Medienspiegel 25. Februar 2021

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+++LUZERN
luzernerzeitung.ch 25.02.2021

Steigende Asylkosten: Luzerner Kantonsrat fordert mehr Solidarität zwischen den Gemeinden

Vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge sind unter den Luzerner Gemeinden ungleich verteilt. Ein Kantonsrat fordert deshalb einen Verteilmechanismus. Die Regierung will stattdessen einen Kostenausgleich prüfen.

Reto Bieri

Die Asylkosten bereiten den Luzerner Gemeinden Sorgen, denn sie werden stark steigen, insbesondere ab 2025, eine Dekade nach der grossen Flüchtlingswelle. Grund: Nach zehn Jahren wechselt die Zuständigkeit für vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge vom Kanton zu den Gemeinden. In einem Anfang Februar publizierten Bericht haben die Behörden die finanzielle Belastung deshalb untersuchen lassen (wir berichteten).

Kopfzerbrechen bereiten die Kosten auch CVP-Kantonsrat Daniel Rüttimann. Dem Hochdorfer ist es ein Dorn im Auge, dass einzelne Gemeinden in der Flüchtlingswelle nur wenige Kosten zu tragen hatten und so künftig mit wenig Sozialhilfekosten rechnen müssen. Gemeinden hingegen wie Hochdorf, Buchrain, Willisau, Wolhusen, Triengen, Root, Sursee, Ruswil oder die Stadt Luzern, in denen verhältnismässig viele Asyl- und Flüchtingspersonen leben, werden zusätzlich belastet.

Der Hochdorfer Politiker schlägt in einer parlamentarischen Anfrage einen Verteilmechanismus vor. Einen solchen gab es bereits einmal: Weil es bei der Unterbringung der Flüchtlinge harzte, führte die Luzerner Regierung 2016 einen Verteilschlüssel ein. Die Gemeinden wurden verpflichtet, proportional zur Bevölkerungszahl Asylsuchende aufzunehmen. Dabei wurde mit einem Bonus-Malus-System gearbeitet. Wer weniger Flüchtlinge als vorgeschrieben aufnahm, musste in einen Topf einzahlen. Wer mehr aufnahm, erhielt daraus Geld. Das führte zu Unmut, unter anderem, weil einzelne Gemeinden lieber Geld einzahlten, als Flüchtlinge aufzunehmen.

Wer keine Sozialhilfe bezieht, darf Wohnsitz frei wählen

Die Gemeindeverteilung wurde per Ende 2016 wieder aufgehoben. Die Sozialvorsteherinnen und -vorsteher der Gemeinden werden seither alle sechs Monate über die aktuelle Verteilung der Asylsuchenden, der vorläufig Aufgenommenen und der anerkannten Flüchtlinge informiert. Darin zeigt sich laut Rüttimann, dass diese Personen sehr ungleich zwischen den Gemeinden verteilt sind.

Die Regierung nennt als Hauptgrund in ihrer kürzlich erfolgten Antwort, dass vorläufig Aufgenommene ihren Wohnsitz im Kanton frei wählen können, sofern sie keine wirtschaftliche Sozialhilfe beziehen, ebenso Flüchtlinge. Die Regierung schreibt: «Ein Drittel aller Personen im Asylbereich mit mehr als zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz ist in der Stadt Luzern wohnhaft.»

Grund: «Die Möglichkeiten im Bereich der schulischen und beruflichen Integration sind in Ortschaften mit Zentrumsfunktion naturgemäss grösser.»

Bis 2026 wechseln rund 2500 Dossiers zu den Gemeinden

Den Verteilmechanismus wünscht sich Daniel Rüttimann als «Ausgleich im Sinne der Solidarität», denn einige Gemeindekassen werden künftig ungleich stärker belastet. Der Kanton schätzt, dass in den Jahren 2021 bis 2026 rund 2500 vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge in die Zuständigkeit der Gemeinden übergehen. Durchschnittlich unterstützte die Dienststelle Asyl- und Flüchtlinge diese Personen bisher mit wirtschaftlicher Sozialhilfe von rund 16’500 Franken pro Kopf und Jahr.

