Medienspiegel 11. April 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Asyl Boltigen – Teil 1: Flüchtlinge im Bergdorf betreuen, das forderte
Das temporäre Bundesasylzentrum (BAZ) im Simmentaler Dorf stellt Ende April den Betrieb wieder ein. Diese Zeitung schaut mit den Beteiligten auf das Jahr zurück. Heute im Interview mit dem Leiter Betreuung im BAZ, Salvatore Salemi, der zwischenmenschliche Probleme lösen musste und alte Wände neu streichen konnte.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/189499/


+++ÖSTERREICH
Nehammer will Migranten bereits in Bosnien abschieben lassen
Der Innenminister will eine Charterflug mit Bosnien organisieren. Außerdem kritisiert er Griechenland, das Hilfsgelder nicht effizient einsetzt
https://www.derstandard.at/story/2000125738122/nehammer-will-migranten-bereits-in-bosnien-abschieben-lassen


+++DÄNEMARK
NZZ am Sonntag 11.04.2021

Dänemark schickt Syrer nach Hause. Dort sei die Lage sicher, sagt die sozialdemokratische Regierung

Als einziges westliches Land weist Dänemark syrische Flüchtlinge in ihr Heimatland aus.

Niels Anner, Kopenhagen

Syrische Flüchtlinge können sich in Europa vor dem seit zehn Jahren tobenden Bürgerkrieg in ihrer Heimat sicher fühlen. Es sei denn, sie befinden sich in Dänemark. Faeza Satouf wird das Land Ende April verlassen müssen. Der 25-Jährigen wird wie Hunderten anderen Syrern das Asyl nicht verlängert.

Denn die dänischen Behörden schätzen die Situation in der Gegend um die syrische Hauptstadt Damaskus als sicher ein. Dänemark hat deshalb vergangenen Herbst als erstes westliches Land begonnen, Syrer auszuweisen, sofern ihnen generell aufgrund des Krieges Asyl gewährt wurde. Individuelle Gründe werden weiterhin separat beurteilt. 2020 waren rund 90 Personen betroffen. Dieses Jahr sollen es mindestens 500 sein.

Für Satouf ist die Entscheidung nicht nachvollziehbar. Ihr Vater sei als Militärverweigerer vor den Schergen des Diktators Bashar al-Asad geflohen. «Asad ist weiterhin an der Macht», sagte die junge Frau dänischen Medien. Wenn sie zurückreise, drohten ihr Repression und Verhaftung. Menschenrechtsorganisationen sowie Uno-Behörden haben rapportiert, dass Rückkehrer in Syrien verfolgt und auch gefoltert werden.

Mit der Zahl der Ausweisungen hat auch die Kritik an der dänischen Regierung im In- und Ausland zugenommen. So stellte etwa Kristian Hegaard, ein Abgeordneter der Linksliberalen, fest: «Amnesty rät davon ab, Flüchtlinge zurückzuschicken, die Uno und der US-Aussenminister ebenfalls. Kein anderes EU-Land beurteilt Syrien als sicher. Dänemark hat ja sogar seine Botschaft in Damaskus wegen der unsicheren Situation geschlossen.»

Dänemarks Minister für Ausländer und Integration, Mattias Tesfaye, sieht indes kein Problem: «Wir haben von Anfang an ehrlich gesagt, dass Asyl vorübergehend gewährt wird.» Aus den Nachbarländern Syriens seien im letzten Jahr fast 100 000 Flüchtlinge heimgekehrt. Natürlich müssten darum auch jene aus Dänemark heim, wenn es die Lage nun zulasse. Kritiker halten jedoch dagegen: Im Nahen Osten lebten Flüchtlinge oft in prekären Lagern. Wenn sie in ihre Heimat zurückkehrten, dann aus einer verzweifelten Situation heraus.

Linke und grüne Parteien fordern einen Stopp der Ausschaffungen. Sie greifen damit die sozialdemokratische Regierung an, der sie normalerweise Mehrheiten garantieren – ausser bei der strengen Einwanderungspolitik. Mit dieser hat Regierungschefin Mette Frederiksen seit 2019 erfolgreich Wähler der Rechtspopulisten und der Bürgerlichen abgeholt, doch sie ist noch längst nicht fertig.

Im Januar erklärte sie, es sei ihr Ziel, dass die Zahl der Asylbewerber in Dänemark auf null sinke. Natürlich könne sie nichts versprechen, aber sie habe eine Vision eines neuen Asylsystems, das auf Quotenflüchtlingen und Hilfe vor Ort beruhe. Die Einwanderung, sagt Frederiksen seit Jahren, müsse weiter sinken, damit der Zusammenhalt der Gesellschaft nicht gefährdet werde. Gleichzeitig seien hohe Forderungen an die Integration zu stellen.

Faeza Satouf lässt dies verzweifeln. Die 25-Jährige flüchtete 2015, hat die dänische Matur gemacht und bildet sich nun zur Krankenschwester aus. Ihren Lebensunterhalt verdient sie nebenher als Kassiererin. «Als ich Asyl erhielt», erinnert sich Satouf, «sagten mir die Behörden, ich müsse mich integrieren, die Sprache lernen, arbeiten.» Jetzt werde ihr das Recht dazu genommen.

Die Öffentlichkeit aufgerüttelt hat auch das Schicksal der 19-jährigen Aya Abu-Daher, der vor kurzem der Asylstatus aberkannt wurde, drei Monate vor ihrer Matur. Auch ihre Familie war vor dem Regime in Damaskus geflüchtet. Es gehe nicht nur um den Einzelfall eines hervorragend integrierten Teenagers, schrieb Ayas Schulrektor in einem vielbeachteten Zeitungsbeitrag. Sondern um einen prinzipiellen Fehler, den Dänemark begehe.

