haben, zu erhalten.

Wie viele Personen stehen hinter Ihrem Anliegen?

Bei der Gründung waren es 20 Personen.

Und wie viele Sympathisanten haben sich online mit Namen registriert?

Registriert sind über 2800 – praktisch alle mit Namen und Wohnort. Neu kann man sich auch anonym anmelden.

Sie machen die populistische Ansage, dass diese Sympathisanten keine «Lockdown-Politiker» mehr wählen werden. Warum dieser Aufruf?

Weil wir als Erstes den Lockdown «und die anderen Zwangsmassnahmen» beenden wollen.

Und das heisst?

Zu den Zwangsmassnahmen gehört auch die Impfung. Das ist aber nicht das primäre Ziel. Wir glauben, dass es in einer freien Gesellschaft keine Zwangsmassnahmen braucht, ausser wir hätten eine Notsituation.

Und die haben wir derzeit nicht?

Unsere Sympathisanten sind keine Spinner oder Hirnverrückte – es sind vernünftige Menschen, die sich in Zeiten einer echten Pandemie auch einer Regierung unterstellen würden, die dann führen würde.

Sie wollen «Lockdown-Politiker» nicht mehr wählen. Wie wollen Sie das umsetzen?

Freiwillig. Das ist Sache jedes Einzelnen. Wir hoffen aber, dass der Bundesrat vor der Gruppierung, so sie denn gross genug wird, auch Respekt bekommt. Und dass er sich nicht mehr der Verantwortung entzieht und ebenso, dass die Bundespolitiker Farbe bekennen müssen.

Wer ist denn in Ihren Augen ein «Lockdown-Politiker» und wer nicht?

Jemand, der in dieser Situation, die keine echte Pandemie ist, sich für den Lockdown ausspricht, ist ein Lockdown-Politiker. Wer sich dagegen ausspricht, ist kein Lockdown-Politiker.

Sie führen keine schwarze Liste?

Wir führen eine weisse Liste – eine Liste mit Sympathisanten, die sich registrieren.

Mit dieser Definition betreten Sie schwieriges Terrain: Das tönt, als ob Sie über Andersdenkende zu Gericht sitzen wollen.

Ich richte nicht persönlich über andere Menschen. Aber ich möchte nicht, dass unsere Gesellschaft in eine Richtung geht, in der man uns bevormundet. Ich glaube, dass ich persönlich und wir als Gruppierung das Recht haben, Menschen nicht zu wählen, die die Politik in eine andere Richtung treiben wollen als wir.



Namensgeber des «Kybunpark»

Karl Müller ist 1952 in Roggwil geboren. Nach dem ETH-Studium in Maschinenbau startete Müller 1980 seine unternehmerische Laufbahn als Importeur in Südkorea. Sein geschäftlicher Erfolg machte ihn zum mehrfachen Millionär. 1990 machte der heute 69-Jährige einen radikalen Neuanfang und verkaufte seine Firmen. 1998 erfand der Bewegungswissenschafter den MBT-Schuh (Masai Barefoot Technology), der zu einem Welterfolg wurde. 2020 gab der Namensgeber des «Kybunpark» die Kybun-Geschäftsleitung in jüngere Hände ab. Karl Müller ist Vater von sieben Kindern und zehnfacher Grossvater. (cz)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/interview-mbt-erfinder-karl-mueller-ruft-dazu-auf-lockdown-politiker-nicht-mehr-zu-waehlen-jetzt-muss-das-volk-handeln-ld.2136955)


+++HISTORY
«Es ist kalt in Brandenburg»: Dokfilm über Hitler-Attentäter nun unzensuriert zu sehen
Bei der Erstausstrahlung des Films «Es ist kalt in Brandenburg» über Hitler-Attentäter Maurice Bavaud griff das Schweizer Fernsehen 1982 ein – aus Angst, den deutschen Bundespräsidenten zu erzürnen. Zum 80. Todestag von Bavaud am 14. Mai zeigt SRF 1 die Originalfassung.
https://www.blick.ch/people-tv/schweiz/es-ist-kalt-in-brandenburg-dokfilm-ueber-hitler-attentaeter-nun-unzensuriert-zu-sehen-id16522183.html



nzz.ch 14.05.2021

Nach über 40 Jahren bekennt sich eine Ikone der Zürcher Jugendbewegung zu einer Serie von nie geklärten Sprengstoffanschlägen

