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+++BERN
MEDIENMITTEILUNG
der Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (djb)
Auch Menschen in der Nothilfe müssen vor Ansteckungen geschützt werden – Unterbringung der Bewohner*innen in geeignete Unterkünfte gefordert
Durch die Berichterstattung der Berner Zeitung BZ vom 30. Januar 2021 sind die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (djb) auf die aktuellen Bedingungen im unter Quarantäne gestellten Rückkehrzentrum Aarwangen aufmerksam geworden. Die djb sind sehr besorgt über die Gefährdung der Gesundheit der Bewohner*innen des Rückkehrzentrums.
Im vergangenen Jahr haben die djb die Verfassungsmässigkeit der Anwesenheits- und Übernachtungspflicht in den Rückkehrzentren bereits mehrfach in Frage gestellt1. Aufgrund der Unterbringung von 100 Personen auf engstem Raum war es nur eine Frage der Zeit, bis ein grösserer Covid-Ausbruch in einem Rückkehrzentrum Realität werden würde.
Die durch die Bewohner*innen und vormaligen Angestellten geschilderten Hygienebedingungen, der Umgang mit den Corona positiven Menschen, die Verweigerung der Ausrichtung der Nothilfeleistungen, die fehlenden sanitären Einrichtungen (ToiToi im Freien), der ungenügende Zugang zu Testmöglichkeiten sowie die (anfänglich) unzureichende Versorgung mit Masken, Seife und Desinfektionsmittel machen deutlich, dass die ORS als Betreiberin der Unterkunft und auch das ABEV als Auftraggeberin ihrer Verpflichtung, die Nothilfe beziehenden Menschen mit geeigneten Massnahmen vor Ansteckungen zu schützen, nicht nachgekommen sind. Mit den ungenügenden Schutzmassnahmen haben die ORS und das ABEV in Kauf genommen, dass sich eine Vielzahl von Menschen innert kürzester Zeit mit Covid-19 anstecken würde. Nachdem mindestens bei einer Person eine Ansteckung mit der mutierten Variante festgestellt wurde, erhöht sich die Gefahr weiterer Ansteckungen enorm. Die kantonalen Behörden sind nun zum Handeln aufgefordert, um eine weitere Ausbreitung des Virus im Zentrum zu vermeiden. An die Zuständigen der SID und der GSI stellen die djb folgende Forderungen:
• Sofortige Unterbringung der Menschen aus dem Rückkehrzentrum Aarwangen in einer Quarantäne tauglichen,
menschenwürdigen Einrichtung, welche genügend Raum und sanitäre Einrichtung bietet, damit die
Hygienevorschriften und Abstandsregeln eingehalten werden können, um weitere Ansteckungen zu vermeiden;
• Zugang zu Tests für alle Bewohner*innen der Rückkehrzentren (inkl. Transport zum Testzentrum);
• Zugang zu adäquater medizinischer Versorgung für die erkrankten Menschen;
• Ausrichtung der gesamten Nothilfeleistungen von acht Franken pro Tag auch während der Quarantäne;
• Durchführung einer unabhängigen Untersuchung über die Unterbringungsbedingungen in den Rückkehrzentren
im Kanton Bern;
• Entzug des Auftrags an die ORS für die Führung der Rückkehrzentren.
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1 Abrufbar unter: www.djs-jds.ch/de/be-2/aktuell-be
Eine Sektion der Demokratischen Juristinnen und Juristen Schweiz DJS – www.djs-jds.ch
(https://djs-jds.ch/images/MM_djb_Aarewange.pdf)
+++SCHWEIZ
Bundesasylzentrum in Les Verrières: Zugang zu Rechtsvertretung muss gewahrt sein
Die Grundrechte der Asylsuchenden müssen auch im besonderen Zentrum gewahrt sein. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) fordert, dass die Betroffenen Zugang zu ihrer Rechtsvertretung haben und der Aufenthalt auf höchstens 14 Tage beschränkt wird.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/medienmitteilungen/bundesasylzentrum-in-les-verrieres
Das besondere Bundeasylzentrum in Les Verrières wird wieder in Betrieb genommen
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) nimmt das besondere Bundesasylzentrum in Les Verrières im Kanton Neuenburg Mitte Februar wieder in Betrieb. Es war im Sommer 2019 aufgrund der schwachen Belegung vorübergehend geschlossen worden. Auch wenn die Zahl an neuen Asylgesuchen weiterhin tief ist, stören derzeit einzelne Asylsuchende den Betrieb in den bestehenden Bundesasylzentren und die öffentliche Ordnung durch ihr renitentes Verhalten. Im besonderen Zentrum gelten für sie striktere Ausgangsregeln, zudem sind die Sicherheitsvorkehrungen strenger als in anderen Zentren.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-82196.html
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/besonderes-bundesasylzentrum-in-les-verrieres-offnet-wieder-65863759
-> https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/reaktivierung-renitente-asylbewerber-muessen-wieder-in-den-neuenburger-jura-ld.2093641
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nzz.ch 02.02.2021
Wegen nicht tolerierbaren Verhaltens: Bund nimmt besonderes Asylzentrum «Les Verrières» wieder in Betrieb
Durch renitentes Verhalten stören einzelne Asylsuchende den Betrieb der Bundesasylzentren. Darum öffnet das Staatssekretariat für Migration per Mitte Februar das Zentrum «Les Verrières» mit strengeren Sicherheitsvorkehrungen.
Selina Schmid
Das besondere Asylzentrum «Les Verrières» im Kanton Neuenburg soll Mitte Februar erneut in Betrieb genommen werden. Das teilt das Staatssekretariat für Migration (SEM) am Dienstag mit. Grund ist laut dem SEM nicht die Zahl der neu eingereichten Asylgesuche, denn diese ist seit Monaten tief. Es geht vielmehr darum, dass sich einzelne Asylsuchende renitent verhalten und so den Betrieb und das Zusammenleben in den Bundesasylzentren stören. Die öffentliche Sicherheit und Ordnung seien beeinträchtigt. Das SEM bezeichnet das Verhalten der Asylsuchenden als «nicht tolerierbar».
Die Inbetriebnahme von «Les Verrières» ist eine von mehreren Sofortmassnahmen, welche das SEM mit lokalen und kantonalen Behörden ergriffen hat, wie es weiter heisst. Im Zentrum sollen auffällige Asylsuchende vorübergehend untergebracht und damit andere Asylzentren entlastet werden. In besonderen Asylzentren sind die Sicherheitsvorkehrungen strenger als in anderen Einrichtungen, und es gelten für die Bewohner strikte Ausgangsregeln. Auch das Sicherheits- und Betreuungspersonal werde in «Les Verrières» verstärkt.