Die Hunderten von Syrern, die das Asyl verlieren, haben zwar eine Möglichkeit, in Dänemark zu bleiben – eine Perspektive bietet das aber nicht. Da der dänische Staat das Asad-Regime nicht anerkennt, kann auch kein Rückübernahmeabkommen ausgehandelt werden.

Ausgewiesene werden deshalb faktisch aufgefordert, mit finanzieller Unterstützung freiwillig nach Syrien zu reisen. Wer dies ablehnt, wird auf unbestimmte Dauer in ein Ausschaffungslager einquartiert. Die Integration in die Gesellschaft endet dann dort.
(https://nzzas.nzz.ch/international/daenemark-schickt-syrische-fluechtlinge-nach-hause-ld.1611294)


+++MITTELMEER
Regierung Draghi: Italiens harter Kurs gegen Seenotretter
Auch wenn die “Alan Kurdi” einen Zwischenerfolg errungen hat: Italiens Behörden beschlagnahmen immer mehr Seenotretter-Schiffe. Auch die Regierung Draghi fährt offenbar einen restriktiven Kurs.
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/italien-seenotrettung-101.html


Alan Kurdi ist wieder frei – Italienischer Richter beendet 6-monatige Festsetzung
Am Mittwochmorgen wurde vor dem regionalen Verwaltungsgericht von Sardinien in Cagliari über die Festsetzung des Rettungsschiffes ALAN KURDI verhandelt. Die italienische Küstenwache hatte die ALAN KURDI am 9. Oktober 2020 festgesetzt, nachdem deren Crew 133 Menschenleben gerettet hatte. Gegen die Festsetzung klagte Sea-Eye im Eilverfahren.
https://sea-eye.org/alan-kurdi-ist-wieder-frei/
-> https://www.br.de/nachrichten/bayern/festgesetztes-seenotrettungsschiff-alan-kurdi-wieder-frei,SUHBdwP
-> https://taz.de/Seenotrettung-und-Migration/!5764824/


+++ATLANTIK
Küstenwache findet vier Tote in Flüchtlingsboot
In einem Fischerboot vor den kanarischen Inseln hat die Küstenwache vier tote Flüchtlinge gefunden. Zehn weitere Menschen schweben in Lebensgefahr.
https://www.20min.ch/story/kuestenwache-findet-vier-tote-in-fluechtlingsboot-503668482921


+++SEXWORK
Nach 16 Jahren tritt sie zurück – Birgitte Snefstrup: Die Kämpferin für Sexarbeiterinnen geht in Pension
Birgitte Snefstrup kämpfte mehr als 16 Jahre für bessere Arbeits- und Lebensbedingungen von Sexarbeiterinnen. Vor acht Jahren gründete sie den Verein Lisa. Nun geht die Luzernerin in Pension. zentralplus hat sie zum Gespräch getroffen.
https://www.zentralplus.ch/birgitte-snefstrup-die-kaempferin-fuer-sexarbeiterinnen-geht-in-pension-2055005/



+++SOZIALABBAU
Bundesgericht verschärft Voraussetzungen für IV-Renten – Echo der Zeit
Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht auswärts arbeiten könne, solle dies doch im Home-Office tun. Geld von der Invaliden-Versicherung habe man in diesem Fall nicht zugute. So ein umstrittenes Urteil, das das Bundesgericht in Lausanne kürzlich gefällt hat. Eine Überraschung ist das Verdikt allerdings nicht.
https://www.srf.ch/play/radio/echo-der-zeit/audio/bundesgericht-verschaerft-voraussetzungen-fuer-iv-renten?id=0072696c-3e04-4c26-9a6a-54697af7e53e


+++BIG BROTHER
NZZ am Sonntag 11.04.2021

Intelligente Kameras: Wir sind wandelnde Strichcodes

Jetzt warnen sogar Anlageprofis vor den Risiken der Gesichtserkennung für die Menschenrechte.

Markus Städeli

45 158 Menschen haben bereits unterschrieben. Bis nächsten Februar müssen das mindestens eine Million EU-Bürger tun, damit die Bewegung «Reclaim your Face» ihre Europäische Bürgerinitiative ins Ziel bringen kann.

Sie will erreichen, dass die EU die «biometrische Massenüberwachung» verbietet. «Regierungen, Sicherheitsbehörden und Unternehmen können und werden Gesichtserkennung gegen jeden von uns einsetzen», so die Initianten. «Wir werden zu wandelnden Barcodes gemacht.»

Manche US-Bürger sind bereits solche wandelnde Barcodes. Diesen Schluss zumindest lässt eine der grössten strafrechtlichen Ermittlungen in der amerikanischen Geschichte zu: jene gegen die Trump-Anhänger, die das Capitol gestürmt haben.

Gemäss der «Washington Post» haben Nummernschild-Lesegeräte und Gesichtserkennung zur Identifizierung eines Dutzend Verdächtiger geführt. «In vielen Fällen nutzten FBI-Agenten bestehende Regierungsverträge, um auf privat geführte Datenbanken zuzugreifen, was keine gerichtliche Genehmigung erforderte.»

Auch die umstrittene Firma Clearview trug zum Ermittlungserfolg bei. Diese betreibt eine Datenbank mit mehr als 3 Mrd. Gesichtsbildern, die sie aus dem Internet zusammenkopiert hat. Ihr Chef wird von der «Washington Post» mit den Worten zitiert, es sei erfreulich, «dass Clearview zur Identifizierung der Capitol-Randalierer eingesetzt wurde, die unser grosses Symbol der Demokratie angegriffen haben».