Einst verkehrte er mit Terroristen, während der Zürcher Jugendunruhen von 1980 war er eine prägende Figur. Jetzt erzählt der Tessiner erstmals ausführlich von einer nie geklärten Anschlagsserie im Umfeld der Anti-AKW-Bewegung. Es kam zu Millionenschäden, Bellini zeigt keine Reue.

Marcel Gyr, Text; Eugen U. Fleckenstein, Illustration

Während mehr als dreissig Jahren, bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1996, verkündete Léon Huber als Sprecher der «Tagesschau» dem Schweizer Fernsehpublikum den Gang der Welt. So tat er es auch in der Hauptausgabe von Sonntag, dem 3. Mai 1981. Gerade setzte Léon Huber mit seiner sonoren Stimme zu einer Meldung über den Hungerstreik des nordirischen Unabhängigkeitskämpfers Bobby Sands an, als sich zwei vermummte Gestalten in die Sprechkabine drängten. Vor laufender Kamera spannten sie ein Transparent auf mit der Forderung «Freedom and sunshine for Giorgio Bellini».

Léon Huber, auch als «Meister der minimalen Mimik» gefeiert, liess sich kaum etwas anmerken. Fast stoisch liess er die Aktion aus dem Umfeld der Zürcher Jugendbewegung über sich ergehen. Für viele Zuschauer blieb die unwirkliche Szene unauslöschlich in Erinnerung, für eine ganze Generation wurde «Freedom and sunshine for Giorgio Bellini» zum geflügelten Wort.

Doch wer ist dieser Giorgio Bellini, für den vor vierzig Jahren Freiheit und Sonnenschein eingefordert wurde? Und was ist aus ihm geworden?
-> https://youtu.be/x9EbLMBN8FQ

An der Postauto-Haltestelle Gandria Paese wartet ein älterer Herr mit zerzaustem weissem Haar, einem Stoppelbart – und einer Brissago Blauband im Mund. Die dünne Zigarre ist Giorgio Bellinis Markenzeichen, seit bald fünfzig Jahren. Einst verfasste er im Magazin des «Tages-Anzeigers» eine Eloge an die Raucherware, die noch immer im Tessin hergestellt wird. Bellini, inzwischen 76 Jahre alt, wohnt mehrheitlich in Gandria, zusammen mit seiner Frau, der Tessiner Filmemacherin Francesca Solari. Die Wintermonate verbringt er seit einigen Jahren in Brasilien, im Landesinnern von Bahia, mit Schreiben und Gärtnern.

In Gandria engagiert sich Bellini, der alte Rebell, für den Ortsverein. Er hilft mit, die «Bottega» gleich neben der Schiffsanlegestelle zu betreiben, wo in einem kleinen Laden und in einer Bar lokale Spezialitäten verkauft werden. Gandria ist einer dieser Tessiner Sehnsuchtsorte, mit engen Gassen zwischen dem Luganersee und dem steil aufragenden Monte Brè. Das Licht ist milchig an diesem Nachmittag, die matten Sonnenstrahlen erlauben es knapp, sich mit Jacke und Schal auf die Terrasse der «Bottega» zu setzen. Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Sees ist das Zollmuseum zu erkennen.

Herr Bellini, wie haben Sie damals die Aktion im Schweizer Fernsehen erlebt, als man für Sie «Freedom and sunshine» einforderte?