«Les Verrières» kann bis zu zwanzig – ausschliesslich männliche – Asylsuchende beherbergen. Das besondere Asylzentrum war im Dezember 2018 als Pilotversuch eröffnet worden, es wurde jedoch bereits im Sommer 2019 wieder geschlossen, weil die Belegung zu tief gewesen ist und es darum unverhältnismässig hohe Betriebskosten verursacht hat. Sollte die Auslastung erneut zu schwach sein, könne es vorübergehend in einen Aussenstandort des bestehenden Bundesasylzentrums in Boudry (NE) umgewandelt werden, heisst es in der Mitteilung.
(https://www.nzz.ch/schweiz/wegen-nicht-tolerierbarem-verhalten-bund-nimmt-besonderes-asylzentrum-les-verrieres-wieder-in-betrieb-ld.1599601)
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(Staatspolitische Komission Ständerat)
(…)
Kommission spricht sich grundsätzlich für punktuelle Anpassung des Status der vorläufigen Aufnahme aus
Nachdem der Nationalrat in der Wintersession nicht auf die Vorlage zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes (20.063) eingetreten ist, musste die SPK des Ständerates nur über das Eintreten befinden.
Die Kommission beantragt ihrem Rat mit 8 zu 3 bei 2 Enthaltungen auf die Vorlage einzutreten. Sie begrüsst grundsätzlich die vom Bundesrat vorgeschlagenen Änderungen, wodurch einerseits vorläufig aufgenommene Personen künftig den Kanton wechseln können, wenn sie im neuen Kanton eine Stelle haben oder eine längere berufliche Ausbildung absolvieren und keine Sozialhilfe beziehen, und andererseits die Reisen in den Heimatstaat sowie in Drittstaaten auf Gesetzesstufe geregelt werden. Eine Minderheit beantragt nicht auf die Vorlage einzutreten.
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Massnahmen zur Unterstützung von gewaltbetroffenen Geflüchteten in Bundesasylzentren bereits in Umsetzung
Die Kommission spricht sich mit 8 zu 4 Stimmen bei 1 Enthaltungen gegen die Motion 20.3924 aus. In Anbetracht der bereits vorgenommenen und geplanten Massnahmen durch den Bund, werden die Forderungen der Motion – für eine schnellere Opferidentifikation zu sorgen und sicherzustellen, dass Flüchtlinge, die Opfer von Gewalt wurden, Zugang zur benötigten Gesundheitsversorgung haben – bereits erfüllt. Eine Minderheit beantragt die Annahme der Motion.
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Kein Handlungsbedarf für verlängerte Ausreisefrist von Lehrlingen
Mit 9 zu 4 Stimmen spricht sich die Kommission auch gegen die Motion 20.3925 aus, die fordert, dass in den Schweizer Arbeitsmarkt integrierte Asylsuchende mit Lehr- oder Ausbildungsvertrag bei einem negativen Asylentscheid vor der Rückkehr ins Herkunftsland ihre berufliche Grundbildung mittels einer verlängerten Ausreisefrist weiterführen und abschliessen können. Die Kommission hat Verständnis für das Anliegen, sieht jedoch keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf, da im Rahmen der neuen Rechtslage durch das beschleunigte Asylverfahren per 1.3.2019 solche Situationen nicht mehr vorkommen sollten. Für die stark abnehmenden altrechtlichen Fälle bestehen bereits heute verschiedene Instrumente, um Lehren, die kurz vor dem Abschluss stehen, zu ermöglichen. Eine Minderheit beantragt die Annahme der Motion.
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Administrativhaft für Jugendliche als letztes Mittel
Mit 7 zu 5 Stimmen bei 1 Enthaltung spricht sich die Kommission erneut dagegen aus, die Administrativhaft für minderjährige Migrantinnen und Migranten durch eine nationale Gesetzgebung zu verbieten, wie dies die Standesinitiative 18.321 des Kantons Genf «Stopp der Administrativhaft für Kinder!» fordert. Das Bundesrecht untersagt schon heute die Administrativhaft für Kinder unter 15 Jahren. Ob im Falle einer Wegweisung von 15-18-jährigen Migrantinnen und Migranten eine Administrativhaft vorgesehen werden soll, liegt in der Kompetenz der Kantone. Die Kommission betont, dass die Administrativhaft von unter 18-Jährigen als letztes Mittel und stets verhältnismässig anzuwenden ist.
Eine Minderheit beantragt der parlamentarischen Initiative Folge zu geben.
(…)
(https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-spk-s-2020-02-02-a.aspx)
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Bericht der Zwangsausschaffung vom 27. Januar 2021
Übersetzung des Berichts der Zwangsausschaffung von Solomon vom 27. Januar 2021. Die französische Version ist weiter unten zu finden.
Vor fünf Monaten erhielt Solomon ein Aufgebot für einen Flug nach Äthiopien. Diesen Flug verweigerte er. Sein Lebensmittelpunkt befand sich in der Schweiz. Er arbeitete in einer Fahrradwerkstatt, engagierte sich in der Unterkunft, in der er wohnte und wurde von allen geschätzt. Die Schweiz zu verlassen war für ihn völlig inakzeptabel. Nach seiner Verweigerung bezog er weiterhin die Nothilfe, welche er alle zwei bis drei Monate neu beantragen musste. Ansonsten ging das Leben ohne weitere Einschränkungen weiter. Keine Eingrenzung, die ihn zwingen würde, zu Hause zu bleiben und auf die Polizei zu warten, keine gerichtliche Verfügung, nichts. Nichts was darauf hin deutete, dass er bald in den Räumlichkeiten des Einwohner*innenamtes, wo er die Nothilfe beantragen musste, verhaftet werden würde.
https://barrikade.info/article/4176
Migrationsaussenpolitik: Weiterführung der interdepartementalen Zusammenarbeit
Die interdepartementale Zusammenarbeit in der Schweizerischen Migrationsaussenpolitik wird weiter ausgebaut. Insbesondere sollen die Synergien zwischen Migrations- und Aussenpolitik sowie der internationalen Entwicklungszusammenarbeit noch besser genutzt werden. Mit diesem Ziel haben das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD), das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) sowie neu auch das Eidgenössische Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF) am 2. Februar 2021 eine Vereinbarung unterzeichnet. Sie setzen damit den Weg einer umfassenden und kohärenten Migrationsaussenpolitik konsequent fort.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-82201.html
+++BALKANROUTE
nzz.ch 02.02.2021
In Griechenland kommen weniger Migranten an. Dennoch gibt es auf der Balkanroute eine neue Dynamik
Auf der Balkanroute nimmt der Verkehr zu. Das ist eine direkte Folge des asylpolitischen Versagens Europas. Nur ein kleiner Teil der Reisenden hat Chancen auf Asyl.