Bedenken von Investoren

Möglicherweise geht von der digitalen Dauerüberwachung aber eine grössere Gefahr für die Demokratie aus als von wild gewordenen Trump-Fans.

Dies sagen nun sogar Investoren. Der Vermögensverwalter Candriam, eine Tochter des Versicherungskonzerns New York Life, hat gerade einen Leitfaden für Investoren zum Thema veröffentlicht. Dieser konstatiert Risiken für die Menschenrechte: «Die schnelle Akzeptanz der Gesichtserkennungstechnologie und die wachsende Anzahl von Überwachungskameras im Alltag verleiht den Behörden und Unternehmen unkontrollierbare Möglichkeiten, die Gesellschaft zu überwachen», so Candriam.

Der Vermögensverwalter sucht die Unterstützung anderer Investoren. Er will die Risiken der Gesichtserkennung fortan mit den Firmen thematisieren, in die er investiert. «Jetzt ist es an der Zeit, dass auch Anleger agieren», schreibt Candriam.

Und man braucht nicht nach China und in die USA zu schauen, um grenzwertige Einsätze von intelligenten Kameras zu entdecken. Der britische «Guardian» hat Ende März beschrieben, wie die französische Call-Center-Firma Teleperformance ihre Mitarbeitenden im Home-Office mit intelligenten Kameras ausspioniert. Sie melden nicht nur, wenn sich diese vom Bildschirm entfernen, sondern auch, wenn sie essen oder aufs Handy schauen.

«Die Gesichtserkennungstechnologie macht es möglich, unsere Offline-Identität mit unserer Online-Identität zu verknüpfen, ohne dafür unbedingt unsere Zustimmung einzuholen», sagt Samir Aliyev. Er leitet das Ausbildungsprogramm für Datenschützer der Universität St. Gallen.

«Stellen Sie sich vor, Sie gehen in der Bahnhofstrasse spazieren, und ein Fremder fotografiert Sie mit seinem Smartphone. Er verwendet eine Gesichtserkennungs-App und kennt innerhalb von Minuten ihren Namen, ihr Alter, ihren Geburtsort und ihre Sozialversicherungsnummer.»

Dass das verboten ist, beruhigt Aliyev kaum. Der Umstand, dass die grossen Tech-Giganten solche Dienste anböten, führe dazu, dass viele Schweizer Unternehmen beginnen würden, diese zu nutzen. «Es ist nicht weit hergeholt, sich ein Szenario vorzustellen, in dem Sie in die Migros oder den Coop gehen und unterschiedlich behandelt werden oder sogar unterschiedliche Preise sehen, basierend auf der Kombination Ihrer biometrischen Daten und persönlichen Informationen, die öffentlich online verfügbar sind», sagt Aliyev.

Noch sei es in der Schweiz aber nicht so weit, sagt Andrian Lobsiger, der eidgenössische Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragte. Nachdem die «New York Times» vor einem Jahr erstmal über Clearview geschrieben hatte, trat Lobsiger an das Fedpol, den Bundesnachrichtendienst und den Grenzwachcorps.

«Die haben mir alle schriftlich versichert, dass sie Dienste wie jene von Clearview nicht in Anspruch nehmen.» Er ist auch Berichten nachgegangen, wonach Migros in ihren Filialen intelligente Kameras einsetze – was sich nicht bestätigte.

Darf man Angestellte überwachen?

Laut Lobsiger sind in der Schweiz auch der Überwachung von Arbeitnehmenden enge Grenzen gesetzt. «Arbeitgeber dürfen die biometrischen Daten ihrer Angestellten nur erfassen und verarbeiten, wenn sie triftige Gründe dafür haben. So ist etwa denkbar, dass intelligente Kameras Fluglotsen überwachen und sicherstellen, dass diese immer aufmerksam bei der Sache sind. Call-Center-Mitarbeiter so in den Blick zu nehmen, wäre dagegen unverhältnismässig.»

Trotzdem blickt Lobsiger illusionslos in die Zukunft. Die grösste Gefahr für den Datenschutz gehe von «einer hysterischen Nullrisiko-Gesellschaft» aus. «Wird in der Schweiz ein gravierender Terroranschlag verübt, kommt die Öffentlichkeit in der Folge womöglich zur Konklusion, dass die Täter mit Gesichtserkennungskameras hätten identifiziert und gestoppt werden können», sagt Lobsiger.

Er nennt ein weiteres Beispiel. Die Innenkamera von Tesla – die den Fahrer überwacht – müsse derzeit bewusst aktiviert werden. Der Innenraum von Autos werde aus Sicht des Datenschutzes gleich behandelt wie ein Schlafzimmer. «Doch wenn sich eines Tages Vorfälle mit Babys oder Hunden häufen, die in Autos vergessen werden, dann kommt womöglich die Forderung auf, solche Kameras müssten immer laufen.»

Bedrohliche Szenarien

Lobsiger findet Gesichtserkennung bedrohlich, er sieht aber weit grössere Herausforderungen auf uns zukommen. Diese hätten vor allem mit dem wachsenden Datenschatz auf unseren Handys zu tun. «Ich fürchte, dass uns Staat und Wirtschaft schon in wenigen Jahren systematisch dazu anhalten werden, unser Smartphone zum Einscannen von Daten vorzuweisen.»

Diese könnten dannzumal nebst E-Banking-Daten über unser Einkommen und Vermögen auch Gesundheits- und Gen-Informationen bis hin zu Daten aus Betreibungs- und Strafregistern enthalten, sagt er. Autoritäre Staaten arbeiten bereits auf eine Handy-Tragpflicht hin, so wie China für die Volksgruppe der Uiguren.