Während der Kanton davon ausgeht, dass rund 40 Prozent der Asyl- und Flüchtlingspersonen auch nach zehn Jahren auf Sozialhilfe angewiesen sind, ist Rüttimann deutlich pessimistischer. Laut ihm sind es rund 70 Prozent. Nach seiner Rechnung kommen in den nächsten sechs Jahren Mehrkosten im Umfang von rund 28 Millionen Franken auf die Gemeinden zu.

Coronapandemie lässt Sozialhilfekosten steigen

Auch wenn davon die Stadt Luzern einen beträchtlichen Teil tragen muss, verbleiben auch für andere Gemeinden Millionenbeträge, betont Rüttimann. Der Hochdorfer Sozialvorsteher rechnet für seine Gemeinde für die nächsten drei Jahre mit zusätzlichen Kosten von jährlich rund 50’000 Franken, ab 2025 mit 150’000 Franken. Im Durchschnitt bezahlt Hochdorf für die wirtschaftliche Sozialhilfe insgesamt rund 1,8 Millionen Franken pro Jahr. Einen Anstieg erwartet Rüttimann auch aufgrund der Coronapandemie und der damit verbundenen Zunahme der Ausgesteuerten.

Anpassung des Soziallastenausgleich ist «ein Muss»

Rüttimann regt deshalb nebst dem Verteilmechanismus einen Lastenausgleich für die Asylkosten zwischen den Gemeinden an. Dafür gebe es zurzeit keinen Bedarf, schreibt die Regierung in ihrer Antwort. Sie stützt sich dabei auf den erwähnten Bericht. Darin wird stattdessen empfohlen, zu überprüfen, ob im Rahmen des kantonalen Finanzausgleichs der Soziallastenausgleich angepasst werden kann. Der Regierungsrat und die Stadt Luzern unterstützen dies.

Auch Daniel Rüttimann begrüsst den Bericht grundsätzlich. Lediglich prüfen reicht ihm aber nicht. «Meines Erachtens ist eine Anpassung des Soziallastenausgleichs spätestens im Jahr 2025 ein Muss.»

Um dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, will Rüttimann im Kantonsrat eine Diskussion verlangen. Sein Vorstoss ist in der Märzsession traktandiert.



Gemeinden wünschen sich proportionale Verteilung der Asylsuchenden

Im Anfang Februar publizierten Bericht zum Asylwesen (siehe Hauptartikel) betonen alle zehn befragten Luzerner Gemeinden, dass Menschen aus dem Asyl- und Flüchtlingsbereich bevölkerungsproportional auf die Gemeinden verteilt werden sollten. So könne die Integration besser gelingen und Hotspots vermieden werden. Als aktuell grösste Herausforderung wird die Integration in den Arbeitsmarkt genannt. Sieben der zehn Gemeinden hätten zudem berichtet, dass die Menschen, die nach zehn Jahren in die Zuständigkeit der Gemeinde übergehen, erstaunlich schlecht integriert seien. Zwei Gemeinden hätten zudem Kritik an der Effektivität der kantonalen Integrationspolitik geübt, da das Ergebnis nach zehn Jahren Aufenthalt in der Schweiz oft bescheiden sei.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/luzern/asylpolitik-steigende-asylkosten-luzerner-politiker-fordert-mehr-solidaritaet-zwischen-den-gemeinden-ld.2105531)


+++ZÜRICH
Kritik an Zürcher City-Card: Ausweis für Sans-Papiers verstösst gegen Bundesrecht
Die Stadt Zürich will mit der City-Card eine Identitätskarte für Sans-Papiers einführen. Gemäss Bundesrat wäre das rechtlich nicht verbindlich.
https://www.tagesanzeiger.ch/ausweis-fuer-sans-papiers-verstoesst-gegen-bundesrecht-490951105135
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/sans-papiers-bundesrat-erklaert-city-card-als-identitaetsausweis-fuer-rechtswidrig-ld.2106746
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/bundesrat-haelt-wenig-von-stadtzuercher-city-card-fuer-sans-papiers-00152826/
-> https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204703
-> https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204528