Andreas Ernst, Jonas Hermann, Berlin, Volker Pabst, Istanbul
Kälte, Schnee und ein Brand haben in den vergangenen Wochen die internationale Aufmerksamkeit erneut auf die sogenannte Balkanroute gelenkt. Im Nordwesten Bosniens brannten Ende letzten Jahres Teile des berüchtigten Flüchtlingslagers von Lipa ab. Wie in Moria auf Lesbos wurde das Feuer vermutlich durch Migranten gelegt. Die Verlegung der Bewohner des stark beschädigten Lagers scheiterte am Widerstand der lokalen Bevölkerung. Noch immer hausen etwa 2000 Personen bei tief winterlichen Bedingungen in improvisierten Zelten, besetzen Wochenendhäuschen oder stillgelegte Fabriken. Mittlerweile hat die bosnische Armee ein neues, teilweise beheizbares Zeltlager für 900 Personen aufgebaut.
2015 waren fast eine Million Migranten und Flüchtlinge über den Balkan in die EU gelangt. Im Frühjahr 2016 wurde die Route geschlossen. Wegen der Zäune und verstärkter Kontrollen verschob sich danach die am stärksten begangene Route. Die meisten Migranten versuchen seither auf dem Weg über Bosnien ihr Glück. Das bewaldete, hügelige Grenzgebiet zum EU-Land Kroatien ist schwieriger zu kontrollieren als die Ebenen weiter nördlich. Dennoch werden viele von der kroatischen Polizei aufgegriffen, oft verprügelt und zurückgeschickt. Sie landen dann in Lagern wie Lipa.
Die grosse Mehrheit, nach Schätzungen von Hilfsorganisationen 80 bis 90 Prozent der Migranten, sind Männer. Sie kommen aus Pakistan, Afghanistan, Syrien und Bangladesh, viele auch aus Nordafrika. Die Chancen, dass sie in einem EU-Land Asyl erhalten ist für die deutliche Mehrheit klein.
«Sekundärmigration» belebt die Balkanroute
Nun hat sich eine neue Dynamik auf der Balkanroute entwickelt. Trotz der Corona-Pandemie und abnehmender Zahl von Ankünften in Griechenland versuchten im vergangenen Jahr mehr Migranten über die Balkanstaaten nach Westeuropa zu gelangen als 2019. Das geht aus einem vertraulichen Bericht des deutschen Bundespolizeipräsidiums hervor, der der NZZ auszugsweise vorliegt. Verfasst hat das Dossier das im Präsidium angesiedelte Gemeinsame Analyse- und Strategiezentrum illegale Migration.
Die Balkanregion sei für Deutschland «weiterhin von massgeblicher Bedeutung», da sie für die Sekundärmigration in die Bundesrepublik genutzt werde. Sekundärmigration heisst: Asylsuchende, die sich bereits in der EU aufhalten, reisen in ein EU-Land ihrer Wahl, um dort einen Asylantrag zu stellen. Laut Dublin-Verordnung ist dies nicht erlaubt. Demnach muss der Antrag im Ankunftsstaat gestellt werden. Für die Personen auf der Balkanroute ist das in den allermeisten Fällen Griechenland.
Auch die EU-Grenzschutzagentur Frontex berichtet, dass die Zahl der versuchten Grenzübertritte auf EU-Gebiet im westlichen Balkan um 75 Prozent auf 27 000 zugenommen habe. Gleichzeitig nahm die Zahl der Ankünfte von Schutzsuchenden aus der Türkei in Griechenland aber um 70 Prozent ab. Verantwortlich dafür dürfte neben den pandemiebedingten Mobilitätseinschränkungen der Grenzschutz sein, den Griechenland nach der einseitigen Grenzöffnung durch die Türkei im März stark ausbaute.
Dass die Grenzübertritte auf der Balkanroute ansteigen, obwohl weniger Migranten und Flüchtlinge aus der Türkei ankommen, kann nur heissen, dass sich mehr Personen nach Nordwesten aufmachen, die bereits in Südosteuropa sind, vor allem in Griechenland. In dem Land leben laut dem Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR etwa 120 000 Migranten, etwa 100 000 von ihnen sind auf dem Festland.
Weil Sekundärmigration irregulär stattfindet, gibt es dazu laut Stella Nanou vom UNHCR in Athen allerdings keine verlässlichen Daten. Zudem registriert Frontex Grenzübertritte und nicht Migranten. Da diese oft mehrmals versuchen, von einem Land ins andere zu gelangen, gibt es viele Mehrfachzählungen.
Die Abwanderung aus Griechenland hat laut Nanou viele Gründe: fehlende Integrationsmöglichkeiten, hohe Hürden für eine legale Weiterreise, etwa im Rahmen einer Familienzusammenführung, oder die Angst vor Deportation nach einem abschlägigen Asylentscheid.
Daphne Panayotatos von der Organisation Refugees International in Washington weist darauf hin, dass sich Griechenland immer noch als Transitland versteht und wenig unternimmt, um anerkannte Flüchtlinge zu integrieren. Zudem habe sich der Druck auf die Migranten infolge der verschärften Asylgesetzgebung erhöht. Für die ganze Region gilt, dass die Pandemie die meist ohnehin prekäre wirtschaftliche Situation irregulär eingereister Migranten verschlechtert hat.
Migrationspolitisches Versagen Europas
Die Lage in Südosteuropa wirft ein Licht auf das Versagen der europäischen Migrations- und Asylpolitik. Laut dem Dublin-Abkommen bleiben Unterbringung, Abklärungsverfahren, die Integration oder Rückschiebung von Asylbewerbern an Griechenland hängen. Weil die EU-Staaten sich nicht auf eine Lastenteilung einigen können, toleriert das mit dem Problem alleingelassene Land die Sekundärmigration. Im Grunde ist Athen froh um jede Person, die sich über die Balkanroute auf den Weg nach Norden macht.
Weil auch alle anderen Staaten auf der Route die Asylbewerber nicht wollen, werden die illegalen Pushbacks immer häufiger. Gut dokumentiert sind sie vor allem bei den Grenzpolizeien der EU-Länder Griechenland, Ungarn und Kroatien, angeblich auch unter Mithilfe von Frontex.
Die Asylbewerber haben ihrerseits kein Interesse an einem Verfahren in den Balkanländern. Ihr Ziel ist meist Deutschland, aber auch Österreich oder Italien. Weil die Zustände im griechischen Asylwesen zum Teil haarsträubend sind, ordnen deutsche Gerichte an, dass selbst Asylbewerber, die dort anerkannt sind, nicht einfach aus Deutschland zurückgebracht werden können. Das steigert zusätzlich den Anreiz zur Sekundärmigration.
Es ist offensichtlich, dass die Gerichte mit ihren Urteilen das kaputte System nicht reparieren können. Deshalb wird die Rechtsprechung in manchen Ländern einfach ignoriert, besonders krass im Fall der Pushbacks.