Intelligente Kameras – Die Software erkennt Emotionen

Gesichtserkennung ist auch darum so allgegenwärtig, weil Firmen wie Amazon diese Technologie ab der Stange verkaufen. Microsoft etwa beschreibt seine Dienstleistung so: «Gesichtserkennung zum Ermitteln von Gesichtern und Attributen in einem Bild, Personenidentifikation zum Abgleich einer Person mit Ihrem privaten Repository mit bis zu 1 Million Personen, Erkennung wahrgenommener Emotionen, die verschiedene Gesichtsausdrücke wie Glück, Verachtung, Neutralität und Angst erkennt, sowie die Erkennung und Gruppierung ähnlicher Gesichter in Bildern.»
(https://nzzas.nzz.ch/wirtschaft/intelligente-kameras-wir-sind-wandelnde-strichcodes-ld.1611257)


+++RECHTSPOPULISMUS
Wellen, Ströme, Fluten. Zur politischen Geschichte aquatischer Metaphern
Neben den viel diskutierten „Coronawellen“ ist auch die Versinnbildlichung von Migrant:innen, und besonders Geflüchteten, als Welle oder Flut stets in den Medien präsent. Wie kommt es, dass die Wassermetaphorik gleichzeitig zwei so unterschiedliche Phänomene beschreiben kann?
https://geschichtedergegenwart.ch/wellen-stroeme-fluten-zur-politischen-geschichte-aquatischer-metaphern/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Darum tauchen Nazi-Relikte immer wieder im Netz auf
Auf Ricardo stand ein Schild aus Zeit des Nationalsozialismus für 799 Franken zum Verkauf. Das ist kein Einzelfall: Immer wieder werden Nazi-Objekte öffentlich verkauft. Illegal ist das in der Schweiz nicht.
https://www.20min.ch/story/darum-tauchen-nazi-relikte-immer-wieder-im-netz-auf-130065870208


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Warum werden infizierte Corona-Skeptiker nicht kleinlaut?
Einen bekannten Massnahmen-Skeptiker hat das Coronavirus schon zweimal erwischt. Sogar mit Folgeschäden, wie er behauptet. Er verlangt trotzdem weiter das Ende des Shutdowns. Ein Psychologe erklärt, wann eine Erkrankung einen Meinungswechsel bewirkt – und wann nicht.
https://www.20min.ch/story/warum-werden-infizierte-corona-skeptiker-nicht-kleinlaut-761754455497


Ändert eine Corona-Infektion die Haltung zu den Massnahmen?
Einen bekannten Massnahmen-Kritiker hat das Coronavirus schon zweimal erwischt. Sogar mit Folgeschäden, wie er behauptet. Er verlangt trotzdem weiter das Ende des Shutdowns. Das muss kein Widerspruch sein.
https://www.20min.ch/story/warum-werden-infizierte-corona-skeptiker-nicht-kleinlaut-761754455497


Kaum Strafverfolgungen: Sind die Covid-Gesetze willkürlich?
Die Aargauer Staatsanwaltschaft hat hunderte von Strafbefehlen an Personen geschickt, die sich nicht an die Corona-Massnahmen hielten. Wer diesen Strafbefehl jedoch nicht akzeptiert, wird in der Regel freigesprochen.
https://www.telem1.ch/aktuell/kaum-strafverfolgungen-sind-die-covid-gesetze-willkuerlich-141506390


Widerstand gegen Maskenpflicht: Maskengegner gehen absichtlich ohne Maske in Läden und ÖV
Maskengegner in Luzern treffen sich regelmässig in Bahnhöfen oder dem ÖV und verletzen die Maskenpflicht.
https://www.20min.ch/story/maskengegner-gehen-absichtlich-ohne-maske-in-laeden-und-oev-180994553351



DEMO ALTDORF:
Urner Polizeisprecher zur Duldung der unbewilligten Demo in Altdorf: «Nicht mit Kanonen auf Spatzen schiessen»
Am Samstag fand in Altdorf eine unbewilligte Kundgebung gegen die Coronamassnahmen des Bundes statt. Obwohl die Urner Kantonspolizei im Vorfeld sagte, keine Versammlungen dulden zu wollen, tat sie am Schluss ebendies. Nun nimmt Polizeisprecher Gusti Planzer Stellung.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/uri/nachgefragt-urner-polizeisprecher-zur-duldung-der-unbewilligten-demo-in-altdorf-nicht-mit-kanonen-auf-spatzen-schiessen-ld.2123834
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/reaktionen-auf-die-corona-demo-in-altdorf-141506655
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/erfolgsautorin-blanca-imboden-mein-buch-ist-eine-mogelpackung?id=11964437 (ab 01:10)


Corona-Demo von Altdorf hat Nachspiel: Skeptiker-Bauer Hans P. (49) hat Anzeige am Hals
Auf dem Bauernhof der Familie P. trafen sich am Samstag in Altdorf Hunderte Corona-Skeptiker. Am Tag danach ist die Familie wortkarg, sie scheint nervös. Die Polizei sagt, es werde zu einer Anzeige kommen.
https://www.blick.ch/schweiz/zentralschweiz/corona-demo-von-altdorf-hat-nachspiel-skeptiker-bauer-hans-p-49-hat-anzeige-am-hals-id16452382.html



luzernerzeitung.ch 11.04.2021

Tell, Schweizer Fahnen und Pfefferspray: Wenn Coronaskeptiker in Altdorf demonstrieren

Rund 500 Personen demonstrierten am Samstag in Altdorf illegal gegen die Coronamassnahmen des Bundes. Sie taten dies friedlich, wenn auch mit einigen irritierenden Botschaften. Ein Augenschein vor Ort.