+++SCHWEIZ
Christine Schraner Burgener wird neue Staatssekretärin für Migration
Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 24. Februar 2021 Christine Schraner Burgener zur neuen Staatssekretärin für Migration ernannt. Sie ist zurzeit UNO-Sondergesandte für Myanmar. Am 1. Januar 2022 übernimmt sie die Leitung des Staatssekretariats für Migration (SEM) von Mario Gattiker, der in den Ruhestand geht.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-82475.html
-> https://www.derbund.ch/botschafterin-schraner-burgener-wird-neue-sem-chefin-565997704135
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/play/radio/rendez-vous/audio/neue-chefin-im-staatssekretariat-fuer-migration?id=713f2e03-3200-48c4-bdf9-df902660a8e4
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nachfolge-von-mario-gattiker-christine-schraner-burgener-wird-neue-sem-chefin
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/neue-staatssekretaerin-christine-schraner-burgener-wird-nachfolgerin-von-mario-gattiker-thurgauer-wird-neuer-direktor-des-bundesamts-fuer-justiz-ld.2106654
-> https://www.blick.ch/politik/noch-ist-sie-fuer-die-uno-in-myanmar-christine-schraner-burgener-wird-neue-asylchefin-id16366992.html
-> https://www.watson.ch/!988856639
-> https://www.watson.ch/schweiz/migration/897653839-warum-schraner-burgener-eine-bemerkenswerte-wahl-ist
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/christine-schraner-burgener-wird-oberste-asyl-chefin?urn=urn:srf:video:d0a37f6a-db95-42ed-8434-a9aae6c74bd9
-> https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/topjob-christine-schraner-burgener-wird-oberste-asylbeamtin-warum-keller-sutters-neue-staatssekretaerin-eine-bemerkenswerte-wahl-ist-ld.2106725
-> https://www.derbund.ch/von-der-diplomatie-in-die-niederungen-der-innenpolitik-924866797568


+++UNGARN
Gutachten des Europäischen Gerichtshofs: Ungarns »Stop-Soros-Gesetz« verstößt gegen EU-Recht
Per Gesetz verbietet Ungarn Mitarbeitern von Hilfsorganisationen, bestimmten Asylsuchenden zu helfen. Laut einem Gutachter des EuGH bricht das Land damit europäisches Recht.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/europaeischer-gerichtshof-ungarisches-gesetz-gegen-nichtregierungsorganisationen-verstoesst-gegen-eu-recht-a-2a788825-b607-404c-a4e6-8e3dbf31a22a
-> https://www.derstandard.at/story/2000124470844/kriminalisierung-von-asyl-hilfe-in-ungarn-ist-lauteugh-anwalt-rechtswidrig?ref=rss
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-02/ungarn-stop-soros-gesetz-eu-kommission-fluechtlingshilfe-eugh-gutachten


+++GRIECHENLAND
Schwangere zündet sich in griechischem Flüchtlingslager selbst an
26-jährige Afghanin überlebt die Selbstanzündung auf der Insel Lesbos
Eine hochschwangere Migrantin hat sich in einem Flüchtlingslager auf der griechischen Insel Lesbos selbst in Brand gesteckt. Sie dachte, dass ihr Antrag auf Ausreise nach Deutschland abgewiesen worden war – ein »Missverständnis«, heißt es aus Ministeriumskreisen.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1148759.fluechtlingspolitik-schwangere-zuendet-sich-in-griechischem-fluechtlingslager-selbst-an.html


+++EUROPA
Europas Türsteher unter Beschuss: Jetzt darf sich der Frontex-Chef keinen Fehler mehr leisten
Mobbingvorwürfe, illegale Rückweisungen und Intransparenz: Der Direktor der EU-Grenzschutzagentur Frontex sieht sich mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Dabei setzt der Franzose nur um, was ihm die Politiker in Auftrag geben – sagt er.
https://www.aargauerzeitung.ch/international/grenzschutz-europas-tuersteher-unter-beschuss-jetzt-darf-sich-der-frontex-chef-keinen-einzigen-fehler-mehr-leisten-ld.2106354


+++GASSE
derbund.ch 25.02.2021

Arm wegen Corona: Bern zahlt Gutscheine fürs Essen

Wie in anderen Städten stehen auch in Bern Personen für Gratislebensmittel an. Der Gemeinderat stellt nun Soforthilfe für Berner Armutsbetroffene in Aussicht.