Die Zunahme der Migration macht sich laut dem Bericht des Bundespolizeipräsidiums besonders in Serbien und Rumänien, aber auch in Bosnien-Herzegowina und Nordmazedonien bemerkbar. Rund 15 600 illegale Versuche, aus Nordmazedonien nach Serbien einzureisen, zählten die dortigen Behörden laut dem Bericht von Januar bis Oktober 2020 – 66 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres.
An der Grenze zwischen Serbien und Rumänien nahm die Zahl der vereitelten irregulären Grenzübertritte von Januar bis Oktober 2020 um mehr als 600 Prozent zu. In Rumänien scheint sich die Stadt Timisoara zu einer neuen Drehscheibe für die Weiterreise nach Ungarn zu entwickeln. Im Dezember wurde ein neues, grösseres Empfangszentrum für Migranten in der westrumänischen Stadt eröffnet.
Zunahme nach dem Ende der Pandemie?
«Wahrscheinlich wird die Balkanroute noch stärker frequentiert werden, wenn sich die Pandemie abschwächt und die Reisebeschränkungen aufgehoben sind», sagt Thorsten Frei, Vize-Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU im Deutschen Bundestag.
Die Zahlen aus dem Vorjahr weisen darauf hin, wie sich der Migrationsstrom entwickeln könnte. Zwischen Januar und März 2020 zählten die rumänischen Behörden rund 560 illegal versuchte Grenzübertritte aus Serbien. Als die Massnahmen gegen die Pandemie im Mai gelockert wurden, stiegen die Zahlen rasant. Im Oktober verzeichneten die Behörden dann binnen einer Woche rund 1300 Versuche, widerrechtlich die Grenze zu überqueren. Man müsse diese Entwicklung ernst nehmen, sagt der CDU-Politiker Frei der NZZ. Die Zahl der in Deutschland gestellten Asylanträge sei «immer noch deutlich zu hoch».
Trotz der Corona-Pandemie wurden in Deutschland vergangenes Jahr 122 170 Asylanträge gestellt. Keine der zuständigen Behörden konnte auf Nachfrage beantworten, wie viele Asylbewerber über den Balkan ins Land kamen. Es scheinen dazu keine Zahlen vorzuliegen. Klar ist nur, dass viele der Migranten auf der Balkanroute von einem Leben in Deutschland träumen.
(https://www.nzz.ch/international/balkanroute-mehr-migranten-unterwegs-ld.1596097)
+++MITTELMEER
Von Fethiye nach Rhodos. Keine Überlebenden
In Erinnerung an die 14 Menschen, die am 2. Januar 2020 im Ägäischen Meer ertrunken sind
https://alarmphone.org/de/2021/01/02/von-fethiye-nach-rhodos-keine-ueberlebenden/?post_type_release_type=post
+++EUROPA
Europäische Grenzschutzagentur in der Kritik: Wusste Frontex von illegalen Pushbacks?
Das EU-Parlament sieht sich seit Monaten mit Vorwürfen konfrontiert, dass Frontex von illegalen Pushbacks der griechischen Küstenwache gewusst haben soll. Weder interne Anhörungen noch Berichte konnten die Vorwürfe glaubhaft entkräften. Jetzt widmet sich eine Arbeitsgruppe dem Thema – und die Erwartungen sind groß.
https://www.deutschlandfunk.de/europaeische-grenzschutzagentur-in-der-kritik-wusste.1773.de.html?dram:article_id=491851
+++ATLANTIK
Kanarische Inseln – Die spanische Migrationspolitik ist in der Zwickmühle
Vom Urlaubs-Paradies zum Migrations-Hotspot: Die Kanaren drohen für Spanien und die EU zur Blamage zu werden.
https://www.srf.ch/news/international/kanarische-inseln-die-spanische-migrationspolitik-ist-in-der-zwickmuehle
Gestrandete Flüchtlinge – «Pulverfass» Gran Canaria: Ferieninsel wird zum Migrationshotspot
Rund 23’000 Menschen kamen allein im letzten Jahr. Die Regierung in Madrid will die Migranten vom Festland fernhalten.
https://www.srf.ch/news/international/gestrandete-fluechtlinge-pulverfass-gran-canaria-ferieninsel-wird-zum-migrationshotspot
+++GASSE
Kaum jemand übernachtete in Notschlafstelle
Seit gestern Abend ist die Basler Notschlafstelle für Bettlerinnen und Bettler offen. Bisher kamen nicht viele.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/kaum-jemand-uebernachtete-in-notschlafstelle?id=11924647
Genfer Justiz setzt Bettelverbot ausser Kraft
Das Bettelverbot im Kanton Genf wird bis auf Weiteres ausser Kraft gesetzt. Die Genfer Justiz reagiert damit auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR).
https://www.swissinfo.ch/ger/genfer-justiz-setzt-bettelverbot-ausser-kraft/46338634
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/reaktion-auf-egmr-urteil-genfer-justiz-hebt-bettelverbot-auf
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nzz.ch 02.02.2021
Nach Urteil des Gerichtshofes für Menschenrechte: Genf suspendiert das Bettelverbot vorläufig
Eine Bettlerin musste ins Gefängnis, weil sie eine Busse nicht bezahlen konnte. Genf passt nun das Gesetz an.
Antonio Fumagalli, Lausanne
Genf hat die Menschenrechte einer jungen Frau verletzt, die in der Innenstadt gebettelt hatte und dafür gebüsst worden war. Zu diesem Schluss kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg in seinem Urteil vom 19. Januar. Nun hat der Kanton reagiert: Der Generalstaatsanwalt hat den entsprechenden Gesetzesartikel bis auf weiteres suspendiert, die Polizei stellt vorderhand also keine Bussen mehr fürs Betteln aus, schreibt die «Tribune de Genève». Die Staatsanwaltschaft bestätigt diesen Sachverhalt auf Anfrage.
Der Fall geht auf das Jahr 2014 zurück. Eine 22-jährige Romni wurde damals mit 500 Franken gebüsst, sie hatte in den drei Jahren zuvor neunmal gegen das 2007 in Genf eingeführte Bettelverbot verstossen. Weil sie die Busse nicht bezahlen konnte, musste sie für fünf Tage ins Gefängnis. Der EGMR erachtete die Bestrafung als «unverhältnismässig im Kampf gegen das organisierte Verbrechen» und verurteilte die Schweiz. Das Bundesgericht hatte das Genfer Bettelverbot 2008 noch gestützt.
Schon das EGMR-Urteil löste in Genf zahlreiche politische Reaktionen aus, die Suspendierung des Gesetzesvollzugs nun erst recht. Das demokratisch eingeführte Recht müsse angewendet werden, ob dies «in der Ferne» passe oder nicht, lässt etwa die SVP verlauten. Mit Interesse zur Kenntnis nimmt das Urteil auch Basel-Stadt, wo seit Juli 2020 nur noch das «bandenmässige Betteln» bestraft wird. Weil darauf die Anzahl der Bettler stark zunahm, verlangt das Parlament von der Regierung nunmehr, das Bettelverbot wieder generell einzuführen. Der Regierungsrat will das EGMR-Urteil prüfen.