Philipp Wolf

Hunderte Menschen strömen an diesem Samstag auf den Altdorfer Rathausplatz, kapern das Denkmal Wilhelm Tells. Schweizer Fahnen werden geschwenkt, mehrmals die Nationalhymne angestimmt. Die Stimmung ist grösstenteils friedlich, Sachschaden entstand nach bisherigem Kenntnisstand der Urner Kantonspolizei keiner. Von Genf bis aus dem Thurgau sind sie angereist, um in die Fussstapfen des Schweizer Freiheitskämpfers zu treten.

Freiheit, das heisst auf dem Rathausplatz vor allem, keine Schutzmasken zu tragen. Wer dennoch eine auf hat, ist Polizist oder Medienschaffender. «He, zieh deine Maske ab!», wird einer Passantin nachgerufen. Wenn die anwesenden Coronaskeptiker während der illegalen Kundgebung Masken tragen, dann lediglich zur Vollendung eines Kostüms:

Dennoch halten zahlreiche Demonstranten mit ihren Motiven zunächst hinter dem Berg. Man sei nicht hier, um zu protestieren. Man wolle lediglich dem Telldenkmal einen Besuch abstatten, sagt etwa ein älteres Ehepaar aus Genf, bevor es um eine Übersetzung einer Polizeidurchsage bittet. Wer den Platz nicht umgehend verlasse, riskiere eine Verzeigung, heisst es.

Immer wieder suchen Polizisten mit Demonstranten das Gespräch – und umgekehrt. Es wird respektvoll diskutiert, die Ordnungshüter hören sich die Anliegen der Anwesenden geduldig an und die allermeisten der Protestierenden bleiben höflich, obwohl sie mit den Anweisungen der Polizei nicht einverstanden sind.

Eine Frau Mitte 40 drückt Schaulustigen und Demonstranten derweil eifrig Flyer in die Hand, auf denen fragwürdige Informationen zu Covid-19 propagiert werden. Dennoch gibt sie zunächst an, zur Besichtigung des Telldenkmals hier zu sein. Auf die Flyer angesprochen sagt sie: «Die hatte ich per Zufall im Rucksack.»

«Plandemie» und «Impfgenozid»

Andere zeigen ihre Absichten offener und tragen ihre Meinung auf Schildern zur Schau. Ein Mann, der schon kurz nach Mittag beim Telldenkmal steht, trägt ein Schild um den Hals mit Immanuel Kants Leitspruch der Aufklärung: «Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.» Zwei junge Erwachsene halten Schilder in die Höhe, auf denen von «Plandemie» die Rede ist. Auf anderen Schildern sind Rebellion oder «Impfgenozid» Thema. Forderungen in Bezug auf konkrete Massnahmen, beispielsweise die Öffnung der Bars und Restaurants oder die Auszahlung höherer Härtefallgelder, sucht man an diesem Nachmittag.

Einige Anwesende wettern gegen die Polizei, und dagegen, was diese repräsentiert. Im Zentrum der Demonstration etwa sagt ein kahl geschorener Mann mit tätowiertem Nacken, die Polizei würde nur auf eine Gelegenheit warten, Gewalt anzuwenden. Augenblicke später ruft er seinem Begleiter zu: «Wenn die mich nur einmal anfassen, mache ich sie kaputt.»

Derweil stehen die Polizisten in Vollmontur einige Meter entfernt in Reih und Glied und beobachten das Geschehen.

Die Polizei als gemeinsamer Nenner

Versuche der Polizei, abermals zum Verlassen des Platzes aufzurufen, quittieren zahlreiche Demonstranten mit:  «Wir sind das Volk! Wir sind das Volk!»

Dies, obschon laut Urner Kantonspolizei gerade einmal 500 Leute auf dem Rathausplatz zugegen sind. Aus der Anonymität der Menge kommen zudem ab und an Rufe wie «wir sind viel mehr als die», «schau, sie weichen zurück» oder «marschieren wir einfach auf sie los, die haben doch keine Chance».

Sobald sich die Polizei jedoch daran macht, aktiv zu werden und einen weiteren Räumungsversuch unternimmt, wendete sich die Stimmung umgehend. «Sie gehen auf friedliche Demonstranten los!» und «elender Polizeistaat» heisst es etwa.

Jubel wie an einem Fussballspiel

Zweimal gelingt es Gruppen von Demonstranten, den versammelten Polizisten aus Uri, Schwyz, Luzern und Zug die Räumung des Platzes zu vereiteln. Ein erstes Mal, als knapp zwanzig schwarz gekleidete Maskierte einen Trauerzug mimen und einen Kranz beim Telldenkmal ablegen. Ein zweites Mal, als eine Gruppe Tryychler einen Zug von mehreren 100 Demonstranten auf den Rathausplatz führt.

Diese Aktionen werden von den restlichen Anwesenden frenetisch gefeiert und beklatscht. Das Eintreffen der Tryychler wird bejubelt wie ein Tor an einem Fussballspiel. Die Demonstranten rufen «Liberté, Liberté, Liberté», als hätten die lautstarken Glocken die Polizisten in die Schranken gewiesen. Eine Bündner und mehrere Schweizer Fahnen werden geschwenkt. Abermals wird von einigen Leuten die Nationalhymne angestimmt.

«Freiheit, Liebe, keine Diktatur»

Kurz darauf setzt die Polizei «zum Selbstschutz», wie sie in einer Medienmitteilung schreibt, Pfefferspray gegen Teile der Demonstranten ein. Direkt vor dem Telldenkmal.