Sarah Buser

Im Mai letzten Jahres standen in Genf rund 2500 Personen für Gratislebensmittel Schlange. Auch in Bern stehen Armutsbetroffene fürs Essen an: Jeden Dienstag verteilt das Restaurant Sous le Pont auf der Schützenmatte jeweils zwischen 70 und 90 Lebensmittelsäcke. In den vergangenen Monaten haben ausschliesslich Hilfsorganisationen diese Menschen in Notlage unterstützt.

Jetzt stellt der Berner Gemeinderat 100’000 Franken Soforthilfe für die nächsten vier Monate in Aussicht. In den kommenden Tagen sollen schon bestehende Zusammenarbeiten mit der kirchlichen Gassenarbeit, der Passantenhilfe, der Xenia Fachstelle für Sexarbeit und der Berner Beratungsstelle für Sans-Papiers ausgebaut werden, erklärt Claudia Hänzi, Leiterin des Sozialamts, die Vorgehensweise.

Die Stellen werden mit Einkaufsgutscheinen und Lebensmittelhilfen unterstützt. Im Austausch mit den Organisationen hat das Sozialamt festgestellt, dass Lebensmittelausgaben «anhaltend und überdurchschnittlich gut» besucht werden.

Mehr Familien und Junge

Es besteht ein grosser Bedarf, Armutsbetroffene zu unterstützen: Darin sind sich die karitativen Organisationen einig. Festansässige Personen, die zuvor einen kleinen Teil der Notleidenden ausmachten, nutzen nun am meisten die Lebensmittelausgabe, sagt Ursula Käufeler. Sie leitet die Passantenhilfe Bern und erzählt von einem typischen Klienten: ein Familienvater auf Kurzarbeit, der sich nicht bei der Sozialhilfe meldet aus Angst, die Aufenthaltsbewilligung zu verlieren. Auch in den Lebensmittelläden von Caritas Bern stellt man eine starke Zunahme von Klienten fest. Auffällig viele Junge und mehr Familien suchten die Läden auf, sagt Geschäftsleiter Matthias Jungo.

Die Anlaufstellen verzeichnen allesamt eine stark steigende Nachfrage. Offizielle Stellen können das Ausmass der Armutsbetroffenen in Bern und der Schweiz jedoch nicht beziffern. Es sei unmöglich, Zahlen zu erheben, sagt Claudia Hänzi vom Sozialamt Bern. Es sind Personen, die auf Kurzarbeit sind und nicht von den 80 Prozent ihres vorherigen Lohns leben können, sogenannte Working Poor, Sans-Papiers oder Sexarbeitende. Viele sind in keinen sozialen Einrichtungen registriert – aus unterschiedlichen Gründen, zum Beispiel aus Angst vor dem Entzug der Aufenthaltsbewilligung.

Die Pandemie erhöhe das Armutsrisiko auch in den Städten, sagt die Direktorin des Städteverbands Renate Amstutz. Sie spiegle sich aber mit wenigen Ausnahmen noch nicht in den städtischen Sozialhilfezahlen wider. «Wir rechnen jedoch mit einer erheblichen Zunahme in den nächsten zwei Jahren.»
(https://www.derbund.ch/bern-zahlt-gutscheine-fuers-essen-841520714615)



Corona: Abgabe von Einkaufsgutscheinen und Lebensmitteln
Vielen Menschen setzt die Pandemie stark zu. Einige haben keinen Zugang zu staatlichen Hilfssystemen. Sie erhalten Hilfen von privaten und kirchlichen Stellen. Diese haben jedoch nicht genügend Mittel, um den Bedarf zu decken. Der Gemeinderat spricht deshalb Mittel für die Abgabe von Lebensmitteln und Einkaufsgutscheinen an bedürftige Personen.
https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/corona-abgabe-von-einkaufsgutscheinen-und-lebensmitteln



Gemeinderatsantwort auf Kleine Anfrage Manuel C. Widmer (GFL): Berns Westen mit Privatpolizei?
https://ris.bern.ch/Geschaeft.aspx?obj_guid=edff4a1ddbe64d539fc20fed65c80f5b