Das letzte Wort ist aber auch in Genf noch längst nicht gesprochen. Der EGMR erachtet nicht jegliches Bettelverbot als unzulässig, ein solches kennen überdies zahlreiche Unterzeichnerstaaten und auch weitere Schweizer Kantone. Die Gerichte müssten aber eine Einzelfallprüfung vornehmen.
Es ist also davon auszugehen, dass der Genfer Gesetzgeber den entsprechenden Artikel nun so anpasst, dass er mit der Menschenrechtskonvention kompatibel ist. Das zuständige Departement will sich auf Anfrage nicht dazu äussern. Die Staatsanwaltschaft skizziert in ihrer Stellungnahme aber bereits, in welche Richtung es möglicherweise geht. So könnten die politischen Instanzen das Verbot auf gewisse Verhaltensweisen wie etwa aggressives Betteln oder das Betteln mit Kindern beschränken. Denkbar sei auch, dass es geografisch eingegrenzt würde – etwa auf touristische Zonen oder die Umgebung von Geldautomaten.
(https://www.nzz.ch/schweiz/nach-egmr-urteil-genf-suspendiert-das-bettelverbot-ld.1599673)
+++POLIZEI DE
Kontrollieren und vertreiben
Hamburg: Polizei setzt trotz Gerichtsurteil sogenanntes Racial Profiling fort
https://www.jungewelt.de/artikel/395664.rassistische-polizeipraxis-kontrollieren-und-vertreiben.html
+++QUEER
«Keine Ruhe geben»
Immer wieder verbreiten gerade die grossen Schweizer Medienplattformen transfeindliche, verleumderische und unbelegte Darstellungen. In der vergangenen Woche trafen gerade zwei happige Beiträge kurz hintereinander ein. Während der Tages-Anzeiger trans Männern internalisierten Frauenhass unterstellte, holte die NZZ mit einem Plädoyer für die transfeindlichen Bewegungen in Großbritannien gegen trans Kinder aus.
Zu unserer grossen Freude erhielten wir in dieser Sache prominente Schützenhilfe!
https://www.tgns.ch/de/2021/02/keine-ruhe-geben/
-> https://www.blick.ch/news/wegen-volksverhetzung-feministin-erstattet-strafanzeige-gegen-nzz-autorin-id16325745.html
+++RASSISMUS
antira-Wochenschau: Äthiopien-Sonderflug flog, Moria 2.0 verseucht, Möbel Pfister benennt neu
https://antira.org/2021/02/02/aethiopien-sonderflug-flog-moria-2-0-verseucht-moebel-pfister-benennt-neu/
+++RECHTSEXTREMISMUS
„Corona-Proteste“ und rechter Terror
Am 18. November 2020 ging in Berlin für viele (extreme) Rechte ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Über Stunden stand der Neonazi-Multifunktionär Thomas Wulff in vorderer Front eines wütenden Mobs im Sprühregen eines Wasserwerfers und genoss sichtlich das Gefühl von „Volksaufstand“ und „Nationaler Revolution“. Rechte Hooligans und Neonazis sangen neben Masken-Verweigerern mit Herz-Schildern „Oh, wie ist das schön“.
http://antifainfoblatt.de/artikel/%E2%80%9Ecorona-proteste%E2%80%9C-und-rechter-terror
Sicherheitsbehörden: Zahl bekannter Rechtsextremisten mit Waffenerlaubnis gestiegen
Ende 2020 gab es bundesweit 1.200 behördlich bekannte Rechtsextremisten, die legal Waffen besaßen. Gegenüber dem Vorjahr ist das ein Anstieg um 35 Prozent.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-02/rechtsextremisten-waffenerlaubnis-sicherheitsbehoerden-anstieg-anfrage-linksfraktion
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/behoerden-registrieren-mehr-waffen-bei-rechtsextremisten-a-6e1fa179-b0b6-4c89-bf2c-ccd45db65070
-> https://www.jungewelt.de/artikel/395649.legale-selbstbewaffnung-jedem-nazi-seine-knarre.html
Pflug und Schwert
Schwarze Fahne der völkischen Landvolkbewegung bei Bauernprotesten sorgt für Irritationen
https://www.jungewelt.de/artikel/395703.altes-symbol-pflug-und-schwert.html
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Mit geistiger Heilkraft gegen Corona: Das goldene Zeitalter der Esoteriker
Spirituelle Sucher flüchten in eine spirituelle Parallelwelt – und leugnen die Gefahren der Pandemie.
https://www.watson.ch/blogs/sektenblog/648854702-fuer-viele-esoteriker-laeutet-corona-ein-neues-goldenes-zeitalter-ein
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Umstrittene Informationen: Altersheimbewohner erhalten Schreiben von Impfskeptikern
Im Vorfeld der Impfaktion in einem Alters- und Pflegezentrum in Hombrechtikon wurde die Stellungnahme einer deutschen Organisation verteilt – nicht aber das offizielle Material von Bund und Kanton.
https://www.tagesanzeiger.ch/altersheimbewohner-erhalten-schreiben-von-impfskeptikern-509178136273
-> https://www.20min.ch/story/heim-verteilt-impfskeptischen-flyer-an-die-bewohner-324667893271
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nzz.ch 02.02.2021
Die Zürcher Behörden wollen möglichst viele Bewohner von Alterszentren gegen das Coronavirus impfen. Doch ein Heim schert aus
Ein Altersheim im Zürcher Oberland gibt seinen Bewohnern Informationsmaterial von deutschen Impfskeptikern ab. Das Vorgehen sorgt für Irritationen.
Fabian Baumgartner, Jan Hudec
Die Warnungen vor der Corona-Impfung stehen in der Beilage des Briefs. Darin wendet sich die Leitung des Hombrechtiker Alters- und Pflegezentrums Sonnengarten an seine Bewohnerinnen und Bewohner. In dem am 4. Januar abgefassten Schreiben informieren der Leiter und seine Stellvertreterin über die anstehende Kampagne. «Sie werden in den nächsten Wochen für sich selber entscheiden, ob Sie sich impfen lassen wollen oder nicht», halten sie fest.
Doch statt auf Informationsmaterial des Bundes oder der Zürcher Gesundheitsdirektion zu verweisen, ist dem Schreiben des nach anthroposophischen Grundsätzen geführten Hauses eine merkwürdige Stellungnahme beigelegt. Sie stammt von einem Verein namens «Ärzte für individuelle Impfentscheidung». Die deutsche Organisation setzt sich laut eigenen Angaben gegen «verpflichtende Impfungen» ein, wird von Beobachtern aber dem impfskeptischen Lager zugeordnet.