Dann rufen die Leute «Freiheit, Liebe, keine Diktatur!». Währenddessen trinken viele von ihnen Bier, einige essen Chips.

Wenig später zieht das Gros der Protestierenden friedlich ab in Richtung Bauernhof, wo die Kundgebung ursprünglich geplant war. Auf dem Weg dorthin erzählt man sich, wie man der Polizei Paroli geboten hat, und das erst noch beim Telldenkmal. Ein Demonstrant teilt diese Freude nicht gänzlich: «Ich hätte gehofft, dass sich noch mehr Zentralschweizer im Geiste Wilhelm Tells gegen den Staat erhoben hätten.»
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/uri/reportage-tell-schweizer-fahnen-und-pfefferspray-wenn-coronaskeptiker-in-altdorf-demonstrieren-ld.2123833)



Zürichsee Zeitung 11.04.2021

Protest-Umzug in RapperswilPlakate und Ballone gegen Corona-Massnahmen – Rosen für die Polizei

Knapp hundert Menschen spazierten am Samstag mit Herz-Ballonen durch die Altstadt von Rapperswil. Die Polizei blieb in der Beobachterrolle.

Istvan Nagy

Es sah lange so aus, als interessiere sich am Samstagnachmittag niemand für den auf der Kommunikations-App Telegram angekündigten Spaziergang durch die Rapperswiler Altstadt. Damit sollte gegen Verbote rund um die Corona-Massnahmen demonstriert werden.

Um 13 Uhr, dem in einem anonymen Flyer angegebenen Zeitpunkt, waren die grössten Menschenansammlungen auf dem Fischmarktplatz die Warteschlange vor dem Fast-Food-Restaurant und diejenige vor der Gelateria. Im normalen Rahmen flanierten Besucher im Hafengebiet, ohne Anzeichen auf eine grössere Gruppierung von Menschen am Seequai.

Protestzug ohne Masken

Als eine kleine Personengruppe aufgeblasene Ballone in Herzform verteilte, konnte erstmals so etwas wie eine Aktivität erkannt werden. Wobei es durchaus möglich gewesen wäre, dass diese Aktion zu einer der in Rapperswil nicht gerade seltenen Hochzeitsfeiern gehört hätte. Dem war jedoch nicht so: Vielmehr taten die Aktivisten fortan auch auf kleinen Plakaten ihren Unmut über die vom Bund verordneten Corona-Massnahmen kund. Gut zwei Dutzend Leute waren es zu diesem Zeitpunkt.

Eine gute halbe Stunde später setzte sich die lose auf dem Fischmarktplatz verteilte Gruppe schliesslich in Gang und spazierte in gemächlichem Tempo und ausreichendem Abstand dem Seequai entlang Richtung Curtiplatz. Schutzmasken trugen die Spaziergänger keine.

Krawallmacher blieben fern

Der friedliche Umzug wurde durch zahlreiche Polizeibeamte beobachtet, welche sich in der ganzen Altstadt auffallend verteilt hatten. Die Ordnungshüter hielten sich jedoch stets im Hintergrund und mussten nicht einschreiten. Dies hatte wohl auch mit den schlussendlich knapp hundert Spaziergängern zu tun, die keinerlei rebellischen Absichten hegten.

So waren Familien mit Kindern sowie vorwiegend in der zweiten Lebenshälfte stehende Personen unterwegs. Jugendliche und Krawallmacher kamen am Samstag nicht nach Rapperswil. Sämtliche Beteiligten verhielten sich stets freundlich und verteilten sogar Rosen an die am Weg stehenden Polizisten.

Ärger bei Geschäftsinhabern

Der Umzug durch die Gassen der Altstadt, hinauf zum Schloss und wieder zurück über den Hauptplatz zum Fischmarktplatz dauerte rund eine Stunde. Kurz danach zog sich auch die Polizei wieder zurück, und die Demonstranten verteilten sich in der Masse der flanierenden Gäste am See. Gut möglich, dass sich die Kerngruppe der Corona-Massnahmen-Gegner auf Altdorf im Kanton Uri konzentrierte, sodass der Spaziergang durch die Altstadt von Rapperswil zur Randnotiz verkommen war.

Trotzdem ärgerten sich einige Inhaber von Geschäften in der Altstadt wegen kurzfristig abgesagter Kundentermine darüber, dass es in Rapperswil zu einem solchen Anlass gekommen war.
(https://www.zsz.ch/plakate-und-ballone-gegen-corona-massnahmen-rosen-fuer-die-polizei-294902831014)



Phänomen Qanon:Verschwörung als großes Spiel
In Corona-Zeiten blühen die Verschwörungsmythen. Der QAnon-Kult aus den USA, der auch in Deutschland zahlreiche Anhänger hat, gilt als hochgefährlich. Ein Themenabend am PACT Zollverein in Essen geht diesem Phänomen nun auf den Grund.
https://www.deutschlandfunk.de/phaenomen-qanon-verschwoerung-als-grosses-spiel.691.de.html?dram:article_id=495535
-> „This is not a game“: https://media.ccc.de/v/rc3-11500-this_is_not_a_game_de#t=20


+++CORONA-JUGEND
NZZ am Sonntag 11.04.2021

Jugendkrawalle von St. Gallen: Sie wollen doch nur, dass etwas geschieht

Polizei und Politik versuchen mit Grossaufgeboten, neue Partynächte zu verhindern – oder die Jugend zu vereinnahmen. Aber die Jugendlichen interessiert das alles nicht.