+++BIG BROTHER
Ein solches Ding – die E-ID
Der fiktive Dialog für ein NEIN zum E-ID-Gesetz der Volksabstimmung vom 7. März 2021. Ein Gastbeitrag von Barbara von Rütte und Raffael Joggi.
http://www.journal-b.ch/de/082013/politik/3827/Ein-solches-Ding—die-E-ID.htm


+++RECHTSPOPULISMUS
SVP und «Diktator Berset» – 10vor10
Die SVP lehnt den Lockerungsplan des Bundesrates ab. Mehrere SVP-Politiker sprechen von einer «Diktatur» – mit Gesundheitsminister Berset an der Spitze. Das sorgt für Kritik.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/fokus-svp-und-diktator-berset?urn=urn:srf:video:8832a05e-47d2-4b0b-a569-1c093436cf78


Die SVP schlägt um sich und wird zum Bremsklotz für die Wirtschaft
Die SVP geht mit schrillen Tönen auf Alain Berset und die FDP-Bundesräte los. Damit drängt sie den Bundesrat zum Schulterschluss. Und torpediert eine bürgerliche Allianz für schnellere Lockerungen.
https://www.watson.ch/!602791968



bzbasel.ch 25.02.2021

Diktatorenvorwürfe, Gesslerhüte und ein Frontalangriff auf Guy Parmelin: Was ist bloss los bei der SVP?

Schrille Diktatur-Vergleiche, Absetzungspläne gegenüber der Regierung, Demontage der eigenen Bundesräte: In der SVP geht es wild zu und her. Eine Analyse – und ein Faktencheck.

Lucien Fluri

Der Wähler vergisst schnell. Das weiss – oder hofft man zumindest – bei der SVP. Sonst könnte die Partei nicht tun, was sie gerade tut. Doch der Reihe nach.

Mit wehenden Fahnen gingen Vertreter der Volkspartei im Frühling voran, als das Parlament seine eigene Session abbrach. Zu unsicher erschien ihnen das Bundeshaus. Das Zeichen war fatal: Just in dem Moment, als die grösste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg über der Schweiz aufzog, verabschiedeten sich die Volksvertreter – und fanden seither keinen Tritt mehr.

Martullo-Blocher: «Der Bund hat eine Diktatur eingeführt»

Ausgerechnet die SVP beklagt jetzt aber auf allen Kanälen, dass die Schweiz keine Demokratie mehr sei. «Der Bund hat eine Diktatur eingeführt», sagt Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher. Im Nationalrat wollen Teile der Partei ein Absetzungsverfahren für einzelne Bundesräte einführen – ein Frontalangriff auf Alain Berset, den die Partei mit Gesslerhut zeigt.

Und Roger Köppel, der Zürcher Nationalrat, ruft zum offenen Rechtsbruch auf: Die Wirte sollen trotz Verbot die Beizen öffnen. Der Bundesrat sei «eine Kollegialdiktatur der Corona-Gleichgesinnten», höhnt Köppel. Parteipräsident Marco Chiesa wiederholte schliesslich in einem Tamedia-Interview, was die Schwergewichte Köppel und Martullo schon gesagt hatten.

Junge SVP sieht Parmelin nur als halben Bundesrat

Am Dienstag begann gar die Demontage der eigenen Bundesräte. Der Gesamtbundesrat müsse zurücktreten, forderte Köppel: https://youtu.be/drPey0nK_ME

Die Junge SVP startete zum Frontalangriff auf Guy Parmelin. Dieser sei nicht besser als Berset, er werde «zum Problem der Bürgerinnen und Bürger der Schweiz», schrieb die Jungpartei; und bezeichnete Parmelin als halben SVP-Bundesrat. – Mit diesem Begriff war einst der gemässigte Berner Samuel Schmid aus der Partei gemobbt worden.

Es geht also gerade drunter und drüber. Zur Orientierung ein kleiner Faktencheck in vier Punkten.