Nun, ich befand mich ja in Auslieferungshaft im Münchner Gefängnis Stadelheim. Das Lustige war, dass ich schon eine halbe Stunde später auf die Aktion angesprochen wurde. Man muss sich das vorstellen: Es gab noch kein Internet und kein Handy. Und trotzdem hat sich die Meldung im Gefängnis sofort verbreitet. Einige Häftlinge haben es in den Radionachrichten gehört und es mir sofort in die Zelle zugerufen. Es war für alle eine Gaudi.

Wissen Sie, wer hinter der Aktion steckte?

Ja, ich kenne alle. Erst kürzlich hatte ich Besuch von einem aus der damaligen Gruppe. An der Aktion waren zwei Frauen und drei Männer beteiligt. Sie alle waren damals schon über dreissig Jahre alt, es waren also keine typischen Vertreter der 80er-Bewegung, ich würde eher sagen junge Alt-68er. Manche kenne ich von der «Hellmutstrasse», jener Liegenschaft im Zürcher Kreis 4, die wir damals besetzten. Wobei wir nicht «besetzt» sagten, sondern «unter Kontrolle gebracht». Inzwischen sind alle von damals über 70-jährig, aber wir amüsieren uns noch immer köstlich, wenn wir über die «Tagesschau»-Aktion sprechen.

Dann erzählen Sie mal!

Das Schwierigste an der ganzen Übung war das Timing. Der Gag hätte nicht funktioniert, wenn die Regie zu früh ausgeblendet hätte. Dann wäre alles für die Katz gewesen. Deshalb drangen zuerst zwei Männer der Aktionsgruppe in den Regieraum ein und gaben sich als Polizisten aus. Sie riefen dem Regisseur und der Regieassistentin zu, man würde sie wegen eines Drogendelikts verhaften. 1981 war eine Zeit, als fast jeder kiffte und man davon ausgehen konnte, dass man sich zunächst einmal ertappt fühlte. Diesen Moment der Irritation nutzten die zwei Komplizinnen aus und drängten in die Sprechkabine von Léon Huber.

Die Polizei mutmasste damals, ob die Akteure bewaffnet gewesen waren.

Nein, das waren sie nicht. Aber Sie werden es vielleicht nicht glauben: Um die Leute am Regiepult zusätzlich zu erschrecken, hatten die zwei Männer, die sich als Polizisten ausgaben, in einer Kartonschachtel weisse Mäuse dabei. Geplant war, diese freizulassen, um die Fernsehmitarbeiter zusätzlich zu irritieren. Aber so weit kam es meines Wissens nicht.

Das hört sich wie ein raffiniert ausgehecktes Drehbuch an . . .

. . . ja, und die Schlusspointe kommt noch. Einem Fernsehmitarbeiter gelang es nach der Aktion, die zwei vermummten Aktivistinnen zu überwältigen und sie festzuhalten. Dieser Mitarbeiter rief nach der Polizei. Da kam der dritte Mann der Aktionsgruppe ins Spiel. Er gab sich ebenfalls als Polizist aus und sagte, er übernehme das – er führte die zwei Frauen angeblich ab. So gelang allen fünf die Flucht.

Giorgio Bellini, Jahrgang 1945, wuchs in Bellinzona auf. Sein Vater war Strassenbau-Ingenieur beim kantonalen Tiefbauamt. Gegen den Willen der Eltern, die ihn gerne hätten studieren sehen, machte Bellini eine Lehre als Mechaniker. Schon als Jugendlicher las er Marx und Lenin, die Pfadigruppe funktionierte er kurzerhand in eine kommunistische Jugendbewegung um, man nannte sich «movimento giovanile progressista» und tat sich mit der Jungen Sektion der Partei der Arbeit zusammen. An den Gewerkschaften vorbei organisierte Bellinis Gruppe, jetzt unter dem Namen «lotta di classe», einen sechswöchigen Streik in der Bally-Schuhfabrik in Stabio. Sie sammelten so viel Geld, dass sie den streikenden Arbeiterinnen 60 Prozent ihres Lohnes zahlen konnten.