Infomaterial mit bedrohlichem Tonfall
In der Stellungnahme wird der Verein deutlich: Über die verfügbaren Covid-19-Impfstoffe findet man im vierseitigen Positionspapier kaum ein positives Wort. Stattdessen wird in bedrohlichem Tonfall vor den Gefahren gewarnt.
Die Impfstoffe basierten auf neuartigen Technologien, «die tief in Steuerungs- und Regulationsvorgänge des menschlichen Körpers eingreifen». Deshalb müsse man besondere Sorgfalt walten lassen. Doch «die bisherigen Studien zu den aktuellen Impfstoffkandidaten (Stand November 2020) genügen diesen Sicherheitsansprüchen in keiner Hinsicht». Bei der Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe bestünden zurzeit «besonders viele Unsicherheiten und Fragen bezüglich des Nachweises von Sicherheit und Wirksamkeit», heisst es in fett gedruckter Schrift weiter.
Ein «sehr grosser Teil der Bevölkerung» würde zudem nicht von der Impfung profitieren, da einerseits die «überwiegende Mehrzahl» bei einer Infektion mit dem Coronavirus gar keine oder nur leichte grippeähnliche Beschwerden habe und andererseits «wesentliche Teile der Bevölkerung» aufgrund einer durchlebten Infektion zumindest vorübergehend über eine Immunität verfügten. Die «Ärzte für individuelle Impfentscheidung» räumen zumindest ein, dass eine Impfung «allenfalls» empfohlen werden könne, um Risikopatienten individuell zu schützen.
Insgesamt steht der Verein mit seinen Positionen den Bestrebungen der Behörden in der Schweiz diametral entgegen. So betont die Zürcher Gesundheitsdirektion Natalie Rickli bei jeder Gelegenheit die grosse Bedeutung der Impfung. Und gerade unter den Risikopersonen wird eine möglichst hohe Impfquote angestrebt.
Vor eineinhalb Wochen hat im Kanton Zürich die Impfaktion auch in den Alters- und Pflegeheimen begonnen. 40 000 Bewohner und Mitarbeiter sollen bis Ende Februar gegen das Coronavirus geimpft werden. Das Ziel ist ehrgeizig: Eine Impfquote von 70 Prozent wollen die Behörden erreichen. Momentan liegt man leicht darunter. In 100 Institutionen wurde bereits geimpft, knapp 300 fehlen noch.
Der Impferfolg in den Alters- und Pflegeheimen ist für die Behörden entscheidend: Denn nirgends sonst sterben mehr Menschen an einer Covid-19-Infektion. Bisher entfielen fast zwei Drittel der Corona-Todesfälle im Kanton Zürich auf die Heime. 743 der insgesamt 1183 registrierten Toten waren Heimbewohner.
Doch das Vorhaben ist ein Spagat: Die Impfung gegen das Coronavirus ist zwar freiwillig, doch um die Pandemie in den Griff zu bekommen, sind die Behörden darauf angewiesen, dass sich möglichst viele Menschen die in atemberaubendem Tempo entwickelten Vakzine verabreichen lassen. Dass sie die Injektionen als Ausweg aus der Krise anpreisen, weckt bei einem Teil der Bevölkerung Argwohn.
Mit einer breiten Informationskampagne versuchen die Behörden Überzeugungsarbeit zu leisten. Zwar wird speziell den Risikogruppen, aber auch der übrigen Bevölkerung eine Impfung empfohlen. «Je mehr Menschen sich in der Schweiz und im Kanton Zürich impfen lassen, desto schneller können wir zur Normalität zurückkehren», heisst es auf der Website der Gesundheitsdirektion. Zugleich werden aber auch Risiken und Nebenwirkungen beleuchtet.
Kritik an «einseitigem» Papier
Doch was bedeutet es, wenn Heime wie der Sonnengarten ihren Bewohnern nun statt der offiziellen Informationen Dokumente aus impfskeptischen Kreisen abgeben?
Klar ist: Die Behörden ärgert es. Die Zürcher Gesundheitsdirektion schreibt auf Anfrage, dass man das Vorgehen der Heimleitung als «kritisch beurteile», wenn diese die offiziellen Informationen der Gesundheitsdirektion den Bewohnerinnen und Bewohnern nicht auch zur Verfügung gestellt habe. «Es ist wichtig, dass die Bewohnerinnen und Bewohner über Nutzen und Risiken der Impfung informiert werden.»
Die Verantwortlichkeit für medizinische Massnahmen und die damit einhergehende umfassende Aufklärungspflicht gebiete eine objektive Information, schreibt die Gesundheitsdirektion weiter. Den Patienten über die Impfung oder generell über medizinische Fragestellungen aufzuklären liege in der Verantwortung des Heimarztes. «Wenn ein Heim seine Bewohnenden sehr einseitig informiert, ist zu prüfen, ob der allgemeinen Fürsorgepflicht genügend nachgekommen wurde.»
Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, sagt, er sei auch für eine individuelle Impfentscheidung. Das Informationsmaterial des gleichnamigen Vereins hält er indes teilweise für unsachlich und einseitig. Selbstverständlich herrsche in der Schweiz die Meinungsäusserungsfreiheit, und letztlich spreche auch nichts dagegen, den Heimbewohnern ein solches Positionspapier abzugeben. «Aber wenn man das schon tut, dann sollte man auch die offiziellen Informationen aushändigen», sagt Berger.
Immerhin sei ja die Heilmittelbehörde, die den Impfstoff im Auftrag des Staats geprüft habe, zu einem ganz anderen Schluss gekommen als der Verein. «Die Impfung ist in der Schweiz freiwillig. Hinter dem stehen wir voll.» Damit man sich eine eigenständige Meinung über die Impfung bilden könne, sei man aber auf transparente und sachliche Informationen angewiesen.
Wenig erfreut über das Vorgehen im Hombrechtiker Heim ist auch André Müller. Er ist Präsident des Heimverbands Curaviva, zu dessen Mitgliedern auch das Alterszentrum Sonnengarten zählt. Müller sagt: «Wir müssen unbedingt verhindern, dass es zu vielen weiteren schweren Verläufen und Todesfällen in den Alters- und Pflegezentren kommt. Dafür ist die Impfung das richtige Instrument.»
Doch zu einer Impfempfehlung zwingen kann sein Verband die Mitglieder nicht. «Wir können niemanden verpflichten, wir können nur Empfehlungen geben», sagt Müller. Er habe nichts gegen eine kritische Auseinandersetzung mit der Frage, ob und wann eine Impfung sinnvoll sei. Beim Coronavirus überwiegen für Curaviva jedoch die Vorteile. «Wir empfehlen deshalb dringend eine Impfung.»