1. Ist die Schweiz eine Diktatur?

An Kabarett-ähnliche Zustände fühlt sich FDP-Nationalrat Kurt Fluri bei diesem Vorwurf erinnert. Der Solothurner sitzt seit 2003 im Nationalrat, manch einem in Bern gilt er als staatspolitisches Gewissen. Fluri hält nichts vom Vorwurf der Diktatur. Er sagt:     «Dies ist reine Wahltaktik. Die SVP will sich als Vertreter des Gewerbes positionieren.»

Tatsächlich ist der Vorwurf falsch. Der Bundesrat handelt gestützt auf das Epidemiengesetz. Dieses wurde vom Volk im Jahre 2015 beschlossen. Mit dem Covid-Gesetz bestätigte das Parlament im Herbst gewisse Handlungsmöglichkeiten des Bundesrates ausdrücklich. Ein grosser Teil der SVP-Nationalräte stimmte zwar letztlich gegen das Gesetz, weil sie bereits damals die umfassende Macht des Bundesrates kritisierten. Aber sie unterlagen in einem demokratischen Prozess.

2. Was hat die SVP eigentlich getan?

Niemand hat in dieser angeblichen Diktatur so viel Macht wie die SVP. Sie stellt die grösste Fraktion im Bundeshaus, hat zwei Bundesräte, stellt National- und Ständeratspräsident. Und in den bevölkerungsreichen Kantonen Zürich, Aargau und Bern stellen sie die Gesundheitsdirektoren. Die Partei könnte, arbeitete sie mit anderen zusammen, sehr viel erreichen. – Der Bundesrat ist schliesslich in bürgerlicher Hand.

Doch getan hat die SVP eher wenig. Es kam auch nie ein Antrag für eine parlamentarische Notverordnung, mit der das Parlament den Bundesrat übersteuern könnte. Zuletzt kam der Widerstand von ausserhalb: Die Petition Stop-Lockdown wurde von einem Jungfreisinnigen angeschoben; das Covid-Referendum lancierten die sogenannten «Freunden der Verfassung». Die SVP sprang beidenorts auf, eher spät oder zögerlich.

Erst zögerlich wurde die SVP aktiv

Die SVP deponierte Forderungen eher in den Medien als im Parlament. Man muss der Partei dabei aber zugute halten: Viel früher als der Bundesrat forderte sie eine Maskentragpflicht, Konzepte für Altersheime oder Reihen-Schnelltests. Inzwischen ist sie auch daran, ihr Unbehagen in den gewohnten (offenbar funktionierenden) demokratischen Kanälen anzubringen. Über die nationalrätliche Gesundheitskommission wurde Druck auf den Bundesrat aufgesetzt, die Öffnungen voranzutreiben.

In der kommenden Session will die Partei nicht nur ein Verordnungsveto für Bundesratsbeschlüsse per Epidemiengesetz einbringen. Und die Wirtschaftskommission soll Bundesratsbeschlüssen zustimmen müssen.

«Der Wendepunkt war der 13. Januar», sagt SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi.

Die Mehrheit der Wirtschaftskommission wollte damals keine Schliessung der Läden; der Bundesrat schloss die Läden trotzdem. Aeschi: «Das Parlament wurde links liegen gelassen. Das ist erschreckend.»

3. Gibt es einen wahren Kern?

Auch wenn alles legal und demokratisch abläuft, ist die Mitsprache derzeit gering. Schweizerinnen und Schweizer sind es gewohnt, in monatelangen Prozessen per Vernehmlassungen und Referenden mitreden zu können. Dies alles fehlt bei der momentanen Instant-Gesetzgebung, in der der Bundesrat innert Kürze entscheiden muss. Das Parlament hat zudem wenige Sessionen pro Jahr. Bis diese stattfinden, ist meist schon alles entschieden.

Dass die Situation nicht befriedigend sei, gibt auch FDP-Nationalrat Kurt Fluri zu bedenken. Deshalb befasse sich derzeit eine Subkommission der Staatspolitischen Kommission mit der Frage, wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in ausserordentlichen Situationen gewahrt und das Parlament besser einbezogen werden könnte. Im Frühsommer soll ein Bericht vorgestellt werden. Diskutiert werden ein Vetorecht des Parlamentes oder eine Parlamentsdelegation, die einbezogen wird. Fluri: «Wir haben das Problem, dass wir kein permanent tagendes Parlament sind. Anders als in Deutschland oder Frankreich ist es für das Parlament sehr schwierig, schnell zu reagieren.»