Das war 1970. Jetzt hätte Bellini doch noch gerne studiert, Philosophie. Doch er fand keine Zeit, die Nachwehen von 1968 kamen dazwischen. Er zog vom Tessin nach Zürich, ins Zentrum des Kapitals, wie er einmal schrieb. Dort traf er auf viele seiner Tessiner Kollegen, sie deutschten den Namen ihrer Gruppe ein, «Klassenkampf» statt «lotta di classe». Im Zürcher Kreis 4 fühlte sich Bellini wohl, in diesem Biotop zwischen den «linken» Restaurants Cooperativo am Stauffacher und dem «Krokodil» an der Langstrasse, mit den vielen Wohngemeinschaften oder Kommunen, wie sie anfangs noch hiessen.

Bellini sah sich als Autonomer mit dem Ziel, nur gerade so viel zu arbeiten, wie unbedingt nötig war. Geregelte Arbeit war verpönt, man hielt sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, vielleicht eine Woche pro Monat. Daneben betrieb Bellini, zusammen mit einer Tessiner Kollegin, eine kleine Buchhandlung, Eco Libro an der Engelstrasse. Die Adresse fand Eingang in manchen Geheimdienstbericht, auch im Ausland. Die Buchhandlung galt als verkappter Hort für revolutionäre Umsturzversuche.

Herr Bellini, was genau ging da vor sich?

Ach, was soll ich sagen . . . in einem Aufsatz schrieb ich einmal «Wir waren Faulenzer und machten tausend Sachen».

Tausend Sachen – eine davon spielte sich am Sonntagabend, dem 18. Februar 1979, ab. Soeben ist bekanntgeworden, dass die Schweizer Stimmbevölkerung die Atomschutzinitiative mit einem Anteil von 51,2 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt hat – die Befürworter der Kernenergie behalten, wie so oft in jenen Jahren, knapp die Oberhand.

Sobald es eingedunkelt ist, macht sich eine kleine Gruppe von militanten AKW-Gegnern auf den Weg ins Fricktal. Neben der weitgehend friedlichen Protestbewegung gegen den weiteren Bau von Atomkraftwerken, die weit in bürgerliche Kreise hineinreicht, sind in jenen Jahren auch Akteure aus der linksextremen Ecke aktiv, die vor der Anwendung von Gewalt nicht zurückschrecken.

Die Gruppe, die sich an diesem Abstimmungssonntag auf den Weg macht, nennt sich «Do it yourself». In ihrem Kleinbus haben sie 8 Kilogramm Sprengstoff, Warnschilder, zwei gestohlene Velos und Ersatzkleider dabei. Die Gruppe hat mit der knappen Niederlage an der Urne gerechnet und den Anschlag seit Wochen minuziös vorbereitet. In der Nähe von Kaiseraugst wird das mitgebrachte Material vom Kleinbus auf die zwei Velos umgeladen.

Einer der AKW-Saboteure ist Giorgio Bellini. Zusammen mit einem Komplizen pedalt er an diesem Sonntagabend das letzte Stück zum Baugelände für das heftig umstrittene Kernkraftwerk Kaiseraugst. Der Rest der Gruppe ist mit dem Kleinbus zurück nach Zürich gefahren.

Um 2 Uhr 12, mitten in der Nacht, weckt eine gewaltige Detonation die Nachbarschaft. Der Informationspavillon des geplanten Kernkraftwerks liegt in Trümmern. Erst zwei Jahre zuvor war das zweistöckige Gebäude aus Stahl und Glas eröffnet worden. Es hätte eine Brücke schlagen sollen zur Bevölkerung, um bei ihr das Verständnis für die Kernkraft zu fördern. Auf über eine Million Franken schätzt der Direktor der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG tags darauf den Sachschaden. In einem Kommentar schreibt der Chefredaktor der «Aargauer Zeitung»: «Kalt läuft’s einem den Rücken hinunter» – Sprengstoffanschläge nach einer Abstimmungsniederlage seien bis dahin unvorstellbar gewesen.