Rafaela Roth und Samuel Tanner

Am Ende wird es ein weiterer Abend nervösen Wartens, Handy checken, Snapchat, Tiktok, läuft irgendwo etwas? «Momentan könnte es an allen 3 Orten krachen . . .», schreibt Gabriele, 21, per SMS. Er ist der einzige Jugendliche, der in dieser Geschichte beim richtigen Namen genannt werden will. An diesem Freitag kursieren Partyaufrufe für Zürich («ALLI WIEDER FETT ABGAH»), Winterthur und St. Gallen («die fettisti Party ever»).

St. Gallen ist zuletzt zu einem Synonym geworden für den Sturm und Drang von Jugendlichen, die seit einem Jahr zu Hause bleiben sollen. Auf dem Roten Platz, wo alles begann, filmt und kontrolliert bereits um 19 Uhr die Polizei. Am Ende der Nacht wird sie neunzig Jugendliche weggewiesen und vierzig eingebracht haben.

Am späten Freitagabend landet Nikolaj, 18, mit seiner Clique «im Bunker», in der Zivilschutzanlage Riethüsli, wo die Polizei die Jugendlichen vernimmt. In den vergangenen Wochen haben sich bei ihm Wegweisungen, mehrere Anzeigen und Job-Probleme angehäuft: «Wir wollten nur zeigen, dass man nicht alles mit uns machen kann», sagt er.

Gabriele, der in diesen Nächten immer unterwegs war, bleibt zu Hause, weil er auf einem Liveticker gesehen hat, wie präsent die Polizei überall ist, «habe nichts verpasst;)», schreibt er später in der Nacht.

Seit mehr als einem Jahr feiern die Jugendlichen in der Schweiz nicht, weil sie nicht dürfen. Der Bundesrat hat ihre Klubs geschlossen und verboten, dass sie sich in grösseren Gruppen treffen können. Nun gab es unbewilligte Partys, die teilweise in Gewalt ausarteten. In St. Gallen flogen Molotowcocktails. Der grosse Teil der Jugendlichen wollte nur feiern, wie sie erzählen. Es ist mehr Sturm als Drang.

Die politische Dimension

Jugendunruhen haben oft drei Phasen: 1. Widerstand auf der Strasse. 2. Laute Forderungen. 3. Vereinnahmungsversuche durch die Politik. Die Jugendlichen von St. Gallen wollen ihre Freiheit zurück. Sie wollen ihr eigenes Leben, das an guten Abenden eine Party ist.

Am Samstagmorgen, dem 10. April, werden uns die Jugendlichen erzählen, wie sie sich mit ihrem Widerstand den Vorschriften der Erwachsenen entziehen wollen – da versuchen politische Kräfte bereits, sie zu vereinnahmen.

Seit Monaten gibt es Widerstand gegen die Corona-Massnahmen des Bundesrats – etwa vom «Aktionsbündnis Urkantone», das am Samstag eine Demonstration in Altdorf durchführen wollte. Sie wurde nicht bewilligt und abgesagt, Hunderte marschierten trotzdem.

Irgendwann räumte die Polizei den Tellplatz. Als Vertreterin der Jugend sieht sich «Mass-voll», eine Gruppe um den Luzerner Nicolas A. Rimoldi mit Tausenden Followern. Er sagt: «Wir wollen die Befreiung der Jugend.»

Rimoldi sagt, er habe Verständnis für feiernde Jugendliche (für gewalttätige nicht), er kenne aber niemanden, der an einer der Partys in St. Gallen war. Sein Verein lebt nicht davon, dass er diese Jugendlichen vertritt – sondern von der Behauptung, er vertrete sie. In der Szene jener, die wegen der Corona-Massnahmen auf die Strasse gehen, bedauern wichtige Exponenten, sie hätten «leider» keine Kontakte zu den Jugendlichen.

Aus der Politik war es zuerst David Trachsel, der Präsident der Jungen SVP, der im «Blick» über die Ereignisse von St. Gallen sagte: «Wir sind weder erstaunt noch empört.» Nun sagt er: «Ich vertrete nicht jene, die Gewalt übten, aber die Frustrierten, die Verlierer dieser Krise. Dass sie aufbegehren, ist nur logisch.» Trachsel versucht, was Politiker bei neuen Bewegungen immer versuchen – und wobei ihn auch das Parteipräsidium der SVP unterstützt: Sie für sich einzunehmen.

Die Politik schaut ziemlich ratlos auf eine Jugend, die sie immer in den digitalen Medien vermutet hatte und die jetzt analog auf die Strasse geht. Eine Jugend, die sich nicht für Politiker interessiert. Die St. Galler Stadtpräsidentin Maria Pappa sieht die Grossaufgebote der Polizei nur als kurzfristige Lösung. Die Politik müsse lernen, die Jugend zu verstehen.

Dafür lohnt sich eine Anatomie der Ereignisse von St. Gallen.

Alles begann bei Snapchat. Auf die Idee kamen Luca und seine Clique. Dass er es war, der den ersten Partyaufruf postete, wissen weder die Polizei noch seine Eltern. «Project X-Party auf Drei Weihern», schrieb er, «ich will mindestens 100 Leute sehen.» Project X ist ein Film und ein Code für Partys, die ausarten. Am 26. März soll es so weit sein.

Luca verschickt den Snap in alle Richtungen, bald wissen alle Bescheid: Gabriele, Alejandro, Nikolaj – Jugendliche, die sich nicht kennen. Auf Snapchat verbreiten sich die Screenshots rasant. Es sind kleine Freundeskreise, die nach langer Zeit wieder einmal Teil von etwas Grossem sein wollen. «Wir wollten nur, dass wieder mal was läuft», sagt Luca.