4. Was bezweckt die SVP?

Tatsächlich gibt es Diskussionsbedarf. Das Bedürfnis nach einer Öffnung ist da, das Leiden vieler Betriebe gross. Die SVP versucht, vorhandenen Missmut in der Bevölkerung für sich zu nutzen. Lukas Golder, Politologe und Co-Leiter des Forschungsinstituts GFS Bern, sagt: «Die Corona-Pandemie trägt dazu bei, dass das Vertrauen in die Regierung gesunken ist. Viele Leute sind extrem hässig. Die SVP versucht nun diese Leute anzusprechen.» Es sei keine längerfristige Strategie. Diese diene auch der Mobilisierung für die Burka-Initiative am 7. März. Nach mehreren Niederlagen an der Urne hofft die Partei auf einen Erfolg. Golder: «Die SVP will zurück auf die Siegerstrasse, dafür braucht sie einen Sieg oder eine sehr knappe Niederlage.»

FDP-Nationalrat Kurt Fluri spürt zwar einen gewissen Druck auf die anderen Parteien. Er glaubt aber nicht, dass die Taktik der SVP bei den Wählern verfängt. «Die meisten Leute sehen, anders als die SVP, nicht nur schwarz-weiss. Sie sehen das Dilemma zwischen Wirtschaft und Gesundheit, in dem der Bundesrat steckt», so Fluri.

P.S. Am Montag übrigens werden die SVP-Parlamentarier ins Bundeshaus nach Bern reisen, um dort ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen. Sie haben schon viele Ideen, was man ändern sollte.
(https://www.bzbasel.ch/schweiz/analyse-diktatorenvorwuerfe-gesslerhuete-und-ein-frontalangriff-auf-guy-parmelin-was-ist-bloss-los-bei-der-svp-ld.2106475)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
«Nazi-Vergleiche dienen Querdenkern zur Geschichtsklitterung für politische Zwecke»
Manche Corona-Skeptiker tragen auch in der Schweiz an Demonstrationen Judensterne und vergleichen unsere Zeit mit den 30er-Jahren. Der Geschichtsprofessor Andreas Wirsching gibt Antworten zu den tatsächlichen Verhältnissen in der Weimarer Republik und dem gegenwärtigem Umschreiben der Geschichte.
https://www.higgs.ch/nazi-vergleiche-dienen-querdenkern-zur-geschichtsklitterung-fuer-politische-zwecke/40255/


Querdenken: Warum Linksalternative nach rechts steuern
Auf den “Querdenken”-Demonstrationen protestieren Familien neben Rechtsextremen, Naturheilkundler neben Verschwörungserzählern. Was hält sie zusammen? Eine erste Studie zu den “Querdenkern” kommt zu dem Ergebnis: Anders als Pegida kommt die Bewegung von links und geht nach rechts. Ehemalige Grünen-Wähler wechseln zur AfD. Sie eint: Das Misstrauen gegen Staat, Wissenschaft und Medien und ein radikal egozentrischer Freiheitsbegriff, der die persönliche Freiheit über die Solidarität mit den Schwächsten stellt. Der Baden-Württemberger Verfassungsschutz beobachtet jetzt die Bewegung, die sich selbst als radikaldemokratisch betrachtet. Wie radikal ist “Querdenken”?
https://www.youtube.com/watch?v=G5X6Z0hFHN0


Corona-Impfung – Unheil oder Segen?
Für die einen ist die Corona-Impfung der Ausweg aus der Pandemie, bei anderen löst der Impfstoff Druck und Angst aus. «Reporter» begleitet die grösste Impfaktion in der Geschichte der Schweiz und will wissen: Was macht diese Impfung mit uns?
https://www.srf.ch/play/tv/reporter/video/corona-impfung—unheil-oder-segen?urn=urn:srf:video:ba5106bb-ba94-49fd-826a-b49036dc9cf8&aspectRatio=16_9