Die Taten sind längst verjährt, die Ermittlungsakten lagern im Bundesarchiv, sie unterliegen noch einer Schutzfrist. Nach dem Sprengstoffanschlag in Kaiseraugst folgten 1979 weitere Gewalttaten, etwa auf das Kernkraftwerk Leibstadt und auf das soeben in Betrieb genommene Kernkraftwerk Gösgen. Auch in diesem Fall wurde der Sachschaden auf rund eine Million Franken beziffert. Die Verantwortlichen konnten nie ermittelt werden. Die Untersuchung, geführt von der Bundesanwaltschaft, blieb bis zuletzt ergebnislos.

Jetzt bekennt sich einer der damaligen AKW-Saboteure zu all diesen Anschlägen: Giorgio Bellini. Die Serie umfasste zwischen 1974 und 1984 über vierzig Anschläge. «Direkte Aktion» nannten das Bellini und seine Komplizen in ihren anonymen Bekennerschreiben, nach Vorbildern in Deutschland, Frankreich oder Italien.

Auch Autos von Exponenten der Stromindustrie wurden 1979 in Brand gesetzt. Zuerst ging der Chevrolet Camaro von Michael Kohn in Flammen auf, es folgten rund zehn weitere Brandanschläge nach dem gleichen Muster. Zwar gab es auch hier ein mehrere Seiten umfassendes Bekennerschreiben. Doch wer dahintersteckte, blieb immer ein Rätsel.

In einem Aufsatz, der vor vielen Jahren in einem Sammelband zu den Zürcher Jugendunruhen erschienen ist, hat Giorgio Bellini seine Beteiligung an den Anschlägen erwähnt. Eine Reaktion blieb aus. Jetzt nimmt er erstmals ausführlich Stellung.

Herr Bellini, wer stand hinter der verantwortlichen Gruppierung «Do it yourself»?

Das war eine lose Gruppierung aus Zürich, die hauptsächlich aus Mitgliedern von «Klassenkampf» hervorgegangen ist. Später kamen weitere Zellen hinzu, in Basel, Genf und im Tessin. Jede Zelle umfasste eine Handvoll Leute, die alle miteinander befreundet waren. Daneben gab es einen zweiten Kreis von Helfern, das waren insgesamt nochmals ein paar Dutzend Leute. Der Name «Do it yourself» hätte eigentlich eine Aufforderung an Gleichgesinnte sein sollen, es uns gleichzutun. Doch das klappte irgendwie nicht, der Funke sprang nicht über. Später haben wir dann in den Bekennerschreiben auch andere Namen verwendet, wir sahen das nicht so eng. Nach der feierlichen Sprengung eines letzten Strommastes haben wir uns 1984 offiziell verabschiedet.

Sie scheinen keine Reue zu kennen.

Nein, mich plagen keine Gewissensbisse. Ich stehe zu meiner militanten Vergangenheit, ein Stück weit gehörte das zum damaligen Zeitgeist – zumindest an jenen Orten, wo ich mich bewegte. In Italien zum Beispiel wimmelte es in den 1970er Jahren nur so von gewaltbereiten Gruppierungen, die Roten Brigaden waren nur die bekanntesten. Wenn wir Gewalt angewendet haben, richtete sich diese immer ausschliesslich gegen Sachen. Wir haben alles Erdenkliche unternommen, um keine Menschenleben zu gefährden.

Heimlich mit Sprengstoff zu hantieren, ist immer gefährlich – nahmen Sie Verletzte oder sogar Tote in Kauf?

Wir haben alles unternommen, um das Risiko zu minimieren. Dazu gehörte etwa, Warnschilder aufzustellen, um allfällige Passanten vor einer bevorstehenden Explosion zu warnen. So haben wir das auch beim Anschlag in Kaiseraugst gemacht.

Wie sind Sie überhaupt an den Sprengstoff gelangt?