Der Verband gibt darum Informationsmaterial des Bundesamts für Gesundheit und der Zürcher Gesundheitsdirektion an die Heime ab. Zudem habe man im Vorfeld der Impfkampagne Webinare für Heimleitungen und andere Involvierte abgehalten, sagt Müller. «Alle Materialien können auch auf unserer Website heruntergeladen werden.»
Von dem Informationsschreiben der «Ärzte für individuelle Impfentscheidungen» hält er hingegen wenig. «Das Schreiben ist sehr einseitig und entspricht auch nicht den Begebenheiten in der Schweiz. Eine Notfallzulassung hat es hier beispielsweise nie gegeben. Swissmedic hat ein normales Verfahren angewendet.» Hinzu komme, dass das Schreiben zu einem Zeitpunkt entstanden sei, als die Impfstoffe gar noch nicht zugelassen gewesen seien.
«Wir wissen nicht, wie lange der Impfstoff wirkt»
Wie gross sind im Alters- und Pflegeheim Sonnengarten die Vorbehalte gegen die Impfung? Der Heimleiter Franz-Josef Oggier nimmt auf die Anfrage der NZZ schriftlich Stellung. «Wie der Rest der Schweizer Bevölkerung wissen auch wir nicht, wie lange der Impfstoff wirkt und ob das Virus trotz Impfung übertragen werden kann», schreibt er. Er hält jedoch auch fest, dass er die Impfstrategie von Bund und Kantonen für sinnvoll hält.
Auf die Frage, warum die Heimleitung den Bewohnern das Informationsmaterial der «Ärzte für individuelle Impfentscheidungen» abgegeben habe, antwortet Oggier: «Wir motivieren unsere Bewohnenden, sich so breit und vielseitig wie möglich zu informieren und sich aktiv mit dem Thema Impfen auseinanderzusetzen.» Dazu zählt der Heimleiter Medien und öffentlich zugängliche Fachartikel, die Bewohner könnten aber auch ihren Vertrauensarzt zu Rate ziehen, um sich eine eigene Meinung zu bilden.
Aber wäre es für eine offene Meinungsbildung nicht auch wichtig, den Bewohnern die offiziellen Unterlagen der Gesundheitsdirektion zur Verfügung zu stellen? Warum die Heimleitung darauf verzichtet hat, bleibt offen. Etwas kryptisch schreibt Oggier, dass man den Impfprozess intern wie extern vertraulich behandle. «Wir möchten dadurch eine moralische Urteilsbildung betreffend impfwilligen Bewohnenden und solchen, die sich nicht impfen lassen wollen, vermeiden.»
Laut Oggier laufen inzwischen auch in seinem Zentrum die Vorbereitungen für die Impfung. «Wir haben von der Gesundheitsdirektion aber noch keine definitive Bestätigung betreffend Verfügbarkeit des Impfstoffes. Wir wissen deshalb noch nicht, ob wir am dafür vorgesehenen Tag unsere Bewohner wirklich impfen können.»
Die Impfbereitschaft der Bevölkerung wird mitentscheidend dafür sein, wie die Schweiz die Corona-Krise überstehen wird. Doch ein Dilemma der freiwilligen Impfung bleibt bestehen: Mehr als das Mittel der Überzeugungskraft haben die Behörden nicht, um ihr Ziel zu erreichen – auch bei Institutionen.
(https://www.nzz.ch/zuerich/corona-in-zuerich-heim-verschickt-papier-von-impfskeptikern-ld.1599121)
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nzz.ch 02.02.2021
Marco Rima lebt im Dorf der Corona-Extreme
In der Zuger Gemeinde Oberägeri wohnen mehrere bekannte Coronavirus-Verharmloser. Der Gemeindepräsident Pius Meier muss wegen Long Covid zurücktreten
Erich Aschwanden
Am frühen Morgen des 3. Dezember 2020 klingelt bei A. G.* die Polizei. Die Beamten der Zuger Kantonspolizei tragen schusssichere Westen und durchsuchen die Wohnung des Ingenieurs. Der Besuch der Staatsgewalt, über den die «Sonntags-Zeitung» berichtete, kommt für den 65 Jahre alten gebürtigen Deutschen nicht überraschend. Der selbsternannte Therapeut und Reiki-Meister hat in den vorangegangenen Wochen zwei Verfügungen des Zuger Kantonsarztes missachtet.
Falsche Befreiungen für Maskentragpflicht verkauft
Ins Visier der Behörden gerät der Mann, weil er Maskenverweigerer professionell unterstützt. Wer sich von der Pflicht befreien will, einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen, zahlt 50 Franken und erhält von G. dafür ein Attest. Gemäss eigenen Aussagen hat er «haufenweise» solche Dispense ausgestellt. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft Zug eine Strafuntersuchung gegen den Esoteriker eröffnet. Der Bundesrat hat inzwischen auch die Verordnung angepasst. Nur noch Ärzte dürfen ein Attest ausstellen.
G. lebt in einer Ortschaft, die jeder Schweizer aus dem Geschichtsunterricht kennt – in Morgarten. Dort, wo 1315 die erste Schlacht zwischen den Eidgenossen und den Habsburgern stattgefunden hat. Morgarten ist ein Ortsteil der Zuger Gemeinde Oberägeri. Diese muss momentan ausserplanmässig einen neuen Gemeindepräsidenten suchen. Ende November reichte Pius Meier seinen vorzeitigen Rücktritt ein. Der FDP-Politiker wurde Mitte März 2020 vom Coronavirus infiziert und leidet seither an Long Covid.
«Ich hatte einen sehr schweren Verlauf und schwebte zwischen Leben und Tod», erklärt der bald 64-Jährige gegenüber der NZZ. In der frühen Phase der Pandemie fühlte sich Meier unwohl, ohne an den klassischen Symptomen wie Fieber oder Geschmacksverlust zu leiden. Sein Hausarzt schickte ihn in Quarantäne, in der Meier positiv auf Covid-19 getestet wurde. «Drei Tage später befand ich mich im freien Fall. Ich musste mit dem Rettungsdienst notfallmässig ins Spital eingeliefert werden und bin erst rund dreissig Tage später im Paraplegikerzentrum Nottwil wieder aufgewacht», erinnert er sich. Vor der Überführung nach Nottwil war er fast vier Wochen im Zuger Kantonsspital via Luftröhrenschnitt an ein Beatmungsgerät angeschlossen.
Die Krankheit macht Meier noch heute schwer zu schaffen. Anfang Oktober kehrte er mit einem 30-Prozent-Pensum in sein Amt zurück. Obwohl er keine körperliche Arbeit verrichtet habe, sei es ihm vorgekommen, als sei sein Kopf in einen Schraubstock eingezwängt. «Ich bin noch weit davon entfernt, an meine Leistungsfähigkeit vor Corona anzuknüpfen, und bin daher schweren Herzens zwei Jahre vor Ablauf meiner Amtszeit zurückgetreten», sagt Meier.