Am Anfang der Krise blieben die Jugendlichen zu Hause – aber seit dem Sommer, so erzählt es einer von ihnen, hätten viele Freundeskreise «ein Rüümli» gemietet, in dem man sich treffe. Was ihnen fehlt, ist das Adrenalin des Ungewissen.

Der Kampf mit der Polizei

Als die Jugendlichen, überwiegend Männer, an jenem 26. März eintreffen, ist die Polizei bereits da. Die Party verlagert sich in die Innenstadt. Bald gehen die Beschreibungen des Abends auseinander: «Die Polizei musste aus Notwehr zu Gummischrot greifen», sagt Polizeisprecher Roman Kohler. «Es war lange eine friedliche Party, dann kam die Polizei plötzlich von allen Seiten mit Schutzausrüstung und Gummischrot», sagt Alejandro.

Noch in derselben Nacht jagt Nikolaj den Aufruf für eine nächste Party durch Snapchat, der Snap sieht ähnlich aus, der Ton hat sich verändert: «Wenn die Blauen kommen, wehren wir uns.» Nikolajs Aufruf multipliziert sich, weitere Aufrufe kursieren, am Ende wollen alle zuerst gewesen sein. Auf Snapchat entstehen fast ein Dutzend Untergruppen, eine trägt das Symbol einer Faust, eine andere den Spruch: «All cops are bastards.»

Auch Gabriele tritt einer Gruppe bei, «Sturm» heisst sie – zum Treffpunkt kommen fast hundert Jugendliche, schätzt er, sie kommen aus der ganzen Schweiz. Gabriele will vor allem filmen. «Ich will die Sicht der Jugendlichen zeigen, Gewalt lehne ich ab», sagt er. Eines seiner Videos aus der ersten Partynacht erreichte über vierhunderttausend Aufrufe.

Diese Unruhen sind ohne die Macht der sozialen Netzwerke nicht zu erklären. Alles geht sehr schnell, Organisatoren braucht es nicht. Die Jugendlichen bleiben unter dem Radar, erscheinen plötzlich in grosser Zahl – um sofort wieder zu verschwinden.

Am Karfreitag ist die Stimmung nervös: Wann kommt die Polizei? «Sie kam früh», sagt Gabriele. Seine Gruppe zerstiebt, er versteckt sich mit zwei anderen in einer Toi-Toi-Toilette vor den Polizeihunden. Einer aus seiner Snapchat-Gruppe sei verhaftet worden, erfährt er bald: «Sofort alle aus dem Chat», schreibt ein anderer.

Minuten später ist es, als hätte der Chat nie existiert. Gabriele filmt weiter. Die Jugendlichen sind unorganisiert, kleine Grüppchen – die Dynamik schafft das Ereignis. Ein Molotowcocktail, Pyros, 50 000 Franken Sachschaden, zwei Verletzte, 19 Eingebrachte, so lautet die Bilanz. Am Sonntag darauf erhalten 650 Personen eine Wegweisung.

«SG-Verbot» nennen es die Jugendlichen. Alejandro, 18, hat am vergangenen Freitag im «Bunker» bereits das zweite erhalten. Er lebt aber in St. Gallen. «Wo soll ich noch hin?», fragt er. Gabriele hat keine Freundin, er erzählt, wie schwierig es derzeit sei: «Was soll ich machen? Die Frauen wollen nicht Auto fahren kommen oder so.»

Die Jugendlichen dürfen noch arbeiten, aber sonst wenig. «Durch die Massnahmen ist doch viel mehr kaputt gegangen als durch die Krawallnacht», sagt Alejandro: Betriebe, Restaurants, Freundeskreise. Ihm sei sein Leben weggenommen worden und er habe dazu nichts zu sagen – es entscheiden die Erwachsenen, sagt er.

Der Jugendpsychiater Alain di Gallo sagt: «Die Jungen fürchten sich vor allem vor sozialer Isolation.» In seiner Klinik verzeichnet er seit letztem Herbst deutlich mehr Anmeldungen. Wie alle meistern Jugendliche neue Situationen mithilfe von Erfahrungswerten. Nur haben sie noch nicht so viele. In der öffentlichen Debatte seien sie lange vergessen gegangen.

«Es ist eine Art Aufschrei eines kleinen Teils der Jugendlichen», sagt di Gallo. Jugendliche, die seit Corona noch viel strenger von ihren Eltern kontrolliert werden, die kaum gefährdet sind und als letzte geimpft werden, deren Freundeskreis auf eine Grösse von fünf Leuten geschrumpft ist. «Man muss über Räume für sie nachdenken», sagt der Jugendpsychiater.

Es ist das, was sich die Jugendlichen in St. Gallen zurückerobern wollten: einen Raum für eine Party. Die Nächte waren gleichzeitig ein Schrei, gehört – und in Ruhe gelassen zu werden. Diese Jugend ist wie ihre sozialen Netzwerke: ein Wimmelbild, das sich unkontrolliert bewegt. Das macht sie für die Politik umso weniger fassbar. In den vergangenen Tagen hat sie versucht, das Bild mit Grossaufgeboten der Polizei zu ordnen.

Die Jugendlichen blieben zu Hause, weil sie nach der ersten Wegweisung eine Anzeige riskiert hätten. Aber wer mit ihnen spricht, der merkt, dass die Party noch nicht vorbei sein soll. Nicht viele sind auf Gewalt aus, viel mehr auf das Adrenalin.

Was soll jetzt geschehen? «Irgendwas!», sagt Luca, der zur ersten Partynacht von St. Gallen aufgerufen hatte.

Irgendwas soll endlich wieder geschehen.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/jugendunruhen-sie-wollen-doch-nur-dass-etwas-geschieht-ld.1611305)