Am Anfang war das einfach. Wir haben normalen Sprengstoff verwendet, wie er in ländlichen Gegenden lange noch frei verkauft wurde, für die Landwirtschaft oder den Strassenbau. In meiner Jugend in Bellinzona war Sprengstoff so etwas wie ein Spielzeug für jene, die dem Kindesalter entwachsen waren. Mit der Zeit ist der Verkauf von Sprengstoff und auch den dafür notwendigen Komponenten immer mehr eingeschränkt worden. Aber wir haben immer einen Weg gefunden, die Vorschriften zu umgehen – am einfachsten war es, den Sprengstoff auf Baustellen zu klauen.

Sie haben auch sich selbst gefährdet – ist es nie zu einem Unfall gekommen?

Meines Wissens nicht. Wir nahmen das berühmte Guerilla-Handbuch eines Schweizer Geheimdienstoffiziers zu Hilfe, «Der totale Widerstand – Kleinkriegsanleitung für Jedermann». Verfasst worden war es für den Fall einer Invasion durch die Sowjetunion, wir haben es halt für unseren illegalen Widerstand gegen den Bau von Atomkraftwerken genutzt. In unserer Buchhandlung haben wir das Büchlein dutzendfach verkauft.

Ist Ihnen die Polizei nie auf die Schliche gekommen?

Erstaunlicherweise nicht. In meiner «Karriere» sass ich dreimal im Gefängnis, insgesamt rund ein Jahr lang – aber nie wegen der Sprengstoffanschläge. Wir hatten grossen Respekt vor der Spurensicherung des Wissenschaftlichen Diensts der Stadtpolizei Zürich. Der genoss in jenen Jahren Weltruf. In der Zentralbibliothek haben wir einschlägige Fachzeitschriften gelesen, «Kriminalistik» etwa oder Polizei-Magazine. So haben wir einiges über Spurensicherung gelernt und uns entsprechend verhalten. Den Kugelkopf zum Beispiel, den wir auf der Schreibmaschine für die Bekennerschreiben verwendeten, haben wir jeweils umgehend entsorgt. Oder nach dem Anschlag in Kaiseraugst gingen wir davon aus, dass die Polizei die Strassen absperren würde. Deshalb flüchteten wir mit dem Velo rund 20 oder 30 Kilometer über Feldwege. Unterwegs steckten wir die Kleider auf einem Picknickplatz in einen Abfalleimer und zündeten sie an. Mit den mitgenommenen Ersatzkleidern fuhren wir weiter bis zu einer vereinbarten Stelle, wo uns ein weiterer Komplize mit dem Auto erwartete. So fügten wir uns unauffällig in den Berufsverkehr Richtung Zürich, ohne dass die Polizei uns kontrolliert hätte.

Der Bündner «Öko-Terrorist» Marco Camenisch verübte 1979, ebenfalls aus Protest gegen Atomkraftwerke, zwei Sprengstoffanschläge auf Strommasten. Er wurde erwischt und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Haben Sie ihn gekannt?

Nein – aber natürlich habe ich seinen Werdegang verfolgt. Er ist später in eine tragische Gewaltspirale geraten. Es gibt einen einzigen Berührungspunkt zwischen ihm und mir: Während seines Prozesses in Chur, exakt zwei Jahre nach seinem ersten Anschlag, haben wir von «Do it yourself» denselben Strommast nochmals gesprengt, aus Solidarität. Aufgrund der drakonisch hohen Strafe für Camenisch ging ich von 15 bis 20 Jahren Zuchthaus aus, falls ich festgenommen worden wäre. Das habe ich in Kauf genommen.

Bei den Brandanschlägen auf Autos von Exponenten der Stromindustrie hat Ihre Gruppe definitiv Menschenleben gefährdet.

Das waren keine Anschläge mit Sprengstoff, sondern mit einfachen Molotow-Cocktails, damit gefährdet man keine Menschenleben. Dazu benutzten wir Einmachgläser, wie man sie beim Herstellen von Konfitüre braucht. Wir füllten sie mit Benzin und zwei weiteren Komponenten. Bei richtiger Handhabe entzündete sich die Flüssigkeit und steckte das Auto in Brand. Beim Anschlag auf das Auto von Herrn Kohn war ich nicht dabei, ich war anderswo im Einsatz.