Wenn einer weiss, was das Virus anrichten kann, ist es Pius Meier. Dass es Corona-Skeptiker oder gar -Leugner gibt, kann er nicht verstehen: «Mein Schicksal ist der klare Beleg dafür, dass das Coronavirus keine Erfindung ist oder so harmlos ist wie eine normale Grippe. Es kann auch das Leben von Menschen gefährden, die nicht zu den Risikopersonen gehören.» Diese Botschaft will er mit dem offenen Umgang mit seiner Krankheit gegenüber der Öffentlichkeit vermitteln.
Den Maskenverweigerer A. G. kennt Pius Meier nur aus den Medien. Hingegen ist ihm der bekannteste in Oberägeri wohnhafte Corona-Verharmloser sehr wohl bekannt: Marco Rima. Seit der auch in Deutschland bekannte Komiker im vergangenen Herbst an einer Anti-Corona-Demonstration in Zürich auftrat, gehört er zu den Aushängeschildern dieser Szene. «Da die Todeszahlen tief blieben und die Horrorszenarien in den Spitälern nicht eintraten, hätte man wieder auf Anfang gehen müssen», erklärte Rima im vergangenen Oktober gegenüber der NZZ. «Wir müssen einsehen, dass es sich wohl um eine Art Grippe handelt.»
Pius Meier sagt dazu nur: «Wir leben zum Glück in einer Demokratie, und alle dürfen frei ihre Meinung äussern.» Dass in Oberägeri mehr Corona-Skeptiker leben als anderswo, glaubt der scheidende Gemeindepräsident nicht. Wenn man in den umliegenden Orten fragen würde, wäre die Stimmung wohl ähnlich. Auch dort gebe es Leute, die nicht wahrhaben wollten, dass es sich um eine sehr ernste Sache handle.
Goldküste im goldenen Kanton
Doch besonders ist die Berggemeinde auf rund 740 Metern über Meer auf jeden Fall. Die idyllische Lage sorgt dafür, dass das 6000-Seelen-Dorf in den letzten Jahrzehnten zum bevorzugten Wohnort für die Leute geworden ist, die im Finanz-, Rohstoff- und Kryptozentrum Zug gutes, ja sehr gutes Geld verdienen. Der Ausländeranteil liegt bei 26 Prozent, darunter viele vermögende Expats. Am Ägerisee ist eine Goldküste im ohnehin schon goldenen Kanton Zug entstanden. Davon zeugen die zahlreichen Villen und die Luxusautos, die durchs Dorf kurven.
Ein Kenner der Gegend nennt Oberägeri eine «paradoxe Gemeinde». Die Einheimischen würden die Neuzuzüger kritisch betrachten und würden das Ländliche und Traditionelle umso stärker betonen. Berührungspunkte zwischen den beiden Lebenswelten gebe es nur wenige.
Auffällig ist ausserdem, dass es in Oberägeri eine relativ starke Bewegung gegen die 5G-Technologie gibt. Zwischen den Trägern dieses Widerstandes und den lokalen Corona-Skeptikern gibt es starke Überschneidungen. Dahinter steckt die weltweit verbreitete These, dass Covid-19-Erkrankungen durch die Strahlung von 5G-Antennen zumindest begünstigt werden könnten. So erklärt der Therapeut A. G. auf seiner Website, dass er seine Atteste für Maskenverweigerer eigentlich verschenken wolle: «Als Gegenleistung erwarten wir eine Mitgliedschaft in unserem Verein «5Gfrei.ch», der den Kampf gegen die Mobilfunkbetreiber mit ihrer Strahlenverseuchung aufgenommen hat.»
Aus Protest Maske verweigert
Präsident der lokalen Interessengemeinschaft «IG 5G-freies Ägerital» ist ein anderer bekennender Corona-Skeptiker aus Oberägeri. Es handelt sich um Iwan Iten, den Wirt des Ausflugslokals Raten auf dem gleichnamigen Aussichtspunkt. Die Gaststätte wurde von den Zuger Behörden vor dem Shutdown im Dezember bereits zweimal geschlossen, weil der Wirt die Corona-Massnahmen bewusst und konsequent missachtet hatte. So trugen er und das Personal keine Masken.
Grund für die Schliessung war ausserdem, dass bei einer Vorführung des Filmes «Unerhört» 50 Personen im Restaurant waren, die keine Masken trugen. In dem Dokumentarfilm von Ex-«Arena»-Moderator Reto Brennwald kommen vor allem Corona-Skeptiker zu Wort – unter anderem der Komiker Marco Rima.
Dieser wiederum ist ein gern gesehener Gast im «Raten». Als die NZZ-Journalistin Rima im Restaurant Raten traf, klopfte der Chef des Restaurants Rima auf die Schulter und erklärte: «Kompliment, also wirklich. Das ist nicht einfach, sich so zu exponieren. Aber ich finde es wichtig, dass man hinsteht, auch solche Persönlichkeiten.»
Doch Iwan Iten, der Corona als «normales Grippevirus» verharmlost, exponiert sich selber auch gerne. Mit seiner Weigerung, eine Maske zu tragen, protestiert er gegen die Politik, die die von den Massnahmen getroffenen kleinen Leute im Stich lasse. Diese Meinung vertrat er an zwei Kundgebungen der Massnahmenkritiker im Kanton Schwyz. Dabei erklärte er, der Bundesrat reagiere unverhältnismässig. Es sei eine «Sauerei», dass die Regierung die Konsequenzen der Massnahmen nicht mittrage. Wenn man etwas gegen die Maske sage, werde man diffamiert, beklagte sich Iten.
Pius Meier ist Iwan Iten als Gegner von 5G-Antennen aufgefallen, der den lokalen Widerstand gegen die neue Technologie organisiert hat. «Die Skepsis gegenüber Corona und gegenüber der neuen Mobilfunktechnologie speist sich anscheinend aus einer ähnlichen Quelle», stellt der Gemeindepräsident von Oberägeri fest. «Ich will niemandem seine Meinung verbieten, doch es ist schade, dass gewisse Leute nicht zur Kenntnis nehmen wollen, dass eine Infektion mit dem Coronavirus auch bei jüngeren Leuten schwere Schäden hinterlassen kann.»
Es mag ein Zufall sein, dass in Oberägeri so viele bekannte Corona-Skeptiker wohnen und mit dem Schicksal ihres Gemeindepräsidenten konfrontiert werden. Das Virus wird viele Gemeinden in der Schweiz spalten und noch lange tiefe Narben hinterlassen. Oberägeri ist überall.
* Name der Redaktion bekannt.
(https://www.nzz.ch/schweiz/das-dorf-der-corona-extreme-in-oberaegeri-treffen-prominente-maskenverweigerer-auf-einen-schwer-an-covid-19-erkrankten-gemeindepraesidenten-ld.1598544)