Heute funktioniert Fridays for Future ähnlich wie damals die Anti-AKW-Bewegung. Sehen Sie das Potenzial, dass sich aus der Klimajugend militante Strömungen entwickeln?

Mit dieser Bewegung bin ich nicht wirklich vertraut. Mögliche Sabotageakte würde ich aber sicher nicht ausschliessen. Nicht mit Sprengstoff, das ist Schnee von gestern – aus einer Zeit, in der das Wirtschaftssystem von der materiellen Produktion von Gütern bestimmt wurde. Heute, in einer Welt, die von Finanzen und virtuellen Gütern dominiert wird, scheint es mir naheliegender zu sein, als Waffe den Computer einzusetzen – neben zivilem Ungehorsam natürlich.

Hat «Do it yourself» damals Waffen eingesetzt?

Das ist eine heikle Frage – bei den Anschlägen nicht. Aber ich erinnere mich an ein einziges Mal, wo die Gruppe für die Geldbeschaffung Waffen eingesetzt hat.

Wie bitte? Sie haben einen Raubüberfall verübt?

Ja, aber darauf möchte ich nicht näher eingehen. Wir alle sind derart über uns erschrocken, dass wir sofort wieder davon abgekommen sind. Eines Tages hat mich dann Chaïm Nissim gefragt, ob ich ihm eine «Bazooka» beschaffen könne. Nissim kam aus Genf, er gehörte aber nicht zu «Do it yourself», er führte eine eigene Gruppe von AKW-Saboteuren.

Wie viele andere AKW-Gegner schloss sich Chaïm Nissim den Grünen an, er wurde ins Genfer Kantonsparlament gewählt. Später bekannte er sich zum Angriff auf das Kernkraftwerk Superphénix in Creys-Malville im französischen Rhonetal. Mit einem tragbaren Raketenwerfer des sowjetischen Typs RPG-7 hatte er 1982 die Baustelle für den Reaktor beschossen. Gegenüber den Medien sagte der inzwischen verstorbene Nissim, er sei sich des Risikos bewusst gewesen, dass bei dem Anschlag jemand getötet werden könnte. «Auf der anderen Seite wusste man, dass im Falle der Inbetriebnahme des Atomkraftwerks das Leben Hunderttausender von Menschen bedroht gewesen wäre», rechtfertigte er seine Tat.

Herr Bellini, haben Sie damals für Chaïm Nissim den sowjetischen Raketenwerfer besorgt?

Nein. Aber wie gesagt, er war tatsächlich auf mich zugekommen und hatte gefragt, ob ich ihm so etwas besorgen könne. Ich habe verneint und ihn auf «Carlos» verwiesen.

Im Bundesarchiv schlummert ein Dossier mit dem Titel «Carlos & Konsorten». Der vertrauliche Bericht der Bundespolizei basiert im Wesentlichen auf Informationen der Stasi, des Nachrichtendienstes der ehemaligen DDR. Das Dossier wurde erst kürzlich zur Einsicht freigegeben, es ist noch nicht ausgewertet. Ein Name taucht in den über 700 Seiten immer wieder auf: Giorgio Bellini.

Die damalige Bundesanwältin Carla del Ponte eröffnete 1994 ein Strafverfahren gegen Bellini und setzte ihn in Untersuchungshaft. Ihre Vorwürfe stützten sich weitgehend auf den Stasi-Bericht ab, der nach dem Fall der Mauer in die Schweiz gelangt war. Die Stasi wiederum hatte ihre Informationen vom ungarischen Geheimdienst erhalten. Dieser hatte die Gespräche abgehört, als Giorgio Bellini Ende der 1970er Jahre mehrmals nach Budapest gereist war, um «Carlos» zu treffen.

Der Venezolaner «Carlos», mit bürgerlichem Namen Illich Ramírez Sánchez, hatte sich einst der palästinensischen Volksbefreiungsfront (PFLP) angeschlossen. Nach der Opec-Geiselnahme 1975 in Wien wurde er aber aus der PFLP ausgeschlossen – er hatte sich geweigert, zwei arabische Erdölminister zu erschiessen. Stattdessen haben sich die beiden vermutlich mit einem Lösegeld von 50 Millionen Dollar bei «Carlos» freigekauft. Von da an operierte der Venezolaner mit einer eigenen Gruppierung, die Auftraggeber waren in erster Linie Autokraten und Geheimdienste.

Herr Bellini, wieso sind Sie mehrmals nach Budapest gereist, um den meistgesuchten Terroristen jener Zeit zu treffen?

Nun, das war in erster Linie berufliche Neugier. Ich arbeitete gelegentlich als Journalist, und «Carlos» war natürlich in vielerlei Hinsicht eine spannende Person.

Ja, das haben Sie 1994 bei der Einvernahme der Bundesanwaltschaft gesagt. Aber jetzt können Sie uns ja die Wahrheit verraten.

Frau del Ponte musste mich nach fast drei Monaten Untersuchungshaft freilassen. Sie hatte keine Beweise gegen mich ausser diesen komischen Stasi-Bericht. Die Bundesanwaltschaft musste mir für die ungerechtfertigte U-Haft sogar eine Entschädigung bezahlen. Also bleibt das die Wahrheit: Ich war aus beruflicher Neugier bei «Carlos».

Wie haben Sie ihn eigentlich kennengelernt? «Carlos» stand ja auf den internationalen Fahndungslisten ganz weit oben.

Kennengelernt habe ich ihn 1978 im Zusammenhang mit der Entführung von Aldo Moro durch die Roten Brigaden. Der italienische Geheimdienst strebte einen Gefangenenaustausch an und versuchte, über palästinensische Kommandos mit den Roten Brigaden in Kontakt zu kommen. Doch solche Verbindungen gab es nicht. «Carlos» hingegen behauptete gegenüber dem italienischen Geheimdienst, er könne einen Kontakt herstellen. Er hatte aber keinen, deshalb kam er über einen Mittelsmann auf mich zu, denn die Roten Brigaden waren mir nicht ganz unbekannt. In Genf traf ich den Deutschen Johannes Weinrich, die rechte Hand von «Carlos». Doch mit dem Gefangenenaustausch sollte es leider nicht klappen, Aldo Moro wurde am 9. Mai 1978 tot im Kofferraum eines Autos aufgefunden. Aber den Kontakt zu Weinrich und «Carlos» habe ich aufrechterhalten.

Im Februar 1981 sollen Sie in München für ihn das Studio von Radio Freies Europa inspiziert haben. Der amerikanische Sender versorgte während des Kalten Kriegs die Bevölkerung hinter dem Eisernen Vorhang mit Informationen, die den kommunistischen Regimen nicht genehm waren. Der rumänische Geheimdienst Securitate soll «Carlos» mit dem Sprengstoffanschlag beauftragt haben.

Ja, diesen Anschlag gab es. Aber ich war damals nicht in München, wie es in all diesen Geheimdienstberichten steht und wie es mir dann Frau del Ponte vorgehalten hat. Ich war vielmehr in Nürnberg im Spielzeugmuseum. Das mag lustig tönen, aber es ist halt nun mal so. Und als ich dann mit dem Zug nach Hause fahren wollte, wurde ich an der Grenze festgenommen. Den Rest kennen Sie: «Freedom and sunshine for Giorgio Bellini».

Auf der Terrasse in Gandria blinzelt Bellini in die untergehende Sonne. Es ist kühl geworden, er zündet sich eine neue Brissago Blauband an. Auch mit 76 Jahren ist der Tessiner nur schwer zu fassen. Wie sagte er doch einst: «Wir waren Faulenzer und machten tausend Sachen». Man weiss nie so genau, welche Sache noch zum Vorschein kommt.
(https://www.nzz.ch/gesellschaft/freedom-and-sunshine-for-giorgio-bellini-ld.1624403)